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Dr. Ulrich Zelger. LL.M.
Verfassungsgeschichte HS 2011 Lösungsskizze Wichtiger Hinweis: Hinter den Überschriften ist das jeweils erreichbare Punktemaximum angegeben. Um dieses zu erreichen, war es in der Regel nicht nötig, alle in der Lösungsskizze angeführten Aspekte aufzuführen.
1. Englische und US-amerikanische Verfassungsgeschichte (30 P): a. Schildern Sie die Entwicklung des Parlamentarismus in England! (8 P) - curia regis / magnum consilium als Vorläufer des Parlaments - Steuerbewilligungsrecht der commons (zuerst faktisch, seit ca. 1400 rechtlich) als Motor der Parlamentarisierung - Zunehmende Mitbestimmung der commons - Bildung von zwei Kammern - Institutionalisierung des Parlaments, z.B. durch häufiges Zusammentreten, gleichbleibende Vertreter; daher mehr Kompetenzen/Professionalisierung - Wesentliche Rolle des Parlaments bei der Organisation des englischen Staatswesens; stabile Institution, Parlament in Krisen wichtig und entscheidend, z.B.: - Heinrich VIII: Ordnung der anglikanischen Kirche durch Parlamentsgesetze, z.B. Act of Supremacy (1534) - Karl II: Restauration der Monarchie durch das Parlament (1660) - Wilhelm III: Einsetzung durch das Parlament, nach Bill of Rights (1689) - Act of Settlement (1701), Ordnung der Thronfolge durch Parlamentsgesetz b. Wie und aufgrund welcher Rechtfertigung erfolgte die Loslösung der amerikanischen Kolonien von England? (8 P) - Allgemeine Lage: Nach dem brit.-franz. Krieg (French and Indian War, 1754-1763) sind die Kolonisten nach der Niederlage Frankreichs weniger auf den Schutz durch Grossbritannien angewiesen, keine franz. Konkurrenz mehr - England versucht, die Kolonien an den Kriegskosten zu beteiligen: Sugar Act, Currency Act, Stamp Act, Townshed Acts, Tea Act, Quartering Act - Ereignisgeschichte: Boston Tea Party, Unabhängigkeitskriege, Friedensvertrag von Paris
- Rechtfertigung: „no taxation without representation“ , keine Repräsentation der amerikanischen Kolonisten im engl. Parlament, engl. Verfassungsrecht, gegen König UND Parlament - Unabhängigkeitserklärung als Absageschrift (Bestandteile: Wer hat was falsch gemacht, welche Rechtsfolgen ergeben sich daraus) c. An welche Elemente englischer Verfassungstradition knüpften die Amerikaner an? (8 P) - Parlamentarismus, inkl. Steuerbewilligungsrecht der Steuerzahler - rule of law: Bindung staatlichen Handelns an das Recht; der Staat muss seine Rechte den Bürgern gegenüber gerichtlich durchsetzen, bedeutende Rolle der Justiz - Habeas Corpus: Schutz vor willkürlichem Handeln des Staats, insb. Festnahmen - Freiheitsrechte - „Königsähnliche“ Stellung des Präsidenten (Monokratische Regierung) - Gewaltenteilung - Zweikammersystem d. Welchen Einfluss übte die US-amerikanische Verfassung auf die Schweiz aus? (6 P) - Organisation des Bundesstaats - Zweikammersystem zur Repräsentation von Ständen/Staaten und der Nation - Subsidiaritätsprinzip - Souveränität der Gliedstaaten - Grundrechtskatalog 2. Schweizerische Verfassungsgeschichte (30 P): a. Charakterisieren Sie die Schweiz des Ancien Régime. (6 P) - Unterschiedliche „Mitglieder“: Stände, zugewandte Orte, Untertanengebiete - Unterschiedliche Staats- und Regierungsformen - Staatenbund mit enger Verflechtung - Aussenwahrnehmung als Einheit, spätestens seit Westfälischem Frieden - Tagsatzung als gemeinsames Organ, Tagsatzungsgesandte stimmten nach Instruktion b. Welche Etappen führten nach dem Fall des Ancien Régime zur Bildung des Schweizerischen Bundesstaates? (8 P) - 1. Helvetische Staatsverfassung (1798): Staatliche Einheit - Verfassungsentwurf von Malmaison - 2. Helvetische Staatsverfassung (Notabelnverfassung, 1802): erste föderale Elemente - Mediationsakte (1803): Staatenbund/Bundesstaat, Grundlegung der Kantone - Bundesvertrag (1815): Staatenbund, jedoch unter Druck der europäischen Mächte
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- Regeneration (1830-er Jahre): Scheitern bundestaatlicher Entwürfe, liberale Kantonsverfassungen, Sonderbundskrieg - Bundesverfassung (1848) Exkurs: Weitere Entwicklung ab 1848 c. Welche Einflüsse übte die Entwicklung in Frankreich auf die Schweiz aus? (8 P) - Frankreich schon im Ancien Régime einflussreich (z.B. Schweizer Regimenter) - Französische Revolution wirkt sich - politisch (Beendigung des Ancien régime durch französische Truppen) und - geistes- und ideengeschichtlich (Menschenrechte, Nationalstaat, allgemeines Männerwahlrecht, politische Gleichheit) auf Eidgenossenschaft aus - Massgeblicher Einfluss auf zumindest folgende Verfassungen: 1. Helvetische Verfassung (1798), Entwurf von Malmaison (1801), Mediationsakte (1803) - insbesondere direktdemokratische Rechte aus der Girondeverfassung haben Einfluss auf Verfassungen ab 1848 - 1830: Regeneration steht auch im Kontext der Juli-Revolution - Kollegialregierung d. Überlegen Sie, mit welcher Etappe der Schweizerischen Verfassungsgeschichte die Europäische Union verglichen werden könnte! (8 P) - Europäische Union „zwischen“ Staatenbund und Bundesstaat - Bundesvertrag (1815): Zusammenschluss von Staaten mit enger werdender Verflechtung untereinander - Schweiz: Kooperation durch Konkordate; EG/EU: Verträge zw. „Willigen“ - ev. Mediationsakte (1803): z.B. Kantone weitgehend souverän und gleichrangig; gleichzeitig „Zentralgewalt“ (Landammann) 3. Deutsche Verfassungsgeschichte (30 P): a. Erläutern Sie Aufbau und Grundstruktur des Heiligen Römischen Reiches. (8 P) - Das Hl. Röm. Reich als aliud monstrum simile, als heterogenes, schwer einzuordnendes Staatswesen - Grundlegende Dokumente: Goldene Bulle (1356), Augsburger Religionsfrieden (1555), Westfälischer Frieden (1648) - Wahlkönigtum (mit schwacher Spitze), Regelung in der Goldenen Bulle von 1356 - Starke Stellung der einzelnen Länder/Territorien (insb. der Kurfürstentümer); Territorialisierung erfolgt auf Länderebene - Gemeinsame Institutionen: Reichstag, Reichskammergericht b. Benennen und erklären Sie wichtige Etappen auf dem Weg zur Deutschen Einheit von 1870/71. (8 P)
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- Auflösung des Hl. Röm. Reiches, Reichsdeputationshauptschluss (1803), Rheinbund (1806), Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. (1806) - Befreiungskriege gegen Napoleon stärken das deutsche Nationalbewusstsein 1815: Wiener Kongress, Bundesakte: Deutscher Bund als Zusammenschluss souveräner Staaten 1848/49: Scheitern der Paulskirchenverfassung 1866: Deutsch-Österreichischer Krieg: Österreich wird aus dem Reich gedrängt; 1866: Nord-Deutscher Bund, 1867: Verfassung für den Norddeutschen Bund 1870: Sieg gegen Frankreich, Beitritt der Süddeutschen Staaten zum Nord-Deutsche Bund, Deutsches Kaiserreich c. Erläutern und bewerten Sie die Weimarer Verfassung. (6 P) Grundzüge der Verfassung: - Bundesstaat - 2-Kammern-Parlament: Reichstag (Volk), Reichsrat (Länder, Widerspruchsrecht) - Aussergewöhnlich starke Stellung des Reichspräsidenten, der: - vom Volk gewählt wird, - Reichskanzler und Reichsminister ernennt - das Notverordnungsrecht (Art. 48) ausübt - Ausführliche Aufzählung von „Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen“ - Instrumente direkter Demokratie - Bewertung d. Vergleichen Sie den Deutschen Bund und die Schweiz des Bundesvertrags. (8 P) - Deutscher Bund und Schweiz: Staatenbund mit Vertrag als Rechtsgrundlage - Deutscher Bund und Schweiz: Souveränität der Mitgliedsstaaten - Deutscher Bund und Schweiz: Ziel: Sicherung der inneren und äusseren Sicherheit einschliesslich der jeweiligen Regierung - Schweiz: Gleichrangigkeit der Kantone; Deutscher Bund: Unterschiedliche Stimmgewichtung - Schweiz: seit 1815 Zusammensetzung unstrittig; Deutscher Bund: Wichtige Mitglieder haben grosse Gebiete und Interessen ausserhalb; preussischösterreichischer Gegensatz; klein- oder grossdeutsche Lösung? - Schweiz: Zusammenschluss zu Bewahrung der jeweiligen Eigenart; Deutscher Bund: Starke Strömungen hin zum Nationalstaat
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