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Im Westen was Neues? Grundprinzipien und Entwicklungen systemischer Praxis Ulrich Pfeifer-Schaupp
Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm’ ich so selten dazu.
Ödon von Horvath
Der Beitrag versucht, den aktuellen Standort und die Perspektiven des systemischen Ansatzes zu umreißen. Mein Erkenntnisinteresse ist dabei ein doppeltes, einerseits ein systematisches, andererseits ein kritisches. Dabei verfolge ich vier Fragen: Erstens: Was kann sinnvollerweise unter systemischer Praxis verstanden werden? Wovon lässt sie sich unterscheiden? Zweitens: Welches sind die wesentlichsten Entwicklungslinien des systemischen Ansatzes, die für eine Weiterentwicklung systemischer Praxis nutzbar gemacht werden können? Drittens: Was sind die wichtigsten Grundprinzipien oder Grundhaltungen systemischer Praxis und in welche Richtung sind diese kritisch weiter zu entwickeln? Diese Frage bildet den Schwerpunkt des Beitrags. Viertens: Welche Entwicklungsaufgaben hat der systemische Ansatz?1
I. Was ist systemische Praxis?
Wenn wir das Phänomen „systemische Praxis“ beschreiben wollen, vollziehen wir zunächst den Akt der Beobachtung. Unter Beobachtung kann – in der Tradition von George Spencer Brown und Niklas Luhmann - die doppelte Operation von Unterscheidung und Bezeichnung verstanden werden. Ein Phänomen wird vom Rest der Welt abgegrenzt und die eine Seite der Unterscheidung bezeichnet (Simon, 1991; ders. 2000, S. 49 f.). Das Phänomen, das hier beobachtet wird, ist die Lösung von 1
Für wichtige Anregungen und die kritische Lektüre des Manuskripts danke ich Peter Asprion, Jürgen Armbruster, Ernst-Ludwig Frei, Georg Grund, Uli Höfer, Regine Pfeifer, Hanne Schaupp und Bettina Zenner
2 Problemen mit sprachlichen Mitteln. Systemische Praxis oder systemische Beratung wird dabei im gegenwärtigen Sprachgebrauch insbesondere von Psychotherapie unterschieden. Therapie ist definiert als Krankenbehandlung durch entsprechend legitimierte ExpertInnen, also von zur Heilbehandlung legitimierten Personen. In § 1 Abs. 3 des deutschen Psychotherapeutengesetzes heißt es: „Ausübung von Psychotherapie im Sinne dieses Gesetzes ist jede mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist“. Systemische Praxis als eine Form psychosozialer Beratung2 dagegen kann verstanden werden als professioneller Beitrag zur Lösung von Lebens-Problemen, die nicht als Krankheit definiert werden. Systemische Ansätze gingen ursprünglich von einer Relativierung, ja Auflösung des individuumzentrierten Krankheitskonzeptes aus. Störungen sollten verstanden werden als Kommunikationsprobleme, nicht als körperliche oder seelische „Krankheiten“. Mücke (2001) weist auf die negativen Implikationen des Psychotherapiebegriffes hin: Psychotherapie als „Heilung von Krankheiten mit seelischen Mitteln“ (Toelle) hat eine pathologisierende, individualisierende, verdinglichende und defizitorientierte Tendenz. Er verweist auf die ursprüngliche etymologische Bedeutung von Psychotherapie als „Seelenhilfe“ und plädiert dafür, den Therapiebegriff „von dem aufgeblasenen berufs- und ständepolitischen Geklingel“ zu befreien (Mücke, 2001, S. 170). Er schlägt statt dessen vor, die Begriffe Beratung und Psychotherapie synonym zu verwenden, d.h. Therapie als eine spezifische Form der Beratung zu verstehen, die sich mit psychosozialen Fragestellungen und Problemen beschäftigt, also inhaltlich mit psychosozialer Beratung identisch ist. Interessanterweise löst sich diese Ablehnung medizinischer Diagnosen im systemischen Feld unter dem Druck von Finanzierungsregelungen zunehmend auf, systemische „Therapie“ will als normales Psychotherapieverfahren unter anderen anerkannt werden und dementsprechend werden „systemische Krankheitsmodelle“ entwickelt, die dem ursprünglichen kritischen Potential die Spitze nehmen. Systemische Therapie ist dabei, sich ans Establishment anzubiedern - und zahlt ihren Preis dafür! Genauso erging es übrigens auch dem klientzentrierten Ansatz von Carl Rogers – der 2
„Psychosoziale Praxis“ ist natürlich ein „Unwort“, wenn man Luhmanns scharfe Trennung von psychischen und sozialen Systemen zugrunde legt, Ich benutze den Begriff hier trotzdem, weil er in der Sozialen Arbeit eingeführt und geläufig ist.
3 neuerdings von systemisch orientierten Therapeuten wieder entdeckt wird (s. Duncan u.a., 1998; Anderson, 1999). Die Persönlichkeits- und Therapietheorie von Rogers war zentral charakterisiert durch eine Ablehnung von Diagnosen und Krankheitskonzepten (vgl. z.B. Rogers, 1983); auch in diesem Ansatz bröckeln die Fronten, der Anreiz, an die Futtertröge der Finanzierung zu gelangen, wirkt also durchaus theoriebildend.
Gibt es Anregungen für andere Beobachtungen und andere Unterscheidungen, wenn wir den Wurzeln des Wortes „Beratung“ nachspüren? Beratung kommt etymologisch von „raten“. Das Verb raten „wurde ursprünglich im Sinn von „Mittel, die zum Lebensunterhalt notwendig sind“ verwendet. In dieser Bedeutung steckt ‚Rat’ in Vorrat und Unrat sowie in der Kollektivbildung Gerät ... Daraus entwickelte sich der Wortgebrauch im Sinne von ‚Besorgung der notwendigen Mittel’ und weiterhin im Sinne von ‚Beschaffung, Abhilfe, Fürsorge’ ... Daran schließt sich die Verwendung von ‚Rat’ im Sinne von ‚gut gemeinter Vorschlag, Unterweisung, Empfehlung’ an.“3 Das germanische Verb raten „bedeutete ursprünglich etwa (sich etwas geistig) zurechtlegen, überlegen, (aus)sinnen, auch ‚Vorsorge treffen’ und weiterhin ‚vorschlagen, empfehlen’ und ‚erraten, deuten’.“4 Angeregt davon soll unter „systemischer Praxis“ hier einfach verstanden werden -
eine besondere Form professioneller psychosozialer Praxis,
-
die nicht geprägt ist von der Differenz krank - gesund, die also nicht primär die „Heilung“ von körperlichen oder seelischen „Krankheiten“ bezweckt,
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sondern gekennzeichnet ist dadurch, dass Menschen im Gespräch mit professionellen psychosozialen Fachkräften neue Möglichkeiten suchen;
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dabei geht es nicht nur um kommunikative Probleme, sondern auch um die materielle Dimension sozialer Probleme, um die „Besorgung der notwendigen Mittel“ zum „gelingenden Alltag“ (Thiersch) und ggf. auch um Für-Sorge im positiven Sinne, um die Übernahme von Verantwortung und um (sozial)anwaltschaftliche Unterstützung.
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Duden, Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Dudenverlag, Mannheim, Leipzig u.a. 1997, 573 f. 4 ebd. 574
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Systemische Praxis • • • •
Professionelle Praxis Leitdifferenz nicht: krank – gesund... ...sondern: Suche nach Lösungen für psychosoziale Probleme Materielle Dimension: Besorgung der notwendigen Mittel zur Lösung von Problemen Für-Sorge und Übernahme von Verantwortung – sozialanwaltschaftliche Unterstützung
Abb. 1: Systemische Praxis II. Entwicklungslinien des systemischen Ansatzes
Systemische Praxis ist eine besondere Form psychosozialer Praxis, so haben wir festgestellt. Worin liegt das Besondere? Wenn wir – im Sinne Hegels – Begriffe nicht als statisch ansehen, sondern in einer dialektischen Entwicklung betrachten, kann es interessant sein, nach den Stadien der Entwicklung des Begriffs „systemisch“ zu fragen: wie hat sich dieser Begriff entwickelt, welche „Momente“ gibt es dabei? Diese Überlegung kann hilfreich sein, um die gegenwärtige systemische Praxis weiterzuentwickeln, ohne das bisher Gedachte zu verlieren oder zu vergessen. Die systemische Praxis kann – holzschnittartig vereinfachend - unterteilt werden in sieben Richtungen, die sich gegenseitig befruchtet und beeinflusst haben und zwischen denen es vielfältige Überschneidungen gibt (vgl. dazu Hoffman, 1995, S. 214 ff.). Nur wenige dieser Ansätze haben eine wesentliche Verzahnung mit der Systemtheorie erfahren. Die anderen sind wesentlich inspiriert und entwickelt durch konzeptionelle Reflexion, Intuition und Kreativität und Verdichtung von beraterischen und therapeutischen Praxiserfahrungen. Erstens der Ansatz der strukturellen Familientherapie (Minuchin & Fishman, 1983): Entscheidend war hier das konkrete Erleben, die therapeutische Praxis, insbesondere mit schwarzen Familien aus Slums. Im strukturellen Ansatz ging es insbesondere um die Etablierung adäquater Grenzen zwischen verschiedenen Hierarchieebenen in Systemen. Minuchin und seine KollegInnen entdeckten besonders in ihrer Arbeit mit
5 armen Familien, wie wichtig es ist, dass zwischen Eltern-Subsystem und KinderSubsystem klare Grenzen bestehen und dass Probleme in Familien oft damit zu tun haben, das diese Grenzen verwischt sind (siehe zur aktuellen Entwicklung dieses Ansatzes: Minuchin u.a., 2000).
Zweitens der Ansatz entwicklungsorientierten Familientherapie (Satir, 1985): Die Sozialarbeiterin Virginia Satir hat die zentrale Bedeutung der Wertschätzung von KlientInnen als Voraussetzung für Veränderungen erkannt. Wenn wir heute die manchmal gebetsmühlenhaft wirkenden Formeln von der Notwendigkeit der Stärkung des Selbstwerts von KlientInnen lesen, die oft merkwürdig abstrakt bleiben (z.B. Böhnisch, 1997), fragen wir uns immer wieder: „ja, und wie macht man das nun praktisch?“ Dazu bietet Virginia Satir immer noch einen ganzen Schatz von nützlichen Haltungen und Übungen, der meist ungehoben vor sich hin rostet. Z.B. ist sie die „Erfinderin“ der Familienskulptur, der körperlich-bildlichen Darstellung von familiären Wirklichkeiten.
Drittens entwickelte sich eine Richtung, die als strategisch gekennzeichnet werden kann und die maßgeblich inspiriert wurde durch den amerikanischen Hypnotherapeuten Milton H. Erickson. Hierzu gehören Paul Watzlawick, Jay Haley, Richard Fisch und John H. Weakland (Fisch u.a., 1987). Gut charakterisiert wird dieser Ansatz schon durch den Titel eines Buches von Jay Haley, das in den USA Mitte der siebziger Jahre publiziert wurde: „Direktive Familientherapie. Strategien für die Lösung von Problemen“ (Haley, 1995). Dabei geht es insbesondere darum, „dysfunktionale“ und problemverursachende Muster und Spiele in sozialen Systemen zu erkennen und zu unterbrechen. Probleme werden hier verstanden als gescheiterte Lösungsversuche, sie werden „positiv konnotiert“ und durch „Reframing“ umgedeutet. Veränderung geschieht vorzugsweise durch eine Unterbrechung von nicht adäquaten Lösungsversuchen, die das Problem verschlimmern oder überhaupt erst erzeugt haben. Statt dessen werden „Lösungen zweiter Ordnung“ gesucht.
Viertens das Mailänder Modell oder die „systemische Therapie“ im engeren Sinne: Diese wurde von Mara Selvini Palazzoli und ihrem Team ausgehend u.a. von Ideen des Kulturanthropologen Gregory Bateson entwickelt (Selvini Palazzoli, 1985).
6 Charakteristisch waren hier paradoxe Interventionen, also Verschreibungen des präsentierten Symptoms und die Methode des zirkulären Fragens. Hier spielt die Systemtheorie eine wichtige Rolle bei der Entwicklung systemischer Praxis, in Deutschland besonders geprägt durch die unermüdliche theoretische Produktivität des Soziologen Niklas Luhmann und seiner Schüler. Außerdem wurde die erkenntnistheoretische Position des (radikalen) Konstruktivismus fast schon zum Dogma in dieser Richtung. In Deutschland wurde dieser Ansatz besonders gepflegt und weiterentwickelt vom Heidelberger Team um Helm Stierlin, Fritz B. Simon, Arnold Retzer und Gunthard Weber (vgl. z.B. Weber & Stierlin, 1989).
Fünftens der Ansatz der lösungsorientierten Kurztherapie: er wurde von den MitarbeiterInnen des Brief Family Therapy Center in Milwaukee um Steve de Shazer und Insoo Kim Berg begründet und entwickelte sich seit dem Ende der achtziger Jahre aus dem strategischen Ansatz. Hier wird ganz auf systemtheoretische Unterfütterung verzichtet. Konzeptbildend und befruchtend wirkt wieder nicht die Systemtheorie, sondern die empirische Analyse von Beratungsprozessen. Es wird nicht mehr nach der Entstehung von Problemen, nach Ursachen gefragt, sondern nach Lösungen und nach Ausnahmen vom Problem.
Die sechste Richtung lässt sich angemessen nur im Plural kennzeichnen: narrative (Lynn Hofmann, Michael White und David Eptson) und sozialkonstruktionistische Ansätze (Ken Gergen; Sheila McNamee) und deren Verknüpfungen (z.B. Harlene Anderson, Klaus Deissler). Theoretisch bedeutsam ist hier vor allem die Weiterentwicklung der Epistemologie, d.h. eine Fokusverschiebung bei der systemischer Praxis zugrunde liegenden Erkenntnistheorie, vom radikalen Konstruktivismus zum sozialen Konstruktionismus. Wirklichkeitskonstruktion wird dabei gesehen als Konstruktion von Bedeutung in Beziehung, deshalb sprechen seine Vertreterinnen auch gerne von „relationalen Ansatz“ (Hoffman, 1999; Anderson, 1999). Probleme sehen die Vertreterinnen dieser Richtung als nicht hilfreiche Geschichten oder Konstruktionen, im therapeutischen Dialog wird gemeinsam nach nützlicheren, hilfreichen und hoffnungsvollen Geschichten gesucht.
7 Eine siebte Richtung, der systemisch-phänomenologische Ansatz, schoss seit Mitte der neunziger Jahre in Deutschland wie ein Pilz aus dem Boden. Ausgangspunkt waren die spektakulären Familienaufstellungen des Philosophen und Theologen Bert Hellinger. Inzwischen sind Vertreterinnen dieses Ansatzes dabei, sich in Europa, den USA und in Lateinamerika international Gehör und Anerkennung zu verschaffen. Bert Hellinger selbst war geprägt von der Bioenergetik, der Transaktionsanlyse und der psychoanalytisch orientierten Gruppendynamik, er integrierte in seinen Ansatz auch Elemente des Psychodramas und entwickelte das klassische Element der Familienskulptur von Virginia Satir entscheidend weiter (Hellinger, 1995). Auch hier spielt also die Systemtheorie für die therapeutische oder beraterische Praxis keine Rolle, viel mehr Bedeutung haben hier, neben den eben genannten anderen therapeutischen Verfahren, philosophische und spirituelle Traditionen: vor allem die Phänomenologie Edmund Husserls und die chinesische Tradition des Taoismus. Das „Hellinger-Phänomen“ (Simon & Retzer, 1995) entfachte kontroverse Diskussionen im systemischen Feld: Ist das überhaupt (noch) systemisch? Und wenn ja: was daran ist systemisch? Wichtig ist m.E. dabei, zu sehen, dass systemische Strukturaufstellungen, unabhängig von der Person und vom Stil Bert Hellingers, ein wichtiges und nützliches Werkzeug systemischer Praxis sein können. Dieses Werkzeug hat sich längst von der Gründerpersönlichkeit gelöst und wurde vielfältig, mit unterschiedlichen Stilen und Akzenten, weiterentwickelt (vgl. z.B. Weber, 1998; Sparrer & Varga v. Kibed 2000). Systemdynamiken werden im phänomenologisch-systemischen Ansatz durch Strukturaufstellungen im Raum körperlich sichtbar und erfahrbar gemacht. Aufgestellt wird „alles, was nicht niet- und nagelfest ist“ (Varga von Kibed): Familien, Organisationen, Themen, zukünftige berufliche Entwicklungen usw., inzwischen zunehmend auch politische und ethnische Konflikte.
Die verschiedenen „Momente“ des Begriffs „systemisch“ sollen im Hegelschen Sinne „aufgehoben“ werden in dem, was für uns gegenwärtig „systemisch“ bedeutet, Aufgehoben in Hegels dreifachem Sinne: -
aufheben im Sinne von Aufhebung eines Gesetzes, das danach nicht länger gültig ist,
-
aufheben im Sinne von aufbewahren,
8 -
und aufheben im Sinne von „etwas vom Boden aufheben“, es also höher heben, hinaufheben.
Ein adäquater gegenwärtiger Begriff von „systemisch“ müsste also diese Momente enthalten, sie nicht einfach ablösen durch etwas anderes im Sinne von These – Antithese, sondern sie zugleich integrieren und darüber hinausgehen. Insgesamt kann, soweit ich es sehe, eine immer stärkere Auseinanderentwicklung von (insbesondere soziologisch orientierter) Systemtheorie einerseits und systemischer Praxis andererseits beobachtet werden. Wenn in diesem Buch vom „systemischen Ansatz“ gesprochen bzw. geschrieben wird, ist systemische Praxis gemeint, die von Systemtheorie in unterschiedlicher Art und Intensität beeinflusst ist. Insofern vermitteln die AutorInnen dieses Bandes auch einen gewissen Eindruck von der Heterogenität des Feldes.
Eine zusammenfassende Übersicht der erwähnten Ansätze systemischer Praxis gibt die folgende Abbildung.
Ansatz
Vertreter
Ziel
Perspektive
Wichtige Methode
1. Struktureller Ansatz
2. Entwicklungsorientierter Ansatz
Minuchin
(Wieder)Herstellung
Generationsgrenzen,
Fishman
klarer Grenzen im
Hierarchien
Rituale
Selbstwert,
Wertschätzung
reife u. nährende
Regeln,
Familienskulptur
Familien schaffen
Kommunikation
Colapinto
System
Satir
Wachstum fördern,
Bosch
3. Strategischer Ansatz
Watzlawick Haley, Weakland, Fish, Segal
Unterbrechen „schmerzhafter
Lösungen 1. und 2. Ordnung
Verschreibungen
Symptomverschreibungen Therapeutische
Lösungsversuche“
Doppelbindung
Mehr-desselben
Reframing
vermeiden 4.Mailänder Modell
Selvini Palazzoli,
Regeln
Beziehungsmuster
Boscolo, Cecchin,
auswechseln
und Spiele im
Prata, Simon
Paradoxe Intervention, Zirkuläre Fragen
System Zirkularität
5. Lösungsorientierter
Ansatz
de Shazer, Miller, Kim
Mehr von dem tun,
Lösungen,
was funktioniert
Ausnahmen
Anderson, Goolishian,
Transformation von
Konstruktion von
Neue Geschichten
Hoffman, White,
Erzählungen
Bedeutungen in
erfinden
„Ordnungen der
Zugehörigkeit
Berg 6. Narrativer und sozialkonstruktionistischer Ansatz
Epston, Deissler
7. Systemisch-
Hellinger, Weber,
Wunderfrage, Frage nach Ausnahmen
Beziehung System im Raum
9 phänomenologischer Ansatz
Sparrer, Varga v. Kibed
Liebe“ sehen und
Würdigung
annehmen
Ranfolge
aufstellen, Lösungssätze finden
Abb. 2: Ansätze systemischer Praxis III. Zehn Grundprinzipien systemischer Praxis
Ich möchte die vielfältigen praxisrelevanten Konzepte des systemischen Ansatzes im Sinne einer Komplexitätsreduzierung verdichten auf zehn Grundprinzipien. Dabei ergänze ich teilweise bekannte Prinzipien durch Elemente, die zu den Prinzipien in dialektischem Spannungsverhältnis stehen bzw. relativiere „sytemische Glaubenssätze“, die manchmal fast den Charakter „systemischer Mythen“ anzunehmen scheinen. Bert Brecht hat in seinem Aufsatz über fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit (1972) darauf hingewiesen, dass es darauf ankomme, die richtige Wahrheit am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt zu sagen bzw. zu schreiben. Eine „Wahrheit“ kann also auch dadurch falsch werden, dass sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gesagt wird, oder eine „Lüge“ kann darin bestehen, die jetzt erforderliche Wahrheit nicht zu sagen. Manche „systemische Wahrheiten“ scheinen mir im Lichte dieser Überlegungen betrachtet am falschen Ort zur falschen Zeit zu oft wiederholt zu werden, so dass sie in der Gefahr stehen, nicht mehr nützlich zu sein, sondern Nebel zu verbreiten, statt Klarheit.
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Zehn Grundprinzipien systemischer Praxis 1. Zirkularität versus Täter- und Opferperspektive 2. Allparteilichkeit und Neutralität versus Parteilichkeit 3. Hypothetisieren und Grundhaltung des NichtWissens 4. Metaperspektiven und reflektierende Grundhaltung 5. Strategisches Vorgehen und einfühlendes Verstehen 6. Wertschätzung, Respekt und Respektlosigkeit 7. Lösungs- und Ressourcenorientierung und die Perspektive der Gerechtigkeit 8. Kundenorientierung 9. Kontextsensibilität 10. Sensibilität für Wirklichkeitskonstruktionen Abb. 3: Zehn Grundprinzipien systemischer Praxis
1. Zirkularität versus Täter- und Opferperspektive Wesentlich für den systemischen Ansatz war zunächst ein Perspektivenwechsel: weg von der Person, den Eigenschaften und Charaktermerkmalen Einzelner hin zur Suche nach Mustern, nach den Regeln des Spiels, das die KlientInnen spielen – und das die BeraterInnen mit den KlientInnen gemeinsam inszenieren. Interessant erschien nicht primär, aus welchem Holz die einzelne Schachfigur geschnitzt ist, welche Farbe sie hat, wie groß und wie schwer sie ist, sondern wie die Regeln des Schachspiels sind, denen die Figuren gemeinsam folgen. Statt linearer Betrachtungsweisen – A verursacht B – wird jetzt eine zirkuläre, kreisförmige Betrachtungsweise eingeführt: A wirkt auf B und B wirkt auf A zurück. Durch die zirkuläre Betrachtungsweise werden so aus Verdinglichungen – fast wie von selbst - Wechselbeziehungen. Zum Beispiel entwickelt sich aus dem verdinglichten Krankheitskonzept „Schizophrenie“ mit dieser Blickrichtung die Frage: was tut der Sohn, wenn er sich „psychotisch“ verhält? Wie reagieren Vater, Mutter, Geschwister darauf? Probleme werden dabei verstanden als – gescheiterte –Lösungsversuche. Als Standardtechnik, um diese Betrachtungsweise in das Klientensystem einzuführen, gelten die inzwischen schon fast legendären zirkulären Fragen (vgl. Simon & RechSimon, 2001). Zirkuläre Fragen erzeugen Informationen, also Gregory Batesons klassische „Unterschiede, die einen Unterschied machen“. Beim Thema
11 Schulschwänzen eines Kindes macht die Frage nach der Schuhgröße des Vaters sicher keinen Unterschied, hingegen könnte die Frage nach der Sichtweise des Lehrers zu diesem Problem durchaus einen Unterschied machen. Dadurch entstehen auch „Doppelbeschreibungen“, also unterschiedliche Sichtweisen einer Situation. Die Erzeugung wohldosierter Unterschiede ist das Grundthema systemischer Beratung: Unterschiede müssen so groß sein, dass sie vom Klientensystem wahrgenommen werden, sie dürfen aber auch nicht so groß sein, dass das Klientensystem sich abkoppelt, quasi - innerlich oder äußerlich - aus dem Prozess aussteigt.
Zirkuläre Fragen
Ziele • • • •
Aufweichen von Problem-Mustern Verflüssigung von Eigenschaften Doppelbeschreibun gen Außenperspektiven
Arten • • • • • • • • •
Triadische Fragen Ressourcenorientierte Fragen Fragen nach Ausnahmen Fragen nach Problemerklärungen Hypothetische Fragen Skalierungsfragen Fragen nach Zeitdimensionen Zustimmungsfragen - Rangfolgen Wertefragen
Abb. 4: Zirkuläre Fragen
Das Prinzip der Zirkularität kann allerdings auch verhängnisvoll werden, insbesondere wenn man sich dadurch dazu verleiten lässt, den Unterschied zwischen Tätern und Opfern zu verwischen oder gar zu behaupten, es gebe keine Täter und keine Opfer (vgl. z.B. Girgensohn-Marchand, 1992). Wichtig ist es also, zu sehen, dass – auch bei gegenseitiger „zirkulärer“ Beeinflussung – in sozialen Systemen Machtunterschiede bestehen und das nicht jeder jeden gleichmäßig beeinflusst (vgl. dazu den Beitrag von Wagner & Russinger in diesem Band). Dies gehörte einmal im Bereich der Sozialwissenschaften zur Selbstverständlichkeit und brauchte deshalb nicht dauernd wiederholt zu werden, heute muss an diese Selbstverständlichkeit leider insbesondere
12 im systemischen Feld wieder erinnert werden. Dazu liegt die Frage nahe: Unter welchen Bedingungen soll denn nun welche Prämisse gelten, oder ist dies dem Zufall überlassen? In der systemischen Praxis richtet sich dies danach, welche Haltung hilfreich ist, welche Annahme in dieser Situation, in diesem Kontext und diesen Personen gegenüber einen therapeutisch wirksamen Unterschied macht. Es geht also in der Praxis nicht um Bekenntnisse, sondern um Impulse zur wirksamen Veränderung. Dies gilt genauso für die weiteren Grundprinzipien. 2. Allparteilichkeit und Neutralität versus Parteilichkeit Neutralität ist „eine vom Therapeuten in der systemischen Therapie allen Familienmitgliedern gegenüber gezeigte Haltung. In Verbindung mit der Methode des zirkulären Fragens verhindert sie, dass er in familiäre Spiele hineingezogen, zu Koalitionen verführt oder auf irgendeine andere Art zum Mitagieren gebracht wird“ (Simon & Stierlin, 1992, S. 256). Neutralität beinhaltet eine gelassene Neugier gegenüber allen Sichtsweisen, Erklärungen und Werten. Sie ist verbunden mit Allparteilichkeit (multidirectional partiality), welche es „dem Therapeuten ermöglicht, sich empathisch in jedes Familienmitglied, seine Position und insbesondere seine Notlage innerhalb der Familie einzufühlen, seine Verdienste zu erkennen und diesen entsprechend für ihn Partei zu ergreifen. Solche Haltung bedeutet, dass der Therapeut einen Sinn für Gerechtigkeitsausgleich innerhalb der Familie besitzt und jedem einzelnen Familienmitglied das Gefühl eines persönlichen Wertes vermitteln kann“ (ebd., S. 20). Darüber hinaus ist es m.E. sinnvoll, auch Problemen, Ideen und sogar dem Wunsch nach Veränderung gegenüber neutral zu sein, also beispielsweise zu fragen: „Wie würde X das beschreiben? Was spricht dafür, alles so zu lassen, wie es ist?“
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All-Parteilichkeit Multidirectional Partiality
Parteilichkeit Perspektive der sozialen Gerechtigkeit
Neutralität Erzeugt gelassene Neugier gegenüber...
Personen
(Nicht-)Veränderung
Ideen
Problemen
Abb. 5: Neutralität und Allparteilichkeit versus Parteilichkeit
Inzwischen erscheint es mir sinnvoll, zur Ergänzung dieser Grundhaltung der Neutralität und Allparteilichkeit wieder an das Prinzip der Parteilichkeit zu erinnern, wie es in der emanzipatorisch und politisch geprägten Sozialen Arbeit der siebziger Jahre entwickelt und gepflegt wurde und das heute in den berufsethischen Standards der Sozialen Arbeit, z.B. dem Code of Ethics der American Association of Social Workers, formuliert wird. Dieses Prinzip gerät heutzutage – insbesondere in therapeutisch geprägten Kontexten - oft in Vergessenheit. Es kann uns als BeraterInnen daran erinnern, dass wir angesichts ungerechter Strukturen, ökonomischer, politischer und sozialer Benachteiligung, die Verantwortung haben, KlientInnen zu ermächtigen, sich gegen diese Bedingungen zu wehren. Hier ist nicht Neutralität gefragt, sondern engagierte Parteilichkeit oder Solidarität. Insofern hat hier der Empowerment-Ansatz (Stark, 1996; Herriger, 1997) eine wichtige Bedeutung als Ergänzung von Neutraltitä und Allparteilichkeit. Dies heißt nicht, das Prinzip der Allparteilichkeit über Bord zu werfen, sondern seine Grenzen zu sehen und darauf zu achten, wann eine andere Grundhaltung sinnvoller ist.
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3. Hypothetisieren und Grundhaltung des Nicht-Wissens Vor und während eines Gesprächs werden in der systemischen Praxis Hypothesen gebildet. Sie sind nicht zu verstehen als Annahmen, die verifiziert oder falsifiziert werden, wie im Kritischen Rationalismus, sie sind also nicht mehr oder weniger wahr, sondern Hypothesen sind Ideen oder „Geschichten“, die sich als mehr oder weniger nützlich erweisen, um Veränderungen anzuregen. Hypothesen können gebildet werden über die Entstehung und Aufrechterhaltung von Problemen, über die Funktion von Symptomen, die Nachteile von Veränderung und über mögliche Lösungen. Häufig wird dazu gefragt: „Fördert die Hypothesenbildung nicht die Bildung von Vorurteilen?“ Sobald sich Hypothesen jedoch als nicht nützlich erweisen, werden sie fallengelassen und andere Hypothesen treten an ihre Stelle. So kann man fast sagen, das Hypothetisieren der Vorurteilsbildung entgegentritt. Sinnvolles Hypothetisieren ist die Grundlage zirkulärer Fragen und die Basis für Interventionen.
Hypothetisieren
Nützliche Ideen über... Problementstehung
Funktion von Symptomen
Nachteile von Veränderung
Problemerhaltung
Grundhaltung des Nicht-Wissens
Abb: 6 : Hypothetisieren und Grundhaltung des Nicht-Wissens
Lösungen
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Das Hypothetisieren wird ergänzt und durchdrungen von einer Einstellung, die ich – mit Anderson und Goolishian (Anderson & Goolishian, 1992; Anderson, 1999) als „Grundhaltung des Nicht-Wissens“ bezeichnen möchte. Mit dieser Grundhaltung ist nicht gemeint, dass Professionelle so tun sollten, als wüssten sie nichts, vielmehr kommt darin die Art des Umgangs mit dem eigenen Wissen zum Ausdruck. Wir bilden Hypothesen nicht aus einer Haltung des Experten, des Wissens oder gar des BesserWissens, sondern aus der bescheidenen Haltung des Nicht-Wissens. Wir wissen nicht, was das Beste ist für KlientInnen, wir kennen die Lösungen nicht, wir sind keine „Rezeptgeber“, sondern „Befähiger“ und „Ermöglicher“. Dementsprechend nutzen wir unser Wissen „auf Probe“, mit der Bereitschaft, daran zu zweifeln, es in Frage zu stellen und es – auch mit KlientInnen – zu diskutieren und zu lernen. Diese Grundhaltung des Nicht-Wissens kann insbesondere wichtig sein in Zwangskontexten oder in Situationen, in denen SystemikerInnen als ExpertInnen angefragt sind. Auch beim Schreiben von Gutachten, z.B. zu Sorgerechtsregelungen im Jugendamt, bei der Einschätzung von möglichen Gefahren, etwa bei Gewalttätigkeit von Männern gegenüber ihren Partnerinnen oder Kindern, erscheint es mir wichtig, die eigene Einschätzung als vorläufig und revidierbar anzusehen, ohne sich dadurch vor Verantwortung zu drücken (vgl. Wagner & Russinger in diesem Band). „Waches Begleiten statt Kontrolle“ (KronKlees, 1998, S. 27 ff.) ist als Grundhaltung sinnvoll, manchmal lässt sich aber Kontrolle und Zwang nicht vermeiden, ohne die Gefährdung und Verletzung von Menschen in Kauf zu nehmen.
4. Metaperspektiven und reflektierende Grundhaltung Grundlegend für den systemischen Ansatz war es lange Zeit, Prozesse von außen zu beobachten und zu beschreiben. Einen großen Einfluss übte hier das oben erwähnte Modell des Mailänder Teams um Mara Selvini Palazzoli aus. Dort wurde systemische Therapie so ausgeübt, dass zwei TherapeutInnen mit der Familie sprachen, während zwei weitere diesen Prozess – mit Wissen und Einverständnis der KlientInnen - durch einen Einwegspiegel beobachteten. Dieses Setting erlaubte es, das „familiäre Spiel“ – und das Spiel, das BeraterInnen und KlientInnen gemeinsam erzeugten - von außen, also im Sinne einer Metaperspektive, zu beobachten. Dabei kamen oft ganz
16 erstaunliche neue Erkenntnisse zu Tage. Einen entscheidenden Impuls erhielt die systemische Beratung dann durch die Erfindung des Reflecting Teams durch den Norweger Tom Andersen (1990). Bei diesem reflektierenden Team bleibt der beobachtende Berater nicht hinter einem Spiegel verborgen, sondern nimmt am Gespräch zunächst aufmerksam, aber schweigend teil. Nach einer gewissen Zeit werden die KlientInnen gebeten, sich zurückzulehnen und nun ihrerseits dem Gespräch der BeraterInnen zu lauschen. Die „ExpertInnen“ verlassen damit ihren geschützten Rahmen und tauschen ihre Meinung in Gegenwart der KlientInnen aus. Dieses Vorgehen hat sich als äußert wirksam, zeitsparend und anregend erwiesen. Diese Methode hat sich inzwischen ebenfalls zu einer Grundhaltung weiterentwickelt: Prozesse werden beobachtet und kommentiert, verändern sich dadurch, diese Veränderung kann wiederum kommentiert werden usw. Als wichtig erweist sich das Einnehmen einer Metaperspektive – durch eine Pause im Gespräch, ein reflektierendes Team oder durch andere Maßnahmen – insbesondere dann, wenn der beraterische Prozess aus irgendeinem Grunde ins Stocken gerät, wenn „Sand im Getriebe“ ist, wenn der oder die Berater unter Druck geraten bzw. nicht mehr weiter wissen.
5. Strategisches Vorgehen und einfühlendes Verstehen Systemische Beratung ist von ihren Ursprüngen her direktive Beratung (vgl. z.B. Fisch et al.,1987; Selvini Palazzolo et al., 1985), und zwar nicht inhaltlich direktiv, sondern prozess-direktiv. Der Berater gestaltet und lenkt den Prozess, ohne genau zu wissen oder vorherbestimmen zu können, wo er hinführen wird. Die moderne Systemtheorie geht aus von dem Postulat der „Unmöglichkeit instruktiver Interaktion“, d.h. von der Annahme, dass es unmöglich ist, lebende Systeme einseitig zu manipulieren und in einen bestimmten Zielzustand hinein zu lenken. Möglich und sinnvoll ist es aber, zu „verstören“, d.h. das System zu einer Neu-Organisation anzuregen. Wie dieser Prozess genau aussieht und wohin er führt, hängt nicht (einseitig) vom Berater ab, sondern wird wesentlich (mit)bestimmt vom Klientensystem. Systemtheoretiker nennen dies die „Strukturdeterminiertheit“ sozialer Systeme, d.h. sie sind weitgehend von ihrer eigenen Struktur determiniert und übersetzen Einflüsse von außen grundsätzlich entsprechend ihrer eigenen Struktur in die eigene Melodie (vgl. z.B. Fischer, 1991; von Schlippe & Schweitzer 1996, S. 67 ff.). Strategisches Vorgehen bedeutet, das systemische
17 Beratung darauf abzielt, die Verstörung nicht nur zufällig geschehen zu lassen, sondern sie planvoll zu erzeugen. Theodor Bardmann spricht hier von „Irritation nach Plan“ (Bardmann & Kersting, 1991). Eine früher häufig genutzte Möglichkeit, die NeuOrganisation und Veränderung in Klientensystemen anzuregen waren Interventionen – Verhaltensexperimente, Beobachtungsaufgaben oder Rituale, welche die KlientInnen zwischen den Sitzungen ausführen, um dann in der nächsten Sitzung darüber zu berichten. Die Beziehung zwischen BeraterIn und KlientIn sei nicht so wichtig, wurde von SystemikerInnen noch vor 20 Jahren oft behauptet, bedeutsam sei vielmehr das Stören von „dysfunktionalen Spielen“ oder „Mustern“. Inzwischen findet eine zunehmende Abkehr vom strategischen Prinzip statt und Interventionen werden weniger, von manchen BeraterInnen gar nicht mehr, verwendet (z.B. Hoffman, 1992; Anderson, 1999), weil sie davon ausgehen, dass wirksame Impulse zur Veränderung schon allein durch die Art der Gesprächsführung stattfinden. Man könnte dies als Entwicklung vom strategischen Vorgehen zum Mit-Sein (Lynn Hoffman) beschreiben: es geht nicht mehr darum, mit möglichst geschickten Interventionen oder Verschreibungen Muster im Klientensystem zu verändern, sondern KlientInnen in ihren Veränderungsprozessen aufmerksam zu begleiten. Systemische Therapie wird als Begegnung verstanden und weniger als Interventionstechnik (vgl. Welter-Enderlin & Hildenbrand, 1999). Lynn Hoffman spricht von einer „gemeinschaftsorientierten Perspektive“ und betont mehr das verständnisvolle Zuhören, statt geschickter Interventionen und gekonnter Fragen. Menschen fühlen sich verstanden, dadurch entsteht Hoffnung (Hoffman, 2000). Postmoderne Praktiker entdecken so Carl Rogers wieder! Damit geht eine Entwicklung einher, die man als „Wieder-Entdeckung der Person“ (Selvini-Palazzoli u.a., 1992) bezeichnen kann. Mara Selvini Palazzoli wendete sich in ihren letzten Lebensjahren scharf gegen das, was sie den „systemischen Holismus“ nannte, bzw. gegen den „systemischen Reduktionismus“, also die Tendenz, nur das „System“ zu sehen und die einzelne Individuen darin zu vernachlässigen. 6. Wertschätzung, Respekt und Respektlosigkeit In der systemischen Praxis hat sich eine gewisse Respektlosigkeit, insbesondere gegenüber den Problemen der KlientInnen, als nützlich erwiesen. Diese Respektlosigkeit kann sich auch auf Gefühle ausdehnen, sofern diese als
18 „Maschengefühle“ (im sinne der Transaktionsanalyse) oder als Züge in einem destruktiven Spiel erkennbar werden. Gleichzeitig zeigen SystemikerInnen der Person und ihrer Autonomie gegenüber einen – für manche Vertreter sozialer Kontrolle manchmal fast unvernünftig anmutenden - unerschütterlichen Respekt.
Respekt und Respektlosigkeit
• • • • • •
Respekt vor der Person Respektlosigkeit vor Symptomen, Mustern und Spielen Sinnvoll vor allem bei erstarrten Mustern Verstörung durch Neues und Ungewöhnliches Wohldosierte Unterschiede machen Symptome personifizieren und befragen
Abb. 7: Respekt und Respektlosigkeit
Respekt und Wertschätzung gilt der Person, Respektlosigkeit den Symptomen oder Problemen. Nur in Verbindung mit Respekt und Wertschätzung kann Respektlosigkeit nützliche Impulse zur Veränderung setzen. Der Wertschätzung gilt dabei der Vorrang, Wertschätzung kann geradezu als das mächtigste Wirkprinzip systemischer Praxis betrachtet werden (Mücke, 2000). Auch lösungsorientierte KurzzeittherapeutInnen lernen inzwischen den klientenzentrierten Ansatz von Carl Roger wieder schätzen. „Wiederentdeckt wurde auch das Werk von Carl Rogers. Wir erkannten die Bedeutung von Empathie, Herzlichkeit, Echtheit, Verständnis und wechselseitiger Bestätigung, besonders aus der Sicht des Klienten“ (Duncan u.a.1998, S. 237). „Tief in der Mystik um das Werk Ericksons, Haleys und die gesamte strategische Tradition versunken, hielten wir uns für die Innovationsagenten par excellence. Mit den richtigen Umdeutungen, Paradoxien, Techniken oder Standpunktbestimmungen würde das Problem schon zu packen sein. Wir wussten, dass die therapeutische Beziehung wichtig war: wichtig aber hauptsächlich in dem sinne, dass sie den Einklang herstellte, der den Klienten gefügig macht. Und so verfielen wir aus Expertenarroganz gegenüber den Problemen in Hybris und machten uns manchmal die Klienten zu Gegnern – vor
19 allem die Therapie-Veteranen oder, wie wir sie damals nannten, ‚Therapeutenkiller’. Krass ausgedrückt, sie wurden zu Trägern eines Problems, bei dessen Lösung sie nur stören konnten“ (Duncan u.a. 1998, S. 236). 7. Lösungs- und Ressourcenorientierung und ein klarer Blick für Defizite Eine wichtige Fokusverschiebung verläuft in der systemischen Praxis vom Individuum zum Kontext der Problementstehung: wer ist an der Problemerzeugung und an der Aufrechterhaltung des Problems beteiligt? Ein weiterer wichtiger Schritt verlagert den Fokus vom Problemsystem zum Lösungssystem: wer ist wichtig für die Lösung des Problems? Steve de Shazer und sein Team haben die Lösungsorientierung ausgebaut zu einer eigenen Beratungsform. Sie stellen standardmäßig die sogenannte „Wunderfrage“. „Angenommen, ihr Problem ist gelöst: was ist dann anders?“ „Welche Ausnahmen vom Problem gab es? Wann und wo war das? Was war damals anders?“ Solche Fragen verlagern den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit von Problemen und von dem, was nicht funktioniert, hin zu Lösungen. Außerdem wird nach Ressourcen gefragt: welche Beteiligten haben welche Fähigkeiten, Stärken, kraftvollen und „gesunden“ Seiten? (Vgl. den Beitrag von Conen in diesem Band.) Dabei werden leider manche Ressourcen aus dem systemischen Diskurs fast völlig ausgeblendet, insbesondere religiöse und spirituelle Ressourcen (vgl. Schneider-Harpprecht in diesem Band).
Ressourcen
Materielle
Soziale
Abb. 8: Ressourcen
Kulturelle
Religiöse, spirituelle
20 Eine vorschnelle oder ausschließliche Ressoucenorientierung birgt aber auch Probleme: sie kann die Ausblendung von realen materiellen Problemen begünstigen bzw. dazu ver-führen, sie zu Kommunikationsproblemen umzudeuten (vgl. McCarthy, 1995). Manchmal kann es nützlich sein, dass SystemikerInnen das Prinzip der Respektlosigkeit auch gegenüber ihren eigenen Ideen anwenden. Es könnte sein, dass sich dabei manche „systemische Mythen“ als wenig nützlich erweisen, z.B. der Mythos, dass Beziehungs- oder Kommunikationsprobleme der Kern jedes psychosozialen Problems seien. Eine Sensibilität für das „Elend der Welt“ (Bourdieu), erscheint mir ein wichtiger Kontrapunkt zur Ressourcenorientierung, die ansonsten leicht zur Ideologie verkommt. Sie kann insbesondere zur Machtblindheit werden bzw. zur Blindheit gegenüber dem „Elend der Welt“. Silvia Staub-Bernasconi hat uns darauf hingewiesen, dass die Sichtweise der Postmoderne die Sichtweise derer ist, die Gipfelsicht haben (StaubBernasconi, 1989, S. 306). Wesentlich ist auch hier das Prinzip, einen Unterschied zu machen, der einen wirklichen Unterschied macht. Macht es in dieser Situation, in dieser Familie, bei diesem Klienten, einen Unterschied, den Blick vor allem auf die Ressourcen zu richten – oder macht es eher einen sinnvollen Unterschied, reale Probleme zu analysieren und zu „bearbeiten“, z.B. die auf materielle Existenzsicherung zu fokussieren oder Sachhilfe zu leisten? Dies kann auch bedeuten, dass insbesondere strukturelle Defizite, die soziale Probleme erzeugen oder verschärfen, klar benannt werden und dass es ein Teil systemischer Praxis ist, an ihrer Beseitigung (mit)zuarbeiten: fehlende oder unzureichende soziale Infrastruktur, strukturelle Defizite im „Versorgungssystem“, ungleiche Verteilung von materiellen Ressourcen und Chancen usw. Man könnte deshalb auch sagen, dass ein klarer Blick für Defizite die Ressourcenorientierung ergänzen muss.
8. Kundenorientierung Systemische Beraterinnen orientieren sich weniger an eigenen Zielen, wie z.B. „psychisches Wachstum fördern“, sondern an den Interessen und Zielen ihrer KlientInnen. Deshalb besteht ein wesentlicher Teil der Beratung in der Klärung der Aufträge der KlientInnen (vgl. den Beitrag von Herwig-Lempp in diesem Band). Diese werden so weit operationalisiert, dass möglichst allen Beteiligten klar wird, wie die
21 Zielerreichung aussieht. Ob und wann das Ziel erreicht ist, das entscheidet der Klient bzw. Kunde. Er ist der Experte in Bezug auf die Inhalte der Beratung, also der „Kundige“ (Hargens) seines Problems und auch der Experte seiner Lösung – der Berater ist lediglich Experte des Prozesses. Insbesondere stark belastete oder arme „Multiproblemfamilien“ formulieren ihre Aufträge oft nicht explizit mit Worten, sondern implizit, durch Symptome. Dann gilt es, das BeraterInnen diese impliziten Aufträge entschlüsseln (Kron-Klees, 1998, S. 10; Pfeifer-Schaupp, 2002). Kundenorientierung als „systemische Dienstleistungsphilosophie“ bedeutet, „dass Leistungserbringer möglichst genau das anbieten, was ihre Kunden subjektiv haben wollen und nicht das, was sie nach Meinung der Fachleute ‚brauchen’... Scheinbar ‚unkooperative’, ‚unmotivierte’ oder ‚schwierige’ Klienten, Angehörige oder Fachleute zeigen sich in dieser Pespektive einfach als Nicht-Kunden, die eben keinen Bedarf formuliert haben... Andererseits können damit aber auch Versorgungslücken deutlich werden: Die Kunden wollen schon etwas, aber nicht das, von dem die Fachleute bisher dachten, dass die Kunden es wollen“ (v. Schlippe & Schweitzer, 1996, S. 25). Die Kundenzufriedenheit wird zum wesentlichen Kriterium für die Qualitätskontrolle systemischer Praxis. Aber auch hier ist wieder Vorsicht geboten: es kann auch verhängnisvoll sein, hilfebedürftige Menschen vorschnell und immer zu „Kunden“ umzudefinieren bzw. „Nicht-Kunden“ oder „Nicht-Nutzer“ auszublenden (vgl. Pfeifer-Schaupp, 2002). Außerdem ist zu berücksichtigen, dass soziale Arbeit in den meisten Feldern verschiedene Kunden mit teilweise divergierenden Interessen hat, die Wünsche von KlientInnen sind dabei nur ein Aspekt, berechtigte Interessen und „Kundenwünsche“ haben meist auch andere Auftraggeber (Angehörige, Institutionen, Geldgeber, Kommunen oder Gemeinwesen etc.). Jürgen Armbruster bemerkt dazu treffend: „Hilfreiche Entwicklungen führen nicht immer zu zufriedenen Kunden, oft finden Entwicklungen auch über die Entwicklung einer hilfreichen Streitkultur statt. Die Kundenmetapher ist häufig mit der Idee passiven Konsums einer Dienstleistung verbunden und weniger mit einem Prozess der Ko-Produktion. Die Kundenzufriedenheit ist eine mögliche Dimension der Bewertung sozialer Arbeit.“5
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22 9. Kontextorientierung Als wesentlich erweist sich der jeweilige Kontext eines Verhaltens. Es kommt also häufig zunächst darauf an, das Problem oder Symptom zu „re-kontextualisieren“, das heißt, es wieder in einen zeitlichen, sozialen bzw. interaktiven Kontext zu stellen. Dies geschieht beispielsweise durch Fragen danach, wann, wem gegenüber und wie ein problematisches Verhalten gezeigt wird, wer darauf wie reagiert und wann das problematische Verhalten nicht oder weniger gezeigt wird. Insbesondere in psychiatrischen Arbeitsfeldern kann diese Re-Kontextualisierung problematischen Verhaltens auch entpathologisierend wirken. Aus Krankheiten, auf deren Verlauf man keinen Einfluss hat und die nur mit Medikamenten behandelt werden können, werden soziale Probleme oder psychosoziale Krisen. Dabei geht es nicht um ein Entweder – Oder, sondern um die Haltung des Sowohl-als-auch (vgl. dazu Kleve in diesem Band): Krankheiten können auch als körperlich (mit)verursachte Störungen aufgefasst werden, deren Beeinflussung durch Medikamente sinnvoll sein kann, aber jede Krankheit hat zumindest auch eine psychosoziale Dimension, die soziale Einflussmöglichkeiten und Verhaltensspielräume für die Beteiligten eröffnet. Die Bedeutung des Kontextes liegt aber nicht nur auf der Ebene der KlientInnen und ihres „symptomatischen Verhaltens“. Sie erweist sich genauso in einer besonderen Sensibilität für den Kontext der BeraterInnen: welche Aufträge gibt die Institution, in der ich tätig bin? Wodurch unterscheiden sich diese Aufträge von denen anderer Institutionen? Was sind die speziellen Kompetenzen und Möglichkeiten, aber auch die Grenzen dieser Institution? Besonders in nichttherapeutischen psychosozialen Handlungsfeldern besteht eine Tendenz der Vermischung von sozialer Hilfe und sozialer Kontrolle bzw. der Verschleierung sozialer Kontrolle als soziale Hilfe oder als Therapie. Es ist ein Mythos, der immer wieder gepflegt wird (z.B. Kron-Klees, 1998, S. 27ff.), dass in der systemischen Praxis kein Zwang ausgeübt werde. Dies geht an der Realität vorbei und wirkt kontraproduktiv. Sinnvoll ist statt dessen die klare Markierung des jeweiligen Kontexts und seiner spezifischen Erfordernisse (vgl. Cirillo & di Blasio, 1992; Wagner & Russinger in diesem Band). 10. Die Bedeutung von Wirklichkeitskonstruktionen Gefragt wird in der systemische Praxis nicht danach, wie es „wirklich ist“, sondern nach Ideen und Bedeutungsgebungen. Probleme und Symptome werden gesehen im
23 Zusammenhang mit erstarrten Wirklichkeitskonstruktionen. Lösungen werden erwartet von der Aufweichung oder Verflüssigung von erstarrten Wirklichkeitskonstruktionen. Sie sollen neue Möglichkeiten eröffnen, nicht „richtige“ Wirklichkeitskonstruktionen an die Stelle von falschen setzen. Systemische Beratung hat also in diesem Sinne keine präskriptiven, also vorschreibenden, sondern einen optionalen, d.h. Möglichkeiten eröffnenden Charakter (vgl. Schmid, 1999). Systemische Praxis wird – in Anlehnung an Heinz von Foerster (vgl. z.B. von Foerster, 1993) - oft verstanden unter dem Leitmotiv: „Anders sehen – anders handeln“. Die Erkenntnistheorie des (radikalen) Konstruktivismus schien – zumindest eine Zeit lang – mit dem systemischen Ansatz fast untrennbar verknüpft zu sein: Wir erkennen nicht die Welt, sondern wir konstruieren als Beobachter eine Welt (vgl. Schneider in diesem Band). Manchmal geriet dabei allerdings in Vergessenheit, was Keeney bereits 1987 betonte: Der Konstruktivismus ist nicht die beste Therapierichtung, sondern eine Art und Weise, therapeutische und beraterische Prozesse zu betrachten (Keeney, 1987, 1S. 12). Niklas Luhmann benannte außerdem bereits 1987 neun ungelöste Probleme des Konstruktivismus (Luhmann, 1987, S. 310 – 320), bis heute werden diese in der Theoriedebatte kaum oder gar nicht thematisiert, geschweige denn beantwortet, vielmehr wird so getan, als wäre das konstruktivistische Theorieprogramm ein kompletter Erfolg. Inzwischen wird immer klarer. Nicht jeder Einzelne konstruiert seine Welt als Individuum, sondern „wir“ konstruieren im Gewebe sozialer Beziehungen und bestimmt durch gesellschaftliche Strukturen „unsere“ Welt, man könnte auch sagen: Klassen oder soziale Milieus konstruieren ihren Habitus (Bourdieu) – und werden ihrerseits von ihm mit-konstruiert. Dies ist die Perspektive des „sozialen Konstruktionismus“, die gegenüber dem radikalen Konstruktivismus im systemischen Feld zunehmend an Bedeutung gewinnt (vgl. z.B. Anderson, 1999; Roth & Deissler, 2001). IV. Ausblick: Entwicklungsaufgaben des systemischen Ansatzes Zum Schluss möchte ich zusammenfassend einige „Entwicklungsaufgaben“ des systemischen Ansatzes benennen. •
Die Entdeckung der Gefühle und des Körpers im systemischen Feld hat begonnen und insbesondere mit der Methode der Strukturaufstellungen wichtige
24 Impulse erhalten. Immer noch scheinen mir allerdings Sprache und Kognitionen ein zu großes Gewicht zu haben und die Wirklichkeit von Emotionen und Verhalten in den Schatten zu stellen (vgl. dazu Müller in diesem Band). •
Systemisch ist nicht alles, notwendig erscheint zunehmend der Anschluss an andere Konzepte, in nicht-therapeutischen Kontexten insbesondere an das Konzept der Lebensweltorientierung und des Empowermentansatzes (vgl. dazu Müllensiefen und Müller in diesem Band). Diese Integration anderer Ansätze hat allerdings erst begonnen und muss vertieft werden.
•
Die systemische Überheblichkeit, die sich in der Allmachtsphantasie ausdrückte „Wir lösen jedes Problem in zehn Sitzungen“ und andere Ansätze als unnötig und anachronistisch bespöttelte, scheint glücklicherweise vorbei zu sein. Man kann statt dessen im systemischen Feld in den letzten Jahren eine Entwicklung beobachten, die als Wiederentdeckung der Bescheidenheit beschrieben werden kann. Diese Bescheidenheit könnte sich produktiv ausdrücken in einer Verstärkung von Praxisreflexion und Praxisforschung (vgl. dazu Armbruster und Armbruster & Rein in diesem Band; Pfeifer-Schaupp, 2002).
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Eine politische (Selbst)Kritik der systemischen Praxis scheint mir fällig. Es ist auf die Verantwortung der SystemikerInnen für das von ihnen produzierte Wissen hinzuweisen, besonders wichtig erscheint mir die Überlegung: Wem und wozu dient das Wissen, z.B. des radikalen Konstruktivismus? Im „Leben des Galilei“ nennt Brecht die Wissenschaftler ein „Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können“ (Brecht, 1978, S. 537). Wofür lassen sich SystemikerInnen mieten? Wo passen ihre Konzepte allzu bruchlos zur menschenverachtenden, sich als Modernisierung gebärdenden Offensive des Neoliberalismus und zu einer Globalisierung von oben im Dienste von multinationalen Konzernen?
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Dies steht in Verbindung mit einer Öffnung systemischer Praxis für politische und ökonomische Wirklichkeiten: Armut, soziale Ausgrenzung, Flüchtlingselend, Zerstörung einer für alle gleichermaßen zugänglichen Gesundheitsversrgung, fortschreitende Demontage des Systems sozialer Sicherung und Verabschiedung des Sozialstaatsprinzips unserer Verfassung unter dem Deckmantel einer angeblichen „Modenisierung des Wohlfahrtsstaates“ scheinen mir Themen zu sein, denen sich (auch) SystemikerInnen stellen müssen, die
25 aber im systemischen Feld kaum diskutiert werden. In einer solchen Öffnung können auch Chancen für konzeptionelle Weiterentwicklungen liegen: insbesondere die Öffnung systemischer Praxis für gemeinwesenbezogene bzw. stadtteilbezogene Arbeitsansätze (vgl. Müllensiefen in diesem Band). •
Notwendig erscheint mir auch eine selbstkritische Weiterentwicklung des Theorieprogramms (vgl. dazu den Beitrag von Wagner & Russinger in diesem Band). Für wesentlich halte ich den Aufbruch zu neuen Ufern, auch in der philosophischen Reflexion der Praxis. Hier sollte es darum gehen, neue „Möglichkeitsräume“ zu erschließen, auszuloten, zu öffnen, sowie Zitierkartelle aufzulösen und nicht darum, durch das Zitieren bestimmter Autoritäten den Zugang zu Diskursgemeinschaften zu erlangen bzw. die Zugehörigkeit zu denselben zu demonstrieren, die eigenen Aussagen dadurch zu legitimieren oder ihnen höhere Weihen zu verleihen.
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