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17 Der starre K¨orper Unter einem starren K¨orper verstehen wir ein ausgedehntes Objekt, das sich frei im Raum bewegen und drehen kann, seine Form dabei aber nicht ver¨andert. Etwas genauer formuliert, die Verteilung der Masse im Innern des K¨orpers soll sich zeitlich nicht ver¨andern. Von der Mechanik der Punktteilchen ausgehend, k¨onnen wir uns vorstellen, dass es sich dabei um ein System von vielen Teilchen handelt, deren Abst¨ande zueinander durch Zwangskr¨afte festgehalten werden. Als einfachstes Beispiel f¨ur einen solchen idealisierten starren K¨orper kennen wir bereits die Hantel aus Abbildung 5.3. Wir k¨onnen uns also vorstellen, dass die einzelnen Teilchen durch ‘virtuelle Stangen’ zusammengehalten werden, die den Abstand von jeweils zwei Teilchen fixieren. Die einzigen verbleibenden Bewegungen sind dann eine Verschiebung des ganzen K¨orpers im Raum, oder die Drehung des K¨orpers um eine Achse. Das Ziel dieses Kapitels ist es, die Bewegungsgleichungen f¨ur einen starren K¨orper aufzustellen und seine wichtigsten mechanischen Eigenschaften zu verstehen. Geschwindigkeit und Winkelgeschwindigkeit Um den Ort festzulegen, an dem sich ein starrer K¨orpers im Raum befindet, denken wir uns einen speziell ausgew¨ahlten Punkt in dem K¨orper als Bezugspunkt markiert. Wie wir gleich sehen werden, vereinfachen sich die meisten Gleichungen erheblich, wenn wir den Schwerpunkt als Bezugspunkt verwenden. Wir legen uns aber an dieser Stelle noch nicht fest. Den Ort, an dem sich der Bezugspunkt zur Zeit t im Raum befindet, bezeichnen wir mit r(t). Zus¨atzlich m¨ussen wir noch die genaue Lage des K¨orpers im Raum festlegen. Dazu denken wir uns zus¨atzlich zum Bezugspunkt noch drei orthogonale Einheitsvektoren an den K¨orper angeheftet. Wie in Abbildung 17.1(a) gezeigt, bezeichnen wir diese Vektoren mit n a , wobei der Index a die Werte {1, 2, 3} annimmt. Sie sollen eine positiv orientierte Orthonormalbasis bilden. Es gilt also na · nb = δab ,
na × nb = εabc nc .
(17.1)
¨ F¨ur die Vektorindizes a, b, c, . . . gelten die u¨ blichen Regeln. Uber doppelt vorkommende Indizes ist jeweils zu summieren, mit δab wird das Kronecker-Symbol bezeichnet, und mit εabc das Levi-Civita-Symbol, dessen Vorzeichen durch ε123 = 1 festgelegt ist. Wenn sich der K¨orper bewegt, so sind im allgemeinen auch die Vektoren n a Funktionen der Zeit. Umgekehrt bestimmen diese Vektoren die Lage des K¨orpers eindeutig, so dass wir aus den Funktionen n a (t) die Rotationsbewegung des K¨orpers ablesen k¨onnen. Daraus ergibt sich die folgende Beschreibung der Bewegung eines starren K¨orpers im Raum: Die Bahn eines starren K¨orpers wird durch die Angabe des Ortes r(t) des ko¨ rperfesten Bezugspunktes sowie der k¨orperfesten Basis na (t) zu jedem Zeitpunkt beschrieben. Damit haben wir ein Beschreibung des Konfigurationsraumes eines starren K¨orpers angegeben. Um die ¨ Bewegungsgleichungen aufzustellen, m¨ussen wir die zeitlichen Anderungen dieser Gr¨oßen betrachten. Unter der Geschwindigkeit v(t) des K¨orpers verstehen wir einfach die Zeitableitung von r(t), also die Geschwindigkeit des Bezugspunktes, ˙ v(t) = r(t). (17.2) Um die Ableitung der Basis na nach der Zeit zu berechnen, m¨ussen wir beachten, dass es sich zu jeden Zeitpunkt um eine Orthonormalbasis handelt. Die Gleichung (17.1) gilt zu jeder Zeit t. Folglich gilt f¨ur die Ableitungen der Basisvektoren na nach der Zeit na · n˙ b + n˙ a · nb = 0. 185
(17.3)
replacements
(c) (d)
z
z ω
n1 n3 ez
n˙ 3
n˙ 1
y
y n˙ 2
n2 ey x
ex
x (b)
(a)
Abbildung 17.1: Die Lage eines starren K¨orpers im Raum wird durch die Angabe einer Orthonormalbasis na definiert, die fest mit dem K¨orper verbunden ist (a). Rotiert der K¨orper, so ist deren Zeitableitung n˙ a durch das Kreuzprodukt mit der Winkelgeschwindigkeit ω gegeben (b).
Das ergibt sich unmittelbar aus (17.1), wenn man beide Seiten nach der Zeit ableitet. Wir wollen zeigen, dass es einen eindeutig bestimmten Vektor ω gibt, mit der Eigenschaft n˙ a = ω × na .
(17.4)
Der Vektor ω, der im allgemeinen nat¨urlich auch von der Zeit abh¨angt, wird als Winkelgeschwindigkeit bezeichnet. Die Zeitableitungen n˙ a der Basisvektoren stehen senkrecht zu den jeweiligen Basisvektoren und zur Winkelgeschwindigkeit. Wie man in Abbildung 17.1(b) erkennen kann, f¨uhrt der K¨orper eine Rechtsdrehung um eine Achse aus, die in die Richtung von ω zeigt. Wir beweisen zuerst, dass der Vektor ω durch (17.4) eindeutig bestimmt ist. Dazu multiplizieren wir diese Gleichung skalar mit εabc nb , wobei dann u¨ ber a und b zu summieren ist. Das ergibt εabc n˙ a · nb = εabc (ω × na ) · nb = εabc (na × nb ) · ω = εabc εabd nd · ω = εabc εabd ωd = 2 ωc .
(17.5)
Hier haben wir zuerst die zyklische Eigenschaft des Spatproduktes verwendet, dann das Kreuzprodukt der Basisvektoren ausgewertet, und schließlich haben wir benutzt, dass die Vektoren n a eine Orthonormalbasis bilden, und den Vektor ω bez¨uglich dieser Basis in seine Komponenten zerlegt. Es folgt somit aus (17.4) ω = ω a na ,
mit ωa = ω · na =
1 εabc n˙ b · nc . 2
(17.6)
Nun m¨ussen wir noch zeigen, dass dieser Vektor auch tats¨achlich die Gleichung (17.4) erf¨ullt. Einsetzen ergibt 1 1 ω × nd = ωa na × nd = εabc (n˙ b · nc ) na × nd = εabc εade (n˙ b · nc ) ne 2 2 1 1 (17.7) = (δbd δce − δbe δcd ) (n˙ b · nc ) ne = (n˙ d · ne − n˙ e · nd ) ne . 2 2 186
Addieren wir zu dem Ausdruck in der Klammer die H¨alfte der linken Seite von (17.3), so ergibt sich ω × nd = (n˙ d · ne ) ne = n˙ d .
(17.8)
Die letzte Gleichung folgt wieder aus der Tatsache, dass die Vektoren n e eine Orthonormalbasis bilden. Das Ergebnis fassen wir wie folgt zusammen: Der Bewegungszustand eines starren K¨orpers wird durch den Ort r und die Geschwindigkeit v des Bezugspunktes, sowie die Orthonormalbasis na und die Winkelgeschwindigkeit ω festgelegt. Wie wir aus der Mechanik der Punktteilchen wissen, legen die Bewegungsgleichung die zeitliche Entwicklung eines Systems fest, sobald wir den Bewegungszustand, also die Orte und Geschwindigkeiten aller Teilchen, zu einem Zeitpunkt kennen. Wir werden jetzt zeigen, dass es sich bei den angegebenen Gr¨oßen um die entsprechenden Bewegungsgr¨oßen eines starren K¨orpers handelt. Aufgabe 17.1 Wieviele unabh¨angige reelle Zahlen muss man festlegen, um den Bewegungszustand eines starren K¨orpers eindeutig zu bestimmen? Das k¨orperfeste Koordinatensystem Im folgenden ist es n¨utzlich, sich den starren K¨orper als ein System von Punktteilchen vorzustellen. Die Teilchen sollen durch Zwangskr¨afte so aneinander gebunden sein, dass sich der K¨orper als ganzes frei bewegen, aber seine Form dabei nicht ver¨andern kann. Konkret k¨onnen wir uns vorstellen, dass zwischen jeweils zwei Teilchen eine Zwangskraft wirkt, die den Abstand der beiden Teilchen fixiert. Als einfachstes Beispiel f¨ur einen solchen idealisierten starren K¨orper hatten bereits die Hantel in Abbildung 5.3 kennen gelernt. Ein etwas anspruchsvolleres Beispiel war das Rad aus Kapitel 12. Nun wollen wir eine ganz allgemeine Anordnung von Punktteilchen betrachten. Aufgabe 17.2 Man stelle sich den K¨orper aus N Teilchen aufgebaut vor, die durch virtuelle Stangen miteinander verbunden sind. Wieviele solcher Stangen sind mindestens erforderlich, um den K o¨ rper vollst¨andig starr zu machen? Wie u¨ blich nummerieren wir die Teilchen mit einem Index α durch, und bezeichnen den Ort des Teilchens α zur Zeit t mit rα (t). Jedes Teilchen nimmt dann einen festen Ort innerhalb des K¨orpers ein. Wenn wir den Abstandsvektor uα = rα − r des Teilchens vom Bezugspunkt bez¨uglich der k¨orperfesten Basis n a in seine Komponenten zerlegen, so sind diese Komponenten zeitlich konstant. Es gilt also rα (t) = r(t) + uα (t) = r(t) + uα,a na (t),
(17.9)
wobei die k¨orperfesten Koordinaten uα,a des Teilchens nicht von der Zeit abh¨angen. Wir k¨onnen dabei den Bezugspunkt als Ursprung, und die Vektoren na als die Basis eines kartesischen Koordinatensystems betrachten. Durch den Bezugspunkt r und die Basis na wird ein k¨orperfestes Koordinatensystem definiert, in dem die Position jedes Teilchen innerhalb des K¨orpers durch zeitunabh a¨ ngige Koordinaten festgelegt ist. Dieser Sachverhalt ist in Abbildung 17.2(a) dargestellt. Das Teilchen befindet sich am Ort r α innerhalb des K¨orpers. Der Vektor uα ist der Ortsvektor des Teilchens relativ zum Bezugspunkt r. Seine Komponenten uα,a bez¨uglich der Basis na ergeben sich als die Projektionen auf die mit {1, 2, 3} bezeichneten 187
(c) (d)
pα
1 z
rα
y
3
uα × p α
1
rα
uα
uα
r
r
3
o 2
2
(a)
(b)
x
Abbildung 17.2: Die k¨orperfesten und damit zeitunabh¨angigen Koordinaten u α,a des Teilchens α sind die Komponenten des Abstandsvektors u = r α − r vom Bezugspunkt, dargestellt bez¨uglich der k¨orperfesten Basis na (a). Jedes Teilchen tr¨agt mit seinem Impuls p α zu Gesamtimpuls bei und mit dem Kreuzprodukt uα × pα zum inneren Drehimpuls (b).
Koordinatenachsen. Da sich sowohl der Bezugspunkt als auch diese Koordinatenachsen mit dem K¨orper mitbewegen, sind die Koordinaten uα,a des Teilchens zeitlich unver¨anderlich. Nun k¨onnen wir leicht zeigen, dass wir den Bewegungszustand jedes einzelnen Teilchens aus den oben definierten Bewegungsgr¨oßen des starren K¨orpers bestimmen k¨onnen. Der Ort ist durch (17.9) gegeben, und die Geschwindigkeit des Teilchens ergibt sich zu ˙ + uα,a n˙ a (t) = v(t) + uα,a ω(t) × na (t). vα (t) = r˙ α (t) = r(t)
(17.10)
Die Geschwindigkeiten der einzelnen Teilchen lassen sich folglich durch die Geschwindigkeit v und die Winkelgeschwindigkeit ω des K¨orpers ausdr¨ucken, die im allgemeinen ebenfalls Funktionen der Zeit sind. Die Kenntnis der Bewegungsgr¨oßen r, na , v und ω reicht somit aus, um den Bewegungszustand jedes Teilchens zu bestimmen, sobald wir die k¨orperfesten Koordinaten u α,a des Teilchens kennen. In diesem Sinne legen die Koordinaten uα,a der Teilchen den inneren Aufbau des K¨orpers fest, w¨ahrend die Bewegungsgr¨oßen seine Bewegung im Raum beschreiben. Wie wir gleich sehen werden, geh¨oren zum inneren Aufbau das K¨orpers noch andere Daten, wie zum Beispiel die Massen m α der einzelnen Teilchen, oder deren Ladungen qα , wenn es sich um einen geladen K¨orper handelt. Entscheidend ist, dass diese Gr¨oßen zeitlich unver¨anderlich sind. Nur die Bewegungsgr¨oßen h¨angen von der Zeit ab. F¨ur sie m¨ussen wir die Bewegungsgleichungen aufstellen, wenn die die Bewegungen eines starren K¨orpers berechnen wollen. Bevor wir dies tun, wollen wir uns noch kurz u¨ berlegen, wie wir eine solche Bewegung explizit, also letztlich numerisch beschreiben k¨onnen. Dazu m¨ussen wir zus¨atzlich ein raumfestes Koordinatensystem einf¨uhren, auf welches wir die Darstellung der Bahn beziehen. Wie u¨ blich bezeichnen wir den Ursprung dieses Koordinatensystems mit o, und die Basis mit e i , wobei der Index i die Werte {x, y, z} annimmt. Ort und Geschwindigkeit des Bezugspunktes lassen sich dann durch ihre Koordinaten bzw. Komponenten bez¨uglich dieses Koordinatensystems ausdr¨ucken, r(t) = o + ri (t) ei ,
v(t) = vi (t) ei ,
mit vi (t) = r˙i (t).
(17.11)
Dasselbe gilt f¨ur die Basisvektoren na . Sie lassen sich als Linearkombination der Basisvektoren ei schreiben, wobei die Koeffizienten zeitabh¨angig sind. Da es sich um zwei Orthonormalbasen handelt, bilden die 188
Koeffizienten zu jedem Zeitpunkt eine orthogonale Matrix. Es gilt also na (t) = Λai (t) ei ,
mit Λai (t) Λbi (t) = δab .
(17.12)
Diese Beziehung l¨asst sich auch umgekehrt schreiben, indem man die raumfesten Basisvektoren als Linearkombination der k¨orperfesten darstellt, ei = Λai (t) na (t),
mit Λai (t) Λaj (t) = δij .
(17.13)
In einer expliziten Darstellung der Bewegung eines starren K¨orpers sind es also nicht drei Vektoren, die als Variable auftreten, sondern genau genommen eine orthogonale Transformation, die die raumfeste Basis ei auf die k¨orperfeste Basis na abbildet und dadurch die Lage des K¨orpers festlegt. Wenn sich der K¨orper dreht, h¨angt diese Transformation nat¨urlich von der Zeit ab. Schließlich k¨onnen wir auch noch die Winkelgeschwindigkeit in ihre Komponenten zerlegen, und zwar wahlweise bez¨uglich der raumfesten oder der k¨orperfesten Basis, ω(t) = ωi (t) ei = ωa (t) na (t).
(17.14)
Weiter oben hatten wir bereits die Komponenten ωa benutzt, um die Existenz einer Winkelgeschwindigkeit zu beweisen. Welche der beiden Darstellungen n¨utzlicher ist, die k¨orperfeste oder die raumfeste, h¨angt oft von dem jeweils gestellten Problem ab. Wir k¨onnen sie jederzeit ineinander umrechnen, denn aus (17.12) und (17.13) folgt die entsprechende Umrechnungsformel f¨ur die Komponenten, ωa (t) = Λai (t) ωi (t)
bzw. ωi (t) = Λai (t) ωa (t).
(17.15)
¨ Aufgabe 17.3 Man zeige, dass sich die Zeitableitungen der Ubergangsmatrizen wie folgt durch die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit ausdru¨ cken lassen, ˙ ai = εijk ωj Λak = εabc Λbi ωc , Λ
(17.16)
und dass sich daraus umgekehrt die folgenden Ausdru¨ cke f¨ur die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit ergeben, ˙ ci , ˙ aj Λak , ωa =??εabc Λbi Λ ωi =??εijk Λ (17.17) Masse, Impuls und Kraft Zur Herleitung der Bewegungsgleichungen f¨ur den starren K¨orper sind zwei Gr¨oßen von zentraler Bedeutung, n¨amlich der Gesamtimpuls und der innere Drehimpuls des K¨orpers. F¨ur ein System von einzelnen Teilchen hatten diese Gr¨oßen bereits in Kapitel 3 eingef¨uhrt, und wir hatten gezeigt, dass es sich dabei unter gewissen Voraussetzungen um Erhaltungsgr¨oßen handelt. Berechnen wir zun¨achst den Gesamtimpuls des K¨orpers. F¨ur jedes einzelne Teilchen k¨onnen wir den Impuls aus (17.10) berechnen. Wenn mα die Masse des Teilchen ist, dann gilt pα (t) = mα vα (t) = mα v(t) + mα uα,a ω(t) × na (t).
(17.18)
Der Gesamtimpuls des K¨orpers ergibt sich durch Summation u¨ ber alle Teilchen, X X X P (t) = pα (t) = mα v(t) + mα uα,a ω(t) × na (t).
(17.19)
Der Ausdruck in der ersten Klammer ist offenbar die Gesamtmasse des K¨orpers, X M= mα .
(17.20)
α
α
α
α
189
Der erste Beitrag zum Gesamtimpuls ist folglich von der Form “Masse man Geschwindigkeit”. Der zweite Beitrag, der zur Winkelgeschwindigkeit proportional ist, l¨asst sich durch geschickte Wahl des Bezugspunktes eliminieren. Dazu berechnen wir den Schwerpunkt R des K¨orpers. F¨ur ihn gilt 1 X 1 X 1 X mα r α = mα (r + uα,a na ) = r + mα uα,a na . (17.21) R= M α M α M α Offenbar verschwindet sie Summe in der Klammer genau dann, wenn wir als Bezugspunkt r den Schwerpunkt w¨ahlen, und genau in diesem Fall ist der Gesamtimpuls des K¨orpers durch den einfachen Ausdruck ˙ P (t) = M v(t) = M r(t)
(17.22)
gegeben. Da dies, wie schon eingangs erw¨ahnt, die folgenden Rechnungen erheblich vereinfacht, wollen wir von nun an diese spezielle Wahl treffen. Aus der Definition des Impulses l¨asst sich nun leicht die erste Bewegungsgleichung ableiten. Auch dazu betrachten wir zuerst wieder die einzelnen Teilchen. Auf jedes Teilchen wirkt eine a¨ ußere Kraft Fα und eine Zwangskraft Zα , die daf¨ur sorgt, dass die Abst¨ande des Teilchens zu den anderen Teilchen unver¨andert bleiben. Beide Kr¨afte h¨angen im allgemeinen von der Zeit ab. Somit gilt f¨ur jedes einzelne Teilchen die Bewegungsgleichung p˙ α (t) = Fα (t) + Zα (t). (17.23) Die einzelnen Zwangskr¨afte kennen wir nicht, aber wir m¨ussen sie auch nicht kennen, um die Bewegungsgleichung f¨ur den starren K¨orper als ganzes zu bestimmen. Wir summieren dazu einfach u¨ ber alle Teilchen. Das ergibt X P˙ (t) = F (t) = Fα (t), (17.24) α
denn f¨ur die Zwangskr¨afte Zα gilt das dritte Newtonsche Gesetz. Sie heben sich gegenseitig als Wech¨ selwirkungskr¨afte auf, so dass die Summe u¨ ber alle Teilchen verschwindet. Die zeitliche Anderung des Gesamtimpulses P ist folglich durch die Gesamtkraft F gegeben, die sich wiederum als Summe aller auf die einzelnen Teilchen wirkenden Kr¨afte ergibt. Aus (17.22) und (17.24) ergibt sich somit das folgende System von Gleichung f¨ur die Bewegung des Schwerpunktes des K¨orpers, ˙ = P (t), M r(t)
P˙ (t) = F (t)
⇒
M r¨(t) = F (t).
(17.25)
Das sind formal die Bewegungsgleichung f¨ur ein punktf¨ormiges Teilchen. Offenbar haben wir damit gezeigt, dass sich ein ausgedehnter K¨orper, wenn wir von seiner Rotationsbewegung absehen, tats¨achlich wie ein punktf¨ormiges, in seinem Schwerpunkt befindliches Teilchen verh¨alt. Die Bewegung des Bezugspunktes, also des Schwerpunktes, entkoppelt anscheinend von der Rotationsbewegung. Das ist aber nicht ganz richtig. Es kommt n¨amlich entscheidend darauf an, wovon die Kraft F abh¨angt. Da es sich um die Summe u¨ ber alle auf die einzelnen Teilchen wirkenden Kr¨afte handelt, h¨angt diese Kraft im allgemeinen auch von den Orten und Geschwindigkeiten aller dieser Teilchen ab, und somit auch von der r¨aumlichen Lage und der Winkelgeschwindigkeit des K¨orpers. Wir wollen uns das an ein paar einfachen Beispielen klar machen. Aufgabe 17.4 Zun¨achst befinde sich der K¨orper entweder in einem homogenen Gravitationsfeld g oder einem homogenen elektrischen Feld E, wobei die Teilchen dann zus a¨ tzlich noch Ladungen qα tragen sollen. Man zeige, dass in diesem Fall die Gesamtkraft durch F =Mg
bzw. F = Q E
gegeben ist, wobei M die Gesamtmasse und Q die Gesamtladung des K o¨ rpers ist. 190
(17.26)
In einem homogenen elektrischen Feld bzw. einem homogenen Gravitationsfeld verh¨alt sich ein ausgedehnter K¨orper also tats¨achlich wie ein Punktteilchen. Das gilt in guter N¨aherung auch dann noch, wenn das Feld zwar inhomogen ist, aber auf einer Skala, die sehr viel gr¨oßer ist als die Ausdehnung des K¨orpers. Als ein typisches Beispiel daf¨ur hatten wir die Bewegung eines Planeten im Gravitationsfeld der Sonne diskutiert. Innerhalb des Planeten kann das Gravitationsfeld der Sonne als homogen angenommen werden, so dass die Gesamtkraft F tats¨achlich nur vom Ort r des Schwerpunktes des Planeten abh¨angt. Wir k¨onnen nun sogar absch¨atzen, wie groß der Fehler ist, den wir dabei machen. Aufgabe 17.5 Bewegt sich der K¨orper in einem inhomogenen Gravitationsfeld g, so wirkt auf ein Teilchen am Ort rα die Kraft Fα = mα g(rα ) = mα g(r + uα,a na ). (17.27) Man entwickle diesen Ausdruck bis zur zweiten Ordnung in den Koordinaten u α,a in eine Taylor-Reihe und berechne daraus n¨aherungsweise die Gesamtkraft. Man zeige, dass der Term erster Ordnung verschwindet. Eine Abweichung von der Punkteilchen-Na¨ herung, bei der man F = g(r) setzt, tritt also erst dann auf, wenn die zweite Ableitung des Gravitationsfeldes von Null verschieden ist. Aufgabe 17.6 Man zeige, dass der relative Fehler, den man bei der Berechnung der Kraft macht, wenn man die Erde im Gravitationsfeld der Sonne als punktfo¨ rmig betrachtet, von der Gr¨oßenordnung Erdradius geteilt durch Bahnradius hoch zwei ist, also etwa 10−9 . Wie dieses Beispiel zeigt, gilt die Punktteilchen-N¨aherung nur dann, wenn der K¨orper so klein ist, dass er die Inhomogenit¨at eines Feldes nicht sp¨urt. Geschwindigkeitsabh¨angige Kr¨afte f¨uhren ebenfalls dazu, dass die Rotationsbewegung nicht mehr von der Schwerpunktbewegung entkoppelt, und somit der K¨orper nicht mehr als Punktteilchen betrachtet werden kann. Aufgabe 17.7 Der K¨orper bewege sich in einem homogenen Magnetfeld B. Man zeige, dass auf ihn die Gesamtkraft F = Q v × B + χa (ω × na ) × B (17.28)
wirkt, wobei Q wieder die Gesamtladung und χa die k¨orperfesten Komponenten des elektrischen Dipolvektors sind, X X Q= qα , χa = qα uα,a . (17.29) α
α
Die Formel f¨ur die Lorentzkraft auf ein Punktteilchen, das sich im Schwerpunkt befindet, gilt also nur dann, wenn der Dipolvektor des K¨orpers verschwindet. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Ladungsverteilung der Massenverteilung entspricht, also fu¨ r alle Teilchen qα /mα = q/m gilt. Tr¨agheitstensor, Drehimpuls und Drehmoment Nun wollen wir die Bewegungsgleichungen f¨ur die Rotationsbewegung aufstellen. Die entscheidende Gr¨oße, die wir dazu ben¨otigen, ist der innere Drehimpuls S. Wir erinnern uns, dass es f¨ur ein System von Punktteilchen verschiedene M¨oglichkeiten gibt, einen Drehimpuls zu definieren. Der Drehimpuls eines einzelnen Teilchens bez¨uglich eines raumfesten Bezugspunktes o ist durch lα = (rα − o) × pα
(17.30)
gegeben, also durch das Kreuzprodukt des Ortsvektors mit dem Impuls, wobei der Ortsvektor der Abstandsvektor zum Bezugspunkt o ist. Summieren wir u¨ ber alle Teilchen, so ergibt sich der Gesamtdrehimpuls zu X X L= lα = (rα − o) × pα . (17.31) α
α
191
Den Schwerpunktdrehimpuls hatten wir als den Drehimpuls eines fiktiven, im Schwerpunkt des Systems lokalisierten Teilchens definiert, dessen Impuls der Gesamtimpuls des Systems ist. F¨ur den starren K¨orper l¨asst sich dieser unmittelbar aus den bereits eingef¨uhrten Bewegungsgr¨oßen berechnen, X J = (r − o) × P = (r − o) × pα . (17.32) α
F¨ur einen starren K¨orper bezeichnet man dieser Gr¨oße auch als Bahndrehimpuls. Sowohl der Gesamtdrehimpuls als auch der Bahndrehimpuls h¨angen von der Wahl des Bezugspunktes o ab. Ersetzen wir ihn durch einen anderen Bezugspunkt o0 , so hatten wir in Kapitel 3 gezeigt, dass dann L0 = J − (o0 − o) × P
und J 0 = J − (o0 − o) × P
(17.33)
gilt. Beide Gr¨oßen transformieren in der gleichen Art und Weise unter einer Verschiebung des Bezugspunktes. Der innere Drehimpuls ist die Differenz S = L − J . Er ist folglich unabh¨angig vom Bezugspunkt und eignet sich zur Beschreibung der Rotationsbewegung eines starren K¨orpers daher besser als der Gesamtdrehimpuls. F¨ur einen starren K¨orper l¨asst sich der innere Drehimpuls leicht berechnen. Wir bilden einfach die Differenz der Gleichungen (17.31) und (17.32), X X S =L−J = (rα − r) × pα = uα × p α (17.34) α
α
Wie in Abbildung 17.2(b) gezeigt, tr¨agt jedes Teilchen mit einem Beitrag zum inneren Drehimpuls bei, der sich aus dem Kreuzprodukt des Abstandsvektors vom Schwerpunkt mit dem Impuls ergibt. In diesem Sinne ist der innere Drehimpuls, wie wir bereits in Abbildung 3 gesehen hatten, so etwas wie der Gesamtdrehimpuls des System, wobei als Bezugspunkt aber nicht der Koordinatenursprung, sondern der Schwerpunkt gew¨ahlt wird. Wie der Impuls l¨asst sich auch der Drehimpuls durch die Bewegungsgr¨oßen des starren K¨orpers ausdr¨ucken. Wenn wir (17.18) in (17.34) einsetzen, ergibt sich X X S= uα × p α = mα uα,a na × (v + uα,b ω × nb ) α
=
α
X α
mα uα,a na × v +
X α
mα uα,a uα,b na × (ω × nb ).
(17.35)
Der erste Term verschwindet, denn es handelt sich wieder um die Summe aus (17.21). F¨ur das doppelte Kreuzprodukt gilt na × (ω × nb ) = (na · nb ) ω − (na · ω) nb = (δab ωc − δbc ωa ) nc .
(17.36)
Wenn wir nun noch ein paar Indizes umbenennen, l¨asst sich der innere Drehimpuls schließlich wie folgt ausdr¨ucken, X S= mα (uα,c uα,c ωa − uα,a uα,b ωb ) na . (17.37) α
Noch einfacher wird dieser Ausdruck, wenn wir die Komponenten von S bez¨uglich der Basis n a angeben. Dann ist X S = Sa na , mit Sa = Θab ωb , Θab = mα (uα,c uα,c δab − uα,a uα,b ). (17.38) α
192
Die 3 × 3-Matrix Θab heißt Tr¨agheitstensor. Es handelt sich offenbar um die zeitlich konstanten Komponenten eines symmetrischen Tensors Θ zweiter Stufe bez¨uglich des k¨orperfesten Koordinatensystems. Aufgefasst als lineare Abbildung bildet der Tr¨agheitstensor die Winkelgeschwindigkeit auf den Drehimpuls ab. Mit der Notation aus (9) k¨onnen wir daf¨ur auch schreiben S = Θ(ω),
mit Θ = Θab na ⊗ nb .
(17.39)
Diese Beziehung ist analog zur Beziehung P = M v zu verstehen, die eine lineare Beziehung zwischen Impuls und Geschwindigkeit herstellt. Zu beachten ist allerdings, dass der Tr¨agheitstensor Θ, im Gegensatz zur Masse M des K¨orpers, von seiner Lage im Raum abh¨angt. Diese geht also implizit in die lineare Beziehung (17.39) ein. Wie wir gleich sehen werden, l¨asst sich aber auch diese Beziehung eindeutig umkehren, so dass aus dem Drehimpuls auf die Winkelgeschwindigkeit und damit die Rotationsbewegung des K¨orpers geschlossen werden kann. Zuvor wollen wir jedoch die eigentliche Bewegungsgleichung aufstellen. Dazu m¨ussen wir die Zeitableitung des Drehimpulses berechnen. Wir gehen wieder von der Bewegungsgleichung (17.23) f¨ur das Teilchen α aus. F¨ur den Gesamtdrehimpuls folgt daraus X X L˙ = (rα − o) × p˙ α = (rα − o) × (Fα + Zα ). (17.40) α
α
Hier haben wir bereits verwendet, dass die Geschwindigkeit r˙ α des Teilchens proportional zu pα ist, so dass wir diesen Term nicht ber¨ucksichtigen m¨ussen. In der Summe heben sich außerdem die Zwangskr¨afte wieder gegenseitig auf. Wir schreiben sie dazu als Summe u¨ ber Wechselwirkungskr¨afte zwischen je zwei Teilchen, f¨ur die das dritte Newtonsche Gesetz gilt, X Zα = Zα,β , mit Zα,β = −Zβ,α , Zα,α = 0. (17.41) β
Daraus folgt
X α
(rα − o) × Zα =
X α,β
(rα − o) × Zα,β = −
X α,β
(rβ − o) × Zα,β .
(17.42)
Die letzte Gleichung ergibt sich, indem wie zuerst die Indizes α und β vertauschen, und anschließend benutzen, dass Zα,β = −Zβ,α ist. Addieren wir die beiden letzten Ausdr¨ucke, so ergibt sich X X 2 (rα − o) × Zα = (rα − rβ ) × Zα,β = 0, (17.43) α
α
denn die Zwangskr¨afte, die daf¨ur sorgen, dass die Abst¨ande der Teilchen konstant bleiben, sind Zentralkr¨afte. Damit haben wir noch einmal gezeigt, dass Zentralkr¨afte den Gesamtdrehimpuls eines Systems nicht ver¨andern. Seine Zeitableitung h¨angt nur von den a¨ ußeren Kr¨aften ab, X L˙ = (rα − o) × Fα . (17.44) α
F¨ur die Zeitableitung des Bahndrehimpulses ergibt sich aus (17.24) X J˙ = (r − o) × P˙ = (r − o) × F = (r − o) × Fα .
(17.45)
Bilden wir wieder die Differenz, so finden wir schließlich die Bewegungsgleichung f¨ur S, X X S˙ = M , mit M = (rα − r) × Fα = uα × F α .
(17.46)
α
α
α
193
Der Vektor M wird als Drehmoment bezeichnet. Es setzt sich wieder aus Beitr¨agen der einzelnen Teilchen zusammen, wobei jeweils das Kreuzprodukt des Abstandsvektors vom Bezugspunkt mit der Kraft zu bilden ist. Das Bild ist das gleiche wie in Abbildung 17.2(b), wobei der Impuls p α durch die Kraft Fα zu ersetzen ist. Die Bewegungsgleichungen des starren K¨orpers lassen sich damit wie folgt kompakt zusammenfassen. Sie bilden ein System von Differenzialgleichungen erster Ordnung. Impuls und Drehimpuls sind als lineare Funktionen der Geschwindigkeit und Winkelgeschwindigkeit gegeben, die wiederum durch die zeitlichen Ableitungen des Ortes und der Lage des K¨orpers gegeben sind, P = M v,
S = Θ(ω),
˙ mit v = r,
ω=
1 εabc (n˙ a · nb ) nc . 2
(17.47)
¨ Die zeitlichen Anderungen von Impuls und Drehimpuls ergeben sich aus der Kraft und dem Drehmoment, die sich wiederum aus den Kr¨afte auf die einzelnen Teilchen zusammensetzen, X X P˙ = F = Fα , S˙ = M = uα × F α . (17.48) α
α
Insbesondere folgt aus den Bewegungsgleichungen, dass P und S Erhaltungsgr¨oßen sind, wenn auf den K¨orper keine a¨ ußeren Kr¨afte einwirken. Mit diesem Fall eines “freien” starren K¨orpers werden wir und gleich ausf¨uhrlich besch¨aftigen. Aufgabe 17.8 Man zeige, dass auf einen starren Ko¨ rper in einem homogenen Gravitationsfeld kein Drehmoment wirkt. Aufgabe 17.9 Man berechne das Drehmoment auf einen geladenen K o¨ rper in einem homogenen elektrischen Feld und dr¨ucke das Ergebnis durch die Feldst¨arke E und den Dipolvektor χ = χa na aus Aufgabe 17.7 aus. Aufgabe 17.10 Man berechne die kinetische Energie eines starren K o¨ rpers und zeige, dass diese sich wie folgt aus einer “Bewegungsenergie” und einer “Rotationsenergie” zusammensetzt, T =
1 1 1 1 M v · v + Θ(ω, ω) = M vi vi + Θab ωa ωb . 2 2 2 2
(17.49)
Aufgabe 17.11 Man bestimme das Tr¨agheitmoment der Hantel aus Abbildung 5.3(b). Wie groß sind laut (17.49) Bewegungs- und Rotationsenergie, wenn die Hantel mit einer Winkelgeschwindigkeit ω um eine zur Stange senkrechte Achse rotiert und sich mit der Geschwindigkeit v durch den Raum bewegt? Kontinuierliche K¨orper Die Vorstellung von einem aus einzelnen Teilchen aufgebauten K¨orper ist zwar sehr n¨utzlich, um das Konzept eines starren K¨orpers auf der Basis der Mechanik von Punktteilchen zu verstehen. In der Praxis ist dieses Konzept aber unbrauchbar, da es unm¨oglich ist, einen makroskopischen K¨orper durch die Gesamtheit seiner atomaren Teilchen zu beschreiben. Außerdem verhalten sich diese Teilchen ja in Wirklichkeit nicht wie klassische Punkteilchen, sondern m¨ussten genau genommen quantenmechanisch beschrieben werden. Wir wollen daher zeigen, dass wir u¨ ber den genauen Aufbau eines starren K¨orpers eigentlich gar nicht viel wissen m¨ussen, um seine Bewegungsgleichungen aufzustellen. Es ist nicht n¨otig, die Koordinaten u α,a aller Teilchen kennen, und wir m¨ussen auch nicht alle Massen m α oder alle Ladungen qα der Teilchen kennen. Es gen¨ugt, gewisse Verteilungsfunktionen dieser Gr¨oßen zu kennen. 194
In die Beziehungen (17.47) zwischen Impuls und Geschwindigkeit bzw. Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeit gehen zum Beispiel nur zwei solche Gr¨oßen ein, n¨amlich die Gesamtmasse M und der Tr¨agheitstensor Θ. Welche Gr¨oßen konkret in die Kraftgleichungen (17.48) eingehen, h¨angt zwar davon ab, welche Art von Kr¨aften auftreten. Aber auch hier ist es im allgemeinen so, dass wir nur ganz spezielle Funktionen der Teilchenorte, Massen, Ladungen etc. kennen m¨ussen, um die Kraft bzw. das Drehmoment zu bestimmen. Am Beispiel der Gr¨oßen M und Θ wollen wir zeigen, wie sich diese Gr¨oßen f¨ur einen aus kontinuierlicher Materie bestehenden K¨orper berechnen lassen. Alles, was wir dazu wissen m¨ussen, ist, wie die Masse innerhalb des K¨orpers verteilt ist. Dies wird durch eine Massendichte µ(r) beschrieben. In einem Volumenelement dω(r) am Ort r befindet sich dann eine Masse dµ(r) = µ(r) dω(r). Das Problem bei der Beschreibung eines sich bewegenden starren K¨orpers ist nun, dass diese Massendichte von der Zeit abh¨angt, und zwar in einer sehr speziellen Art und Weise. Die Zeitabh¨angigkeit der Massendichte µ(r) kommt dadurch zustande, dass sich der K¨orper als ganzes zwar bewegt, nicht jedoch durch eine Verformung des K¨orpers. Dieses Problem k¨onnen wir dadurch l¨osen, dass wir zur Beschreibung der Massendichte das k¨orperfeste Koordinatensystem verwenden. Wir betrachten die Massendichte daher nicht als Funktion des Ortes, sondern als Funktion µ(u) des in Abbildung 17.2 definierten Vektors u, und stellen sie explizit als Funktion der k¨orperfesten Koordinaten dar, also letztlich als Funktion µ({ua }) von drei reellen Zahlen. Diese Funktion ist dann zeitlich konstant, das heißt wir k¨onnen mit ihnen rechnen wie mit einer zeitlich konstanten Massenverteilung. So k¨onnen wir zum Beispiel die Gesamtmasse des K¨orpers berechnen, indem wir die Massendichte integrieren, Z Z Z M=
dµ(u) =
dω(u) µ(u) =
du1 du2 du3 µ(u).
(17.50)
Die Integration erfolgt formal immer u¨ ber den ganzen Raum, wobei wir aber annehmen, dass der K¨orper nur eine endliche Ausdehnung hat, so dass effektiv nur u¨ ber einen endlichen Raumbereich zu integrieren ist. Da durch die k¨orperfesten Koordinaten ua ein kartesisches Koordinatensystem definiert wird, ist das Volumenelement einfach durch dω(u) = du1 du2 du3 gegeben, wobei alle Koordinaten u¨ ber ganz R laufen. Die Massendichte µ(u) ist nicht ganz beliebig, denn auch f¨ur einen kontinuierlichen K¨orper gilt, dass der Bezugspunkt mit dem Schwerpunkt u¨ bereinstimmen muss. Wie wir gesehen haben, ist dies f¨ur einen aus Teilchen aufgebauten K¨orper genau dann der Fall, wenn die Summe in (17.21) verschwindet, also X mα uα,a = 0. (17.51) α
Ersetzen wir hier die Summe durch ein Integral, und die Massen mα der Teilchen durch das Massenelement dµ(u) am Ort u, so ergibt sich die entsprechende Bedingung f¨ur einen kontinuierlichen K¨orper zu Z Z dµ(u) ua = dω(u) µ(u) ua = 0 (17.52)
Man beachte, dass dies eine Vektorgleichung ist, die sich aus drei Komponenten zusammensetzt. An einem einfachen Beispiel l¨asst sich zeigen, dass dadurch die Lage des Bezugspunktes eindeutig festgelegt wird.
Aufgabe 17.12 Ein gleichm¨aßig mit Masse gef¨ullter Quader werde durch die folgende Massendichte beschrieben, µ0 falls a1 < u1 < b1 , a2 < u2 < b2 , a3 < u3 < b3 , µ(u1 , u2 , u3 ) = (17.53) 0 sonst. Man bestimme die Gesamtmasse und zeige, dass die Schwerpunktbedingung (17.52) genau dann erf u¨ llt ist, wenn a1 + b1 = a2 + b2 = a3 + b3 = 0 ist. In diesem Fall befindet sich der Mittelpunkt des Quaders genau am Ort mit den Koordinaten u1 = u2 = u3 = 0. 195
Aufgabe 17.13 Es sei eine Massedichte µ(u) vorgegeben, die die Bedingung (17.52) nicht erf u¨ llt. Man zeige, dass man dann zu einer verschobenen Massedichte µ ˜(u) = µ(u − a) u¨ bergehen kann, wobei a ein fester Vektor ist, so dass die neue Massendichte µ ˜(u) die Bedingung erf u¨ llt. Dies entspricht einer Verschiebung des Bezugspunktes so, dass der neue Bezugspunkt mit dem Schwerpunkt u¨ bereinstimmt. Nun k¨onnen wir auch den Tr¨agheitstensor eines kontinuierlichen K¨orpers berechnen. Wir gehen von der Darstellung (17.38) f¨ur Punktteilchen aus, X Θab = mα (uα,c uα,c δab − uα,a uα,b ), (17.54) α
und ersetzen die Summe wieder durch ein Integral. Das ergibt Z Θab = dω(u) µ(u) (uc uc δab − ua ub ).
(17.55)
Aufgabe 17.14 Man berechne dieses Integral fu¨ r den Quader aus Aufgabe 17.12, wobei der Schwerpunkt jetzt mit dem Bezugspunkt u¨ bereinstimmen soll. Es ist dann −a1 = b1 = `1 /2, −a2 = b2 = `2 /2, −a3 = b3 = `3 /2, wobei `1 , `2 , `3 die Kantenl¨angen des Quaders sind. Man zeige, dass sich der Tra¨ gheitstensor schließlich wie folgt als Matrix darstellen l¨asst, 2 `2 + ` 3 2 0 0 Θ11 Θ12 Θ13 M . 0 `3 2 + `1 2 0 Θab = Θ21 Θ32 Θ23 = (17.56) 12 2 2 0 0 ` 1 + `2 Θ31 Θ32 Θ33
F¨ur einen W¨urfel der Kantenl¨ange ` ergibt sich daraus Θab = M `2 δab /6, das heißt der Tr¨agheitstensor eines W¨urfels ist proportional zur Einheitsmatrix. Symmetrien des Tr¨agheitstensors Um den Tr¨agheitstensor eines gegebenen K¨orpers explizit zu berechnen, k¨onnen wir auch andere als kartesische Koordinatensystem verwenden, wenn diese besser an die Geometrie des K¨orpers angepasst sind. Oft helfen dabei auch Symmetrie¨uberlegungen. Hat der K¨orper bestimmte Symmetrien, so hat auch der Tr¨agheitstensor diese Symmetrien, und damit l¨asst sich seine Berechnung oft erheblich vereinfachen. Was bedeutet in diesem Fall Symmetrie? Wir nennen einen K¨orper symmetrisch, wenn er unter einer bestimmten Transformation in sich u¨ bergeht. Da eine solche Transformation stets den Schwerpunkt auf sich selbst abbilden muss, kann es sich nur um eine Rotation oder eine Spiegelung handeln, also um eine orthogonale Transformation. Eine solche Abbildung wird durch eine orthogonale Matrix dargestellt, ˜ = D(u), u 7→ u
ua 7→ u˜a = Dab ub ,
mit Dab Dac = δab .
(17.57)
Wir verwenden diese Abbildung zun¨achst dazu, im Integral (17.55) eine Substitution durchzuf¨uhren, in˜ = D · u ersetzen. Zun¨achst zeigt man leicht, dass f¨ur den dem wir die Integrationsvariable u durch u Ausdruck in der Klammer (˜ ue u ˜e δab − u ˜a u ˜b ) = Dac Dbd (ue ue δcd − uc ud )
(17.58)
gilt. Ferner ist unter einer orthogonalen Transformation das Volumenelement invariant, ˜ = dω(D(u)) = dω(u). dω(u)
196
(17.59)
Eingesetzt in (17.55) ergibt sich somit Z Z ˜ µ(u) ˜ (˜ Θab = dω(u) ue u ˜e δab − u ˜a u˜b ) = Dac Dbd dω(u) µ(D(u)) (ue ue δab − ua ub )
(17.60)
Beides sind Eigenschaften von orthogonalen Transformationen, die wir in Kapitel 9 bewiesen haben. Nun betrachten wir den speziellen Fall, dass es sich bei der Abbildung u 7→ D · u um eine Symmetrie des K¨orper handelt. In diesem Fall ist µ(D(u)) = µ(u), (17.61) denn die Massendichte ist vor und nach der Anwendung der Abbildung die gleiche. Offenbar ergibt sich dann aus (17.60) Θab = Dac Dbd Θcd . (17.62) Den Ausdruck auf der rechten Seite kennen bereits als das Verhalten eines Tensors zweiter Stufe unter einer linearen Abbildung. Die Aussage ist also, dass der Tr¨agheitstensor unter jeder orthogonalen Abbildung invariant ist, die den K¨orper in sich u¨ berf¨uhrt. Der Tr¨agheitstensor ist mindestens so symmetrisch wie der K¨orper, zu dem er geh¨ort. Als spezielles Beispiel hatten wir bereits den Tr¨agheitstensor eines Quaders berechnet und gesehen, dass es sich um eine Diagonalmatrix handelt, wenn wir die Koordinatenachsen in die Richtungen der Kanten legen. Tats¨achlich ist dies eine Konsequenz der Symmetrien. Der Quader ist symmetrisch bez¨uglich der Spiegelungen an der Koordinatenebenen. So wird zum Beispiel die Spiegelung an der 1-2-Ebene durch die Matrix 1 0 0 Dab = 0 1 0 (17.63) 0 0 −1 dargestellt. Wie man leicht sieht, ergibt sich aus (17.62) zum Beispiel Θ23 = D2c D3d Θcd = −Θ23
⇒
Θ23 = 0.
(17.64)
Entsprechend l¨asst sich das Verschwinden von allen anderen nichtdiagonalen Eintr¨age von Θ ab zeigen, indem man jeweils eine der drei m¨oglichen Spiegelungen ausw¨ahlt und die Gleichung (17.62) f¨ur die entsprechende Komponente aufschreibt. Wir haben also gezeigt, dass der Tr¨agheitstensor diagonal ist, wenn der K¨orper symmetrisch unter Spiegelungen an den Koordinatenachsen ist. Oft ist der Tr¨agheitstensor sogar noch symmetrischer als der K¨orper selbst. Ein Beispiel daf¨ur ist der W¨urfel. In diesem Fall ist, wie wir in Aufgabe 17.14 gesehen haben, Θab = M `2 δab /6. Dieser Tensor ist unter allen orthogonalen Transformationen invariant, denn er ist proportional zum Einheitstensor, und somit ist (17.62) f¨ur alle orthogonalen Matrizen erf¨ullt. Aber nat¨urlich geht der W¨urfel nicht unter allen orthogonalen Abbildung in sich u¨ ber. Umgekehrt k¨onnen wir die Symmetrien eines K¨orpers nun auch benutzen, um den Tr¨agheitstensor zu berechnen. Der symmetrischste denkbare K¨orper ist eine Kugel. Wir wollen also den Tr¨agheitstensor einer Kugel mit Radius R, Massendichte µ0 , und folglich der Masse M = 4π µ0 R3 /3 berechnen. Da der Einheitstensor δab der einzige Tensor zweiter Stufe ist, der unter allen orthogonalen Abbildungen invariant ist, muss der Tr¨agheitstensor der Kugel proportional dazu sein. Wir machen also den Ansatz Θab = θ δab
(17.65)
Um die skalare Gr¨oße θ zu berechnen, bilden wir die Spur dieses Tensors. Es ist Θ aa = 3 θ und folglich Z Z 1 1 2 θ = Θaa = dω(u) µ(u) (uc uc δaa − ua ua ) = dω(u) µ(u) ua ua . (17.66) 3 3 3 197
Das Integral l¨asst sich nun am leichtesten in Kugelkoordinaten auswerten. Wir ersetzen die kartesischen Koordinaten (u1 , u2 , u3 ) durch (r, ϑ, ϕ), wobei r 2 = ua ua ist, und die Massendichte nur von r abh¨angt. Mit dem bekannten Volumenelement in Kugelkoordinaten finden wir 2 θ= 3
Z
8π µ0 µ(r) r 4 sin ϑ dr dϑ dϕ = 3
Z
R
r 4 dr =
8π 2 µ0 R 5 = M R 2 . 15 5
(17.67)
0
Damit finden wir f¨ur den Tr¨agheitstensor einer Kugel Θab =
2 M R2 δab . 5
(17.68)
Aufgabe 17.15 Wie bewegt sich eine Kugel, wenn auf sie keine a¨ ußeren Kr¨afte wirken? Wie bewegt sich ein W¨urfel ohne a¨ ußeren Kr¨afte? Aufgabe 17.16 Eine Kugel und ein W¨urfel rotieren mit der gleichen Winkelgeschwindigkeit. Beide haben dieselbe Masse und bestehen aus dem gleichen Stoff. Welcher der K o¨ rper besitzt eine gr¨oßere Rotationsenergie? Um ein nicht ganz so einfaches Beispiel vorzuf¨uhren, berechnen wir noch den Tr¨agheitstensor eines Zylinders. Er soll den Radius R, die L¨ange `, und die Massendichte µ 0 haben. F¨ur die Masse ergibt sich daraus M = π µ0 ` R2 . Die Koordinatenachsen legen wir so, dass die Rotationsachse des Zylinders die 3-Achse ist, und der Querschnitt eine Kreisscheibe in der 1-2-Ebene liegt. Der Tr¨agheitstensor ist dann wieder diagonal, denn der Zylinder ist symmetrisch unter Spiegelungen an allen drei Koordinatenebenen. Es gilt also Θ11 0 0 Θab = 0 Θ22 0 . (17.69) 0 0 Θ33
Dar¨uber hinaus gilt sogar Θ11 = Θ22 , aufgrund der Rotationssymmetrie um die 3-Achse. Das ist anschaulich mehr oder weniger offensichtlich, denn wir k¨onnen die Richtungen den 1- und 2-Achse beliebig w¨ahlen und somit die beiden Achsen auch vertauschen. Formal k¨onnen wir den Beweis wie folgt f¨uhren. Der Zylinder ist symmetrisch unter einer Spiegelung an der Winkelhalbierenden in der 1-2-Ebene. Diese wird durch die Matrix 0 1 0 Dab = 1 0 0 (17.70) 0 0 1 dargestellt. Aus der Symmetrieforderung (17.62) an den Tr¨agheitstensor ergibt sich daraus Θ11 = D1c D1d Θcd = D12 D12 Θ22 = Θ22 . Wir m¨ussen also nur zwei Gr¨oßen berechnen, n¨amlich Θ11 = Θ22 und Θ33 . Beginnen wir mit Z Θ33 = dω(u) µ(u) (u12 + u2 2 ).
(17.71)
(17.72)
Um dieses Integral auszuwerten, verwenden wir Zylinderkoordinaten, das heißt wir setzen u1 = r cos ϕ,
u2 = r sin ϕ,
u3 = z 198
⇒
dω(u) = r dr dϕ dz.
(17.73)
F¨ur die Massendichte gilt µ(r, z) =
µ0 0
falls r < R, sonst.
−`/2 < z < `/2,
(17.74)
Mit den entsprechenden Integrationsgrenzen und nach Ausf¨uhrung der ϕ-Integration ergibt sich daraus
Θ33 = 2π µ0
Z 0
Z `/2 π 1 dr dz r 3 = µ0 ` R4 = M R2 . 2 2
R
(17.75)
−`/2
F¨ur die Komponenten Θ11 und Θ22 gilt Z Θ11 = dω(u) µ(u) (u22 + u3 2 ),
Θ22 =
Z
dω(u) µ(u) (u12 + u3 2 ).
(17.76)
Da wir bereits wissen, dass sie gleich sind, berechnen wir die Summe und dr¨ucken das Integral wieder in Zylinderkoordinaten aus,
Θ11 + Θ22 =
Z
dω(u) µ(u) (u12 + u2 2 + 2 u3 2 ) = 2π µ0
Z 0
Z `/2 dr dz r (r 2 + 2 z 2 ).
R
(17.77)
−`/2
Auch dieses Integral kann leicht ausgewertet werden. Man findet schließlich Θ11 = Θ22 =
π µ0 ` R 4 π µ0 ` 3 R 2 M + = (3 R2 + `2 ). 4 12 12
(17.78)
F¨ur einen zylindrischen K¨orper sind also stets zwei diagonale Komponenten des Tr¨agheitstensors gleich, n¨amlich die in der Rotationsebene des Zylinders, w¨ahrend die dritte Komponente gr¨oßer oder kleiner sein kann, je nachdem, ob der Zylinder eher flach oder lang ist. Wenn zwischen Radius und L¨ange die Beziehung `2 = 3 R2 gilt, so sind alle Komponenten gleich. In diesem Fall ist der Tr¨agheitstensor proportional zur Einheitsmatrix, hat also die gleichen Symmetrien wir der eines W¨urfels oder einer Kugel. Gilt dagegen `2 > 3 R2 , zum Beispiel im Fall einer langen Stange, so ist die Komponenten des Tr¨agheitstensors entlang der Drehachse des Zylinders kleiner als die anderen. Ein Drehung um diese Symmetrieachse hat eine kleinere Rotationsenergie als eine Drehung um eine dazu senkrechte Achse. Ist der Zylinder dagegen flach wie ein M¨unze, so ist ` 2 < 3 R3 . In diesem Fall hat eine Rotation um die Symmetrieachse ein h¨ohere Energie als eine Rotation um eine dazu senkrechte Achse. Aufgabe 17.17 Wie sieht der Tr¨agheitstensor f¨ur das Rad aus Abbildung 12.3 aus?
199