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Jens Reißmann, Gemeinsinn und Eigensinn – Teil II
Stand: Juni 2016, korr. Juli 2016
2. „Zivilisation“: Gottgleiche Herrschaft, Klassengesellschaft, Patriarchat Die „Zivilisationen“: Das Ende des archaischen WIR Die ersten Zivilisationen oder Hochkulturen 1 entstehen im Nahen Osten und in Ägypten am Ende des 4. Jahrtausens vor Chr. (ca. 3.500/3.000 v.Chr..)2 und etwas später in Süd- und Ost-Asien zunächst in den großen Stromlandschaften (Euphrat/Tigris, Nil, Indus, Ganges, Jangtse, Gelber Fluss , Amudarja u.a.) – und bald darauf auch in Mittel- und Südamerika (Z-Mexiko, Yucatan, Peru). Die umstrittene sog. „Donauzivilisation“ (5.300 – ca. 4.000 v. Chr.) wäre deutlich älter als die o.g. großen Stromtalzivilisationen; sie ist noch mal gesondert zu betrachten. 3 – (Beide Begriffe, „Hochkultur“, „Zivilisation“ sind nicht sehr glücklich und auch nicht eindeutig definiert; sie sind diskriminierend gegenüber anderen Kulturen, vielleicht sollte man sie durch „Stadtkulturen“ ersetzen!?) Die sog. Hochkulturen gründen auf großräumig organisierter Landwirtschaft (meist Bewässerungsfeldbau; Terrassenfeldbau) mit erheblichen Überschüssen und zentraler Vorratshaltung; dazu kommen ein Handelssystem (Eintausch begehrter Waren), die Entwicklung von Städten als Kult-, Verwaltungs- und Handelszentren, eine zentralisierte Verwaltung (inkl. Rechtssystem), ein Militärsystem (Kriegerkaste, Berufssoldaten), differenzierte Arbeitsteilung – und eine Schrift als Inventar- und Rechnungssystem für den Warenaustausch und als Instrument des Kult- und Herrschaftssystems. Diese Umbruchphase von relativ egalitär strukturierten Dorfgemeinschaften zu urbanen „Zivilisationen“ (von Historikern auch als formative Phase oder Initialphase der späteren Stadtkultur oder „Hochkultur“ bezeichnet) führt zu stratifizierten Gesellschaften mit gott-ähnlichen oder gott-gleichen Herrschern (z. B. „Priesterkönigen“), zu einer strikten Trennung der sozialen Schichten, Klassen oder Kasten (Adelselite, Handwerker und Bauern sowie Sklaven) mit getrennten Wohnvierteln, rigiden Heirats-, Kleidungs- und Verhaltensregeln sowie weiteren spezifischen und klar definierten Pflichten und Rechten usw. Alle „Hochkulturen“ sind Klassengesellschaften; alle sind Sklavenhaltergesellschaften. An der Spitze stehen mehr oder weniger gottgleiche Herrscher und ihren Familien, die ein aus heutiger Sicht brutales Unterdrückungssystem etablieren. Das ist die blutige Kehrseite der sog. Zivilisationen mit ihren vielen technischen und kulturellen Glanzleistungen. „Hochkultur“ bedeutet eben nicht nur eine Fülle von Erfindungen auf der Basis sich ausdifferenzierender Arbeitsteilung (Rad, Töpferscheibe, Wagen, Pflug, Schrift usw.), bedeutet nicht nur Monumentalbauten, systematische Stadtanlagen mit geregelter Wasserzufuhr und Kanalisation, Metallverarbeitung (Kupfer, Bronze, später Eisen), Kunst und Wissenschaft in vielfältigen Ausdrucksformen, Verwaltungs- und Rechtssysteme, usw. „Hochkultur“ bedeutet i. d. R. auch massive Unterdrückung der Bevölkerungsmehrheit, Einführung grausamer Strafen, Eroberungskriege und Versklavung von besiegten
1 Die Begriffe „Zivilisation“ und „Hochkultur“ verwende ich synonym.
http://de.wikipedia.org/wiki/Zivilisation http://de.wikipedia.org/wiki/Hochkultur_(Geschichtswissenschaft) 2 Zeitangaben: Ich wechsele nun für die jüngere Geschichte die Zeitangaben von „vor heute“ (v.h., engl. BP = Before Present) auf das immer noch gebräuchliche „v. Chr.“ (=vor Christus,) was durch „v.u.Z.“ (= vor unserer Zeitrechnung) nur scheinbar neutralisiert würde. 3 Harald Haarmann, „Geschichte der Sintflut. Auf den Spuren der frühen Zivilisationen.“, 2003
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Gegnern, rücksichtslose Ausbeutung von Menschen und Naturressourcen zum Nutzen einer Herrschaftselite. Was für ein Umbruch im Zusammenleben der Menschen innerhalb von mal gerade gut 2.000 Jahren! Innerhalb dieser relativ kurzen Zeit entstehen zeitversetzt in vielen Regionen der Erde aus großen tendenziell egalitären neolithischen Dorfgemeinschaften die stratifizierten Klassengesellschaften der frühen „Hochkulturen“. Mehr als 150.000 Jahre lebt der Homo sapiens in überschaubaren, egalitären Gemeinschaften (Jäger-und-Sammler-Kulturen); weitere rund 4. -5.000 Jahre leben viele Gruppen in immer noch relativ egalitären Dorfgemeinschaften. Dann setzen mit der Überschussproduktion Hierarchisierungsprozesse ein, die innerhalb erstaunlich kurzer Zeit das Zusammenleben völlig umkrempeln; und das überall auf der Welt in sehr ähnlicher Form. Hier ein kurzer (exemplarischer) Überblick (nach Hermann Parzinger): Der Übergang von neolithischen, relativ egalitären Ackerbaukulturen zu bronzezeitlichen Hochkulturen mit Städten, Staaten, absoluten Herrschern usw. vollzieht sich in Mesopotamien ab ca. 6.000 v. Chr., und führt im 4. Jahrtausend vor Chr., also zwischen 4.000 und 3.000 v. Chr. , zu den ersten Hochkulturen; in Ägypten beginnt die Initialphase etwas später, verläuft dafür schneller: Hier etablieren sich erste Hochkulturen zwischen 3.700 und 3.000 v. Chr., fast zeitgleich entsteht die Indus- bzw. Harappa-Kultur (3.500 – 2.800 v. Chr.). In China, in den neolithische Kulturen im Bereich von Huanghe/Gelber Fluss und Yangtse, erfolgt der „Umbruch“ im Jüngeren Neolithikum zwischen 4.000 und 2.000 v. Chr.: Die Entwicklung von Städten mit patriarchalischer Herrschaft führt zu den ersten bronzezeitlichen chinesischen Staaten und Dynastien (Xia- und Shang-Reich). In Europa (Südost- und Mittel-Europa) entwickelt sich in den frühen egalitären Ackerbaukulturen zwischen 4.500 und 2.000 v. Chr. eine männliche kriegerische Elite – vermutlich im Zuge der Migration indoeuropäischer Gruppen („Kurgan-Völker“), Nachfahren berittener Hirtennomaden, die in mehreren Wellen in die kupferzeitlichen Kulturen Südosteuropas (Vinca, Tripolje u.a.) bzw. die neolithischen Kulturen Mitteleuropas einwandern. Die soziale Hierarchisierung erfolgt hier zunächst ohne Staatenbildung (vgl. vorheriges Kapitel). In Mittelamerika (Olmeken, Zapoteken, Maya, Teotihuacan) findet die Entwicklung von egalitären Dorfgemeinschaften zu städtischen Klassengesellschaften etwa zwischen 3.500/2.000 v. Chr. und ca. 1.000/500 v. Chr. statt: La Venta (Olmeken), Monte Alban (Zapoteken) und Teotihuacan sowie die Maya-Städte sind jedenfalls schon in vorchristlicher Zeit bzw. in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten Stadtstaaten und Klassengesellschaften mit absoluten Herrschern. Diese führen ständig Kriege, um Tributzahlungen einzufordern und Fernhandelswege zu sichern. Im Zentrum der Kulturen stehen riesigen Kultanlagen (Pyramiden), auf denen gewaltige Zeremonialfeste zelebriert werden, verbunden mit Menschenopfern (Blutopfer). Diese erreichen ihren Höhepunkt bei den Azteken, deren „Reich“ im 15. Jhd. eher die weite Einflusszone des Stadtstaates Tenochtitlan (bzw. des aztekischer Dreibundes) beschreibt, an dessen Spitze der „Große Sprecher“ als absoluter Monarch steht. Die soziale Schichtung ist strikt und wird über rigide Ver- und Gebote und bis ins Detail definierten Pflichten und Rechten durchgesetzt.
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In Südamerika (Küstentiefland, Andenhochland verläuft die Entwicklung zwischen 4.000 und 1.000 v. Chr. ähnlich: Ab etwa 2.500 v. Chr. zeigen sich erste Kulturen mit städtischen Kultzentren und sozialer Schichtung (Caral, Sechin-, Chavin-Kultur), später in nachchristlicher Zeit entstehen die Nazca-Kultur im Süden und die Moche-Kultur im Norden von Peru als Stadtstaaten. In den ersten Territorial-Staaten (Wari-, Chimu- und Inka-Reich) etabliert sich eine streng startifizierte Klassengesellschaft mit großen Städten (Chanchan und Wari haben schon in der Vorinka-Zeit jeweils ca. 100.000 Einwohner), riesigen Tempelanlagen und religiösen Massenzeremonien mit Opferritualen (Menschenopfer!) sowie Priesterkönigen oder Gottkönigen (z. B. der „Sapa Inka“). Überall handelt es sich um Klassengesellschaften (Adel, Bauern und Handwerker, Sklaven), in der eine strikte Trennung der jeweiligen Aufgaben und Lebensweisen herrscht. Im Zentrum der Hochkulturen stehen zentral geplante und organisierte Arbeiten von tausenden von Menschen – abgesichert durch religiös-mythologisch abgeleitete Rituale zur Sicherung der Produktion und zum Schutz der neuen Gemeinschaft bzw. Gesellschaft, die nun Hunderttausende umfasst, von denen viele aber nur Sklavenstatus haben (in der Regel als Zwangsarbeiter eingesetzte Angehörige besiegter Feinde). Besonderheiten der „Hochkulturen“ Einige Besonderheiten der sog. Hochkulturen, die die ursprüngliche Gemeinsinnorientierung aufweichen oder auflösen, greife ich im Folgenden heraus. (1.) Klassengesellschaft und die Etablierung von gottgleicher Herrschaft Die Entwicklung der sog. Hochkulturen ist, wie schon gesagt, überall auf der Welt verbunden mit einer extremen Hierarchisierung der Gesellschaft. Die ausgesprochen rigide, starre Stratifizierung der neuen Klassengesellschaften erinnert mich an die archaischen Rituale und abstrakten Kunstformen (Gravuren) der frühen Sozietäten (vgl. Teil I, Kapitel 4): Durch rigide Regelhaftigkeit sollen Kontingenzerfahrungen und Chaosängste gebändigt werden. Die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen und Aufgaben erfolgt nach einem starr festgelegten, unerbittlich aufrecht erhaltenen System, fast wie in einem Ritual. Die Klasse oder Kaste, in die Menschen hineingeboren werden, ist ihre unmittelbare Ersatzgemeinschaft: Nur innerhalb der eigenen Klasse / Kaste darf geheiratet werden, werden gemeinsame Mahlzeiten eingenommen, wird also Nahrung geteilt. Auch ansonsten gelten für jede Klasse oder Kaste detaillierte Regelungen, die von Kleidungsvorschriften bis zu Grußformeln reichen und erlaubte, vorgeschriebene bzw. verbotene Tätigkeiten umfassen. Regelverletzungen gelten als schwere Tabubrüche; drakonische Strafen sichern das System. Die archaische Gemeinsinnorientierung scheint pervertiert. Ich vermute, dass die Rigidität der Klassen- oder Kastenspaltung auch beeinflusst wird durch eine entsprechend rigide, ritualisierte Organisation der großen zentralen Kulte, zu denen sich Tausende (jährlich?) versammeln. In diese Kultfeiern werden die Menschen je nach Herkunft und „Beruf“ mit bestimmten Attributen und Aufgaben eingebunden. Die Kulte separieren und hierarchisieren die (ursprünglich einmal fast gleichgestellten) Mitglieder der nun komplex arbeitsteiligen Gesellschaft zunehmend. 4 Auf das mögliche Gegenbeispiel der Indus-Zivilisation bzw. Harappa-Kultur (2.800 – 1.900 v. Chr.) ist bereits hingewiesen worden. Diese Zivilisation (inkl. ihre frühe Phase 4 Nachtrag August 2016
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bzw. die Kot-Diji-Kultur 3.500 – 2.800 v. Chr.) kennt planmäßig angelegte Städte, Befestigungen, Metallverarbeitung, differenzierte Handwerke, internationale Handelsbeziehungen usw., aber offenbar keine Tempelbauten oder Paläste und auch sonst keine eindeutigen Indizien für Herrschaft (prunkvolle Grabstätten und Grabbeigaben, Herrscher-Skulpturen, oder -siegel usw.). Dennoch muss es dort planmäßige Koordination und eine Verteilung gewaltiger Überschüsse gegeben haben. Offensichtlich zerfällt diese Kultur nach 2.000 v. Chr. infolge klimatisch-geologischer Veränderungen, die die Bewässerungsanlagen beeinträchtigen, sowie interner Rivalitäten zwischen den einzelnen Städten. H. Parzinger dagegen behauptet, es gäbe sehr wohl Hinweise auf palastartige Bauten und Tempel sowie auf gesellschaftliche Eliten.5 Die Forschungslage ist offenbar uneindeutig. Ansonsten etablieren sich in allen bekannten Hochkulturen gottgleiche Herrscher. Wie kommt es dazu? Der oberste Priester, der ursprünglich mit Hilfe seiner besonderen kultischen Kenntnisse und Fähigkeiten im Auftrag der Kultgemeinschaft nur der Mittler zu den höheren Mächten ist, wird nun als Priester- oder Gottkönig selbst Repräsentant und Abgesandter, Sohn und Abkömmling dieser Mächte, von deren Schutz und Hilfe, Zorn oder Rache die Existenz der Gemeinschaft abhängt. Gerade weil die Aufgaben der Herrscher an die religiösen Kulte gebunden sind, treten sie nicht nur als besonders mächtige Individuen aus der Gemeinschaft hervor, sondern nehmen (fast ?) überall in den sog. Hochkulturen einen fast gottgleichen Status ein (- vgl. auch Teil III der Studie). Unklar ist, inwieweit es auch Priesterinnen gelungen ist, auf diese Weise die politische Herrschaft zu übernehmen; vielleicht gelingt dies Frauen am ehesten als Teil eines Geschwister- bzw. Ehepaares (vgl. Inkas, Pharaonen). Die politische Herrschaft wird (fast immer) zur Alleinherrschaft einzelner Personen bzw. Familien. Durch Anhäufung von Reichtum und Macht (Entscheidungsbefugnis) emanzipiert sie sich häufig von den kultisch-religiösen Aufgaben bzw. reduziert diese auf wenige zentrale Anlässe, bei denen sie sich als Vertretung der zentralen Gottheit inszeniert. Die Hierarchie (das Wort meint „Heilige Herrschaft“) wird als gottgewollt legitimiert, der Herrscher ist Sohn oder Vertreter des Gottes oder zumindest Mittler zur Götterwelt. Auch die Mythen und Religionen verändern sich. Die Ausrichtung auf eine zentrale Gestalt (die des Herrschers und des Gottes, von dem er abstammt) rückt in den Fokus. Anfangs wird noch ein Wechsel der Gesamtherrschaft zwischen Familien der Elite oder zwischen verschiedenen Stadtstaaten vereinbart. Zum Beispiel haben sich im altsumerisch-akkadischen Reich (2.800 – 2.100 v. Chr.) die Herrscher der verschiedenen Stadtstaaten (Kisch, Uruk, Eridu, Ur u.a.) zunächst in der Gesamtherrschaft abgewechselt. Aus den anhaltenden Rivalitäten ist dann eine militärisch durchgesetzte Alleinherrschaft entstanden. Anderswo (z. B. antikes Griechenland: Athen vor der „Demokratisierung“) haben Adelsfamilien ein ausbalanciertes System wechselnder Herrschaft entwickelt, ohne Alleinherrschaft einer Dynastie, aber das sind eher Ausnahmen. In der Regel können sich bald in allen Hochkulturen Alleinherrscher als „Gottkönige“ o. ä. etablieren, oft in blutigen Auseinandersetzungen innerhalb oder zwischen den Familien der Elite oder nach Kämpfen mit externen Rivalen oder Feinden. Die weit verbreitete Vater-Sohn-Erbfolge in Herrscherdynastien zeigt, dass familiäre Bindungen nach wie vor (und bis heute!) stark bleiben: man denke an moderne Familiendynastien, selbst in vorgeblich „kommunistischen Systemen“ wie Nordkorea. Herrschaft setzt sich 5 H. Parzinger, „Die Kinder des Prometheus“, S. 461 ff.
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in (fast immer patriarchalischen) Dynastien fort, indem in der Regel die Herrschaft vom Vater auf den Sohn übergeht oder durch Mord bzw. Putsch durch Verwandte bzw. Militärführer neu begründet wird. Daneben spielt nun, da der Einzelne nicht mehr von Geburt an und lebenslang selbstverständlicher Teil eines WIR ist, auch die Suche des Individuums nach Sinn und Unsterblichkeit eine zentrale Rolle (vgl. den frühmesopotamischen „Gilgamesch“Mythos). Diese Suche nach Unsterblichkeit ist m. E. ein neues Phänomen, das insbesondere die Herrschenden umtreibt: Das zeigen die aufwändigen Einbalsamierungen von Toten, der Bau gigantischer Grabstätten (z. B. für die Pharaonen oder die chinesischen Kaiser), die schaurige Sitte der „Totenfolge“ (Konkubinen und Bedienstete werden ermordet bzw. lebendig mitbegraben), die Errichtung von Stelen und Reliefs, auf denen die Taten des Herrschers in Stein gemeißelt überdauern sollen, sowie Mythen, die um Schicksale und Heldentaten Einzelner kreisen. Ich werde das Thema als Ausdruck einer Individualisierungstendenz im Teil III der Studie noch einmal aufgreifen. Die Paläste und Grabmäler der Herrscher übertreffen bald die Tempel bzw. sind ebenso aufwändige Monumentalbauten. Entstehen die Tempel und Kultstätten anfangs als „freiwillige“ Gemeinschaftsleistungen einer Kultgemeinschaft, dürfte die Errichtung der Paläste und Grabanlagen i. d. R. als Frondienst oder als Sklavenarbeit erzwungen worden sein. (2.) Städte – Staaten – Kriege „Zivilisationen“ sind verbunden mit der Entstehung von Städten, also zentralen Orten, in denen die gemeinsamen Verwaltungs- und Kultbauten einer Region stehen und die politische und kultische Elite residiert, während die Masse der Ackerbauern weiterhin in Dörfern lebt. Den Prozess der Urbanisierung hat der Archäologe Vere Gordon Childe als die „urbane Revolution“ bezeichnet, denn mit der Entstehung der Städte erfolgt eine weitere revolutionäre Veränderung der menschlichen Lebensweise. Uruk (mit dem Inanna-Tempel) in Südmesopotamien gilt als die älteste Stadt der Erde, sie war schon um 3.500 v. Chr. ein großes urbanes Zentrum; in den mythologischen Quellen der Sumerer wird allerdings Eridu als älteste Stadt bezeichnet (Tempel und Kult um den Wassergott Enki). Schon in der süd- mesopotamische Obed-Kultur (auch Obeid oder Obaid geschrieben), ca. 5.500 – 3.800 v. Chr., zeigen sich deutliche Spuren einer Hierarchisierung der Gesellschaft und der Bildung von zentralen (stadtähnlichen) Orten mit zentralen Tempelanlagen in Ur, Eridu, Obeid u.a. 6 Überall kommt es in sog. Hochkulturen zur Entstehung von befestigten, städtischen Zentren mit monumentalen Kultbauten, Palastanlagen und Grabanlagen von Herrschern, Handwerkervierteln, zentralen Handelsplätzen usw., also zu einer deutlichen Hierarchisierung der Orte: der Stadt – Land-Unterschied nimmt Gestalt an. In den urbanen Zentren etabliert sich eine von produktiver Arbeit freigestellte Elite. In diesen Städten leben bald Zehntausende von Menschen. Die Elite bewohnt Paläste, die große Mehrzahl der Menschen aber lebt in zuvor nicht gekannter räumlicher Enge und unter oft katastrophalen hygienischen Verhältnissen, auch wenn etliche der frühen Städte bereits Kanalisation und Wasserversorgung einführen. Das Zusammenleben der Stadtbevölkerung ist gekennzeichnet durch soziale 6 H. Parzinger, S. 162) und http://de.wikipedia.org/wiki/Obed-Zeit
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Spaltung und Hierarchisierung, durch zunehmende Anonymisierung, aber auch durch kulturelle und ethnische Vielfalt, soziale Spannungen und Institutionalisierung von Wach- und Polizeidiensten. Die archaischen, egalitären Gemeinschaften sind aufgelöst; bestimmend wird die Zugehörigkeit zu sozialen Klassen, Familienclans oder den Kultgemeinschaften der Berufsgruppen. Sklaven machen einen großen Teil der arbeitenden Bevölkerung aus. Aus Städten werden Staaten7 (zunächst Stadtstaaten), militärisch verteidigte und wo immer möglich erweiterte Territorien, in denen eine Gesamtkontrolle von Produktion und Handel angestrebt wird, verbunden mit einem System von Abgaben (Steuern, Tributleistungen) an die politische und religiöse Herrschaftselite oder den Alleinherrscher und seine Familie. In den Tempeln und Palästen der zentralen Orte übernehmen Verwaltungsbeamte (Tempeldiener u.a.) die Berechnung und Registrierung von Tributen und Abgaben. Die Tempel sind i. d. R. auch Wirtschaftsbetriebe im Auftrag der Herrschafts- oder Priesterelite. Wo Überschüsse und Luxusgüter akkumuliert werden, wächst die Gefahr von (bzw. „Verlockung“ zu) Raub und Überfällen. Der Aufbau eines Militärsystems sowie Eroberungskriege sind typische Kennzeichen von Staaten und Imperien. 2.800 v. Chr. entsteht mit dem Altsumerischen Reich ein erstes Imperium, ein Herrschaftsbereich, der weit über die sumerische Kerngemeinschaft hinausreicht und viele andere Völker bzw. Sprach- und Kulturgemeinschaften einschließt, die sich nun unter gemeinsamer Oberherrschaft wiederfinden. Ein solches Imperium ist ein weitläufiges multiethnisches, meist auch multikulturelles (multireligiöses) politisches Herrschaftsterritorium unter zentraler Verwaltung. Staatenbildung geht fast immer einher mit einer Militarisierung der Gesellschaft (Aufbau einer Armee und Polizei und eines drastischen Strafsystems, Etablierung eines militärischen Elite) und mit kriegerischen Auseinandersetzungen, militärischen Eroberungen, Zerstörungen ganzer Städte und einer räumlichen Expansion der jeweiligen Staaten bzw. der sie tragenden Kultur. Besiegte Feinde werden nun nicht mehr in jedem Fall getötet, sondern als Arbeitssklaven eingesetzt. Überfälle (aus Raub- oder Rache-Motiven oder aus Konflikten um knappe Ressourcen) hat es schon vorher gegeben, auch ist es vereinzelt zu regelrechten Massakern (Auslöschung ganzer neolithischer Dorfgemeinschaften gekommen), aber der Eroberungskrieg mit dem Ziel der territorialen Expansion bzw. der Zerstörung der feindlichen Metropolen, der Einforderung von Tributzahlungen und der Gewinnung von Arbeitssklaven ist ein Ergebnis von Herrschaft und gesellschaftlicher Hierarchie, von Urbanisierung und Staatenbildung. „Die Zivilisation beruht auf Krieg.“, sagt die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong. Sie verweist auf den zum Buddhismus bekehrten indischen Herrscher Ashoka (3. Jhd. v. Chr.), der den Frieden sichern will und gerade darum nicht auf eine Armee verzichten könne, da es aggressive Feinde abzuschrecken bzw. abzuhalten gilt. „Es ist der Staat, der nicht ohne Krieg leben kann. Er selbst entsteht schon mittels Gewalt.“ 8 Die Geschichte des Krieges ist sicher komplexer als hier skizziert. Hinweise auf Überfälle auf benachbarte J+S-Gruppen finden sich schon im Paläolithikum (übrigens auch bei heutigen Schimpansen!) – zum Teil verbunden mit ritueller Tötung der Feinde und mit kannibalistischen Ritualen (- vgl. das Kapitel zur „Aggressivität“ im Teil I der Studie).
7 https://de.wikipedia.org/wiki/Staatsentstehung 8 „Aufgeblähte Egos sind immer und überall schädlich“, Karen Armstrong im FR-Interview 25./26.6.15
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In Neuguinea führen Papuavölker bis in die heutige Zeit „Kriege“ mit Nachbarvölkern mit dem Ziel, Gegner zu töten, wobei sich die feindlichen Gruppen in offenem Gelände voreinander aufbauen. Insofern ist Krieg nicht nur ein Phänomen der sog. Zivilisation! Aber auch sog. Hochkulturen haben Kriege nicht nur mit dem Ziel der territorialen Eroberung oder Vernichtung des Gegners geführt. Die Maya- oder Azteken-Stadtstaaten führen ständig Kriege mit rivalisierenden Nachbarstädten, um diese zu Tributzahlungen zu verpflichten und um den Fernhandeln zu kontrollieren. Territoriale Eroberung findet nicht statt., es gibt auch kein fest institutionalisiertes Militär (für die ständigen Kriege werden die Bauern herangezogen),; die Azteken führen zudem Kriege („Blumenkriege“) um Gefangene zu nehmen für gigantische Menschenopfer, ohne deren Blut die Götter „sterben würden“. Dennoch stimmt m. E. der Tenor der oben gemachten Aussagen zum Zusammenhang Hochkultur – Eroberungskrieg. Wann sich erstmals größere kriegerische Auseinandersetzungen, die über einzelne Überfälle hinausgehen, archäologisch nachweisen lassen, ist noch zu klären. Ich halte sie erst dann für wahrscheinlich, als sich verschiedene Stadtstaaten mit eigenen Herrschern etabliert haben, die nun in Konkurrenz zueinander geraten, das dürfte in Mesopotamien spätestens im Verlauf des 4. Jahrtausends v. Chr. der Fall gewesen sein. Die ständigen Kriege, Überfälle und Auseinandersetzungen um Herrschaft, Thronfolgen, Tribut- und Steuerlasten fordern zudem eher gewaltbereite, konkurrenz- und machtorientierte Menschen heraus – und das sind zumeist Männer. (3.) Arbeitsteilung und die Entstehung patriarchalischer Strukturen Verlässliche Überschüsse ermöglichen neue und erweiterte Formen der Arbeitsteilung und damit eine zunehmende Spezialisierung der Tätigkeiten. Im 3. Jahrtausend v. Chr. gibt es in Mesopotamien, Ägypten usw. nachweislich bereits Bäcker, Metzger, Bierbrauer, Töpfer, Bildhauer, Tischler, Wagenmacher, Schiffsbauer, Schneider, Korbmacher, Frisöre, Ärzte, Lehrer, Priester, Tempelverwalter, Offiziere usw. – mit deutlichen Unterschieden in der sozialen Stellung. Bei der zunehmenden Arbeitsteilung haben sicher persönliche Fähigkeiten und familiäre Traditionen eine Rolle gespielt, vor allem aber in der Gemeinschaft tradierte Rollenzuweisungen, die auch auf geschlechtsspezifischen biologischen Unterschieden beruhen können. Tätigkeiten, die erhebliche Kraft, Risiko- oder gar Gewalt- und Tötungsbereitschaft (Aggressivität) oder längere Abwesenheiten von der Siedlung und den Kindern (Ungebundenheit) erfordern, z. B. die Bewachung von Großtierherden, werden eher von Männern wahrgenommen; was aber nicht bedeutet, dass quasi automatisch jede Kraft erfordernde Arbeit von Männern übernommen wird! H. Parzinger weist darauf hin, dass es nicht auszuschließen ist, dass die Verteilung der Aufgaben zumindest in den frühen Gemeinschaften der Jäger und Sammler weit weniger geschlechtsspezifisch verläuft als viele (männliche) Anthropologen annehmen: Frauen hätten nur alle paar Jahre ein Kleinkind zu betreuen und seien vermutlich weit mobiler gewesen als oft angenommen, ihre Beteiligung an Jagdunternehmen sei daher nicht auszuschließen. Die Grabbeigaben zeigen jedenfalls im Jungpaläolithikum keine geschlechtsspezifischen Unterschiede, alle Gräber, auch die der Kinder (die Kindersterblichkeit ist außerordentlich hoch!) werden ähnlich (z. B. mit Perlen, Muscheln etc.) ausgestattet. Erst im Neolithikum zeigen sich geschlechtsspezifische Grabbeigaben: Die Männer erhalten bestimmte Werkzeuge und Waffen ins Grab, die
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Frauen Schmuck, Nadeln und Haushaltsgeräte. In den Gräbern der sog. Hochkulturen treten geschlechtsspezifische Unterschiede dann stärker hervor. Die verschiedenen neuen Tätigkeiten und Berufe haben eine sehr unterschiedliche Bedeutung für die Kultgemeinschaft bzw. das Herrschaftssystem und sind entsprechend mit einem sehr unterschiedlichen Einkommen und Prestige verbunden. Metallschmiede, Waffenhersteller und andere Berufe, die hohes Spezialwissen erfordern und begehrte Luxusartikel produzieren, haben i. d. R. ein hohes Prestige; auch führende Funktionen in Verwaltung, Militär und Kult bzw. Religion sind mit einem hohem sozialen Rang verbunden. Diese „Berufe“ bzw. Tätigkeiten, die im Zuge der Urbanisierung und Staatenbildung entstehen, werden ganz offensichtlich (überall!?) überwiegend von Männern wahrgenommen. Andere sehr kraftaufwändige Tätigkeiten im Damm- und Kanalbau, in Bergwerken, im Ackerbau mit dem Pflug u.a. werden zwar auch oft oder überwiegend von Männern ausgeübt (in Bergwerken arbeiten allerdings auch Kinder!), sie sind aber extrem hart , risikoreich und wenig prestigehaltig. Das heißt, die sich immer weiter ausdifferenzierende Arbeitsteilung hat nicht automatisch dazu geführt, dass Männer nur die Prestige und Macht versprechenden Tätigkeiten ausgeübt hätten. Viele wichtige innovative Tätigkeiten werden zudem traditionell eher von Frauen ausgeübt: Weben und Textilherstellung, Töpfern (?), Heilkunst, Wahrsagerei usw. Dennoch, wo es in den frühen Hochkulturen oder in den kupfer- und bronzezeitlichen Ackerbau- und Viehzucht-Kulturen um Prestige, Privilegien und Macht geht, dominieren die Männerberufe und damit die Männer, insbesondere wenn es um Waffenbesitz und Waffeneinsatz, also das („handfeste“) Töten anderer Menschen geht. Es gibt beim Homo sapiens einen leichten, aber deutlichen Geschlechtsdimorphismus: Männer sind in der Regel größer, muskulöser, kräftiger und zeigen in Konfliktsituationen höhere physische Aggressivität. Wie bei allen Primaten, sind es die Männer bzw. erwachsenen Männchen, die für die Verteidigung der Gruppe „zuständig“ sind. Der Krieg – egal ob als Angriff oder Verteidigung – ist fast überall männlich. Zwar haben in einigen Kulturen auch Frauen soldatische Funktionen ausgeübt oder die Verteidigung unterstützt, aber allen „Amazonen-Mythen“ 9 zum Trotz sind Militär und Krieg mit entsprechender Bereitschaft zu physischer Gewaltanwendung fast immer eine MännerDomäne. (Das ändert sich erst in unseren Tagen, in denen allerdings eher „auf Knopfdruck“ getötet wird.) Zu den ältesten Grabstätten mit Anzeichen einer deutlichen sozialen Hierarchisierung gehören mit reichen Waffen-Beigaben bestattete Männer, offensichtlich hoch geachtete Krieger oder Kriegsführer. Waffenbeigaben in Frauengräbern sind meines Wissens nur aus einigen südrussischen Grabanlagen bekannt; kriegerischer Kampfeinsatz von Frauen bleibt eine Ausnahme. So gibt es Hinweise, dass sich bei einigen antiken Steppenvölkern Südrusslands (Skythen, Sarmaten) bewaffnete und berittene Frauen an den Kämpfen beteiligt haben und dazu gezielt ausgebildet worden sind. Hier finden sich auch Gräber von Frauen mit Waffenbeigaben. Berichte darüber sowie Erinnerungen an mutterrechtliche Kulturen könnten den griechischen Amazonenmythen zugrunde liegen. Ich vermute, dass die wachsende Bedeutung von Waffenherstellung und Waffengebrauch, die Einführung des Militärwesens und die ständigen Kriege, die mit der Entwicklung der „Zivilisationen“ einhergehen, die Stellung der Männer im Staat und
9 https://de.wikipedia.org/wiki/Amazonen
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auch im gesellschaftlichen Alltag erheblich gestärkt haben. Kriegsvorbereitungen und Kriege sind Brutstätten männlicher Gewalt. Ob dagegen die Leitung der zentralen Kulte immer in männlicher Hand liegt, ist unklar bzw. eher unwahrscheinlich. Priesterinnen haben in vielen Kulturen lange Zeit eine dominierende, zumindest eine wichtige Funktion inne gehabt: steht das Weibliche doch für Geburt und Fruchtbarkeit und im weiteren für Leben und Tod, Schöpfung und Zerstörung. In der griechischen Mythologie werden die Göttinnen mit entsprechenden zivilisatorischen Erfindungen und Attributen assoziiert, zudem bekanntlich durchaus auch mit Jagd und Gewalt (Artemis), Krieg, Wissenschaft, Weben u.a. (Athene) und autonomer Sexualität (Aphrodite). Göttinnen und Priesterinnen spielen in vielen Hochkulturen eine wichtige Rolle. Das bedeutet aber nicht, dass damit automatisch die soziale Stellung der Frau zumindest gleichberechtigt wäre. Auch die heutige Marienverehrung in katholischen Ländern (- die „Gottesmutter“ wird ja wie eine Göttin verehrt !) ändert nichts an der nachrangigen Stellung der Frau im gesellschaftlichen Leben. Gerade die griechische Mythologie zeigt eindrücklich, wie die ursprüngliche Dominanz der Göttinnen nach und nach von den Göttern gebrochen wird. Die Mythen sind voll von Berichten über die Vergewaltigung von Priesterinnen oder Nymphen durch männliche Gottheiten – und verweisen darin auf einen langwierigen und sicher oft gewaltsamen Prozess der Unterdrückung der weiblichen Kult-Dominanz in diesen Kulturen (z. B. durch einwandernde patriarchalische Hirtennomaden). Darauf hat u.a. der Schriftsteller und Mythenexperte Robert Graves in vielen Beispielen eindrucksvoll hingewiesen.10 Patriarchalische Verhältnisse etablieren sich in Hochkulturen, weil die durch Militarisierung der Gesellschaft treibhausmäßig geförderte männliche Gewaltbereitschaft sich nun mit der Chance auf dauerhafte Privilegien (auch sexuelle!), Reichtum und politische Macht verbinden kann. Aber erst die Dominanz der Männer bzw. männlicher Prinzipien in Kult und Religion, verbunden mit einer weitgehenden Verbannung der Frauen aus zentralen öffentlichen Angelegenheiten, vollendet den Siegeszug des Patriarchats in (fast) allen „Zivilisationen“. (4.) Die Einführung der Geldwirtschaft In den Ackerbaugemeinschaften (in den frühen J+S-Gemeinschaften ohnehin!) ist vermutlich zunächst so etwas wie nachbarschaftliche Hilfe und Unterstützung selbstverständlich gewesen, verbunden mit Geschenken, um die Verbundenheit zu signalisieren und zu festigen. Dieses System des Geschenke-Austausches ist auch ein wichtiges Element von Versammlungen mehrerer Dorfgemeinschaften zu großen Kultzeremonien und -festen. Schenken und Tauschen sind zunächst eng verbunden: Die Mitglieder der Sozietät unterstützen sich wechselseitig, ohne unmittelbar einen „gleichwertigen“ Gegenwert einzufordern („Schenkökonomie“).11 Besondere Leistungen oder Güter werden anfangs gewährt bzw. überlassen, im Wissen und Vertrauen darauf, dass sie bei eigenem Unterstützungsbedarf „rückerstattet“ werden – im Sinne von „Du hast mich unterstützt und mir geholfen, ich schulde dir was.“ – Dieser bis heute vorhandene nachbarschaftlich-freundschaftliche „Tausch“ von Leistungen und Produkten ist also 10 Robert Ranke-Graves (1895 – 1985), „Griechische Mythologie“, 1964, 2003. (Den Namenszusatz „Ranke“ wählt R. Graves nur für seine deutschen Veröffentlichungen.) 11 https://de.wikipedia.org/wiki/Schenkökonomie )
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zunächst nicht mit einer individuellen oder quantitativen Aufrechnung der erforderlichen Gegenleistung verbunden. Mit der Entwicklung der sog. Zivilisationen verändern sich die Verhältnisse. Mit der Einführung von Steuern und Abgaben der Dorfgemeinschaften, Handwerker und Händler an die Priesterkönige und die Tempelverwaltung bzw. an die herrschende kultische und militärische Elite, und von Tributzahlungen der abhängigen oder eroberten Städte und Territorien werden neue Systeme der Registrierung, Erfassung und Kontrolle nötig. Dies führt einerseits zur Einführung der Geldwirtschaft (noch nicht als Münzsystem!), andererseits zur Entwicklung der Schrift und der Zahlen. Das Wort „Geld“ geht etymologisch auf gotisch „gilt“, das Geschuldete zurück (vgl. auch engl. „guilt“ = Schuld). Auch Begriffe wie „Moneten“ oder engl. „money“ (lat. moneta = das Gemahnte) oder engl. bezahlen (to pay = befrieden) verweisen – so der Philosoph Christoph Türcke – auf das sog. Schuldenparadigma der Geldentstehung. 12. Er vertritt die These, dass die Geldgeschichte als Opfergeschichte begonnen hat, das Geld also seine Wurzeln im Kult habe! Anfangs als Menschenopfer, dann als Tieropfer, dann als Opferung von Edelmetall – stets gehe es um die Begleichung von Schuld: „Die erste Zahlung war, was Zahlung immer ist: die Begleichung von Schuld.“13 Im Opfer begleichen die Kollektive ihre Schuld gegenüber den höheren Mächten, von denen sie Schutz erwarten und erhoffen. Das „Geld“ (nicht als Münzen, sondern als Ausdruck einer „Schuld“) entsteht in Mesopotamien zunächst als Registrierungsmittel und erst sekundär als Zwischentauschmittel im Warenhandel. In den Tempelwirtschaften der sumerischen Stadtstaaten entsteht schon sehr früh ein System der Buchführung. Von der Tempelverwaltung wird genau erfasst und kontrolliert, ob die fälligen Abgaben entrichtet werden; es werden „Kredite“ gewährt und „Schulden“ eingetrieben. Mesopotamischen Keilschriften zeigen, dass das Kreditwesen am Anfang der Geldwirtschaft steht – und nicht der Warentausch. „Kredit“ (von lt. credere, Vertrauen schenken, Glauben schenken) ist ein ethischer Begriff, genauso wie „Schulden“. Der Anthropologe David Graeber 14 sieht die Entstehung des Geldes in der mesopotamischen Tempelwirtschaft im 3. Jahrtausend v. Chr.: Verzinste Kredite dienen als Instrument, um Handelskarawanen zu finanzieren, die Agrarüberschüsse in fernen Regionen gegen Holz, Metalle usw. tauschen. Die Zinsen sind der definierte Anteil der Tempel an den eingetauschten Gütern. Dorfgemeinschaften oder Bauern, die dem Tempel oder dem Palast einen gewissen (vorab berechneten) Geldwert schulden, bezahlen diesen nach der Ernte in Getreide (Gerste) oder in Vieh (- im Englischen bedeutet „fee“ Abgabe, Gebühr). „Geld“ als Rechnungseinheit (z. B. in Vieh- oder Sack Gerste-Einheiten) dient der Begleichung von Schuld(en). Ein sumerischer Silberschekel entspricht 60 Minen, d.h. 60 Säckchen Gerste = zusammen eine 30-Tage-Ration). Mit den noch unbearbeiteten Silber„Brocken“ und ihrem definierten Gegenwert im Grundnahrungsmittel Gerste gelingt es der Palast- und Tempel-Verwaltung vor allem, die Abgaben (Pacht), eventuelle Außenstände (Schulden) und Guthaben sowie die Vergütung der Tempeldiener usw. zu berechnen (vgl. den Zusammenhang Geld – Zahl). Elemente des sumerischen Berechnungssystems sind bis heute erhalten, z. B. das Rechnen mit Dutzend (12 als 12 Christoph Türcke, „Mehr! Philosophie des Geldes“
13 Dirk Pilz, „Kein Ende der Utopie“, FR vom 31.7.2015 14 David Graeber, „Schulden. Die ersten 5.000 Jahre“, 2012
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heilige Zahl bzw. Zahl der Vollkommenheit; 2x12= der 24-Stunden-Tag) und damit zusammenhängend die 60er Einheit (60-Minuten-Stunde, 60-Sekunden-Minute). Der eigentliche Tauschhandel (direkter Austausch von Waren bzw. Dienstleistungen) entsteht erst nach und nach; er entwickelt sich als eigenständiger Gesellschaftsbereich zusammen mit der Einführung der Märkte. Bald wird für den Markt produziert: Mit der schnell drehenden Töpferscheibe (Uruk-Zeit, 4. Jahrtausend v. Chr.) beginnt die Keramikproduktion in Serie; diese Gefäße zeigen zunächst keine Ornamente, sie sind eben nicht Teil einer bestimmten Kultur und ihrer Rituale, sondern Handelsware. Aber auch auf den Märkten basieren die meisten Transaktionen offenbar auf Kredit, man lässt beim Eintausch oder Kauf sozusagen „anschreiben“. Da Getreide, Vieh, Gold, Silber und Muscheln (Kauri) einen besonderen Wert haben, zudem beständig und knapp sind, werden diese auch als Zwischentauschmittel genutzt. Sie stellen also eine Art Naturalgeld dar. Erst später werden Geldmünzen auch allgemeines Tauschmittel und Mittel zur Wertaufbewahrung und -akkumulation. Die Einführung von Münzen erfolgt im 1. Jahrtausend vor Chr. in verschiedenen Regionen (China, Indien, Naher Osten, Ägäis) unabhängig voneinander. Aber erst um 500/400 v. Chr. setzen sich z. B. in Griechenland und fast zeitgleich in China Münzen als Zahlungsmittel im Warenhandel durch.15 Bis weit ins Mittelalter hinein gibt es z. B. in Mittel-Europa keine nennenswerte Geldwirtschaft; es mangelt u.a. an Edelmetall. Erst die Entdeckung und Ausbeutung reicher Silbervorkommen (z. B. Harz, Erzgebirge) führt zu einem Aufschwung der Münz- und Geldwirtschaft und der Märkte. Mit der Einführung von Münzen/Geld wird die traditionelle Gemeinsinnorientierung massiv unterlaufen und ausgehöhlt. Für Geld ist alles zu haben, seine „Anziehungskraft“ und seine zerstörerische Wirkung im Zusammenleben der Menschen sind erschreckend, wie nicht nur Karl Marx, sondern schon etliche Autoren der Antike berichten (z. B. Sophokles): Mit dem Geld kommen alle schlechten Eigenschaften, alle Untugenden des Menschen zum Vorschein (Habgier, Raub, Betrug, Verrat, Überfälle, Mord, Korruption, usw.). Alles wird nun „berechenbar“, nach individuellem Nutzen bewertbar, kaufbar und verkaufbar. Mit Geld lassen sich materielle Werte bzw. Reichtum in ganz neuer Form anhäufen und als „Kapital“, also als Produktionsfaktor einsetzen; so wie die Viehherden bei Hirtennomaden auch nicht nur der Selbstversorgung dienen, sondern „Kapital“ sind. Das Wort Kapital geht auf lt. capitalis, den Kopf betreffend, zurück und meint urspr. die Kopfzahl des Viehbesitzes. Geld trägt in erheblichem Umfang zur Aushöhlung der Gemeinsinnorientierung und zur Förderung von Eigensinn, Habsucht und Rücksichtslosigkeit bei. (5.) Vom Gemein- zum Privateigentum Im Teil I („Der Mensch – ein WIR“) habe ich dargelegt, dass unsere heutigen Vorstellungen von „Eigentum“ in den archaischen Gemeinschaften der Jäger und Sammler-Gruppen unbekannt bzw. für sie unverständlich sind. Es gibt Gegenstände, die zu einer bestimmten Person gehören (z. B. Kleidung, Jagdwaffen, Schmuck), sie sind Teil der Person und mit dieser Teil der Gemeinschaft, die sich in Verbindung mit ihren Ahnen weiß. Die meisten Lebensgrundlagen, das Land, die Jagdtiere und Nutzpflanzen, die Nahrungsvorräte, die Lager- und Kultplätze werden „seit Menschengedenken“ gemeinschaftlich genutzt und stehen unter dem Schutz der Ahnen; individuelles „Eigentum“ daran wäre absurd, buchstäblich „unvorstellbar“. 15 https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_des_Geldes
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In den neolithischen Dorfgemeinschaften sind dann irgendwann die Häuser, die im Haus gelagerten Vorräte und die Arbeitsgeräte (Sicheln, Pflüge, Töpferscheiben, Webstühle usw.) sowie das Vieh familiärer „Besitz“, der auch an die Nachkommen weitergegeben wird. In dem Maße, wie z. B. einzelne Bauernfamilien die jährlich zugeteilten Parzellen aus dem ursprünglichen Gemeineigentum dauerhaft bewirtschaften oder gar in Einzelgehöften leben, kann später aus zugeteiltem „Besitz“ (= Nutzungsrecht) privates „Eigentum“ (mit Vererbungs- und Veräußerungsrecht) entstehen. Die ersten Eigentümer über Vieh, Getreidevorräte, Luxusgüter, Sklaven, Gebäude, Grund und Boden usw. sind vermutlich die Mitglieder der kultisch-militärischen Elite in den frühen Hochkulturen. Mit Herrschaft etabliert sich Eigentum. Die herrschende Elite verwaltet zunächst die Überschüsse und die Vorräte (u.a. für die großen Kultfeiern) im Auftrag der Gemeinschaft; bald aber verfügt sie exklusiv darüber und bestimmt die Verteilung und den Eigenanteil. Schließlich verfügt sie auch über das ursprüngliche Gemeineigentum an Grund und Boden. Die Herrscher verteilen nun das Land der Gemeinschaft bzw. des Staates und vor allem auch der eroberten Territorien an Gefolgsleute, um sich deren Unterstützung und Loyalität zu sichern. Privater Grundbesitz ist in Mesopotamien schon im 3. Jahrtausend v. Chr. anhand von Kaufverträgen in Keilschrift dokumentiert; Kauf- und Erbrechte werden spätestens im 2. Jahrtausend v. Chr. kodifiziert, also allgemein geregelt. Der altbabylonische „Codex Hammurabi“, das vielleicht älteste „Gesetzbuch“ (ca. 1.800 v. Chr.), regelt bereits Kauf- und Erbrechte. „Eigentum“ als individuelle (familiäre) Verfügungsgewalt über Gebrauchsgegenstände sowie über Vieh, Vorräte, Häuser, Sklaven, Grund und Boden und andere Produktionsmittel hat sich sukzessive in einem längeren Prozess entwickelt. Der Historiker Max Beer zeichnet das am Beispiel germanischer Stämme zu Zeiten Caesars nach: „Am frühesten entstand Sondereigentum an beweglichen Dingen und an Vieh, dann an Haus und Hof, anschließend wurde auch die Feldmark geteilt; nur Weide und Wald blieben im Gemeinbesitz des ganzen Gaues und wurden Allmende (Allgemeines) genannt.“ 16 Die Wirtschaftswissenschaftler Gunnar Heinsohn und Otto Steiger sehen den Ursprung des Privateigentums und des Kreditwesens – beides hängt für sie eng zusammen – in der griechischen Polis des 7. und 6. Jhds. v. Chr. Es ist eine Zeit der Umbrüche, in der sich die alten Sippenverbände auflösen und Grund und Boden an besonders loyale „Hausherren“ verteilt werden, die in ihrem „Haus“ (oikos) unbeschränkte Befehlsgewalt (oekonomia) auszuüben befugt sind. Mit der Einführung von (belastbarem bzw. verpfändbarem) Privateigentum entsteht, so die umstrittene These der Autoren, auch das Kredit- und Geldwesen. Geld entsteht demnach, wo Eigentum verpfändbar und Zins dafür genommen wird. Geld ist ein Anspruch auf Eigentum. Geld ist, was ein Eigentümer einem anderen Eigentümer schuldet – und Zins verdeutlicht diese Schuld und definiert ihre Höhe. Die Zinsen erzwingen zudem eine Überschussproduktion, da sie zusätzlich zur Tilgung der Schulden anfallen: „Dieser zinsgeborenen Profit ist es, der die für die für die Eigentumswirtschaft typische Akkumulation möglich macht.“ Eigentum geht einher mit der Option der beliebigen Veräußerung an Dritte, des Verpfändens, Beleihens, Verpachtens oder Vererbens usw. Eigentum hängt mit der Entstehung des Kreditwesens und der Geldwirtschaft zusammen: Eigentum kann man zu Geld machen! Man kann es erweitern, reich und mächtig werden, man kann es auch
16: Max Beer, „Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe“ (1931), S. 156 Gunnar Heinsohn und Otto Steiger („Eigentum, Zins und Geld“, „Patriarchat und Geldwirtschaft“)- vgl.
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verlieren (z. B. durch Raub oder Verschuldung) und so samt Familie zum Bettler oder Tagelöhner werden oder in Hörigkeit, Leibeigenschaft oder Sklaverei geraten. Privates Eigentum begründet soziale Ungleichheit und zersetzt die Gemeinsinnorientierung. Vom Gemeineigentum halten sich in einigen Regionen noch lange Zeit einzelne Formen (z. B. Wald und Weide als „Allmende“); aber bald überwiegt das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Das archaische WIR hat sich aufgelöst in Eigentümer und NichtEigentümer, letztere leben als Hörige gebunden an die Grundherrschaft (Adel, Klöster o.a.) – oder sie müssen betteln, stehlen oder ihre Arbeitskraft verkaufen (Tagelöhner), um zu überleben. Mit der Industrialisierung verschärfen sich die Probleme. Es muss nicht betont werden, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln ein außerordentlich folgenreicher Schritt in Richtung Eigensinn darstellt. (6.) Schrift, Zahlen und die Entwicklung der Wissenschaften Fast gleichzeitig mit dem Kreditwesen, der (anfangs noch münzlosen) „Geldwirtschaft“ und mit dem Privateigentum werden auch die Schrift und Zahlensysteme entwickelt. 17 „Hochkultur“ wird oft mit Schriftentwicklung gleich gesetzt. Die Schrift als Zeichensystem zur Weitergabe von sprachlicher oder anderer Information ist ab ca. 3.200 v. Chr. mehrmals unabhängig in der Menschheitsgeschichte „erfunden“ und weiterentwickelt worden. Sie hat zunächst vor allem eine zweckrationale Funktion (Inventarisierung von Abgaben und Tributen durch die Tempelverwaltung sowie von Handelsgütern), darüber hinaus aber auch eine kultischreligiöse Funktion. Die sumerische und die altägyptische Schrift entstehen etwa zeitgleich unabhängig voneinander; kaum später um 3.000 v. Chr. entwickelt sich im SW-Iran die (proto-) elamische Schrift (abstrakte Zeichen auf Tontafeln). Die alteuropäische Schrift der sog. Donauzivilisation ist deutlich älter, aber auch in ihrer Funktion umstritten. Auch die „Schrift“ der Indus-Kultur ist umstritten; sie besteht nur aus relativ wenigen Zeichen. Das gilt noch mehr für die sog. chinesischen Jiahu-Zeichen auf einigen wenigen Schildkrötenpanzern oder Knochen aus dem 7. Jahrtausend v. Chr. In Mesopotamien entsteht die Schrift aus „Besitzerzeichen (= tokens), auf denen über Symbole und abstrakte Zeichen Inhalte und Menge der Waren (Wein, Ölbehälter, Brot, Metall usw.) „vermerkt“ werden. Die Symbole werden bald abstrahiert und neben weiteren abstrakten Zeichen auf Tontafeln festgehalten. Die bisher älteste Keilschrift um 2.700 v. Chr. wiederum ist eine rituelle Inschrift auf der Skulptur eines sumerischen Herrschers. Vereinfacht formuliert haben sich in den sog. Hochkulturen zwei Schriftsysteme entwickelt: 1. Die logographische Schrift, in der jedes Zeichen für ein Wort bzw. einen Begriff (Morphem) steht (z. B. proto-elamische Bilderschrift, altägyptische Hieroglyphen, frühe sumerische Keilschrift, Schrift der Maya, Chinesische Schrift) und 2. die Alphabet- oder Buchstabenschrift, bei der die (20 – 40) Zeichen (Buchstaben) für bestimmte Laute (Phoneme) stehen. Eine solche „Lautschrift“ ist z.B. die Phönizische Schrift, deren Alphabet, im 11. Jhd. v. Chr. entwickelt, die Grundlage späterer Alphabete bildet. Die Silbenschriften (z. B. akkadische Keilschrift, Linear A und Linear B) sind ebenfalls „Lautschriften“. Der schwedische Sprachwissenschaftler Tore Janson („Eine
17https://de.wikipedia.org/wiki/Schrift
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kurze Geschichte der Sprachen“) betont, dass beide Schriftsysteme gleichrangig seien, die historisch jüngere Buchstabenschrift nicht etwa überlegen sei. Schrift wird das neue Medium des Zusammenhalts in hochkomplexen Gesellschaften: ökonomisch – politisch – religiös. Schrift ist Kontroll- und Herrschaftsinstrument. Die Fähigkeit des Schreibens ist lange Zeit eine extrem seltene, außerordentliche Kompetenz, die im Dienst von Kult und Macht steht. Die Schrift ermöglicht die Kontrolle der Tribute und Abgaben und dient – oft in Verbindung mit Kunst – der Verherrlichung der Götter und Herrscher. Die Schriftzeichen auf Papyrus, Pergament, gebranntem Ton oder Stein (z. B. Hieroglyphen, das Wort bedeutet „heilige Ritzzeichen“) sind zunächst wohl zugleich magische Zeichen, die eine Verbindung mit der Welt der Götter herstellen. Vermutlich sind auch abstrakte Zahlbegriffe und -systeme, die über Strichlisten hinausgehen, erst zu Beginn der frühen Hochkulturen entwickelt worden. Ein genauer Zeitpunkt, seit wann in der Menschheitsgeschichte ein Zahlenverständnis besteht, lässt sich nicht angeben. Unklar bleibt, ob z. B. bestimmte regelhaft angeordnete Einkerbungen bei fossilen (jungpaläolithischen) Knochen als abstrakte Zahlzeichen oder eher als konkrete Mengenangaben zu verstehen sind. Beim ca. 20.000 Jahre alten sog. Ishango-Knochen aus dem Kongo finden sich Gruppen von Kerben: sie könnten wie Strichlisten konkrete Mengenangaben darstellen oder z. B. bereits eine Kalenderfunktion haben. Ab ca. 3.000 v. Chr. liegt in Ägypten ein (additives) Zahlsystem auf der Basis der Zahl 10 vor (Bezug zu einer Abzählmethode mit Hilfe der 10 Finger?!); seit ca. 2000 v. Chr. wird mit den sog. Grundrechenarten gerechnet (Addition, Substraktion, Multiplikation, Division). Der altägyptische sog „Moskauer Papyrus“ (1.850 v. Chr.) enthält eine Sammlung von 25 Rechenaufgaben; der „Papyrus Rhind“ (1.550 v. Chr.) enthält bereits mathematische Abhandlungen, u.a. zur Bruchrechnung. Ebenfalls um 3.000 v. Chr. werden in Mesopotamien Zahlensysteme auf der Basis der 10 und der 60 entwickelt (Duodezimal- und Hexagesimalsystem). Die 12 gilt als Zahl der Vollkommenheit, vielleicht wird ihre Bedeutung aus den rund 12 Vollmondphasen eines Sonnenjahres abgeleitet. Bis heute hat die Zahl 12 auch in unserem Kulturkreis eine besondere Bedeutung: das Jahr wird in 12 Monate (bzw.12 Tierkreiszeichen), der Tag in 2 mal 12 Stunden unterteilt. Auch nachdem sich das Dezimalsystem durchgesetzt hat, werden elf und zwölf in allen germanischen Sprachen gesondert (mit eigenem Zahlnamen) benannt, erst ab 13 wird auf Basis der 10 mit zusammengesetzten Zahlnamen gearbeitet. Die Mengenangabe „Dutzend“ (12 Stück) ist noch gebräuchlich, im Englischen wird das Längenmaß „Fuß“ („foot“) in 12 Zoll („inches“) unterteilt. In vielen antiken Kulturen sind Zahlen und Rechenoperationen Hilfsmittel und Instrumente zur Lösung praktischer Alltagsprobleme: So findet das Zahlensystem z. B. Anwendung im Bauwesen (Pyramidenbau!), bei der Landvermessung, im Handel, in der Schifffahrt bzw. Navigation usw. Zahlen haben aber darüber hinaus eine mystische bzw. magische Bedeutung (Zahlenmystik bzw. -symbolik); sie stehen für kosmische Konstellationen und den Einfluss der Gestirne, für Glück oder Unglück und sind fester Bestandteil von religiösen Ritualen. Im altbabylonischen Tempelbau-Ritus werden 360 (30 x 12) Weizenmehlbrote aufgelegt. Die 360 ist die heilige Rundzahl des Jahres (12 Monate a 30 Tage). In der Hebräischen Zahlschrift haben die Buchstaben einen bestimmten Zahlenwert; zwischen Wörtern mit gleichem Zahlenwert bestehen demnach inhaltlich-magische Zusammenhänge. Ein Beispiel: Der Zahlenwert für das hebräische Wort für „Ägypten“
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beträgt 380, der für hebr. „Kanaan“ 190, das Wertverhältnis ist also 2:1. Die Wanderung von Ägypten nach Kanaan ist also die von der Zwei zur Eins, d.h. von der Zahl der Gegensätzlichkeit und Endlichkeit (2) zu der Zahl der Einheit, Ganzheit und des Einen Gottes (1).18 Das ist ein Denken, das uns heute eher fremd ist Aber in den Zahlensystemen und der Mathematik zeigt sich eben auch ein neues rationales Denken. Auf die etymologischen Zusammenhängen zwischen „zählen und „erzählen“ (engl. to tell – ahd. „tellen“, teilen; frz. „raconter“ erzählen -„compter“ zählen; lt. „numerus“ Zahl – „nomen“ das Benannte) weist der Wissenschaftshistoriker E. P. Fischer hin.19 Erzählen heißt dann ursprünglich etwas aufzählen, Episoden aneinanderreihen. Fischer vermutet einen gemeinsamen Ursprung von Sprache und Zahl. Er schlägt vor, Zahlen so wie Raum und Zeit als Grundkategorien menschlichen Denkens zu verstehen. Die frühen Hochkulturen entwickeln erste Ansätze von Wissenschaft, das heißt von Versuchen eines rationalen Verstehens von Naturabläufen und -ereignissen, die nicht mehr nur mythisch-religiös (Einfluss der Götter) oder magisch (Ergebnis von Zauberei) gedeutet werden. Naturbeobachtungen und rationale Erklärungsversuche führen z. B. zur Entwicklung von Kalendersystemen, um wichtige Termine für Aussaat und Ernte rechtzeitig bestimmen zu können, sie ermöglichen die Voraussage von Sonnen- oder Mondfinsternissen, führen aber auch, wie in der Naturphilosophie des antiken Griechenland (Thales, Anaximander, Anaximenes u.a.) ab ca. 600 v. Chr. zu rationalen kosmischen Erklärungsmodellen auf der Basis von „Naturgesetzen“. (Auf die besondere Entwicklung einer rationalen Denkweise im antiken Griechenland werde ich noch eingehen.) Aber das wissenschaftliche Denken, sowohl in der exakten Wissenschaft der Mathematik wie in den empirischen Naturwissenschaften bleibt lange Zeit mehr oder weniger eingebunden in Mythos und Religion. Vielerorts entsteht eine (aus heutiger Sicht) eigenartige Verbindung von Orakelwesen bzw. Magie und Wissenschaft: z. B. Astronomie – Astrologie; Mathematik – Zahlenmystik; Medizin – Alchemie. (Auf diese Verbindungen zwischen zweckrationalem Denken und magisch-mythischem (religiösem) Denken habe ich im Kapitel zur „Sprache“ im Teil I der Studie hingewiesen.) Orakel als „Spruch der Götter“ spielen bei der Planung politischer, militärischer oder wirtschaftlicher Vorhaben eine große Rolle, auch den Zahlen und „Buchstaben“ wird, wie erwähnt, eine geheimnisvolle magische Kraft zugemessen. Das Wort Orakel leitet sich von lat. orare – sprechen, beten ab. Das Orakel ist also eine Sprech- und Offenbarungsstätte der Götter. Im berühmten Orakel von Delphi offenbart sich zunächst die Erdgöttin Gaia, später der Licht- und Frühlingsgott Apollon.20 Auch Wissenschaft und Magie, die zunächst und primär das Überleben und die Zukunft der Gemeinschaft sichern sollen, stehen bald zunehmend im Dienst von Herrschaft und von deren ökonomischen, militärischen und politischen Interessen. (7.) Die Geschichte der Reiche und Imperien 18 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Zahlensymbolik 19 Ernst Peter Fischer, Die andere Bildung – Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte.“, 2001, S. 70 f. 20 https://de.wikipedia.org/wiki/Orakel
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Am Ende der Entwicklung zur Hochkultur stehen politische und religiöse Herrschaft, erste in ständige kriegerische Auseinandersetzungen verwickelte Imperien und ein „Heraustreten“ von Einzelpersönlichkeiten, in der Regel zunächst die Herrscher, Oberpriester oder Militärführer, aus der Gemeinschaft. In den archaischen Gemeinschaften können einzelne durch besondere Leistungen im Dienste aller (z. B. als erfolgreiche Jäger oder Schamaninnen) besonderes Ansehen erwerben, nun aber entstehen familiär vererbbare Ansprüche auf Macht, Reichtum und andere Privilegien, die letztlich mit Gewalt durchgesetzt werden. Die ursprüngliche Gemeinsinnorientierung, die doch erst den evolutionsbiologischen Erfolg der Gattung Homo ermöglicht hat, scheint verschwunden bzw. erscheint in neuem Gewand: als Gehorsam gegenüber der zentralen Herrschaft. In den frühen monotheistischen Religionen (Judaismus, Christentum, Islam) wird der bedingungslose Gehorsam gegenüber dem „Gott“, der als Apotheose des absoluten Herrschers erscheint, die zentrale Botschaft. Von diesem Gehorsam hängen Wohl und Wehe der ganzen Gemeinschaft ab. Alles, was früher die (archaische) Gemeinschaft zusammengehalten hat, wird nun auf den Herrscher projiziert: Ein extremer Umbruch von egalitärer Gemeinsinnorientierung zu einer autoritären Hierarchisierung ist erfolgt. Wo vorher Gleichheit und Gerechtigkeit (im Sinne eines gleichberechtigten Zugangs zu Nahrung und anderen Ressourcen) das Zusammenleben in den Sozietäten bestimmen, werden Menschen nun von Geburt an Klassen, Schichten oder Kasten zugeordnet mit starr fest gelegten Rechten, Pflichten und letztlich Lebenschancen. Es sind Zwangsgemeinschaften, in denen das Überleben der Mehrheit der Menschen nicht mehr von Kooperation und Gemeinsinn abhängt, sondern von Unterordnung, Anpassung und Gehorsam. Einzelne herausragende Persönlichkeiten treten zunächst nur in den gesellschaftlichen Eliten auf, in denen um Macht und Reichtum konkurriert wird. Es sind oft besonders durchsetzungsstarke oder weitsichtige Herrscher, die politisch-militärisch erfolgreich sind oder denen es durch geschickte Friedens- und Wirtschaftspolitik gelingt, Wohlstand und Sicherheit der Bevölkerung zu mehren, anders formuliert: Herrscher, die offenbar in besonderem Maße von den Göttern unterstützt oder im Stich gelassen werden usw. Hier zeigen sich nun deutliche Individualisierungstendenzen: Einzelne treten bewusst und demonstrativ aus dem „WIR“ heraus. Ihre Namen (!) werden überliefert. Geschichte ist nun, sicher sehr vereinfacht gesprochen, ein ständiges Kommen und Gehen von Imperien, größeren und kleineren Staaten und Reichen – das Wort „Reich“ (Territorium) wird übrigens ebenso wie die Eigenschaft „reich“ aus dem keltischen -rig (Macht) abgeleitet – oder von Herrschern und Dynastien, die sich bekriegen, Bündnisse schmieden, Eroberungen durchführen, zum Teil kurzzeitig expandieren und letztlich untergehen. Man kann sicher lange diskutieren, ob diesem historischen Geschehen eine innere Logik bzw. Dialektik zugrunde liegt, so wie es Karl Marx angenommen hat und wie es der (dialektisch geschulte) Historiker Franz Borkenau in Auseinandersetzung mit den Werken von Oswald Spengler und Arnold Toynbee am Beispiel der „abendländischen Zivilisation“ nachzuweisen versucht. Während Oswald Spengler den Aufstieg und Fall der einzelnen großen Kulturen als einen quasi naturgesetzlichen Prozess beschreibt, sie kommen und gehen unabhängig voneinander, sieht Arnold Toynbee wechselseitige Einflüsse und für jede Zivilisation einen von vielen Faktoren abhängigen Entwicklungsverlauf. Einige überfordern sich und gehen wieder unter, andere
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transformieren sich und entwickeln „Tochterkulturen“ (Affiliation genannt), manche blühen nur kurz auf, andere überdauern sehr lange. In Auseinandersetzung mit O. Spengler und Arnold Toynbee entwickelt Franz Borkenau die These, dass es zwei verschiedene Grundtypen der Affiliation einer jüngeren Zivilisation an ein oder zwei ältere gibt: Die Affiliation kann sich direkt vollziehen (Beispiel: Die Byzantinische Kultur erwächst aus der klassischen Antike und dem orientalischen Christentum.) oder sie wird nach dem Zusammenbruch einer älteren Zivilisation durch ein „barbarisches Zwischenspiel“ vermittelt (Beispiel: Abendländische Zivilisation nach dem Zusammenbruch Roms, mit verursacht durch die Eroberungen „barbarischer“ Germanen). Letztere Affiliation habe deutlich mehr kreatives Potenzial als erstere. („Je tiefer der barbarische Einschnitt, desto schöpferische die darauf folgende Kultur.“) 21 Das „barbarische Zwischenspiel“ ist bei Borkenau ein höchst dialektischer historischer Vorgang, bei dem auch die ursprüngliche Stammeskultur bei Kelten und Germanen auflöst. Im Kontakt mit der Zivilisation (Römisches Reich) transformieren sich die traditionellen Stammeskulturen, die selbst im Strudel der untergehenden Zivilisation in interne Konflikte geraten, in denen ihre alte Stammesordnung zerbricht. Interne Konflikte, neue kriegerische Organisationsformen und äußere Eroberungen kennzeichnen die neue „barbarische Stufe“ – und spiegeln sich in der Schaffung der Mythen! Erst durch den Zusammenbruch der traditionellen Stammesordnungen sind die „Barbaren“ in der Lage, Elemente der zerfallenen Zivilisation aufzunehmen und eine neue Zivilisation zu entwickeln. Der (letztlich offenbar unvermeidliche) Untergang der Imperien dürfte in aller Regel komplexe und im Einzelfall variierende Ursachen haben. Treibende Kräfte sind u.a. - klimatische Veränderungen, Naturkatastrophen - Übernutzung ökologischer Ressourcen (- das wird z. B. als ein Faktor für den Niedergang der Hochkulturen in Mesopotamien und im Indus-Tal diskutiert: Versalzung der Böden durch falsche Bewässerungstechnik), - Schwächung durch Seuchen bzw. Epidemien, - jahrelange interne Konflikte (meist geht es um Nachfolgeregelungen oder um Folgen der extremen Ausbeutung der produktiven Bevölkerung, - Kriege und Eroberungen, - (irrational) großer personeller, materieller, zeitlicher Ressourcenaufwand für die Errichtung von Kultstätten und anderen Monumentalbauten (Paläste, Grabstätten usw.) und die Durchführung entsprechender Zeremonien und Ritualfeste. Mit den Imperien 22 verbunden sind nicht nur blutige militärische Expansionen, sondern in der Regel auch breite soziale und kulturelle Austauschprozesse. Nicht nur die Ausbreitung von Waren wird erleichtert, sondern auch die von Ideen, Werten und religiösen Überzeugungen. Sicher sind imperiale Eroberungen vor allem Zerstörungs- und Unterdrückungsprozesse, häufig Ausdruck der irrationalen Allmachtsphantasien megalomaner (größenwahnsinniger) Herrscher. Aber sie können auch zu einem Aufbrechen der begrenzten Horizonte ethnozentrischer Gemeinschaften und zu einer neuen „Weltoffenheit“ beitragen, die den Weg bereitet für die Universalisierung von Werten und Ideen. Franz Borkenau „Ende und Anfang: Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes“; Hrsg. und eingeführt von Richard Löwenthal, 1995, S. 54 22 Vgl. die Übersicht über die wichtigsten Imperien der Geschichte bei https://de.wikipedia.org/wiki/Weltreich
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Bis zur sog. Moderne in Europa (Renaissance ab 1400/1500 n. Chr., Entwicklung der Naturwissenschaften ab 1600 und der Aufklärung und der kapitalistischen Produktionsweise Mitte bzw. Ende des 18. Jhds.) scheint sich im Hinblick auf die Strukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nur wenig zu verändern. Das stimmt so aber offenbar nicht. Zum einen ist die „Erinnerung“ an die ursprüngliche Gemeinsinnorientierung, an das Zusammenleben und Kooperieren in „solidarischen“ Gemeinschaften nicht gänzlich verschüttet. Zum anderen entwickeln sich mit der Individualisierung neue Ansprüche auf persönliche Rechte und Freiheiten – und mit den Imperien auch neue Formen der Weltoffenheit. Resümee zum Abschnitt „Zivilisation“ Der große Umbruch von eher egalitären Dorfgemeinschaften zu „Hochkulturen“ bzw. Zivilisationen (Stadtgesellschaften mit hierarchischer Struktur) vollzieht sich innerhalb erstaunlich kurzer Zeit (gut 2.000 Jahre) zeitversetzt in verschiedenen Regionen der Erde – überall dort, wo regelmäßig erhebliche Überschüsse produziert werden. Er ist verbunden mit zunehmender Arbeitsteilung, einer deutlichen Bevölkerungszunahme und etlichen technologischen Innovationen (z. B. Pflug, Rad, Bronzeherstellung). Die ursprünglichen egalitären Gemeinschaften bestehen nicht mehr; extreme Formen von Hierarchisierung sind etabliert: Klassengesellschaften mit gottgleicher Herrschaft an der Spitze. Das starre System der Zuordnung aller Gesellschaftsmitglieder zu Klassen oder Kasten mit detailliert festgelegten Aufgaben, Pflichten und Rechten erscheint wie ein Ritual zur Chaosabwehr; es ist selbstverständlich auch ein Instrument der Ressourcenverteilung und Herrschaftssicherung. Tabubrüche werden rigoros geahndet und bestraft. Unglaublich aufwändige religiöse Kulte spielen eine herausragende Rolle zur „Sicherung“ der Produktion und der Herrschaft. Familien, in denen kultisches Geheimwissen „vererbt“ wird, und die zentralen Tempel, die Überschüsse und eingetauschte Luxusgüter verwalten und die Abgaben der Bauern und die Tribute abhängiger Territorien kontrollieren, werden zum Kern auch der politischen Herrschaft. Die Priesterkönige sind zunächst nur die auserwählten Vermittler der Kultgemeinschaft zu den übermenschlichen Mächten; sie werden bald auch deren Vertreter und Abkömmlinge. Ihre Verehrung wird nun selber zentraler Gegenstand der Kulte und hebt sie weit über die anderen Mitglieder der Gemeinschaft hinaus. Der Zusammenhalt wird also nach wie vor kultisch-religiös gesichert, zusätzlich durch Einführung repressiver Systeme (Militär-, Polizei- und Justizwesen) mit aus heutiger Sicht barbarischen Strafen. Diese Entwicklung geht (fast?) immer mit einer Militarisierung der Gesellschaft und einer zunehmenden Dominanz der Männer einher. Fast überall werden die Frauen aus den öffentlichen Angelegenheiten herausgedrängt. Kriege sind die Pfeiler aller „Zivilisationen“, eine männliche Elite die Hauptprofiteure. Alle zivilisatorischen Errungenschaften und Neuerungen werden auf die eine oder andere Weise in diesen Prozess der Absicherung gottgegebener Herrschaft und der Ausweitung staatlicher Macht eingebunden. Die Einführung privaten Eigentums, sowie des Kredit- und Geldwesens höhlen die traditionelle Gemeinsinnorientierung weiter aus. Die Entwicklung der Schrift und des Zahlensystems sowie der frühen Wissenschaften dienen zunächst dazu, Abgaben und Tribute für zentrale Kultzeremonien und für die herrschende Elite zu regeln und zu sichern. Sie sind darüber hinaus Instrumente einer Akkumulation von Reichtum und Macht (Geld) sowie einer Absicherung und Verherrlichung von Herrschaft (Wissenschaft,
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Schrift); sie bleiben zudem eng verbunden mit Kult und Magie. Herrschaft sucht den Rückhalt und die Unterstützung der Götter. Geschichte ist nun über lange Zeit im Wesentlichen ein Kommen und Gehen der Reiche und Imperien, bis es mit der sog. „Moderne“ zu weiteren „nachhaltigen“ Umbrüchen kommt. Mit dem vagen Begriff der „Moderne“ sind überraschende Entwicklungen verbunden, das versuche ich in den folgenden Abschnitten darzustellen: •
Die Prozesse der Individualisierung verbinden sich nun u.a. auch mit den Ideen der Freiheit, der Menschenwürde und der Menschenrechte;
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die Hierarchisierung der Gesellschaften (bzw. die gesellschaftliche Herrschaft) wird aus der Bindung an die Götter gelöst und muss sich nun einerseits den Ansprüchen an Rationalität (Vernunft und Zweckmäßigkeit) und andererseits den Ideen der Volkssouveränität und der sozialen Gerechtigkeit stellen;
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aus der (kulturellen, sprachlichen) Vielfalt der Sozietäten und Nationen erwächst trotz aller Kriege und Auseinandersetzungen die Idee der Menschheit als einer neuen Gemeinschaft mit einer Gesamtverantwortung für das Leben und Überleben auf dem Planeten.
Schon die frühen Imperien sind nicht selten Wegbereiter der Moderne, indem sie einen Austausch der Ideen und eine Öffnung enger (ethnozentrischer) Horizonte ermöglichen. So kommt es vereinzelt bereits in der Antike zu Entwicklungen, die auf ein neues, zugleich stärker rationalistisches bzw. humanitär-universalistisches Weltbild und damit auf die Moderne verweisen. Das wird im folgenden Abschnitt (ursprünglich nur als Exkurs geplant) verdeutlicht
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