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Albert Schweitzer, Arzt, Theologe, Philosoph, Organist, Pazifist "Vien le pélican!", der Mann mit dem Schnauzbart und den buschigen Augenbrauen ruft seinen Liebling unter den Tieren, die auf dem Gelände des Krankendorfes Lambarene mitten im Urwald der französischen Kongokolonie Gabun leben: den Pelikan. In der Hand hält er eine Schüssel mit Fischen. Die Sonne senkt sich über dem Fluss Ogowe. Es ist die Stunde, zu der sich alle Mitarbeiter zum gemeinsamen Gebet und Abendessen um einen langen Tisch herum zusammenfinden. Anschließend musiziert die Gemeinschaft. So ist es jeden Abend, ein festes Ritual, auf das der Arzt und Theologe Albert Schweitzer großen Wert legt. Wer war dieser Mann, der eine Professur für Theologie an der Universität Straßburg bekleidete und Konzerte auf den besten Orgeln Europas gab, als er beschloss - 30jährig - ein Medizinstudium zu beginnen, um auf einem fremden Kontinent zu leben und dort Menschen einen Mindeststandard an gesundheitlicher Versorgung zu geben? Geboren ist er am 14. Januar 1875 im Elsaß. Das gehört gerade seit wenigen Jahren zum Deutschen Reich. Er wächst auf in Günsbach, einem kleinen Ort, wo der Vater, Ludwig Schweitzer, eine Anstellung als Pfarrer bekommen hat. Die Kinderjahre sind unbeschwert, wäre da nicht das Leid anderer. Schon als Junge fühlt Albert Schweitzer die Benachteiligung derer, die in Armut geboren sind und nicht teilhaben können, was ihm selbst an Glück beschieden ist. Abschied vom Elternhaus zu nehmen, zwingt ihn die Gymnasialzeit. Die Schule liegt in Mülhausen und ist durch tägliche Bahnfahrt nicht erreichbar. Dort lebt aber Großonkel Louis Schweitzer, namensgleich mit dem Vater, der sein Patenkind Albert im eigenen Haushalt aufnimmt und ihm dadurch die Schule ermöglicht. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, hilft ein Lehrerwechsel, das Interesse des Jungen am Unterricht zu wecken. Albert Schweitzer wird ein guter Schüler, der 1893 mühelos sein Abitur besteht und sich an der Universität Straßburg in den Fächern evangelische Theologie, Philosophie und Musik immatrikuliert. In allen drei Fächern wird er Herausragendes leisten. Das erste theologische Examen besteht er 1898, 1900 das zweite und promoviert anschließend mit einer Schrift über das Abendmahlsproblem. Er erhält ein Pfarramt in St. Nicolai zu Straßburg. Ein Jahr später erscheint die theologische Habilitationsschrift „Das Messianitätsund Leidensgeheimnis“. Gleichzeitig promoviert er in Philosophie. Albert Schweitzer weist auf 325 Druckseiten Unstimmigkeiten in Kants Schriften nach, so beispielsweise in dessen Religionsphilosophie, und erhält dafür den Doktor phil. Man müsste denken, damit sei der Student Albert Schweitzer nun endgültig ausgelastet gewesen. Aber das ist weit gefehlt. Mit sechzehn bereits vertritt er im väterlichen Gottesdienst den Organisten. 1893 stellt er sich bei Charles Marie Widor in Paris als Schüler vor. Der bittet ihn 1902, eine kleine Abhandlung über die Bachschen Choralvorspiele für die französischen Organisten zu schreiben. Ein 455 Druckseiten starkes Manuskript entsteht, das 1905 in französicher Sprache erscheint und 1908 überarbeitet als deutsche Ausgabe. Dazwischen veröffentlicht er noch 1906 ein schmales Bändchen über Orgelbaukunst mit dem Titel „Deutsche und französische Orgelbaukunde und Orgelbaukunst“. 1905 ist das entscheidende Jahr im Leben Albert Schweitzers. Den Anstoß gibt eine Broschüre der Pariser Missionsgesellschaft, die einen Ärztemangel in der nördlichen Provinz Gabun der Kongokolonie beklagt. Der Dreißigjährige entscheidet sich, Medizin zu studieren. Zwar gab es schon vorher Versuche sozialen Engagements, so die Betreuung von Waisenkindern oder die von Obdachlosen, denn soziales Engagement ist dem Mann ein Bedürfnis, das seine Wurzeln in der Liebe zu Jesus findet und ihm zu folgen hat. Schweizer schreibt in einem Rundbrief an den Freundeskreis: „Ja, ich habe alles gekannt: die Wissenschaft, die Kunst, die Freuden der Wissenschaft, die Freuden der Kunst, ich kenne das erhebende Gefühl des Erfolges, und mit wahrem Stolz habe ich meine Antrittsvorlesung mit 27 Jahren gehalten. Aber das alles hat meinen Durst nicht gestillt, ich fühle, daß das nicht alles ist, das es nichts ist. Ich bin immer einfacher, immer mehr Kind geworden und ich habe immer deutlicher erkannt, daß die einzige Wahrheit und 1
das einzige Glück darin besteht, unserm Herrn Jesus Christus dort zu dienen, wo er uns braucht.“ Und ihn, Albert Schweitzer, braucht Jesus Christus in Äquatorialafrika, damit er als Arzt die durch mangelnde medizinische Versorgung leidende farbige Bevölkerung zu heilt. Was zuerst eine wenige Semester dauernde medizinische Grundausbildung werden soll, endet als mehrjähriges Vollstudium mit Abschluss Promotion. Wie hätte er auch anders gekonnt. Außerdem hält er Vorlesungen an der theologischen Fakultät, setzt sein Pfarramt fort mit Predigten und der Betreuung von Konfirmanden, geht auf Konzertreisen und schreibt eines seiner bedeutenden Bücher: „Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-JesuForschung“. Und auch die Fertigstellung der deutschen Ausgabe des Buches „Johann Sebastian Bach“ reicht noch in diese Zeit. Am 16. April 1913 kommt Albert Schweitzer in Lambarene an. An seiner Seite Helene Schweitzer, geborene Breßlau. Auch sie hat sich medizinisch ausbilden lassen. Die beiden sind frisch verheiratet, obwohl sie sich schon seit etwa zehn Jahren kennen. Etwa 30 km unterhalb des Äquators beginnen sie mit nichts. Die Wellblechbaracke war nicht rechtzeitig aufgestellt worden. Der erste Behandlungsraum ist ein Hühnerstall. Dafür sind die Patienten um so zahlreicher. Das Siedlungsgebiet, was Schweitzer versorgt, ist riesig und außer ihm nur noch ein einziger weiterer Arzt in Libreville tätig, ein Militärärzt. Was dort in Lambarene entsteht, ist ein ganz eigener Klinikstil. Meist bringt die ganze Familie einen Patienten zum Oganga. So nennen die Einheimischen den europäischen Arzt, ein Wort, das eigentlich die Fetischmänner bezeichnet. Die Behandlung vollzieht sich also im Schoße der Familie, aus sozialer Sicht durchaus für die Genesung der Kranken von Vorteil. Doch die Versorgung ganzer Familien war zunächst nicht vorgesehen gewesen. Sie müssen ernährt und untergebracht werden. Die Zeit bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs finanziert Schweitzer das Krankdorf aus Ersparnissen. Später trägt sich Lambarene hauptsächlich aus Fremdeinnahmen des Arztes und Spenden von Freunden. Der Erste Weltkrieg macht Schweitzers Aufbau des Krankendorfes ein jähes Ende. Die Kolonie ist französisch. Der Arzt ein Deutscher. Er und Helene werden nach Europa zurückgebracht und im Lager Garaison in den Pyrenäen und später in St. Rémy in der Provence interniert. Zwar kann das Ehepaar Schweitzer noch vor Ende des Krieges nach Straßburg zurückkehren, aber es folgen bedrückende Jahre, Jahre geprägt von Krankheit Albert leidet an den Folgen einer Ruhr -, an Schulden, Zerstörung, Völkerhass, wissenschaftlicher Kaltstellung und schließlich am verlassenen Krankendorf in Lambarene. Erst 1924 gelingt den beiden die Rückkehr nach Äquatorialafrika, wo 1925 ein Klinikdorf entsteht, das bis heute im Geiste des Gründers arbeitet, und zwar teils staatlich unterstützt und als Forschungsstation für Tropenkrankheiten mit Schwerpunkt Malaria. Albert Schweitzer wird bis zu seinem Tod Lamberene nur noch zwecks Reisen verlassen, und zwar sieben Male bis 1939. Die Zeit während des Zweiten Weltkrieges verlässt er Afrika gar nicht. Erst in der Zeit von 1949 bis 1959 ist er wieder unterwegs, insgesamt 13 Male. Es ist die Zeit, in der der Tropenarzt von sich Reden macht und in der die Presse die immerselben Fotos veröffentlicht, auf denen Schweitzer in Anzug, Hemd mit Stehkragen und Hut, in den Händen einen abgewetzten Koffer und eine Reisetasche, abgebildet ist. Es sind Konzert- und Vortragsreisen. Seine Freizeit nutzt er für Besuche bei Freunden und Einkäufe. Denn nie kehrt er mit leeren Händen zurück. Im Gepäck hat er stets Medikamente, Decken, Verbandstoffe, Küchengeräte, Werkzeuge und andere nützliche Dinge. Die Welt ist aufmerksam geworden auf Albert Schweitzer und Lambarene. Schon 1928 erhält er den Goethepreis der Stadt Frankfurt. 1951 wird ihm der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen und 1952 der Friedensnobelpreis, der ihm am 4.11 1954 in Oslo übergeben wird. Albet Schweitzer ist ein Name - und ich erinnere mich noch gut aus meiner Kindheit - den eigentlich jeder kennt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich Interllektuelle an ihn wenden, er möge sich an den Aufrufen gegen Atomversuche beteiligen. 2
Albert Schweitzer lehnt ab, zögert, denn seine Grundauffassung war, wie er schreibt, „... sich nie in etwas einzumischen, was auch nur entfernt mit politischen Fragen verknüpft ist.“ Dabei beschäftigt er sich bereits fast 10 Jahre mit verschiedenen Aspekten der Atomphysik. Sein erster Aufruf gegen Kernwaffenversuche und gegen die Atomgefahren wird am 23. April 1957 über Radio Oslo gesendet. Drei weitere Apelle folgen. Sie sind in dem Text „Friede oder Atomkrieg“ veröffentlicht. Seine letzten Jahre verlebt Albert Schweitzer in Lambarene, wo allerdings ein Stab von Mitarbeitern die tägliche Arbeit erledigt. Dort stirbt er am 4. September 1965 im Alter von über 90 Jahren. Selbst im Angesicht des Todes wollte Schweitzer keine Ausnahmestellung. Nur ein schlichtes Kreuz markiert sein Grab hinter dem Hospital. Die Trauergemeinde sang zum Abschied sein Lieblingslied: "Ach bleib mit Deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ". Albert Schweitzers Ethik einer Ehrfurcht vor dem Leben Eines Sonntags in der Passionszeit streifte Albert Schweitzer als Junge mit einem Freund durch die nähere Umgebung ihres Dorfes. Sie hatten sich Schleudern mit Gummischnüren gemacht, mit denen sie kleine Steine auf Vögel katapultieren wollten. Schweitzer machte die Sache Gewissensbisse. Was hatten ihnen die Vögel getan, deren Gesang er so liebte, fragte sich der damals Achtjährige. Als sie in die Nähe eines kahlen Baumes kamen, saß dort eine Schar der unschuldigen Tiere. Die Jungen legten an und spannten ihre Schleudern. Plötzlich erklang das Vorläuten für den Gottesdienst von der Kirche herüber. Erleichtert sprang Albert Schweitzer auf, verscheuchte die Vögel und rannte ins Dorf. Für ihn war das Vorläuten in genau diesem Moment ein Zeichen Gottes, der ihn vor einer bösen Tat bewahrte. Diese Kindheitserinnerung erzählte Schweitzer im Zusammenhang mit seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, und zwar jeden Lebens. Das Mitfühlen des Leids anderer war dem Arzt und Theologen schon als Kind eigen, und so blieb sein Denken ein Leben lang. Darin ist wohl das Motiv zu suchen, eine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben zu schreiben. Den Begriff selbst fand er 1915 während einer Flussfahrt auf dem Ogowe beim Anblick dreier Inseln etwa 80 Kilometer von Lambarene entfernt. Die Schrift besteht aus zwei Teilen, einem Überblick, wie Ethik sich im Verlaufe der Menschheitsgeschichte durch bedeutende Denker entwickelte, und einem zweiten Teil, in dem Albert Schweitzer seine Ethik darlegt. Aus diesem zweiten Teil möchte ich Ihnen heute einige Gedanken vorstellen. Ein Grundsatz der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben sagt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Gleichzeitig erkannte der Philosoph Albert Schweitzer einen unlösbaren Widerspruch, der jedes Leben zwingt, sich nur auf Kosten anderen Lebens erhalten zu können. Die Natur, die keine Sittlichkeit kennt, bringt also Leben hervor und zerstört es gleichermaßen - und wie er meinte, manchmal in sinnlosester Weise. Für den Menschen, der mit Bewusstsein und Gewissen ausgestattet ist, bedeutet es aber, dass er an jedem Leben, das ihn erhält, schuldig werden muss, in dem Moment, wo er es zur Erhaltung des eigenen Lebens schädigt. Dieses Dilemma ist nicht lösbar. Es lässt sich sozusagen höchstens in seiner Sinnlosigkeit und Grausamkeit abschwächen. Schweitzer schreibt, dass der obige Grundsatz vom Willen zum Leben deshalb zwingend in gleichem Maße die Ehrfurcht vor dem Leben verlangt. Kategorien wie Liebe, Hingebung, Mitleiden, Mitfreude und Mitstreben stehen im Mittelpunkt seiner Theorie. Sie verlangt nach Verzicht auf den eigenen Vorteil, soweit er anderen schadet. Nur ein Miteinander der Menschen anstatt eines Gegeneinander kann uns aus dem Dilemma führen. Unsere Liebe soll aber nicht nur den Menschen gelten, sondern ebenso jeder Kreatur. Es ist unsere Pflicht, den Geschöpfen, soweit wir es können, Leiden zu ersparen und Hilfe zu bringen, wenn sie ihrer bedürfen. Und selbst dabei werden wir wieder schuldig. Eine solche Schuld fühlte der Arzt und Theologe, wenn er seinen schutzbedürftigen Pelikan fütterte. Er bedauerte die Fische, denen er das Leben nahm, um das des Pelikans zu erhalten, und hielt 3
sein Mitfühlen nicht für eine Sentimentalität, derer er sich schämen musste. Gleichgültig gegen das Leid zu werden, gefühlos und gedankenlos, wenn man selbst Leid erzeugt, weil man es nicht ändern kann, betrachtete Schweitzer als eine der großen Versuchungen, und zwar ebenso wie ein Wegschauen und Abstumpfen gegen das Leid, das stets gegenwärtig ist. Verantwortung trägt der Mensch aber oftmals nicht nur für sich selbst. Er handelt übergreifend auch zum Wohlergehen ganzer Teile der Gesellschaft, in der er lebt. Zwar unterscheidet Schweitzer insofern zwischen einem egoistischen Schuldigwerden, wenn der Mensch für sich selbst Verantwortung übernimmt und einem unegoistischen Schuldigwerden, wenn der Einzelne zum Wohlergehen einer Mehrzahl von Existenzen handelt. Aber dieses unegoistische Verletzen der Ehrfurcht vor dem Leben ist nicht ethisch, wie es oftmals in der Philosophie noch als solches begriffen wird. Denn soweit der Mensch vor die Situation gestellt ist, überpersonelle Verantwortung zu übernehmen, muss er dies so tun, dass er dabei soviel als möglich an Humanität wahrt. Er muss die Humanität stets vor die Interessen überpersönlicher Verantwortung stellen. Aus einem solchen öffentlichen humanen Handeln entsteht Gesinnung. Die war Albert Schweitzer noch wichtiger als das ethische Handeln selbst. Denn nur wenn der Mensch höchste Humanität in seinem Denken festigt, kann er sich sein Menschsein bewahren anstatt zum Vollstrecker allgemeiner Interessen zu werden. Und: solch Handeln hat Vorbildcharakter und trägt humanes Denken in die Welt. Wir tragen also auch Verantwortung gegenüber einer sich allgemein durchsetzenden Gesinnung. Sie ist idealistisch im streng philosophischen Sinne, diese Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, insofern sie vom Denken ausgeht, nicht vom Materiellen, und sie will an erster Stelle die Gesinnung der Menschen ändern, nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse. Das hinderte Schweitzer aber nicht, trotzdem einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu werfen. Obwohl er dem Denken den höchsten Stellenwert beimaß, sah er, wohin der geistige Fortschritt die Menschen geführt hatte, besonders der technische, und stand ihm kritisch gegenüber. Mit der Erfindung der Maschinen verändern sich die Lebensbedingungen grundlegend, schreibt er. Die Maschine hat unser Arbeitsleben in feste Regeln gepresst und engt es ein. Der Einzelne hat den Bezug zu seinem Haus und zur Natur, die ihn nährt, verloren, wenn er als Arbeiter in der Fabrik schuftet. Der Handwerker oder Kaufmann verliert den Bezug zu dem eigentlichen Sinn seiner Tätigkeit, wenn er als Angestellter im Konzern arbeitet. In der Hektik des Arbeitslebens haben die Menschen kaum Zeit zur Selbstbesinnung und zur Sammlung. Sie werden der Familie und den Kindern nicht mehr gerecht. Die Macht, die die Menschen zunehmend über die Kräfte der Natur gewonnen haben und noch gewinnen, zieht eine Gewalt der Menschen über Menschen nach sich. Schweitzer schreibt: „Mit dem Besitz von hundert Maschinen ist für einen Menschen oder eine Genossenschaft von Menschen die Herrschaft über alle, die diese Maschinen bedienen, gegeben.“ Eine einzige Erfindung führt den Tod von tausenden Menschen herbei, wobei ein Einzelner mit einer einzigen Handbewegung diese Katastrophe auslöst. Jede Form von Kampf lehnte der Arzt und Theologe ab, da sie nur dazu führt, dass die Menschen sich in wirtschaftlicher oder physischer Hinsicht verletzen. Durch Kampf erreichen sie nur, dass sie sich untereinander zerstören. Der Staat, wobei er keine Nation benannte, ist völlig verschuldet, führt wirtschaftliche und politische Kämpfe, kennt keine moralische Autorität und ist kaum noch in der Lage, die reale Autorität aufrecht zu erhalten. Er ringt um seine Existenz, denn er wird von Katastrophen und Krisen geschüttelt. Er hat die Grenzen seiner eigentlichen Wirksamkeit längst überschritten und greift statt dessen in alle Verhältnisse ein, die er zu regulieren versucht. Er will in das wirtschaftliche ebenso wie in das geistige Leben eingreifen. „Und um dies zu erreichen ... arbeitet er mit einem Apparat, der an sich schon eine Gefahr bedeutet.“ Man könnte glauben, Schweitzer spricht von der Gegenwart. So ist es aber nicht. Vermutlich 4
hat er Deutschland nach dem ersten Weltkrieg vor Augen, eine Zeit, in der er an der Schrift zu arbeiten begann. Er forderte, der Staat müsse aus seiner finanziellen Krise wieder herauskommen und sein Eingreifen in alle Belange zurückfahren. Wie dieser Staat, den er beschreibt, gesunden soll, ist ihm selbst ein Rätsel. Verändern lässt er sich nur im Innern, und zwar durch eine neue Gesinnung. Diese sah er in einer Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben und in einer Welt- und Lebensbejahung. Er schreibt: „So haben wir die Menschen von heute wieder zu elementarem Nachdenken über die Frage, was der Mensch in der Welt ist und was er aus seinem Leben machen will, aufzurütteln.“ Nur so kann es zum Frieden und zur Verständigung zwischen den Menschen, den Staaten und im besonderen gegenüber überseeischen Staaten kommen. Er spricht in diesem Zusammenhang von Begegnung. Marlies Matthies
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