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34 S p annu ng s r e du kt i on
und Vert ra uen sb i ld ung Berthold Meyer
Vertrauensbildung ist nicht der einzige Weg zur Spannungsreduktion, spielt aber in der internationalen Politik eine wichtige Rolle, um dieses Ziel zu erreichen. Es werden zwei unterschiedliche Vorgehensweisen vorgestellt und diskutiert: erstens der Gradualismus mit seinen einseitigen Initiativen und zweitens die vereinbarte Vertrauensbildung zum Zwecke der Transparenzförderung. Beide können sich ergänzen, wie die Erfolgsgeschichte der Beendigung des Ost-West-Konfliktes zeigt. Doch sie sind bei extrem asymmetrischen Konflikten wie dem zwischen Israelis und Palästinensern zum Scheitern verurteilt, wenn bestenfalls dem Buchstaben und nicht dem Geist von Vereinbarungen entsprochen wird.
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Einleitung: Spannungsreduktion und Vertrauensbildung in Konflikten
Teil III Frieden gestalten
Konflikthafte Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen oder Staaten durchlaufen unterschiedliche Phasen. Je größer die inhaltliche Positionsdifferenz zwischen den Konfliktparteien ist und/oder je negativer sie ihre Beziehungen wahrnehmen, desto größer sind die Spannungen, desto eher kommt es zu gewaltsamen Entladungen. Daher liegt es unter der Zielsetzung einer konstruktiven Konfliktbearbeitung nahe, über Wege der Spannungsreduktion nachzudenken. Weil der Beziehungsaspekt besonders bedeutsam ist, kommt dem Vertrauen oder Misstrauen zwischen den Parteien eine Schlüsselfunktion zu. Begriffsklärung Vertrauen als Erwartung. Was ist in diesem Zusammenhang unter Vertrauen zu verstehen? Vertrauen ist in einer zwischenmenschlichen Beziehung in einem Minimum dann vorhanden, wenn Person A in einer bestimmten Situation das Verhalten von Person B vorhersagen kann und umgekehrt. Wenn ich z.B. in unserem Kulturkreis einer anderen Person begegne und ihr die Hand entgegenstrecke, kann ich davon ausgehen, dass diese nicht hineinbeißt, sondern sie ergreift und mäßig schüttelt. Genauso kann die andere Person in dem Moment, in dem sie meine Hand auf sich zukommen sieht, davon ausgehen, dass ich sie damit weder schlagen noch stoßen will. Wir haben es also mit einer wechselseitigen „Generalisierung von Erwartungen“ (Luhmann, 1973, S. 27) zu tun.
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Spannungsreduktion und Vertrauensbildung
Vertrauen als Verlässlichkeit. Vertrauen als generalisierte Erwartungshaltung ist insofern nicht mit Vertrautheit oder gar dem Vertrauensverhältnis zwischen Freunden identisch, sondern kann durchaus zwischen einander Fremden oder sogar Gegnern entstehen und bestehen. BEISPIEL Die Ankündigung von militärischen Manövern, wie sie im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ausgehandelt worden waren, stellt eine „Vertrauensbildende Maßnahme“ (VBM) dar. Sie halfen den Parteien des Ost-West-Konflikts dazu, einen Truppenaufmarsch jenseits der Grenze nicht als eine feindliche Aktion anzusehen, auf die man mit einem Präventivschlag antworten müsste.
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Teil III Frieden gestalten
In diesem Sinne könnte auch von Verlässlichkeit oder Berechenbarkeit gesprochen werden. Wo nämlich das künftige Verhalten des anderen nicht hinreichend eingeschätzt werden kann, ist Vorsicht geboten, kann sich Misstrauen oder sogar Angst einstellen. Wo Vertrauen über größere Verlässlichkeit oder Berechenbarkeit gebildet wird, kann dies dazu dienen, Spannungen nicht aufkommen zu lassen oder abzubauen. Im Folgenden sollen zwei theoretische Ansätze des Spannungsabbaus und der Vertrauensbildung vorgestellt und auf ihre praktische Nutzanwendung in den internationalen Beziehungen hin befragt werden. Später wird auf drei Beispiele für internationale Spannungen und Misstrauen bzw. deren Bearbeitung eingegangen: der KSZE-Prozess von 1975– 1986, die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und der (gescheiterte) Friedensprozess in Nahost.
Der gradualistische Ansatz von Charles Osgood
Gradualistischer Spannungsabbau (GRIT) Als Erstes wollen wir uns mit der gradualistischen Strategie des Spannungsabbaus befassen, einem Konzept, das unter dem Kürzel GRIT (Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension-Reduction) auf den amerikanischen Psychologen Charles Osgood (1962) zurück geht. Osgoods Überlegungen entstanden, als in den späten 1950er Jahren die beiden Atommächte USA und Sowjetunion erstmals fähig waren, sich wechselseitig auszulöschen. Die Hochspannung des Kalten Krieges erforderte nach Überzeugung des Autors „eine radikale Erneuerung der Politik“. Um dies zu erreichen schlug er eine Strategie vor, „die es einer Nation erlauben würde, durch Maßnahmen wechselseitiger Spannungsverminderung die Initiative zu ergreifen und sich dabei dennoch jederzeit innerhalb tragbarer Sicherheitsrisiken zu bewegen“ (Osgood, 1968, S. 357). Der gradualistische Ansatz von Charles Osgood
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Ursprung des Wettrüstens Macht und Misstrauen. Osgood zufolge führt wechselseitige Abschreckung in einer Konstellation nationalistisch geprägter „Machtkonkurrenz in Verbindung mit gegenseitigem Misstrauen und Aversion gegenüber Kompromissen ...“ (Osgood, 1968, S. 360) unausweichlich zum Wettrüsten. Dabei diene jeder Schritt, der dazu beitrage, die eigene Unsicherheit zu verringern, gleichzeitig dem Anwachsen der Unsicherheit jenseits der Grenzen. Wahrnehmungsverzerrungen. Versuche, durch Verhandlungen zu Abrüstungsvereinbarungen zu gelangen, seien gescheitert, weil das menschliche Wahrnehmungsvermögen leicht durch vorhergehende Umstände, vorhandene Einstellungen und durch vorherrschende Motive beeinflusst werden könne, insbesondere durch eine „voreingenommene Wahrnehmung dessen, was gleichwertig ist“ (Osgood, 1968, S. 370). Außerdem wirke eine Kraft gegen erfolgreiche Verhandlungen, die man als sich selbst erfüllende Prophezeiung (selffulfilling prophecy) bezeichnet und die ebenfalls ein Ergebnis der Mentalität des Kalten Krieges sei. Sie bestehe darin, dass die Parteien schon mit der Überzeugung in Verhandlungen hineingehen, es werde nichts dabei herauskommen, weil die andere Seite keinen Frieden wolle. Hinzu komme ein Misstrauen gegenüber Übereinkünften: „Wenn der andere der Gegner ist und Gegner böse sind, so folgt daraus, dass er uns betrügen wird, wenn wir es nicht ihm gegenüber tun.“ (Osgood, 1968, S. 371).
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Einheitliches Weltbild. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, auf eine Tendenz zur Erhaltung eines konsistenten Gedankengebäudes hinzuweisen. Immer wenn einander widersprechende Erkenntniselemente zu Behauptungen zusammengezogen werden, also eine kognitive Dissonanz auftritt, entsteht ein psycho-logischer Druck zur Übereinstimmung, so dass versucht wird, die bisherige Weltsicht wiederherzustellen (vgl. Festinger, 1957; → Kap. 8 Soziale Kognition, Kap. 23 Feindbilder). Auch dies trug dazu bei, dass die Parteien des Kalten Krieges einander – entgegen möglicher oder sogar tatsächlicher andersartiger Erfahrungen – als unverbesserlich ansahen. Das prekäre Gleichgewicht. Osgood fragte, was zu tun sei, um die Eiszeit des OstWest-Konfliktes zu überwinden. Er verglich sie mit der Situation zweier kräftiger Männer, die sich nahe der Mitte einer langen und steifen Wippe gegenüberstehen, die sich über einem Abgrund im Gleichgewicht befinde. Sobald einer der Männer einen Schritt nach außen macht, muss dies der andere auch tun, um das Gleichgewicht zu bewahren. Doch je weiter sie sich von einander entfernen, desto mehr kommt das Brett ins Schwanken oder sogar an die Grenze seiner Belastbarkeit, so dass beide in den Abgrund stürzen. Obwohl beiden Männern klar ist, dass sich ihre Sicherheit auf dem schwankenden Brett dann vergrößern würde, wenn sie beide langsam und mit kleinen Schritten zur Mitte zurückkehren würden, tun sie es nicht, weil sie sich dazu vertrauen müssten. Aber da ihnen dieses Vertrauen
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Spannungsreduktion und Vertrauensbildung
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fehlt, nimmt jeder vom anderen an, dieser sei irrational genug, beide in den Abgrund stürzen zu lassen, wenn er selbst nicht das Gleichgewicht hält. „Nehmen wir nun aber an, es geht einem der Männer auf, dass sich der andere vielleicht genauso fürchtet wie er und deshalb ebenfalls irgendeinen Weg begrüßen würde, dieser unerträglichen Situation zu entkommen. So beschließt dieser Mann, auf seine neue Einsicht zu setzen, und er ruft laut aus: ,Ich gehe einen kleinen Schritt auf dich zu!‘ Der andere Mann unternimmt, eher als dass er das Gleichgewicht aufgibt, ebenfalls einen zögernden Schritt vorwärts, woraufhin der erste einen weiteren, größeren Schritt macht. Somit bahnen sich beide durch eine Reihe einseitiger, jedoch wechselseitiger Schritte den Weg zurück zur Sicherheit; sie müssen genauso viele Schritte machen, wie sie ursprünglich nach außen gegangen waren.“ (Osgood, 1968, S. 381).
Der gradualistische Ansatz von Charles Osgood
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Erwiderung von Initiativen Das Gleichnis des schwierigen Gleichgewichts überträgt Osgood auf das Wettrüsten. Er nennt seinen Vorschlag eine „Friedensoffensive“, die in der Lage sei, „beim Gegner eine Wechselwirkung hervorzurufen. Es handelt sich eher um eine Offensive der Taten als der Worte, aber die Taten sind im Umfang des Risikos, das sie aufweisen, so sorgfältig abgestuft, dass ein erträgliches Maß an Sicherheit und Würde aufrecht erhalten werden kann“ (Osgood 1968, S. 381). Um diese Wechselwirkung zu erzeugen, kommt es darauf an, dass die einseitige Handlung eine Erwiderung auslöst. Dazu sind folgende Aspekte wichtig: l Der Gegner sollte die einseitige Initiative als Verminderung seiner äußeren Bedrohung empfinden. l Die Initiative wird von ausdrücklichen Aufforderungen zur Erwiderung begleitet (wobei es nicht darauf ankommt, dass der Gegner quantitativ oder qualitativ genau den gleichen Schritt tut). l Die einseitige Handlung muss auch dann vollzogen werden, wenn der Gegner sich nicht vorher verpflichtet, sie zu erwidern. Im letzten Punkt liegt der entscheidende Unterschied zu Verhandlungen, die auf bestimmte Maßnahmen beider Seiten zielen. Besonders wichtig ist es, die einseitigen Handlungen unabhängig von ihrer Erwiderung durch den Gegner in Schrittfolgen zu planen und über lange Zeit hinweg fortzusetzen, auch wenn es nicht sofort zu den gewünschten Erwiderungen kommt. Bliebe es bei dem einen ersten Schritt, so müsste damit gerechnet werden, dass der dem alten Denken verhaftete Gegner dies als Propaganda oder Trick bewertet. Demgegenüber macht die Schrittfolge deutlich, dass der Partner es mit seiner Entspannungsabsicht ernst meint. Um dies zu unterstreichen, bedarf es schließlich einer breiten Öffentlichkeitsarbeit, d.h. die Folge der einseitigen Schritte muss bereits vor ihrer Ausführung den verbündeten, neutralen und gegnerischen Ländern als Teil einer zusammenhängenden Politik verständlich gemacht werden. Dabei kommt es darauf an, die Aktion so zeitig anzukündigen, dass der Gegner darauf eingehen und sich überlegen kann, in welcher Weise und auf welchen Feldern er entge-
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genkommen will, um auch seinerseits die Weltöffentlichkeit darauf einzustimmen, dass auch er den Frieden will und etwas dafür tut (vgl. Osgood, 1968, S. 382 ff.).
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GRIT-Strategie und Vertrauensbildung
Lindskold (1978) untersuchte die GRIT-Strategie mit der Abfolge einseitiger Initiativen unter der Frage, welche sozialpsychologischen Prinzipien für die Vertrauensbildung von Bedeutung sind. Die Grundsätze des gradualistischen Spannungsabbaus und die entsprechenden vertrauensfördernden Prinzipien sind in Tabelle 1 zusammengefasst, die im Folgenden wiedergegeben wird.
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Tabelle 1. Die Beziehungen zwischen GRIT und Vertrauensbildung (leicht verändert nach Lindskold, 1978, S. 777)
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GRIT
Vertrauensfördernde Prinzipien
(1) Allgemeine Erklärung, die Spannung verringern zu wollen
Es ist notwendig, die geplanten Schritte in einem konsistenten Rahmen aufeinander aufbauen zu lassen, um dem Gegenüber ihre Interpretation zu erleichtern; die öffentliche (Selbst-)Verpflichtung bewirkt, dass ein Abweichen von ihr für das internationale Ansehen kostspielig wird; dritte Parteien werden aktiviert, die Freiwilligkeit der Initiative wird sichtbar.
(2) Klare Ankündigung der einzelnen Initiativen
Vermeidung jeder Fehlinterpretation durch Vagheit, Zweideutigkeit oder Ungenauigkeit; Herstellen der Verbindung der einzelnen Initiativen zu der allgemeinen Erklärung, die Spannung verringern zu wollen, um die Konsistenz des Programms deutlich zu machen.
(3) Durchführung der Initiative wie angekündigt
Schaffung objektiver Glaubwürdigkeit.
(4) Einladung zur Erwiderung durch die andere Seite, aber keine Forderung nach einer positiven Reaktion
Keine Freiheitseinschränkung für die andere Seite: Verstärkungseffekt durch das Risiko der eigenen Verwundbarkeit; es ist wichtig, eine Ablehnung durch die andere Seite zu vermeiden.
(5) Fortführung einseitiger Initiativen auch im Falle ausbleibender Reaktionen
Beweis des konsistenten Verhaltens; Bewahrung der objektiven Glaubwürdigkeit entsprechend der allgemeinen Erklärung (1); Verstärkungseffekt
(6) Angebot an die andere Seite, die Maßnahmen zu verifizieren
Kann die objektive Glaubwürdigkeit erhöhen, jedoch besteht die Gefahr, dass zu viel demonstrative Offenheit Vertrauen zerstört, da es Anlass zu Misstrauen gibt.
Spannungsreduktion und Vertrauensbildung
Tabelle 1. (Fortsetzung) GRIT
Vertrauensfördernde Prinzipien
(7) Aufrechterhaltung der Vergeltungsfähigkeit
Interessenausgleich sollte eine Wahlmöglichkeit sein, nicht – wie im Falle einseitiger, vollständiger Abrüstung – die einzige Strategie; die andere Seite kann das Verhalten als wohlmeinend wahrnehmen, weil sie erkennt, dass vorhandene Druckmittel nicht angewandt wurden.
(8) Präzise Vergeltungsmaßnahmen im Fall der Eskalation durch die andere Seite
Vermeidung von Überreaktion, die die Eskalationsspirale in Gang setzen und den Eindruck von Feindseligkeit erwecken würde; günstig ist, dass der Gegner die Adäquatheit der Reaktion wahrnehmen kann.
(9) Diversifizierung der Initiativen
Wichtig sind die Konsistenz der Maßnahmen und ihr längerer Zeithorizont.
(10) Erwiderung jeder positiven Reaktion der anderen Seite durch weitere Initiativen
Eine Unterlassung würde als Verletzung der selbst gesetzten Normen angesehen und zu Unglaubwürdigkeit führen, weil der Verstärkungseffekt ausbliebe.
GRIT-Strategie und Vertrauensbildung
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Kritische Aspekte von GRIT Spannungen werden auf der Wahrnehmungsebene im Allgemeinen von hochgradigem Misstrauen begleitet. Daher liegt es nahe, sich bei Bemühungen um Vertrauensbildung an der GRIT-Strategie zu orientieren, auch wenn dies nicht ganz unproblematisch ist. So betont Etzioni, die Aufteilung des Wandlungsprozesses in viele Schritte lasse es zu, „bei jedem Schritt nur minimal von jenem ‚sicheren‘ Zustand abzuweichen, an den man sich gewöhnt hat. Wenn man nur einen kleinen Schritt auf einmal unternimmt, lässt dies auch Experimente zu ... Die kleinen Schritte geben ein Gefühl des Wiederumkehrenkönnens. Das alles ergibt eine ‚Strategie der geringsten Verluste‘, bei der die sich addierenden Gewinne groß sein können, aber die tatsächlichen Risiken und die eingebildeten Befürchtungen auf ein Minimum beschränkt bleiben.“ (1965, S. 280 f.). Dieser risikofreie Charakter der Initiativen (Czempiel, 1972, S. 101 ff.) steht im Widerspruch zu der Feststellung Luhmanns, dass Vertrauen letztlich erst entstehe, wenn Risiken in Kauf genommen würden, ja wenn es zur „riskanten Vorleistung“ komme (1973, S. 23). Vertrauen ist stets dann zu investieren, wenn eine „kritische Alternative“ vorliegt, „in der der Schaden beim Vertrauensbruch größer sein kann als der Vorteil, der aus dem Vertrauenserweis gezogen wird.“ Kurz: Vertrauen bleibt ein Wagnis. (Luhmann, 1973, S. 24/27).
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Internationale Vertrauensbildung Schwierigkeiten internationaler Initiativen. Initiativen zur Vertrauensbildung und zum Spannungsabbau lassen sich gerade auf internationaler Ebene nicht in jeder beliebigen Situation starten, denn dort ist das, was Luhmann zutreffend über die Vertrauensbildung auf der personalen Ebene beschreibt, nicht nur für ein Individuum lebensgefährlich, sondern kann unter Umständen ganze Völker auslöschen. Luhmann betont, es bedürfe eines Anlasses, um Vertrauen zu erweisen. „Der Vertrauende muss eine Situation definieren, in der er auf seinen Partner angewiesen ist. . . . Er muss sich sodann in seinem Verhalten auf diese Situation einlassen und sich einem Vertrauensbruch aussetzen. Er muss, mit anderen Worten, das einbringen, was wir oben ‚riskante Vorleistung‘ genannt haben. Der Partner muss, als Rahmenbedingung, die Möglichkeit haben, das Vertrauen zu enttäuschen, und nicht nur die Möglichkeit, sondern ein gewichtiges Interesse daran. Er darf nicht schon von sich aus, in eigenem Interesse, auf der Vertrauenslinie laufen. Er muss sodann in seinem Verhalten das Vertrauen honorieren und sein anderes Interesse zurückstellen.“ Dabei sei es erforderlich, dass diese Zurückstellung Folgen im Sinne einer verpassten Gelegenheit zeige und somit vom Vertrauenden nicht mehr als bloßer „vorläufiger Aufschub des Vertrauensbruchs“ wahrgenommen werden könne. Erst beides zusammen macht für ihn die erste Sequenz der Vertrauensbildung aus. „An ihr lässt sich ein wichtiges Ergebnis schon ablesen: dass der Prozess einen beiderseitigen Einsatz erfordert und nur dadurch erprobt werden kann, dass beide Seiten sich auf ihn einlassen; und zwar in nichtumkehrbarer Reihenfolge: zuerst der Vertrauende und dann der, dem vertraut wird.“ (Luhmann, 1973, S. 45). Teil III Frieden gestalten
Vertrauensschritte. Diese Erfordernisse reichen über die in der Politik schwierige Zurückstellung von Interessen weit hinaus. Es sind auch Zweifel und Ängste zu überwinden, dass das eingegangene Risiko zu groß sein könnte. Dies hängt mit der Einschätzung der Verantwortung zusammen, die ein Staatsmann für sein Land übertragen bekommen hat. Luhmann weist deshalb zu Recht auf die erkenntnismäßigen und normativen Aspekte hin, die zu dem schon Beschriebenen hinzukommen: „Es genügt nicht, dass der Prozess so abläuft. Die Beteiligten müssen wissen, dass dies alles sich so verhält, und sie müssen voneinander wissen, dass sie es wissen. Vertrauensbildung ist deshalb auf leicht interpretierbare Situationen angewiesen und nicht zuletzt deswegen auf Möglichkeiten der Kommunikation.“ (Luhmann, 1973, S. 45 f.). Kommunikationsprobleme. Kommunikation kann aber auch den Vertrauensbildungsprozess gefährden: „Störanfälliger werden kann er übrigens auch durch zu viel Wissen, nämlich dann, wenn die Beteiligten auch noch wissen oder sich gegenseitig unterstellen, dass der Prozess dem Aufbau von Vertrauen dient. Denn dann wird die Frage nach dem Wozu, die Frage nach dem Motiv unabweisbar, die sehr leicht in Misstrauen umschlagen kann“ (Luhmann, 1973, S. 46). Somit stellt sich die Frage, wie dieser Störfaktor in einer Demokratie minimiert werden kann, wenn außenpolitisch Handelnde für ihre Handlungen innenpolitische Rückendeckung brauchen und Erklärungen, die nach innen gerichtet sind, auch von der Außenwelt wahrgenom-
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men und nach Belieben interpretiert werden können. Hier besteht gleichermaßen ein normatives wie ein praktisches Problem, das noch seiner Auflösung harrt. Normativ insofern, als hiervon der Anspruch des demokratischen Souveräns berührt wird, über das Handeln derer, die in seinem Namen handeln, informiert zu sein, und praktisch insofern, als es den für die Außenpolitik Sprechenden nur begrenzt möglich ist, nach innen wie nach außen unmissverständliche Aussagen zu formulieren. Gerade wenn man sich der grundsätzlichen Störanfälligkeit der Prozesse bewusst ist, vermag man das Gelingen von Spannungsabbau und Vertrauensbildung in den internationalen Beziehungen erst richtig einzuschätzen. Als ein Beispiel aus der Hochzeit des Kalten Krieges gilt das sog. Kennedy-Experiment, das von Etzioni als Abfolge wechselseitiger Initiativen des US-amerikanischen Pärsidenten und seines sowjetischen Gegenspielers Chruschtschow ab dem Sommer 1963 beschrieben wird, in dessen Verlauf es zum ersten Atomteststopp-Vertrag kam (Etzioni, 1965, 1968).
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Spannungsreduktion durch Vertrauensbildung: die KSZE 1975–1986
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Während des Ost-West-Konfliktes gab es einen multilateralen Versuch der Spannungsreduzierung, der einen erheblichen Anteil daran hatte, den Gegensatz zwischen Ost und West zu überwinden, und der indirekt dazu beitrug, zu einem teilweisen Abbau der Kernwaffenpotentiale wie auch der konventionellen Arsenale zu gelangen:, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Zum Kernbestand der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) gehört ein erster Satz vertrauensbildender Maßnahmen (vgl. Auswärtiges Amt, 1993, S. 27– 30), mit denen nicht nur die Absicht dokumentiert wurde, die Beziehungen zwischen den gegnerischen Staaten und Bündnissystemen zu entspannen, sondern deren Einhaltung ihr militärpolitisches Verhalten verändern sollte. Vertrauensbildende Maßnahmen Als vertrauensbildende Maßnahmen (VBM) galten damals l die Ankündigung von größeren militärischen Manövern von Landstreitkräften in einer Gesamtstärke von mehr als 25.000 Mann 21 Tage vor deren Beginn l die vorherige Ankündigung kleinerer Manöver l der freiwillige Austausch von Manöverbeobachtern l die vorherige Ankündigung von größeren Militärbewegungen und schließlich l die Förderung des Austauschs von Besuchern und militärischem Personal. Da die Schlussakte kein völkerrechtlicher Vertrag war, sondern nur eine politische Willenserklärung der 35 Teilnehmerstaaten, war auch die Vereinbarung der VBM nicht rechtsverbindlich, sondern in der hier genannten Reihenfolge abnehmend politisch verbindlich. Hinter diesen Vereinbarungen stand ein anderes Konzept als GRIT. Sie zielten Alford (1980) zufolge darauf, militärische Vorhaben offen zu legen, um klar zwischen feindlichem und nicht-feindlichem Verhalten zu unterscheiden. Spannungsreduktion durch Vertrauensbildung: die KSZE 1975 – 1986
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l Staaten soll es durch diese Maßnahmen schwerer gemacht werden, unbemerkt
Kriegsvorbereitungen zu treffen,
l sie sollen für Kriegsvorbereitungen mehr Zeit benötigen, und
l es soll gewährleistet werden, „dass zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was
getan wird, Übereinstimmung herrscht“ (ebenda, S. 591).
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Transparenz statt Vertrauen? Das Ziel, Transparenz durch Information, Inspektion und Kontrolle herzustellen, folgt dem Lenin-Spruch „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“. Damit stellt es Luhmanns Sicht vom Vertrauen als Wagnis sozusagen auf den Kopf. Dieser Zielvorgabe entsprachen auch die von der Stockholmer KSZE-Folgekonferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) 1986 verabschiedeten weiterreichenden Vereinbarungen. Sie sollten militärisch bedeutsam, politisch verbindlich und von angemessenen Formen der Verifikation begleitet sein (Auswärtiges Amt, 1993, S. 91). Inhaltlich bestanden sie vor allem aus einer Halbierung der Größe, von der an Manöver angekündigt werden mussten, von 25. 000 auf 13.000 Mann, einer Verdoppelung der Fristen für die Ankündigungen sowie einer Vereinbarung von vorausschauenden Jahresübersichten und einer detaillierten Regelung für den Austausch von Beobachtern. Darüber hinaus wurde als neues Instrument die Möglichkeit der Inspektion vor Ort für Fälle geschaffen, in denen ein Teilnehmerstaat Zweifel daran hat, dass ein anderer die vereinbarten Maßnahmen einhält. Obwohl sich dieser Ansatz prinzipiell vom GRIT-Konzept und dem Wagnis der Vertrauensbildung unterscheidet, entsprachen in der Praxis der Jahre 1975 bis 1986 die westlichen Staaten, allen voran die Bundesrepublik Deutschland, durch ein erhebliches Maß an Offenheit, das jeweils über das bei den einzelnen Konferenzen erzielte Transparenzerfordernis hinausging, dem GRIT-Ansatz. Sie erreichten damit eine Art Sogwirkung, der sich die östliche Seite trotz langen Zögerns nicht entziehen konnte.
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Vertrauen schafft Vertrauen: Gorbatschow und Genscher
Glasnost als Eisbrecher Ob die Vertrauensbildenden Maßnahmen der ersten Generation wirklich das Eis gebrochen hätten, das die Ost-West-Beziehungen nach ihrer erneuten Eintrübung infolge der Nicht-Ratifizierung des SALT-II-Vertrages durch den US-Senat, des NATO-Nachrüstungsbeschlusses und des Einmarsches der Sowjetunion in Afghanistan im Dezember 1979 kennzeichnete, sei dahin gestellt. Ihr Ende fand die Frostperiode nach dem Amtsantritt Gorbatschows als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) 1985 und dem von ihm verkündeten Aufbruch zu Glasnost (mehr Transparenz) und Perestroika (gesellschaftlicher Umbau). Dies geschah aber nicht unmittelbar, sondern im Verlauf einiger Monate.
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Spannungsreduktion und Vertrauensbildung
Mehr Transparenz. Der westdeutsche Delegationsleiter nahm bei den Stockholmer Verhandlungen die neue sowjetische Programmatik von Glasnost beim Wort, um darauf hinzuwirken, dass Moskau von seiner bis dahin vertretenen strikten Ablehnung von Vor-Ort-Inspektionen abrückte. Dies brachte den entscheidenden Durchbruch. Wie bedeutsam dieser war, zeigte sich wenig später, als bei den parallel laufenden Verhandlungen zwischen der USA und der Sowjetunion über die Abschaffung der nuklearen Mittelstreckenraketen (Intermediate Range Nuclear Forces, INF) vereinbart werden konnte, dass an den Toren der Fabriken, die derartige Waffen herstellen, ausländische Inspektoren ständig überprüfen können, dass keine Raketen mehr die Werkshallen verlassen. Damit erhielt dieser erste tatsächliche Abrüstungsvertrag eine wasserdichte Überprüfbarkeit.
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Vertrauenserwiderung Doch die Wende zum Ost-West-Vertrauen wurde noch durch ein anderes Ereignis unterstützt: Die erste Begegnung des damaligen Außenministers der Bundesrepublik Deutschland, Genscher, mit Gorbatschow hatte erst mehr als ein Jahr nach dessen Amtsantritt stattgefunden. Dieser hatte Genscher dabei offenbar davon überzeugen können, dass er es mit seiner Reformpolitik ernst meinte, woraufhin der deutsche Außenminister in seiner Rede auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum am 1. Februar 1987 einen dramatischen Appell an die Weltöffentlichkeit richtete, in der es hieß: „Unsere Devise kann nur lauten: Nehmen wir Gorbatschow ernst, nehmen wir ihn beim Wort! Wenn es heute die Chance geben sollte, dass nach 40 Jahren Konfrontation im West-Ost-Verhältnis ein Wendepunkt erreicht werden könnte, dann wäre es ein Fehler von historischem Ausmaß, wenn der Westen diese Chance vorübergehen ließe, nur weil er . . . beim Blick auf die Sowjetunion immer nur einzig und allein den schlimmsten Fall anzunehmen vermag. . . . Festigkeit ist geboten, aber eine Politik der Stärke, des Strebens nach Überlegenheit, des In-die-Ecke-Rüstens muss ein für alle Mal zu den Denkkategorien der Vergangenheit gehören – auch im Westen“ (zit. nach Genscher 1995, S. 526 f.). Genscherism. Für diese Rede erntete Genscher vor allem in den USA harsche Kritik. Das Wort Genscherism wurde sogar zeitweilig zu einem bösen Schimpfwort. Doch vieles spricht dafür, dass Genscher mit seinem Davoser Plädoyer „Gorbatschow half, den internationalen Boden für seine gradualistische Strategie zu bereiten. Mit dem offiziellen ‚Ende des Kalten Krieges‘, erklärt von US-Präsident Reagan auf dem Moskauer Gipfel im Juli 1988, trat an die Stelle konfrontativer Rhetorik auch seitens der US-Führung zunehmend die Betonung beiderseitiger ‚Friedensfähigkeit‘ “ (Hauswedell 1996, S. 507). Der nächste Schritt war dann Gorbatschows Ankündigung einer massiven asymmetrischen Reduzierung der Sowjetstreitkräfte und ihrer konventionellen Bewaffnung im Dezember 1988 vor der UNO gewesen. Als die NATO wenig später daraufhin ein Follow-on-to-Lance genanntes nukleares Kurzstreckenraketensystem beschließen wollte, hätte ein solcher Beschluss das Entspannungsklima deutlich abgekühlt. Doch es gelang Genscher im Mai 1989, das Vertrauen schafft Vertrauen: Gorbatschow und Genscher
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Bündnis vor dieser rüstungspolitischen Fehlentscheidung zu bewahren. Dadurch konnte die Abfolge von Schritten des wechselseitigen Entgegenkommens fortgesetzt werden.
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Probleme asymmetrischer Konflikte: der Nahost-Friedensprozess
Eine so positive Wirkung des Gradualismus wie bei der Beendigung des Ost-WestGegensatzes lässt sich leider nicht überall nachweisen. Wenn wir den NahostFriedensprozess und sein Scheitern betrachten, so finden wir auch dort Elemente des Gradualismus sowie den Versuch, schrittweise Vertrauen aufzubauen und dabei ein begrenztes Risiko einzugehen, aber eben nicht dieses glückliche Ende.
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Nahost-Friedensprozess. Am Beginn dieses Prozesses stand 1993 die Prinzipienerklärung von Oslo und die Perspektive, zu einem Interimsabkommen zu gelangen, für das mit der Formel „Gaza und Jericho zuerst“ inhaltlich ein bescheidener, aber konkreter erster Schritt fixiert wurde. Diese Verhandlungsstrategie der Vermittler war insofern erfolgsträchtig, als damit alle Punkte, die besonders strittig waren und die damaligen Gespräche überfrachtet hätten, vertagt wurden, so dass ein Abkommen überhaupt zustande kam. Geradezu genial schien es, für die zukünftigen Gespräche das Ziel eines noch nicht definierten Endstatus in Aussicht zu stellen und die Verhandlungen zeitlich zu befristen. Diese Kombination ließ der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) die Hoffnung, den von ihr angestrebten eigenen Staat mittelfristig verwirklichen zu können, und er erlaubte es Israel, den innenpolitisch nicht mehrheitsfähigen Begriff Staat Palästina in der Erklärung zu vermeiden. Indem man für die Übereinkunft eine Frist von fünf Jahren setzte, eröffnete man überdies eine Zeitperspektive, die hinreichend lang zu sein schien. Von beiden Seiten ließ sich somit das gesamte Unterfangen als Wechsel auf eine Zukunft betrachten, die jede sich weiterhin so ausmalen durfte, wie sie wollte. Vertrauen oder Misstrauen? Ernüchterung. Mit der Prinzipienerklärung wurde zwar zunächst erreicht, dass die Menschen in Israel und den besetzten Gebieten aufatmen konnten, weil die Gewalt für einige Zeit deutlich abnahm. Außerdem wurden die Abriegelungen aufgehoben, was vielen tausend palästinensischen Tagelöhnern wieder Verdienstmöglichkeiten in Israel eröffnete. Aber die anfänglichen Erwartungen waren zu hoch gesteckt, als dass sie ohne Enttäuschungen hätten eingelöst werden können. Auftretende Hindernisse sind typisch für Konfliktsituationen, in denen eine Wende vollzogen werden soll: Dies erfordert von den zwei negativ aufeinander fixierten Gruppen nicht nur die Aufgabe ihrer mentalen Positionen, sondern entzieht sogar einem Teil von ihnen, für den die Pflege der Feindschaft Lebensinhalt war, die Existenzgrundlage.
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Spannungsreduktion und Vertrauensbildung
Teil III Frieden gestalten
Schattenseiten. Für das Nichtzustandekommen einer tragfähigen Vertrauensbasis gibt es zahlreiche Gründe. Einerseits erzeugte der Fünfjahreszeitraum lange Zeit hindurch nicht den von den Vermittlern erhofften Zeitdruck für die EndstatusVerhandlungen. Darüber hinaus hatte der Begriff Endstatus absichtsvoll im Dunkeln gelassen, ob aus den Autonomiegebieten nach fünf Jahren ein normaler Staat werden und welche Grenzen er haben sollte, sowie was aus den im Exil lebenden Palästinensern und den in den Gebieten existierenden Siedlungen werden würde. All das ermöglichte es, auf beiden Seiten den Glauben an die Erfüllbarkeit der eigenen Wunschbilder aufrecht zu erhalten, anstatt sich ernsthaft auf die Suche nach Kompromissen und einer erträglichen Übereinkunft, einem Modus Vivendi, zu machen. Andererseits erwies sich die Fristsetzung für eine Vertrauensbildung sogar als hinderlich, denn die erwünschte Dynamik eines so komplexen Prozesses lässt sich grundsätzlich nicht in einen vorher festgelegten Zeitrahmen zwängen. Darüber hinaus kann in einer tief verwurzelten Feindschaft das notwendige Minimum an Vertrauen nur dann entstehen, wenn die Parteien Vereinbarungen nicht nur dem Buchstaben nach erfüllen, sondern erkennen lassen, dass sie auch ihrem Geiste entsprechend handeln (vgl. KSZE-Prozess). Hierzu fehlt offenbar in der von geradezu obsessiven Sicherheitsbedürfnissen geprägten politischen Kultur Israels die Bereitschaft. Dies beschädigte bei den Palästinensern das anfangs durchaus vorhandene Vertrauen in die Bereitwilligkeit Israels, sich an Zusagen zu halten. Doch auf palästinensischer Seite mangelt es an dem notwendigen Verständnis für die historischen Hintergründe israelischer Existenzängste, was immer wieder darin sichtbar wird, dass es selbst ihren gemäßigten Führern schwer fällt, auf eine martialische Rhetorik zu verzichten. Obwohl dadurch vielleicht gewaltbereite Kräfte politisch eingebunden werden sollen, werden sie so eher bestärkt als in Zaum gehalten. Asymmetrische Konfliktstruktur Der wahrscheinlich entscheidende Grund für das Misslingen der Vertrauensbildung liegt aber in der Struktur des Konflikts. Das GRIT-Konzept der Entspannung, welches den Vereinbarungen zwischen Israelis und Palästinensern als Vorbild diente, war von Osgood für die mehr oder weniger symmetrische Situation des Ost-WestKonfliktes entwickelt worden. Der Gradualismus sollte im Nahen Osten jedoch erstmals auf einen extrem asymmetrischen Konflikt zwischen einer Besatzungsmacht und der von ihr unterworfenen Entität angewandt werden. Land gegen Frieden. Die den Vereinbarungen zugrunde liegende Formel „Land gegen Frieden“ spiegelt diese Asymmetrie wider. Von Israel erwarteten „die“ Palästinenser (und nicht nur ihre politischen Funktionäre), dass es sich aus besetzten Gebieten sichtbar und endgültig zurückzieht, während die PLO „den“ Israelis (und nicht nur der Regierung) lediglich versprechen konnte, Terroranschläge zu unterbinden. Diese lassen sich jedoch von der Autonomiebehörde bestenfalls innerhalb ihres Einflussgebietes verhindern, nicht aber, wenn sie von in Drittländern lebenden Flüchtlingen ausgehen. Probleme asymmetrischer Konflikte: der Nahost-Friedensprozess
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Messbarkeit. Ein weiterer psychologisch bedeutsamer Aspekt dieser Asymmetrie kommt hinzu: Während die Abgabe von Land exakt zu messen ist, bleibt die Erfüllung des Friedensversprechens offen bis zum Beweis des Gegenteils. Dies forderte von der israelischen Seite einen Vertrauensvorschuss, der gerade dem jüdischen Volk äußerst schwer fällt, da in seinem kollektiven Gedächtnis mehr als ein Versuch präsent ist, es zu vernichten.
Teil III Frieden gestalten
Risikoasymmetrie. Wenn die Regierung Rabin/Peres 1993 trotzdem bereit war, das Vertrauensrisiko einzugehen, dann weil es gering und nicht unumkehrbar war: Erstens wurde weder Israels militärische Stärke durch das Abkommen von Oslo beeinträchtigt noch seine Fähigkeit, bei Verstößen gegen den Gewaltverzicht die in den palästinensischen Gebieten lebenden Menschen dafür kollektiv durch Abriegelung zu bestrafen. Zweitens konnte sich Israel als Friedensdividende von der Vereinbarung ein Ende der politischen und wirtschaftlichen Isolierung in der arabischen Region versprechen. Das Abkommen verlangte demgegenüber hinsichtlich des Gewaltverzichts auf der palästinensischen Seite sowohl von denen, die in den besetzten Gebieten lebten, als auch von jenen, die weiterhin im Exil blieben, ein Maß an Selbstdisziplin und Aggressionskontrolle, wie es Arafat für all die Menschen, die ein halbes Jahrhundert lang unter ihren Widersachern auf verschiedene Weise gelitten hatten und von denen viele nicht ohne Rachegedanken waren, ernsthaft nicht garantieren konnte. Zwar versuchte die Autonomiebehörde ihr Versprechen einzuhalten, aber um den Preis polizeistaatlicher Praktiken, die verhinderten, dass sich eine demokratische politische Kultur entwickeln konnte. Der Terror gegen die israelische Zivilbevölkerung ließ sich gleichwohl nicht völlig unterbinden. Die Asymmetrie zeigt sich darüber hinaus bei den ausgeklammerten und den Endstatusverhandlungen zugewiesenen Problemen der Rückgabe Ost-Jerusalems, der Räumung von Siedlungen und des Rückkehrrechts für Flüchtlinge (vgl. Meyer, 2001).
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Schlussbetrachtung
Mit ihren rhetorischen wie materiellen Überreaktionen zeigen viele Politiker beider Parteien des Israelisch-Palästinensischen Konflikts, wie gering ihr Wille ist, in den Vertrauensbildungsprozess zu investieren. Hierin liegt ein Schlüssel für den Unterschied zu dem gelungenen Ost-West-Entspannungsprozess: Solange maßgebliche Politiker glauben, sich mit Drohrhetorik und Hassreden profilieren zu können, werden Friedenspostulate, denen diese Komponenten beigemischt sind, geeignet sein, in den eigenen Reihen die Meinung zu fördern, man selbst wolle Frieden, nur der sog. böse Feind nicht. Das Ausmaß des Willens zur Spannungsverminderung und Vertrauensbildung zeigt sich allerdings nicht nur in der Rhetorik, sondern auch darin, wie mit Vereinbarungen umgegangen wird. Wo schon nicht einmal deren Buchstabe eingehalten
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Spannungsreduktion und Vertrauensbildung
wird, kann von ihnen keine Ausstrahlung ausgehen. Wo aber, wie bei den HelsinkiVereinbarungen von 1975 von einer Seite immer wieder mehr Transparenz geboten wird, als nach dem Abkommen erforderlich ist, kann sich die andere auf Dauer dem nicht entziehen.
Literatur
Literatur
Teil III Frieden gestalten
Alford, J. (1980). Vertrauensbildende Maßnahmen und Sicherheit in Europa. Perspektiven für das Madrider KSZE-Folgetreffen. Europa-Archiv, 19, 589 – 598. Auswärtiges Amt (Hrsg.). (1993). 20 Jahre KSZE 1973 – 1993. Eine Dokumentation. Bonn: Auswärtiges Amt. Czempiel, E.-O. (1972). Schwerpunkte und Ziele der Friedensforschung. München: Kaiser Grünewald. Etzioni, A. (1965). Siegen ohne Krieg. Düsseldorf: Econ. Etzioni, A. (1968). Das Kennedy-Experiment. In E. Krippendorff (Hrsg.), Friedensforschung (S. 393 – 412). Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch. Festinger, L. (1957). A theory of cognitive dissonance. Stanford: Stanford University Press. Genscher, H.-D. (1995). Erinnerungen. Berlin: Siedler. Hauswedell, C. (1996). Friedensforschung und Entspannungspolitik – Die achtziger Jahre zwischen politischem Pragmatismus und rationalem Pazifismus. In B. Meyer (Red.), Eine Welt oder Chaos? (S. 491 – 519). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Lindskold, S. (1978). Trust development, the GRIT proposal, and the effects of conciliatory acts on conflict and cooperation. Psychological Bulletin, 85, 772 – 793. Luhmann, N. (1973). Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart: Enke. Meyer, B. (2001). Aus der Traum? Das Scheitern des Nahost-Friedensprozesses und seine innenpolitischen Hintergründe. HSFK-Report 2/2001. Frankfurt/M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Osgood, Ch. E. (1962). An alternative to war and surrender. Urbana: University of Illinois Press. Osgood, Ch. E. (1968). Wechselseitige Initiative. In E. Krippendorff (Hrsg.), Friedensforschung (S. 357– 3 92). Köln: Kiepenheuer & Witsch.
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