Transcript
Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie
VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16
6 Platon über die Erkenntnis und die Ideen
– Gliederung –
1. Vorbemerkungen
2. Die Frage nach Gerechtigkeit, Tugend und dem Sinn guten Handelns (Politeia)
3. Erkenntnistheoretie und Anamnesislehre (Menon, Phaidon)
4. Die Ideenlehre (Phaidon, Politeia, Symposion)
a) Grundlinien der Ideenlehre
b) Rolle und Struktur der Ideen nach den drei Gleichnissen in der Politeia
c) Der Aufstieg und Abstieg
Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie
VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16
1. Das Argumentationsziel von Platons Politeia: „Glaukon: Zeige uns also in deiner Rede nicht nur, dass Gerechtigkeit besser ist als Ungerechtigkeit, sondern, durch welche Wirkung auf den, der sie hat, die eine von ihnen, mag sie nun Göttern und Menschen verborgen bleiben oder nicht, an und für sich ein Gut ist und die andere ein Übel“ (Politeia II, 367e). Μὴ οὖν ἡµῖν ἐνδείξῃ µόνον τῷ λόγῳ ὅτι δικαιοσύνη ἀδικίας κρεῖττον, ἀλλὰ καὶ τί ποιοῦσα ἑκατέρα τὸν ἔχοντα αὐτὴ δι᾿ αὑτὴν, ἐάντε λανθάνῃ, ἐάντε µὴ θεοὺς τε καὶ ἀνθρώπους, ἡ µὲν ἀγαθόν, ἡ δὲ κακόν ἐστι.
2. Das Menon-Paradox – ein methodisches Schlüsselproblem der Philosophie: „Menon: Auf welche Weise wirst du nun das suchen, Sokrates, wovon du überhaupt nicht weißt, was es ist? Als welches der Dinge, die du nicht weißt, wirst du es dir denn vorlegen und suchen? Zudem: Wenn du es auch noch so gut triffst, wie wirst du wissen, dass es dasjenige ist, was du nicht wusstest?“. (Menon 80d; Übs. Schleiermacher, leicht geändert). Καὶ τίνα τρόπον ζητήσεις, ὦ Σώκρατες, τοῦτο ὃ µὴ οἶσθα τὸ παράπαν ὅ τί ἐστιν. Ποῖον γὰρ ὧν οὐκ οἶσθα προθέµενος ζητήσεις; Ἢ εἰ καὶ ὅ τι µάλιστα ἐντύχοις αὐτῷ, πῶς εἴσει ὅτι τοῦτό ἐστιν ὃ σὺ οὐκ ᾔδησθα;
Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie
VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16
3. Eine klassische Formulierung der Anamnesis- (Wiedererinnerungs-)Lehre: „Sokrates: Unser Lernen ist nichts anderes als Wiedererinnerung, und auch hiernach müssen wir in einer früheren Zeit gelernt haben, wessen wir uns jetzt erinnern. Das ist aber unmöglich, wenn unsere Seele nicht schon war, ehe sie in unsere menschliche Gestalt kam“. (Phaidon 72e, Übs. Schleiermacher/Eigler, leicht geändert). ἡµῖν ἡ µάθησις οὐκ ἄλλο τι ἢ ἀνάµνησις τυγχάνει οὖσα, καὶ κατὰ τοῦτον ἀνάγκη
που
ἡµᾶς
ἐν
προτέρῳ
τινι
χρόνῳ
µεµαθηκέναι,
ἃ
νῦν
ἀναµιµνησκκόµεθα. Τοῦτο δὲ ἀδύνατον, εἰ µὴ ἦν που ἡµῖν ἡ ψυχὴ πρὶν ἐν τῷδε τῷ ἀνθρωπίνῳ εἴδει γένεσθαι.
4. Platon nähert sich der Ideenlehre an über den Strukturbegriff ,gleich‘: „Sokrates: Ehe wir also anfangen zu sehen oder zu hören oder die anderen Sinne zu gebrauchen, mussten wir schon irgendwoher die Erkenntnis bekommen haben des Gleichen, was es ist, wenn wir doch das Gleiche in den Wahrnehmungen so auf jenes beziehen sollten, dass dergleichen alles zwar strebt zu sein wie jenes, aber doch immer schlechter ist“. (Phaidon 75b, Übs. Schleiermacher) Πρὸ τοῦ ἄρα ἄρξασθαι ἡµᾶς ὁρᾶν καὶ ἀκούειν καὶ τἆλλα αἰσθάνεσθαι, τυχεῖν ἔδει που εἰληφότας ἐπιστήµην αὐτοῦ τοῦ ἴσου ὅ τι ἔστιν, εἰ ἐµέλλοµεν τὰ ἐκ τῶν αἰσθήσεων ἴσα ἐκεῖσε ἀνοίσειν, ὅτι προθυµεῖται µὲν πάντα τοιαῦτ᾿ εἶναι οἷον ἐκεῖνο, ἐστι δὲ αὐτοῦ φαυλότερα.
Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie
VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16
5. Die Ausweitung von Platons Ideenlehre auf weitere Strukturbegriffe: „Sokrates: Und es ist uns ja jetzt nicht mehr von dem Gleichen die Rede als auch von dem Schönen selbst und dem Guten selbst und dem Rechten und Frommen und, wie ich sage, von allem, was wir bezeichnen als ,dies selbst, was es ist‘ in unseren Fragen, wenn wir fragen, und in unseren Antworten, wenn wir antworten“. (Phaidon 75cd, Übs. Schleiermacher) Οὐ γὰρ περὶ τοῦ ἴσου νῦν ὁ λόγος ἡµῖν µᾶλλόν τι ἢ καὶ περὶ αὐτοῦ τοῦ καλοῦ καὶ αὐτοῦ τοῦ ἀγαθοῦ καὶ δικαίου καὶ ὁσίου, καὶ, ὅπερ λέγω, περὶ ἁπάντων οἷς ἐπισφραγιζόµεθα τὸ ,αὐτὸ ὃ ἔστι‘ καὶ ἐν ταῖς ἐρωτήσεσιν ἐρωτῶντες καὶ ἐν ταῖς ἀποκρίσεσιν ἀποκρινόµενοι.
6. Platon begründet die Stellung der Ideen als universale Ursachen: „Sokrates: Wenn eines zu einem anderen hinzugefügt wurde […], würdest du dich nicht hüten zu behaupten, dass die Hinzufügung Ursache für des ZweiSeins sei? Würdest du nicht vielmehr laut rufen, dass du keine andere Weise der Entstehung von etwas Einzelnem kennst als die Teilhabe jedes Einzelnen an seinem eigenen Wesen, an dem es teilhat? Kannst du nicht folglich in diesen Dingen keine andere Ursache für die Entstehung des Zwei-Seins angeben als nur die Teilhabe an der Zweiheit?“ (Phaidon 101bc; Übs. frei nach Schleiermacher) ἑνὶ ἑνὸς προστεθέντος τὴν πρόσθεσιν αἰτίαν εἶναι τοῦ δύο γένεσθαι [...], οὐκ εὐλαβοῖο ἂν λέγειν; καὶ µέγα ἂν βοῴης ὅτι οὐκ οἶσθα ἄλλως πως ἕκαστον γιγνόµενον ἢ µετασχὸν τῆς ἰδίας οὐσίας ἑκάστου οὗ ἂν µετάσχῃ; καὶ ἐν τούτοις οὐκ ἔχεις ἄλλην τινὰ αἰτίαν τοῦ δύο γενέσθαι ἀλλ᾿ ἢ τήν τῆς δυάδος µετάσχεσιν;
Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie
VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16
7. Das Ergebnis von Platons Sonnengleichnis: „Sokrates: Ebenso nun sage auch, dass dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das das Sein und Wesen habe es von ihm, da doch das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt“. (Politeia VI, 509b; Übs. Schleiermacher) Καὶ τοῖς γιγνωσκοµένοις τοίνυν µὴ µόνον τὸ γιγνώσκεσθαι φάναι ὑπὸ τοῦ ἀγαθοῦ παρεῖναι, ἀλλὰ καὶ τὸ εἶναι τε καὶ τὴν οὐσίαν ὑπ᾿ ἐκείνου αὐτοῖς πρσοεῖναι, οὐκ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαθοῦ, ἀλλ᾿ ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάµει ὑπερέχοντος.
8. Platon reflektiert die wahre Meinung als eine mögliche Lösung für das Menon-Paradox: „Seherin Diotima: Hast du nicht gemerkt, dass es etwas in der Mitte zwischen Weisheit und Unverstand gibt? Sokrates: Was wäre das? D.: Wenn man das Richtige meint, ohne jedoch einen Grund (logon) dafür angeben zu können, weißt du nicht […], dass das weder Wissen ist – denn wie soll eine Tatsache ohne Grund (alogon pragma) ein Wissen sein – noch auch Unbelehrtheit – denn da sie die Realität trifft, wie soll sie Unverstand sein? Also ist offenbar die richtige Meinung so etwas, in der Mitte zwischen Klugheit und Unverstand“. (Symposion 202a; Übs. in Anlehnung an Schleiermacher) ἢ οὐκ ᾔσθησαι ὅτι ἔστιν τι µεταξὺ σοφίας καὶ ἀµαθίας; Τί τοῦτο; Τὸ ὀρθὰ δοξάζειν καὶ ἄνευ τοῦ ἔχειν λόγον δοῦναι οὐκ οἶσθ᾿ [...] ὅτι οὔτε ἐπίστασθαί ἐστιν - ἄλογον γὰρ πρᾶγµα πως ἄν εἴη ἐπιστήµη; - οὔτε ἀµαθία - τὸ γὰρ τοῦ ὄντος τυγχάνον πῶς ἂν εἴη ἀµαθία; - ἔστι δὲ δήπου τοιοῦτον ἡ ὀρθὴ δόξα, µεταξὺ φρονήσεως καὶ ἀµαθίας.