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Einführung in die Politikgeschichte des industriellen Zeitalters A. Politische Grundbegriffe 4. Freiheit (Bevc, S. 35ff; Nohlen, Grotz, S. 159ff.) Seit der großen Französischen Revolution wurde Freiheit in hohem Maße zu einem Legitimationsbegriff jeder Herrschaft, so dass fortan kaum noch ein Regime mehr darauf verzichten konnte, sich als freiheitlich zu bezeichnen. Gleichwohl gab es seither eine Vielzahl von konkurrierenden Freiheits-Begriffen und Freiheitskonzeptionen.
Die vier Grundfragen des Freiheitsverständnisses lauten: § Freiheit von was ? § Freiheit zu was ? § Freiheit bis zu welcher Grenze ? § Freiheit für wen ?
Zu wichtigen Vertretern des Freiheitsideals wurden im Zeitalter der bürgerlichen Aufklärung o Jean-Jacques Rousseau, o John Locke und o John Stuart Mill (erst im 19. Jahrhundert).
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Rousseau und Locke verankerten das Freiheitsideal im Naturrecht: § Freiheit des Menschen als Naturrecht § bei Rousseau der „Gesellschaftsvertrag“, auf den sich alle Mitglieder eines Gemeinwesens einigen; Interessenidentität der Regierten und Regierenden im demokratischen Gemeinwesen § bei Locke beschränkte Freiheitsrechte um der Sicherheit und Eigentumsgarantie willen, aber naturrechtlicher Rückbezug auf den Gesellschaftsvertrag, der notfalls ein Widerstands- und Revolutionsrecht begründet
Im Gegensatz zu Thomas Hobbes, der den Menschen vor seinem eigenen Freiheitsstreben durch eine mächtige Staatsgewalt geschützt wissen will, gewichtet die bürgerliche Aufklärung ein anderes menschliches Schutzbedürfnis stärker: namentlich den Schutz der Freiheit des einzelnen vor dem Zugriff eines despotischen Gemeinwesens. Beispiel John Stuart Mill: Mehrfache Gefahren für die Freiheit des Einzelnen in der industriellen und demokratischen Massengesellschaft: • Übergriffe machtbesessener Regierungen • überzogener Machtwille der Mehrheit • hoher Konformitäts- und Nivellierungsdruck der öffentlichen Meinung gegenüber dem Eigensinn und Freiheitsdrang von Minderheiten und Individualisten
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Freiheit und Gleichheit stehen als bürgerliche Ideale in einem Spannungsverhältnis. Freiheit als Gestaltungs- und Mitwirkungsfreiräume im gesellschaftlichen Raum verstanden ist nicht ohne Konkurrenz und Wettstreit denkbar. Freiheit und Konkurrenz führen zu einer sich stetig vertiefenden Ausdifferenzierung in Erfolgreiche und Erfolglose und damit zu einer Vertiefung von sozialer Ungleichheit, die allein über staatliche Eingriffe gemildert werden kann, die der freien Entfaltung der Konkurrenz Schranken setzen und dämpfend wirken können.
Die Grundlage von Freiheit und Konkurrenz ist stets die individuelle Innovationsfähigkeit, d.h. das Angebot der besseren Lösung, des besseren Produkts auf den unterschiedlichen Märkten der bürgerlich-pluralistischen Gesellschaft. Grob lassen sich drei Teilmärkte unterscheiden: § der wirtschaftliche Markt (Konkurrenz um Güter und Dienstleistungen) § der politische Markt (Machtkonkurrenz der Parteien und Interessenverbände über Wahlen und Loyalitätskonkurrenzen) § der kulturelle Markt (Konkurrenz um die Deutungshoheit zwischen den Deutungsmächten der bürgerlichen Öffentlichkeit: Kirchen, Weltanschauungsgemeinschaften, Massenmedien, kulturelle Vereinigungen, Lebensstil-Szenen etc.)
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Grundlegend für die Aufrechterhaltung und Sicherung der freien Marktkonkurrenz ist eine außerhalb der Interessen- und Handlungssphäre der Konkurrenten befindliche Ordnungsmacht, die einen verbindlichen Rahmen für die Marktkonkurrenz setzt und die Einhaltung der Spielregeln überwacht. Das heißt: Marktkonkurrenz ist ohne den unbeteiligten neutralen Dritten prinzipiell nicht denkbar. Hier kommt die politische Herrschaftsgewalt ins Spiel. Deren Einflussgewicht wird in allen politischen Theorien zur freien Marktkonkurrenz unterschiedlich bestimmt: Hier zeigt sich ein breites Spektrum von radikalliberalen Konzepten vom schwachen Staat bis hin zum allgegenwärtigen Interventionsstaat. Thesen John Stuart Mills zu unveräußerlichen Freiheiten des Individuums gegenüber dem Anpassungsdruck von Mehrheiten: § Gewissens- und Diskussionsfreiheit § persönliche Freiheit der Lebensführung § Vereinigungsfreiheit. Einbettung der individuellen Freiheitsrechte in ein übergreifendes liberales Ordnungsmodell durch Mill: Freier Meinungsaustausch und Wettstreit als gemeinwohlfördernde Elemente Schranke des Egoismus des Individuums im Mechanismus der Marktkonkurrenz Gründe laut Mill: § Abweichende Meinungen als unerlässliche Korrekturinstanz für die Mehrheit § Aus der freien Konkurrenz auf dem politischen Meinungsmarkt erwachsen die besten Lösungen. § Freier Austausch und Wettstreit sind die besten Voraussetzungen für eine dynamische Weiterentwicklung der Gesellschaft.
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Die Legitimation des freien Meinungskampfes und Wettstreits erblickt Mill darin, dass sich auf diese Weise die berechtigten Interessen am ehesten durchsetzen. Dies ist als Glaubensgrundsatz des Liberalismus zu begreifen. Mill zeigte zum einen, dass im Sinne der Demokratie die Freiheitsrechte für alle zu gelten hatten, dass aber zum anderen die moderne Mehrheitsdemokratie die Gefahr barg, die Freiheitsrechte von Minderheiten einzuschränken. Er sprach damit das politische Grundproblem des Spannungsverhältnisses von Freiheit und Gleichheit an, vor allem den Konformitätsdruck, der von Mehrheiten ausging und das kreative Potential von Minderheiten zu beeinträchtigen drohte.
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Herausforderungen und Gefahren für das Freiheitsdenken im 20. Jahrhundert: • freiheitseinschränkende Ideologien und Staatsgewalten, seien sie nationalistischer, kommunistischer oder fundamentalreligiöser Art, • Industrielle Massenkultur, die zu einer weitgehenden Standardisierung und Normierung des Alltagslebens führt, • Unübersichtlichkeit hochdifferenzierter Arbeitsteilungsstrukturen, die die Voraussetzungen für unabhängige Orientierung und Willensbildung untergraben und neue Expertokratien hervorbringen, auch Technokratien genannt • Wirtschaftsmonopolismus und politische Machtkonzentration, der die freie Konkurrenz verdrängen.
In den Groß-Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts kamen Freiheitsbegriffe auf, die konträr zum liberalen, von der Perspektive des Individuums ausgehenden Freiheitsverständnis standen. Es handelt sich dabei um kollektivistische Freiheitsbegriffe, die die Freiheit und Unabhängigkeit von Personengruppen meinen, sich aber über den Freiheitsgrad jedes einzelnen Gruppenmitglieds ausschweigen.
Als Kollektive sind nach diesem kollektivistischen Freiheitsverständnis vor allem die folgenden Gemeinschaftsgrößen ideologisch aufgewertet worden: § die Nation (im Nationalismus und Faschismus) § die Konfession (im religiösen Fundamentalismus) § soziale Klasse (im Kommunismus).
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Unter diesen Kollektiven befinden sich den kollektivistischen Ideologien zufolge unfreie Kollektive, die von ihren Widersachern befreit werden müssen. Mit dem Befreiungsversprechen einher geht die Vision von einer strahlenden Zukunft für alle Angehörige des für unfrei gehaltenen Kollektivs: • für die Angehörigen einer unterdrückter Nation eine freie prosperitäre und machtvolle Selbstentfaltung nach Beseitigung der Feinde der Nation, • für die Angehörigen einer unterdrückten Konfession die freie Entfaltung der Religionsausübung und des sozialen Lebens um eines besseren und zugleich gottgefälligeren Lebens nach Beseitigung der Glaubensfeinde, • für die unterdrückte Arbeiterklasse die klassenlose Gesellschaft des Kommunismus nach der Beseitigung des kapitalistischen Klassenfeindes. Das kollektive Freiheitsverständnis dieser Ideologien wirkt nach innen ausgesprochen vereinnahmend. Im Angesichte äußerer Bedrohungen verbreiten sich ausgesprochen illiberale, autoritäre und hierarchische Vorstellungen über die Binnenstruktur der jeweiligen Kollektive, die sich kompromisslose Kampf- und Selbstbehauptungsgemeinschaften, als Freiheitsbewegungen gegenüber einer feindlich gesinnten Außenwelt begriffen. Abgrenzung und Selbstbehauptung nach außen gegenüber Widersachern und die Unterordnung des Einzelnen unter die Kollektivmoral sind sehr eng aufeinander bezogen, so dass hier von einem kollektivistischen, antiindividualistischen Freiheitsverständnis gesprochen werden kann. Teilweise wird auch von totalitärem Denken gesprochen. Zentrale Merkmale: • visionäre Zukunftsvorstellungen • religiöser Absolutheitsanspruch als höchste Weltdeutungs- und Sinngebungsinstanz • einfache bipolare Freund-Feind-Schemata • Weltverschwörungstheorien über die Grundübel der Welt • fundamentale Verbesserung der Welt, die jeden Mitteleinsatz auch unter weitgehender Verletzung der Menschenrechte rechtfertigt. A4-7
Als höchste Sinngebungsinstanz beanspruchen diese politischen Ideologien einen religionsähnlichen Welterklärungsstatus und können deshalb als „Politische Religionen“ bezeichnet werden. Sie heben die Trennung von Politik und Religion auf und können deshalb grenzenlose Gewalt unter Verletzung fundamentaler Menschenrechte um des religiös legitimierten Ziels willen rechtfertigen. Der Begriff „Politische Religion“ geht auf Eric Voegelin aus den 1930er Jahren zurück. Jedes politische Ziel, jede politische Maßnahme lässt sich aus der Sicht politischer Religionen mit einem absoluten Wahrheitsanspruch versehen. Das absolut gesetzte Ziel rechtfertigt jedes Mittel als normative Letztinstanz.
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