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52 SEITEN EXTRA ÜBER MEDIZINISCHE FORSCHUNG Nr. 49a 5. 12. 2015
www.news.at
CORBIS
SPITZENMEDIZIN
FORSCHER DER TU WIEN HABEN KÜNSTLICHE BLUTGEFÄSSE ENTWICKELT, DIE VERSTOPFTE ARTERIEN UND VENEN ERSETZEN SOLLEN
ADERN AUS KUNSTFASER HIRN STEUERT PROTHESE Ein künstlicher Oberarm aus Österreich wird nur per Gedanken gesteuert
HILFE BEI BRUSTKREBS Eine innovative Therapie aus Österreich gibt betroffenen Frauen neue Hoffnung
KAMPF DEM VERGESSEN Mit einer speziellen Impfung wollen heimische Forscher Alzheimer stoppen
INHALT LÄNGER BESSER LEBEN
Warum wir immer älter werden und dabei immer länger gesund bleiben.
„WIR WOLLEN KEIN EWIGES LEBEN“
Interview mit Medizinethiker Peter Kampits.
DIGITALE PATIENTENAKTE
Warum ELGA für die Patienten viele Vorteile bringt.
DER TUMOR WIRD AUSGEHUNGERT
Christoph Zielinski und Michael Gnant entwickeln neue Brustkrebstherapie.
IMMUNTHERAPIE BEI HAUTKREBS
Alternative Behandlungsmethode feiert Erfolge bei Melanom.
KAMPF DEM VERGESSEN
Neue Therapien aus Österreich nehmen Alzheimer den Schrecken.
PILLE GEGEN MALARIA
Wie ein Österreicher Malaria mit einer einzigen Pille ausrotten will.
SCHLUSS MIT CHLAMYDIEN
Eine Impfung hilft jetzt gegen die Geschlechtskrankheit.
„SPITZENFORSCHUNG BRINGT GELD“
Genforscher Josef Penninger über den Forschungsstandort Österreich.
KÜNSTLICHE BLUTGEFÄSSE
TU-Forscher Robert Liska entwickelt Adern aus Elastomermaterial.
HIRN STEUERT ARMPROTHESE
Mediziner und Techniker bauen den Kunstarm der Zukunft.
REHABILITATION IN ÖSTERREICH
Wie sich die Reha-Methoden in Österreich weiterentwickeln.
ENDLICH WIEDER HÖREN
Der internationale Erfolg einer österreichischen Erfindung.
SPITZENAUSBILDUNG IN ÖSTERREICH
Österreichs Jungmediziner sind international begehrt.
INTERVIEW MARKUS MÜLLER
Was der neue Rektor der MedUni Wien bei der Ausbildung fordert.
WIRTSCHAFTSFAKTOR MEDIZIN
Warum die Pharmaindustrie in Österreich ein Exportplus erwirtschaftet.
PRIVATE GESUNDHEITSAUSBILDUNG
Die Erfolgsgeschichte der Danube Private University.
ZAHNMEDIZINER VON MORGEN
Österreich hat in der Medizin eine lange Tradition, die bis heute anhält. Die Erben von Semmelweis und Landsteiner entwickeln neue Methoden im Kampf gegen Brustkrebs, wollen mit nur einer Pille pro Patient die Malaria besiegen und entwickeln die besten Hörgeräte der Welt. In diesem Extra zeigen wir Ihnen, warum die Medizin in Österreich ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist und wie wir alle dank der Entdeckungen österreichischer Forscherinnen und Forscher länger besser leben werden. Denn das hohe Niveau der Spitzenmedizin hat durchaus Auswirkungen auf den Alltag in unseren Spitälern und Arztpraxen – sehr zum Wohle der Patienten übrigens. Begleiten Sie die Redaktion auf eine faszinierende Reise durch die Welt der Medizin und entdecken Sie mit uns die Vielfalt der Spitzenforschung. Herzlichst, Ihr Christian Neuhold
FOTO: RICARDO HERRGOTT
Österreichs modernste Zahnarzt-Ausbildung.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH
IMPRESSUM SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH, 2015 Herausgeber: DDr. Horst Pirker Chefredakteur Sonderprojekte VGN: Christian Neuhold Redaktion: Susanna Sklenar, Ilse Königstetter, Christina Badelt, Claudia Weber, Doris Gerstmeyer, Rainer Grünwald Fotoredaktion: Lydia Gribowitsch, Eva Schimmer Grafisches Konzept, Art Director: Ralph Manfreda Infografik: Franz Deix Geschäftsführung: DDr. Horst Pirker (Vorsitz), Dietmar Zikulnig (CSO), Dr. Markus Fallenböck (CSO), Mag. Richard Starkel (CFO), Mag. Helmut Schoba (COO) Verkauf: Helmut Robitsch Reproduktion: Neue Medientechnologie GmbH, Taborstraße 1–3, 1020 Wien Medieninhaber: Verlagsgruppe NEWS GmbH, Taborstr. 1–3, 1020 Wien Hersteller: Leykam Druck GmbH & Co KG, Bickfordstr. 21, 7201 Neudörfl. Vertrieb: Morawa, Hackinger Straße 52, 1140 Wien Verlagsort: Wien. Herstellungs-, Erscheinungsort: Wien. Verlagspostamt: 1020 Wien. P. b. b. Der Offenlegungstext gem. § 25 MedG ist unter www.format.at/impressum abrufbar.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH LEBENSERWARTUNG
MEDIZINFORTSCHRITT UND GENTECHNIK MACHEN ES MÖGLICH, DASS DIE ÖSTERREICHER IMMER ÄLTER WERDEN. IM LETZTEN LEBENSVIERTEL SIND SIE ABER KRÄNKER ALS ANDERE NATIONEN. MEHR VORSORGE KANN DAS ÄNDERN.
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FOTOS: CORBIS (2)
VON DORIS GERSTMEYER
GENOM. Dem Biochemiker Craig Venter gelang die vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH LEBENSERWARTUNG
Lebenserwartung bei der Geburt in Jahren Mann
Frau
68,5
1983
69,5
Fortschritt gipfelte vorläufig in der Entdeckung der DNA und der Träger der Erbinformation, der Gene. Der US-Biochemiker Craig Venter, heute 69, sorgte mit seinem Team für den Durchbruch. Ihm gelang die vollständige Sequenzierung, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Dem Pionier ist es jetzt auch als Erstem gelungen, ein Erbgut selbst herzustellen und in eine Zelle einzupflanzen, sodass ein lebensfähiges Bakterium entstanden ist. Über solche Versuche spottet die Fachwelt, dass Venter „die Unsterblichkeit sucht“. Krebsforschung.
Gene spielen heute bei der Bekämpfung der „Geißel der Menschheit“, dem Krebs, eine Hauptrolle. Neueste Erkenntnisse der Wissenschaftler belegen sogar, dass jeder Tumor seine eigene Genetik aufweist. Auch für die Krebstherapien ist die Bestimmung der Tumorgenetik des Patienten von ausschlaggebender Bedeutung. Heute spricht man von personalisierter, „maßgeschneiderter“ Behandlung, die damit möglich ist. Dennoch bestätigen Krebsforscher und Onkologen wie Christoph Zielinski, dass man erst am Anfang stehe, die Zusammenhänge der Krebsentstehung zu begreifen, um wirksame Maßnahmen ergreifen zu können. Weltweit arbeiten Forscher in den westlichen Industrieländern, in den USA, Frankreich und England, mit Hochdruck an der Entschlüsselung von Krebserkrankungen. In Österreich gibt es eine kleine Gruppe von Forschern, die in dieser Oberliga mitspielt. „Wir sind in Österreich ein Leuchtturm-Forschungsbeispiel und ein Beweis, dass
Craig Venter US-Biochemiker
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82,6
Bewegung ist ein Schlüsselwort bei der Gesunderhaltung im höheren Alter.
»Mit der Sequenzierung ist ein neuer Anfang in der Medizin gemacht.«
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2006
D
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1999
as Wunder ereignet sich jeden Tag und jede Stunde: Die Menschen in den Industrieländern werden immer älter. In den letzten 70 Jahren verlängerte sich die Lebenszeit um rund 30 Jahre. Sie wächst seither beständig, um drei bis vier Monate pro Jahr. Heute leben in Österreich bereits 1.400 Menschen, die älter als hundert Jahre sind. Die entscheidende Frage ist allerdings, wie gesund oder wie krank man altert. Gerade weil die Menschen um Jahrzehnte älter werden, versichern die Gesundheitsexperten, nehmen Alterskrankheiten wie Krebs, Herzinfarkt, Bluthochdruck, Diabetes oder Alzheimer zu. Niemand will aber zum Pflegefall werden. Der Tod soll, wenn er schon kommen muss, schmerzfrei, plötzlich oder versöhnlich und harmonisch im Kreis der Familie kommen. Bis dahin soll die Medizin helfen, die Jahre bei bester Gesundheit zu verbringen. Dieser Aufgabe versuchen die Ärzte seit Hippokrates nachzukommen, in den letzten hundert Jahren mit durchschlagendem Erfolg, wie es das Wachsen der Lebenszeit belegt. Neben wachsendem Wohlstand und besseren Lebensbedingungen haben vor allem die Medizin und die Forschung zu dieser Entwicklung enorm beigetragen. Dazu gehört etwa die erfolgreiche Bekämpfung der Infektionskrankheiten. Viele davon konnten besiegt werden. Kindbettfieber oder Pocken, die früher Millionen dahinrafften, treten nicht mehr auf. Mit fortschreitender, vor allem digitaler Technisierung erhielt die medizinische Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten neuen, ungeheuren Auftrieb. Der
75,7
72,3
1991
Gesundheitsbewusstsein bei Senioren steigt. Nordic Walking wird in dieser Altersklasse zum Hobby.
Quelle: Statistik Austria
1978
Sterblichkeit nach Todesursachen 42,9 % Herz-KreislaufErkrankung
25,3 % Krebs
5% Lungenkrankheiten 3,8 % Verdauungsorgane 5,4 % Verletzungen, Vergiftungen 17,6 % Sonstige Krankheiten
Quelle: Statistik Austria, 2013
Anteil der Altergruppen an der Gesamtbevölkerung 0-9 10-19 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70-79 80-89 90+
9,5 % 10,6 % 13 % 13,2 % 16,1 % 14,4 % 10,6 % 8,3 % 4,3 % 0,8 %
In Österreich gibt es 650.000 Zuckerkranke, Folge falscher Ernährung und Übergewichts.
man auch mit minimalen Rahmenbedingungen zu den Weltplayern zählen kann. International erkennt man uns an“, sagt der Krebsforscher und Genetiker Josef Penninger, der in Wien das Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) führt (siehe Interview Seite 28).
FOTOS: FOTOLIA (3), ISTOCK PHOTO, REUTERS, CORBIS
Volkskrankheiten nehmen zu.
Die Sozialversicherer registrieren, dass die Österreicher in ihren letzten Lebensjahren kränker sind als Senioren in anderen EU-Staaten. Zwar sind, analog zur Lebensverlängerung, auch die gesunden Jahre zuletzt gewachsen. Anfang der Neunzigerjahre hatte ein 65-Jähriger eine Restlebenserwartung von rund 14,5 Jahren, davon sechs in guter Gesundheit. Heute kann ein 65-Jähriger mit elf Jahren in guter Gesundheit rechnen. Aber während in Norwegen Männer insgesamt 71 gesunde Jahre verbringen, sind es in Österreich nur 59,7 Jahre. Gründe dafür gibt es zahlreiche. So fand etwa eine aktuelle Studie der OECD heraus, dass außer in Belgien nirgendwo mehr gegessen wird als in Österreich. Im Durchschnitt werden hier pro Person täglich 3.793 Kalorien vertilgt. Selbst in den USA liegt dieser Wert mit 3.639 Kalorien darunter. Dazu passt auch, dass laut dem österreichischen Adipositasbericht etwa die Hälfte der Männer und ein Drittel der Frauen hierzulande übergewichtig sind. Jeder Zehnte ist adipös, also fettleibig. Die Folgen sind bekannt: Bluthochdruck, hohe Cholesterinwerte und das Risiko eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls. Unbeschränkte Nah-
Quelle: Statistik Austria, 2013
Aufklärung über die Risiken beim Rauchen soll schon bei Jugendlichen forciert werden.
1.400
100-Jährige gibt es in Österreich, die meisten davon in Wien.
30
Jahre hat die Lebenserwartung in den letzten 70 Jahren zugenommen.
rungsaufnahme lässt immer öfter auch die Bauspeicheldrüse kapitulieren. Bei rund 650.000 Österreichern, die jetzt an Diabetes leiden, hat sie das schon getan. Eine jüngste Umfrage im Auftrag der Statistik Austria ergibt allerdings, dass sich vier von fünf Österreichern topfit fühlen. Wohl eine subjektive Täuschung. Lange ignorieren auch Raucher die Folgen ihrer Sucht, wie steigende Zahlen bei Lungenkrebs und der Lungenkrankheit COPD belegen. Lösung heißt Prävention.
Die Tatsache, dass man selbst viel zur Gesunderhaltung seines Körpers beitragen kann, soll Allgemeinwissen werden, so der Plan der Gesundheitsbehörden und Sozialversicherer, die jetzt die Parole „von der Reparaturmedizin zur Vorsorgemedizin“ ausgeben und zahlreiche Programme dafür schnüren. Dazu gehört etwa die Aufklärung über eine gesunde Ernährung und die Warnung vor Alkoholmissbrauch. Breiter Raum wird auch dem Thema Beweglichkeit gegeben, denn Sport ist keine verbreitete Leidenschaft im Land, weshalb sich auch Rückschmerzen zur Volkskrankheit entwickelten. Die Info-Kampagnen zeigen Wirkung. Das Gesundheitsbewusstsein nimmt zu, insbesondere bei vielen Senioren. Sie sind als Nordic Walker in Wald und Flur zu finden, schwingen am Golfplatz den Schläger und kräftigen schlaffe Muskeln im Fitnesscenter. Vielleicht wollen einige, bei guter Gesundheit, die Zahl der Hundertjährigen in die Höhe treiben.
Struktur der DNA. Die DNA ist ein Biomolekül und Träger der Erbinformation, also der Gene.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH INTERVIEW
»Ewiges Leben wäre ewige Wiederkehr des Gleichen«
Peter Kampits Medizinethiker
Peter Kampits, Leiter des Zentrums für Ethik in der Medizin an der Donau-Universität Krems, über die Sehnsucht des Menschen nach ewigem Leben und das Ausklammern des Todes. Immer mehr Menschen erleben ihren 100. Geburtstag. Die Medizinforschung stellt sogar noch viele Jahre darüber hinaus in Aussicht. Steckt dahinter der Wunsch des Menschen nach dem ewigen Leben?
Die Sehnsucht nach einem ewigen Leben ist so alt wie die Menschheit. Freilich versteht man darunter ein Leben ohne Leid, Schmerzen und in ständig andauernder Jugendlichkeit. Wenn manche Genforscher wie etwa Craig Venter ein gleichsam ewiges Leben prophezeien, dann wäre ein solches eine totale Veränderung unserer Natur. Es würde zu einem Verlust der Einmaligkeit unserer Lebensvollzüge und in eine Art ewige Wiederkehr des Gleichen führen. Der Tod wird in der Gesellschaft ausgeklammert. Ärzte kämpfen bis zuletzt um das Leben der Patienten. Wenn Patienten sterben, empfinden sie das öfter als Niederlage. Ist das eine unsinnige Haltung?
Wir haben in unserer durch Leistung, Fortschritt und auch Wohlstand bestimmten westlichen Gesellschaft den Tod tabuisiert und zugleich auch zu einem Feind hinaufstilisiert. Der Kampf gegen den Tod wird seit der Antike als eine Art Pflicht für die Ärzte betrachtet. Oft wird hier die Quantität der noch ausstehenden Lebensspanne zuungunsten der Lebensqualität vorangestellt. Freilich setzt in der letzten Zeit, auch bedingt durch die Möglichkeiten der Palliativmedizin, langsam ein Umdenken ein, das mit dem Begriff Sterbenlassen gekennzeichnet werden kann. Also weg von einer überflüssigen Therapie hin zu einem Akzeptieren des Todes, wobei der Sterbeprozess unter menschenwürdigen Umständen erfolgen sollte. Sterben wird heute schwergemacht. Der Arzt darf dabei nicht aktiv helfen. Wer keine
ZUR PERSON PETER KAMPITS, 73, ehemaliger Dekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien, ist Universitätsprofessor für Ethik in der Medizin, Leiter des Zentrums für Ethik in der Medizin an der Donau-Universität Krems und Mitglied der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt.
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Patientenverfügung hat, muss sich allem fügen. Ist das eine Einschränkung der Freiheit?
Selbstverständlich ist die Wahrung der Autonomie des Betroffenen oberstes Gebot und ein Handeln gegen den Wunsch des Patienten zu vermeiden. Die Patientenverfügung ist ein kleiner Schritt zu dieser Autonomie, sie wird allerdings in der derzeitigen Form mit zu vielen Schwierigkeiten belastet und darum wenig genützt. Die Spannung zwischen Beachtung der Autonomie und der ärztlichen Fürsorgepflicht bleibt ein nur individuell und situativ zu lösendes Problem. Mit allgemeinen ethischen Prinzipien ist hier nicht auszukommen. Beihilfe zum Suizid ist in der Schweiz unter Umständen erlaubt, wie die Organisationen „Dignitas“ und „Exit“ das praktizieren. Was sagt die Bioethikkommission dazu?
Sie steht dem sogenannten „Sterbetourismus“ skeptisch gegenüber. Allerdings wurde in ihrem jüngsten Vorschlag eine Lockerung und Liberalisierung der derzeit geltenden strafgesetzlichen Bestimmung bezüglich der Beihilfe zum Suizid formuliert. Die Gewissenskonflikte, die dabei entstehen können, sollten berücksichtigt werden und zu einer Entkriminalisierung für Angehörige oder Ärzte führen, wenn es sich um eine unheilbare zum Tod führende Erkrankung handelt und das ernsthafte Verlangen des Betroffenen nach Hilfeleistung vorliegt. Gleichzeitig ist aber die Aufrechterhaltung der Suizidprävention vorgesehen. Die Verleitung zum Suizid soll weiterhin unter Strafe stehen wie auch gewinnorientierte Motivationen.
FOTO: EVA SCHIMMER
Wer arm ist, stirbt schneller, wer reich ist, hat bessere Chancen auf Lebensverlängerung. Was sagen Sie als Medizinethiker dazu?
Als Medizinethiker wären für mich ökonomische Kriterien zur Lebensbeendigung und die sogenannte Zweiklassenmedizin eine Horrorvorstellung, und wir sollten alles tun, um eine solche Entwicklung zu vermeiden. Freilich bedarf es dazu einer neu zu entwickelnden Verteilungsgerechtigkeit der Mittel, die nicht einfach zu erreichen sein wird.
SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH ELGA
COUNTDOWN FÜR AKTE ELGA
„Ein sehr komplexer Vorgang“
Susanne Herbek, Geschäftsführerin ELGA Susanne Herbek, 55, übernahm im Jänner 2010 die Aufgabe zur Erstellung einer elektronischen Datenbank für den Gesundheitsbetrieb. Die Ärztin für Allgemeinmedizin war bis dahin im Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) als Krankenhausmanagerin tätig. Zum Start von ELGA ist sie optimistisch: „Es ist ein komplexer Vorgang.“
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Anfangs werden ärztliche und pflegerische Entlassungsbriefe, Labor- und Radiologiebefunde aus den teilnehmenden Spitälern – zunächst in Wien und in der Steiermark, später auch in allen anderen Bundesländern – abrufbar sein. In einer weiteren Phase werden dann auch niedergelassene Kassenärzte, Labors und Zahnärzte dazukommen. ELGA nimmt nur neue, aktuelle Befunde auf.
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s geht um das größte Vorhaben im österreichischen Gesundheitssystem und um eine neue Qualität in der Dokumentation. Mit ELGA wird erstmals ein elektronisches System aufgebaut, in das künftig Befunde, die Spitäler, Pflegeheime, Ärzte, Labors und Ambulatorien für ihre Patienten erstellen, einfließen sollen. Damit soll eine Übersicht und ein Kommunikationsnetz entstehen, aus dem alle Beteiligten Vorteile ziehen. Für die Patienten fallen lästige Doppelbefundungen weg und das Suchen in den eigenen Unterlagen, etwa vor einem Spitalsaufenthalt oder bei einem Arztwechsel. Derzeit sind Patienten häufig selbst „Informationsträger“ der eigenen Gesundheitsdaten, indem sie ärztliche und pflegerische Entlassungsbriefe aus Krankenhäusern, Laborbefunde und Röntgenbilder zu verschiedenen Ärzten oder anderen Gesundheitseinrichtungen mitbringen müssen. Jeder Patient hat, nach einer Identifikation, Einsicht in ELGA und seine Befunde. Ebenso können sich auch alle anderen genannten Anlaufstellen im Gesundheitssystem, wenn berechtigt, über Befunde und Medikamente ihrer Patienten jederzeit informieren, das kann in Notfällen auch lebensrettend sein. Die Vernetzung der Daten soll zu einem besseren Informationsfluss zwischen den Gesundheitsanbietern führen. Ärzte werden von ELGA mit patientenbezogenen Informationen in Diagnostik und Therapie unterstützt und gewinnen so einen schnellen Einblick in oft lange Krankengeschichten.
e-Medikation.
Teil von ELGA ist auch die e-Medikation. In dieses sogenannte Arzneimittelkonto tragen behandelnde Ärzte und Apotheken verordnete bzw. wechselwirkungsrelevante, nicht rezeptpflichtige Medikamente ein. Vermerkt wird auch, ob der Patient das Medikament in der Apotheke abgeholt hat. Unerwünschte Wechselwirkungen können so für den Patienten leichter vermieden werden. Ab Mitte 2016 können Vertragsärzte, Gruppenpraxen, selbstständige Ambulatorien sowie Apotheken ELGA-Medikation nutzen. Wichtigster Punkt ist Sicherheit.
Gesundheitsdaten sind sensible Daten. Deshalb stehen Sicherheit und Datenschutz bei ELGA an oberster Stelle. Der Datentransport erfolgt ausschließlich verschlüsselt und muss über eigene Gesundheitsnetze erfolgen. Auf die Daten zugreifen darf grundsätzlich nur, wer berechtigt ist: der Patient selbst und sein behandelnder Arzt. Susanne Herbek, Geschäftsführerin der ELGA GmbH: „Bei Missbrauch drohen hohe, auch Haftstrafen.“ Für die technische Sicherheit garantieren die Netzersteller. „Es können sich anfangs natürlich, wie bei anderen Vorhaben dieser Größenordnung, kleinere Probleme ergeben“, sagt Herbek, „die werden wir im Griff haben.“ Auch Hacker hätten keine Chance. Vor Inbetriebnahme werden sogenannte „PenetrationTests“ erfolgen.
FOTOS: ELGA GMBH, PFLEGENETZ/VARADAPPA
STARTKLAR
Start für die elektronische Gesundheitsakte ELGA. Nach langer Vorbereitungszeit ist die Einführung im Dezember, zunächst in Wiener und steirischen Spitälern, festgelegt.
SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH BRUSTKREBS
WENN TUMORE EINFACH VERHUNGERN
Im Kampf gegen Brustkrebs steht Österreich in Europa an der Spitze. Wegweisende Studien, neue Wirkstoffe in der Therapiepraxis und Topexperten sorgen für internationale Erfolge.
VON SUSANNA SKLENAR
Tumorerkrankungen Brust Neuerkrankungen pro Jahr ’83
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’11 2.500
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5.000
5.500 Quelle: Roche
MAMMOGRAFIE. Nach wie vor ist Früherkennung (Röntgen und Ultraschall) das Um und Auf bei Brustkrebs. Denn je eher ein Tumor diagnostiziert wird, desto besser stehen die Chancen auf Heilung.
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ANWENDUNG
D
iagnose Brustkrebs. Niederschmetternd wie eh und je, und doch inzwischen nicht so fatal wie noch vor zehn, 20 Jahren. Denn die Aussichten auf Heilung stehen heute besser denn je. In Österreich sind die Überlebensraten sogar höher als in vielen anderen europäischen Ländern: Von den derzeit rund 5.400 neuen Brustkrebspatienten pro Jahr werden 80 Prozent wieder gesund. Die Sterblichkeitsrate konnte um ein Drittel reduziert werden – dank der fortschrittlichen Leistungen der heimischen Mediziner sowie etlicher Institutionen, die bahnbrechende Behandlungen und innovative Technologien anbieten. So verbucht Österreich inzwischen mit wegweisenden Initiativen und Studien internationale Erfolge. „Da Brustkrebs (Mammakarzinom) die häufigste bösartige Erkrankung bei Frauen weltweit darstellt, erfolgte in den letzten Jahrzehnten eine intensive Forschungstätigkeit, die zu deutlich verbesserten Behandlungsmöglichkeiten sowohl im Hinblick auf Wirksamkeit als auch Verträglichkeit führte“, erklärt Christoph Zielinski, Vorstand der Klinik für Innere Medizin I am AKH Wien sowie Leiter der Klinischen Abteilung für Onkologie. Das sei nicht nur auf neueste Erkenntnisse und Entdeckungen der molekularbiologischen Forschung zurückzuführen, sondern auch auf die multidisziplinären Teams aus Wissenschaftlern und Medizinern, die maßgebende Lösungen in der Diagnostik, Therapie und Nachbehandlung vorantreiben.
FOTOS: CORBIS (3)
Personalisierte Medizin.
Im Hinblick auf die Behandlung von Krebserkrankungen stehen derzeit vor allem zwei Ansätze im Fokus der Onkologen: Die personalisierte Medizin samt zielgerichteten Therapien sowie die Immuntherapie. Am Comprehensive Cancer Center Vienna (CCC), das vom AKH Wien und der Medizinischen Universität Wien (MedUni) ins Leben gerufen wurde, wird dementsprechend nach Mechanismen, die zur Entwicklung von Krebs und zum Wachstum von Krebsgeschwüren führen, intensiv geforscht – mit bereits mehreren bahnbrechenden Ergebnissen. Mit der Plattform für Molekulare Onkologische Diagnostik und Therapie (MONDTI) verfügt das CCC neuerdings auch über ein Zentrum für personalisierte Medizin. Das Ziel ist, maßgeschneiderte Therapiekon-
zepte für Krebspatienten zu entwickeln. Christoph Zielinski: „Personalisierte Medizin ist die Zukunft in der Onkologie. Sie zielt auf die Identifikation von molekularbiologischen Eigenschaften von Tumoren ab, das heißt, es werden die individuellen Merkmale des Tumors mittels immunhistochemischer und molekularbiologischer Diagnoseverfahren ermittelt. Dadurch kann dann bei jedem Patienten eine genau auf diese Eigenschaften zielgerichtete Therapie ausgewählt und eingesetzt werden (siehe Interview Seite 15). Zielgerichtete Therapeutika.
Jüngste Beispiele für die zielgerichtete Therapie bei Brustkrebs sind spezielle Wirkstoffe und Antikörper, die das Tumorwachstum unterbinden sowie im Blut die Angiogenese, die Bildung und Erhaltung von Blutgefäßen, hemmen. Dadurch kann der Tumor keine Verbindungen zu umliegenden Blutgefäßen mehr bilden und „verhungert“. Sogenannte monoklonale Antikörper wirken also zielgerichtet gegen bestimmte Zellen oder Strukturen – im Unterschied zur herkömmlichen Chemotherapie, die meist unspezifisch alle sich teilenden Zellen zerstört. Die neuesten Wirkstoffe bei Brustkrebs (z. B. Trastuzumab, Pertuzumab von Roche) richten sich etwa gegen den Wachstumsfaktorrezeptor HER2 – einen Rezeptor, der an der Zelloberfläche sitzt und Wachstumssignale an den Zellkern weiterleitet –, der beim Tumor bewirkt, dass sich Krebszellen schneller teilen. Zusätzlich gelangt das „mitgeschickte“ Chemotherapeutikum direkt in das Zellinnere und zerstört folglich nur jene Krebszellen, an die der Wirkstoff angedockt hat. Im Visier der Genetik.
Wie wichtig der individuelle Ansatz in der Krebstherapie ist, untermauert auch die Genetik.
Österreichs Brustgesundheitszentren
Fokus bei Brustkrebs: personalisierte Medizin, zielgerichtete Therapie.
Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen: Statistisch gesehen entwickelt eine von acht Österreicherinnen im Laufe ihres Lebens einen Tumor in der Brust. Da heute viele verschiedene Disziplinen an Diagnose und Therapie beteiligt sind und die Behandlung idealerweise fächerübergreifend erfolgt, sollten sich Betroffene nur an Spezialzentren behandeln lassen. Das bgz Wien, eine Einheit innerhalb des Comprehensive Cancer Centers (CCC), ist das größte zertifizierte Brustgesundheitszentrum in Österreich. Tumorboards: Sie sind eine interdisziplinäre Bündelung von Expertenwissen, um eine höhere Qualität der Entscheidungsfindung (in der Diagnostik, Therapie und Nachbehandlung) zu ermöglichen.
MAMMAKARZINOM. Über 5.400 Frauen erkranken jährlich an Brustkrebs. Die Sterblichkeitsrate ist rückläufig.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH BRUSTKREBS
FORSCHUNG
Im Fokus: molekularbiologische Prozesse
So zeigen moderne Methoden, dass Krebs nicht eine, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Krankheiten darstellt. Allein bei Brustkrebs gibt es mehrere Untergruppen, die auf der Grundlage verschiedener Tumoreigenschaften weiter unterteilt werden können und auf Therapien entsprechend unterschiedlich reagieren. Darüber hinaus tragen vererbte genetische Faktoren zur Entstehung von Krebs bei. Ein genetischer Verlust von BRCA1 oder p53 prädisponiert etwa für Brustkrebs. Vor Kurzem haben Forscher herausgefunden, dass eine bestimmte menschliche Genvariante Brustkrebszellen aggressiver macht. Diese sind nicht nur resistenter gegen Chemotherapien, sondern sie verlassen auch den Primärtumor und lassen sich in anderen Körperregionen in Form von Metastasen nieder. Ein dafür wesentlich verantwortliches Gen, AF1q, wurde nun von einer internationalen Forschungsgruppe rund um Lukas Kenner von der MedUni Wien identifiziert und als möglicher Ansatzpunkt für genauere Diagnosen und zielgerichtete Therapieansätze erkannt. Zukunftsweisende Studien.
Ebenso zukunftsweisende Ergebnisse kommen von der Austrian Breast & Colorectal Cancer Study Group (ABCSG), die klinische Studien zu Brust- und Darmkrebs mit internationalem Erfolg durchführt. Bisher nahmen rund 25.000 Frauen an den ABCSG-Studien teil. Den jüngsten Erfolg konnte das Studiennetzwerk erst im
Gewebsanalyse: Bei etwa 72 Prozent der Brustkrebspatienten wächst der Tumor hormonabhängig.
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VORREITER 2. Pfizer entwickelt Enzym-hemmende Medikamente, die das Tumorwachstum blockieren.
Oktober verbuchen: In Kärnten wurde die erste Brustkrebspatientin in die PALLAS-Studie eingeschlossen, die auf internationaler Ebene eine neue Strategie in der Therapie erproben soll. Die ABCSG koordiniert den internationalen Teil der Studie (außerhalb der USA) – unter der Leitung von Michael Gnant, Chef der Universitätsklinik für Chirurgie der MedUni Wien: „Weltweit sollen in 500 Zentren rund 4.600 Brustkrebspatienten an der Studie teilnehmen, 2.300 davon außerhalb der Vereinigten Staaten. Die ABCSG leitet diese Studie für die ganze Welt, das ist für ein kleines Land wie Österreich bemerkenswert“ (siehe Interview Seite 15). Hierzulande werden 19 Zentren an dem Projekt teilnehmen. Erprobt wird in der Untersuchung eine neue Strategie in der Nachbehandlung von Brustkrebspatienten beiderlei Geschlechts. Es geht um Patienten, die an einem hormonabhängigen Mammakarzinom im Stadium II oder III, das ist ein größerer Tumor ohne Fernmetastasen, ohne das sogenannte HER2-Charakteristikum erkrankt sind. Sie erhalten nach Operation, Bestrahlung und Chemotherapie (Standarderstbehandlung) zwei Jahre lang jeweils zur Hälfte eine übliche antihormonelle Therapie zur Verhinderung von Metastasen oder noch zusätzlich den Wirkstoff Palbociclib – ein neues Medikament von Pfizer, das zellwachstumsabhängige Enzyme (CDK4 und CDK6) in den Tumorzellen hemmt und so deren Wachstum blockieren soll. Die ersten Zwischenanalysen sollen 2018 und 2020 vorliegen.
FOTOS: ROCHE, PFIZER, CORBIS
VORREITER 1. In der Onkologie werden bei Roche unter anderem hochspezifische Antikörper erforscht.
Die Forschung und Entwicklung im Bereich der Onkologie hat zum Ziel, immer effektivere Krebstherapien zur Verfügung zu stellen. Dies soll durch die Entdeckung und Entwicklung von neuen Medikamenten erreicht werden, welche die molekularen Signalwege angreifen, die mit dem Krebs assoziiert werden. Im Fokus: personalisierte Medizin und zielgerichtete Therapie sowie Immuntherapie und Genetik. Diagnostik. Entscheidend für den Erfolg einer Behandlung ist die präzise Diagnose. Neue Biomarker können dazu beitragen, Tumorzellen aufzuspüren. Behandlung. Mithilfe molekularbiologischer Mechanismen sollen außer Kontrolle geratene Prozesse gezielt beeinflusst werden.
Interview
Prof. Dr. Christoph Zielinski Onkologe, CCC-Leiter, AKH/MedUni Wien Prof. Dr. Michael Gnant Chirurg, ABCSG-Leiter, AKH/MedUni Wien
VON SUSANNA SKLENAR
»Globale Erfolge mit personalisierter Krebstherapie«
Unspezifische Chemotherapien und stereotype Behandlungen sind Schnee von gestern. Moderne Onkologie setzt auf personalisierte Medizin, biomolekulare Tumormerkmale und profunde Studien. durch die Bindung des Antikörpers kann das Immunsystem die Tumorzellen erkennen und ausschalten –, Blockieren – Antikörper unterbrechen wichtige Wachstumssignale in der Krebszelle –, Aushungern – bestimmte monoklonale Antikörper unterdrücken die Bildung von neuen Blutgefäßen und verhindern so, dass der Tumor mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt wird – und Vergiften – durch Antikörper lassen sich Chemotherapeutika gezielt ins Tumorgewebe transportieren, sodass gesundes Gewebe geschont wird. Das bedeutet also, dass die Krebsbehandlung immer präziser wird …
FOTOS: TREND/SEBASTIAN REICH, FORMAT/MICHAEL RAUSCH-SCHOTT
Österreichs Koryphäen in der Erforschung und Behandlung von Brustkrebs: Onkologe Christoph Zielinski (l.) und Chirurg Michael Gnant (r.), beide MedUni Wien.
In der Erforschung neuer Wirkstoffe sowie bei der Behandlung von Brustkrebs steht die personalisierte Krebstherapie im Fokus. Was kann man sich darunter vorstellen?
Zielinski: Die personalisierte Krebstherapie beruht darauf, dass Patienten aufgrund bestimmter molekularbiologischer Merkmale eines Tumors eine genau auf diese Art Tumor gerichtete Therapie angeboten werden kann. Bei uns gibt es dafür neuerdings eine eigene Plattform (MONDTI), die mit Einrichtungen, die derzeit an internationalen Zentren entstehen, analog ist. So werden Patienten nach den molekularbiologischen Charakteristika ihrer Erkrankung und nach dem Zulassungsstatus der dafür vorhandenen Medikamente auf europäischer Ebene behandelt und betreut. Wie wirkt hier die Molekularbiologie?
Zielinski: Je nach Krebsart, aber auch je nach Untergruppe, kommen verschiedene Wirkstoffe oder Antikörper zum Einsatz, die zu unterschiedlichen Reaktionen auf der Zellebene und bei den Signalwegen führen. Prinzipiell wird dabei auf vier Wirkungen abgezielt: Abwehren –
»Patienten werden nach den molekularbiologischen Tumormerkmalen behandelt.«
»In der Krebstherapie können wir das ›Gesicht des Feindes‹ immer besser erkennen.«
Christoph Zielinsky Onkologe, MedUni Wien
Michael Gnant Chirurg, MedUni Wien
Gnant: Ja, wir können das „Gesicht des Feindes“ immer besser erkennen. Durch molekularbiologische Erkenntnisse und Methoden haben wir ein genaueres Verständnis, wie Tumorerkrankungen funktionieren und welche Subtypen es etwa bei Brustkrebs gibt. Je präziser hier die Ergebnisse sind, desto effektiver können auch die Behandlungen wirken. Wo setzt Österreich neue Maßstäbe?
Gnant: Gerade bei Brustkrebs gehört Österreich zu jenen Ländern, wo weltweit maßgebende Studien laufen – und das schon seit Jahren. Die ABCSG (Austrian Breast & Colorectal Cancer Study Group) zählt bereits 25.000 Patienten. In Westeuropa erkrankt jede achte Frau an Brustkrebs, doch ist es in vielen Ländern Europas sehr schwierig, Patientinnen zur Teilnahme an einer Studie zu bewegen. In Österreich ist es uns gelungen, ein studienfreundliches Klima zu schaffen, sodass mittlerweile jede zweite postmenopausale und jede dritte prämenopausale Patientin mitmacht. So profitiert nicht nur die Wissenschaft, sondern auch alle Patienten, indem ihnen in der klinischen Praxis immer die neuesten Medikamente und Therapien zur Verfügung stehen.
EXTRA 2015 15
SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH HAUTKREBS
NEUE IMMUNTHERAPIEN BEI MELANOM
Österreichs Forscher arbeiten an innovativen Wirkstoffen und Methoden, um das Immunsystem von Hautkrebspatienten gezielt zu aktivieren und gegen die Tumorzellen zu richten.
In Tierversuchen werden derzeit neue Wirkstoffe erforscht, die dem Immunsystem im Kampf gegen Krebszellen helfen.
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VON SUSANNA SKLENAR
800 Schwarzer Hautkrebs (Melanom) 700 Neuerkrankungen pro Jahr Die Zahl der Neuerkrankungen steigt: Mittlerweile wird pro Jahr bei mehr als 1.500 Österreichern Hautkrebs diagnostiziert. Männer haben ein geringfügig höheres Erkrankungsrisiko als Frauen. Bei über 300 Patienten pro Jahr führt das Melanom zum Tod.
A
lle drei Minuten wird ein neuer Fall von schwarzem Hautkrebs (Melanom) diagnostiziert, wobei 80 Prozent der Patienten in Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland leben. Allein in Österreich sind jährlich 1.500 Menschen betroffen. Weltweit sterben jedes Jahr rund 46.000 Menschen daran. Dabei sind Melanome inzwischen gut behandelbar – vorausgesetzt, sie werden im Frühstadium diagnostiziert. Drei Viertel der Patienten leben noch mindestens zehn Jahre, wenn das Melanom zum Zeitpunkt der Diagnose nicht dicker (tiefer) als einen Millimeter ist. Sie können durch die operative Entfernung des Tumors geheilt werden. Haben sich bereits Metastasen gebildet, überleben jedoch weniger als fünf Prozent die nächsten zwei Jahre. Mit ein Grund ist, dass herkömmliche Behandlungsmethoden wie Bestrahlung oder Chemotherapien nur bei etwa einem Drittel der Patienten Wirkung zeigen. Kein Wunder also, dass Mediziner und Pharmaunternehmen mit Nachdruck nach neuen Therapieformen suchen.
FOTOS: CORBIS (3), HARALD EISENBERGER
Neuartige Wirkstoffe helfen.
In seltenen Fällen bilden sich Melanome und Metastasen von selbst zurück – aufgrund von Immunreaktionen, vermuten die Forscher. Das Interesse an „Immuntherapien“ ist in den letzten Jahren deshalb international gewachsen. Und führte gerade in Österreich zu neuen, zukunftsweisenden Erfolgen im Kampf gegen Hautkrebs: Die Behandlung mit Botenstoffen des Immunsystems wie Interferon und Interleukin bewirkt bereits erste aufsehenerregende Ergebnisse. Ein Antikörper (Ipilimumab), der das Immunsystem gezielt dazu anregt, Krebszellen zu bekämpfen, ist inzwischen zugelassen. Erst im November hat die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA die Zulassung für den Wirkstoff Cobimetinib in Kombination mit Vemurafenib – zur Behandlung von Patienten mit einem „mutationpositiven fortgeschrittenen Melanom“ – erteilt. Ein möglicher Angriffspunkt ist das BRAFProtein. BRAF ist Teil eines Signalwegs, der das Zellwachstum kontrolliert. Mutiert es, kann das zu schnellem, unkontrolliertem Zellwachstum und damit Krebs führen. Die Mutation tritt bei etwa 50 Prozent der Melanompatienten auf und ist mit einer ungünstigen Prognose verbunden. Bis Ende des Jahres soll die Zulassung auch in
600
Quelle: Roche
Männer Frauen
500 400 300 200 100
’83
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Österreich erfolgen. „Diese kombinierte Anwendung trägt dazu bei, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen, und hilft Patienten, bedeutend länger zu leben“, erklärt Sandra Horning, Chief Medical Officer und Leiterin der globalen Produktentwicklung bei Roche. Tatsächlich gilt die Immuntherapie als eines der Hoffnungsgebiete in der Krebstherapie. Auch an der Universitätsklinik für Dermatologie der MedUni Wien sowie an der Veterinärmedizinischen Uni Wien (Vetmed) wird die neue Generation der Wirksubstanzen erforscht.
PHARMA & FORSCHUNG
Personalisierte Medizin kommt Zukunftsweisend: neue Medikamente mit DiagnoseBegleittests.
Strategie gegen Metastasen.
Grundsätzlich wird bei der Immuntherapie das körpereigene Abwehrsystem wieder in die Lage versetzt, Krebszellen anzugreifen, auch versprengte Metastasen. Theoretisch kann es zwar Krebszellen aufgrund ihrer veränderten Oberfläche erkennen und ausschalten, doch Tumorzellen sind gefinkelte Gegner: Sie tarnen sich oder legen das Abwehrsystem lahm. Beim Melanom etwa hemmen Oberflächenstrukturen der Krebszellen die körpereigenen Killerzellen, indem sie sich an sie heften. Bei der Immuntherapie blockieren die neuartigen Medikamente diese Anheftstellen, sodass Krebszellen vom Immunsystem wieder als gefährlich erkannt werden. Eine wesentliche Rolle spielen dabei sogenannte Immun-Checkpoints, also Rezeptorproteine, die auf der Oberfläche von T-Zellen (weiße Blutzellen/Immunabwehr) ausgebildet werden. Wenn spezifische Signalstoffe an die Checkpoints anbinden, wird die T-Zelle gebremst. Im Fokus der Forschung steht nun etwa der Signalüberträger Tyk2 – ist er überaktiv, kann er Krebs fördern. Doch wird er entsprechend gehemmt, indem man seine Signalfunktion zerstört, bleiben nur seine positiven Eigenschaften erhalten. Er kann dann das Immunsystem mobilisieren, um Krebszellen und Viren zu töten, fanden Wiener Forscher heraus. Mathias Müller vom Institut für Tierzucht und Genetik der Vetmed: „Es gibt immer mehr Krebserkrankungen, wo eine Überaktivität von Tyk2 die Ursache ist.“
Johannes PleinerDuxneuner, Medical Director bei Roche Austria. „Bei uns sind Pharma und Diagnostik unter einem Dach vereint, um Therapien noch besser und effektiver auf den individuellen Patienten abzustimmen. Dieser Ansatz macht es möglich, maßgeschneiderte Medikamente gleichzeitig mit einem diagnostischen Begleittest zu entwickeln – das ist auch bereits bei der Hälfte unserer Wirkstoffe in Entwicklung der Fall. Wir sprechen hier von personalisierter Medizin.“
MELANOM ist die aggressivste Form von Hautkrebs, der durch unkontrolliertes Wachstum von Melanozyten, den pigmentbildenden Zellen der Haut, entsteht.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH ALZHEIMER
KAMPF DEM VERGESSEN
ALZHEIMER VORBEUGEN. An den Universitätskliniken in Wien und Graz wird die Tau-Proteinbasierte Impftherapie erforscht, die zur Reduktion des pathologischen Taus beitragen und eine Verschlechterung der Gedächtnisleistung stoppen soll.
GRENZGANG. Subjektiv wahrgenommene Verschlechterungen der Gedächtnisleistung sollten frühzeitig abgeklärt werden.
18 EXTRA 2015
VON CHRISTINA BADELT
NETZWERK
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eltweit leiden nach aktuellen Angaben der WHO über 47 Millionen Menschen an einer Demenzerkrankung, wobei die Alzheimerkrankheit mit rund 60 bis 70 Prozent die häufigste Demenzform darstellt. Für Österreich bedeutet die massive Zunahme demenzkranker Patienten, und hier vor allem an Alzheimer erkrankter Menschen, eine enorme medizinische, aber auch gesundheitspolitische Herausforderung. So leben derzeit rund 130.000 Personen in Österreich mit einer Demenzerkrankung, 500.000 Österreicher weisen bereits eine mögliche Vorstufe einer Demenzerkrankung, etwa leichte kognitive Störungen (MCI), auf. Aufgrund aktueller Forschungsergebnisse ist davon auszugehen, dass sich die Demenz-Fallzahlen in den nächsten 20 Jahren verdoppeln werden. Der internationale Forschungsschwerpunkt, und auch jener an der MedUni Wien, ist die Entwicklung klinischer Therapien. An der Universitätsklinik für Neurologie in Kooperation mit der Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie läuft dazu eine Phase-I-Studie für die Entwicklung einer Tau-Protein-basierten Impfung. Tau-Proteine sind maßgeblich am Stofftransport innerhalb der Nervenzellen beteiligt. Wenn diese jedoch hyperphosphoryliert sind, ist der Stofftransport gestört, es kommt zu Funktionsstörungen und führt schließlich zum Zelltod. Dies ist eines der Hauptcharakteristika der Alzheimer-Demenz.
FOTOS: CORBIS (2)
Erste Schritte auf dem Weg zur Tau-Impfung.
„Die Verträglichkeit der Impfung ist gut“, berichtet Studienleiter Peter Dal-Bianco. Neben der Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie der MedUni Wien ist auch die Med Uni Graz Kooperationspartner. Die ersten Ergebnisse geben Hoffnung, dass man die ersten Schritte in Richtung einer Impfung gegen diese Ursache der Alzheimererkrankung gemacht habe, die allerdings erst in einigen Jahren zur Verfügung stehen wird. Dal-Bianco: „Die folgende Phase-II-Studie ist bereits im Laufen.“ Ziel der Impfung sei es, die Reduktion des pathologischen Taus zu bewirken und damit die weitere Verschlechterung der Gedächtnisleistung zu stoppen, erklärt Dal-Bianco: „Die TauProteine sind so etwas wie die Schwellenschrauben bei den Schienen im Zugverkehr. Geraten die ‚Schrauben‘ aus der Verankerung, führt das
zur Entgleisung. Genau das passiert auch bei der Alzheimererkrankung.“ Der Stofftransport auf den Tubuli im Axon (Nervenfortsatz) entgleist, wenn das Tau-Protein hyperphosphoryliert ist. Diese Störung in den Nervenzellen ist mitverantwortlich für die Entstehung der Alzheimererkrankung.
Alzheimer Austria: seit 25 Jahren gegen das Vergessen
Im Fokus: diätetische Nahrungsmittel, Vitamin D.
Während von Medikamenten derzeit und in naher Zukunft kein durchschlagender Erfolg zu erwarten ist, gibt es Hinweise, dass bestimmte Nahrungsstoffe in Form bestimmter Kombinationen den bei der Alzheimerkrankheit frühzeitig einsetzenden Synapsenuntergang günstig beeinflussen können, erklärt Andreas Winkler, Facharzt für Neurologie, Additivfacharzt für Geriatrie und Vizepräsident von Alzheimer Austria. „Besonders hervorzuheben ist hier der Nahrungsmittelkomplex Fortasyn Connect, der als Souvenaid in Form von einmal täglich einzunehmenden Trinkflaschen im Handel erhältlich ist. Für diese medizinische Heilnahrung für die frühe Alzheimererkrankung konnte in mehreren Studien, an insgesamt über 1.000 Patienten, ein möglicher Vorteil hinsichtlich der Gedächtnisleistung nachgewiesen werden. Eine kausale oder nachhaltige Beeinflussung des Erkrankungsverlaufs ist aber auch mit diesen diätetischen Nahrungsmitteln nicht möglich.“ Eine zunehmende Rolle dürfte nach dem Experten zukünftig auch dem Vitamin D, einem körpereigenen Hormon, zukommen, dessen Mangel als zunehmender Risikofaktor für Demenzen und die Alzheimerkrankheit im Besonderen erkannt wurde. Integrierte Versorgung auf dem Vormarsch.
Stefanie Auer, Universitätsprofessorin für Demenzforschung an der Donau-Universität Krems und wissenschaftliche Leiterin der MAS Alzheimerhilfe, schildert den Ansatz integrierter Versorgung auf diesem Gebiet: „Österreich hat sich an der internationalen wissenschaftlichen Diskussion um die besten Modelle zur integrierten Versorgung – das sind multi- und interdisziplinäre Modelle zur Früherkennung einer Demenz, zur Behandlung/Begleitung von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen – beteiligt. Hier
ZUKUNFT. Eine größere Anzahl an Pflegekräften wird notwendig sein. ZUSAMMENARBEIT. Seit dem Jahr 1990 bemüht sich Alzheimer Austria als direkter Ansprechpartner um die Anliegen und Bedürfnisse von Alzheimererkrankten und ihren Angehörigen. Aus dem Prinzip der Selbsthilfe hat sich ein Expertenteam entwickelt, das über die enormen Belastungen der Betroffenen bestens Bescheid weiß. Alzheimer Austria leistet durch eine Vielzahl an Initiativen und internationale Vernetzung zur Entlastung der Betroffenen und ihrer Angehörigen, wie persönliche Unterstützungsgespräche, fachliche Beratungen, Trainingskurse und Informationsveranstaltungen, einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Versorgungssituation in Österreich.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH ALZHEIMER
werden. Dabei sollte die diagnostische Wertigkeit der Amyloid-Bildgebung im Zusammenhang mit anderen verfügbaren Biomarkern und Surrogatmarkern der Alzheimererkrankung und unter Berücksichtigung von Faktoren der individuellen Resilienz bewertet werden.“
gibt es derzeit drei publizierte Modelle, in Frankreich, den Niederlanden und eben in Österreich. In Österreich wird dieses Modell „Demenzservicestelle“ genannt. Hier findet Früherkennung statt, auch Förderung der Fähigkeiten der Personen mit Demenz. Angehörige werden geschult und langfristig unterstützt. Der Effekt dieser Strukturen ist Inhalt zahlreicher wissenschaftlicher Projekte.“ Frühdiagnostik durch Amyloid-PET.
Amyloid-Ablagerungen sind Eiweißablagerungen, die sich bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung im Gehirn ansammeln können, sie sind ein typisches Merkmal der Alzheimererkrankung mit Demenz. Mit der sogenannten Amyloid-PET steht nun eine neue Untersuchung zur Alzheimer-Diagnostik zur Verfügung, Hierbei wird dem Patienten eine schwach radioaktive Substanz injiziert. Der verwendete Tracer 18F-Florbetaben lagert sich mit hoher Spezifität und Sensitivität im Gehirn an Beta-Amyloid-Ablagerungen an und kann diese dadurch in einer PET-Untersuchung (Positronen-Emissions-Tomografie) sichtbar machen. Die Ergebnisse der Untersuchungen müssen jedoch immer im Kontext mit der Anamnese des Patienten interpretiert werden, erklärt Michael Rainer, Leiter des Instituts für Gedächtnis- und Alzheimerforschung der Karl Landsteiner Gesellschaft. „In Zukunft muss der prädiktive Wert eines positiven wie auch eines negativen AmyloidScans für den individuellen Patienten insbesondere durch Längsschnittstudien weiter analysiert
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Univ.-Prof. Dr. Stefanie Auer Universitätsprofessorin für Demenzforschung
»Unterstützung von Betroffenen und deren Angehörigen hat große Bedeutung.« Dir. Prim. Dr. Andreas Winkler Vizepräsident Alzheimer Austria
Jede dritte Demenz wäre zu verhindern.
Auch neue Ansätze zur Prävention von Demenzerkrankungen konnten aktuell verblüffende Wirksamkeitsstudien liefern. So wurde in großen Kohortenstudien aufgezeigt, dass Menschen mit Adipositas, Hypertonie oder Diabetes, aber auch Couch-Potatoes, Depressive, Raucher und Menschen mit geringer Bildung überdurchschnittlich häufig eine Alzheimer-Demenz entwickeln. Eine aktuelle Studie, welche diese Faktoren berücksichtigte, konnte belegen, dass sich mit Blick auf die sieben wichtigsten Lebensstilfaktoren das theoretische Alzheimerrisiko um 30 Prozent verringern ließe. In einer soeben veröffentlichten kontrollierten Studie, die Ende November von der Alzheimer Austria präsentiert wurde, konnte nun erstmals der Wahrheitsbeweis angetreten werden, dass sich dieser rechnerische Ansatz auch tatsächlich im realen Leben erzielen lässt. Dazu wurden 1.260 geistig gesunde Probanden mit einem erhöhten Risiko, an einer Demenz zu erkranken, in zwei Gruppen geteilt. Eine Gruppe wurde über zwei Jahre in einem strengen Programm betreut (Diät, körperliches und geistiges Training). Demgegenüber wurde die Kontrollgruppe lediglich hinsichtlich gesunder Lebensführung unterrichtet. Ziel der Studie war, festzustellen, inwieweit sich die Gedächtnisleistungen nach Studienende in beiden Gruppen unterschieden: Es fand sich in der Interventionsgruppe im Vergleich für den primären Studienendpunkt eine um 25 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, dass sich die Gedächtnisleistung verbessert, für Teilaspekte kognitiver Bereiche fanden sich sogar Verbesserungen um bis zu 150 Prozent. Aus den Ergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass man durch diesen multidimensionalen Ansatz der Prävention und Lebensstilmodifikation Einbußen der Gedächtnisleistungen signifikant verzögern und somit das Auftreten von Demenzen zumindest über Jahre aufschieben kann.
FOTOS: CORBIS, MIRJAM REITHER, BEIGESTELLT
VERLAUF. Die genaue Frage, welche Ereignisse im Alzheimer-Gehirn den Zelltod auslösen (Bild links) und was dagegen hilft, ist noch nicht geklärt.
»Demenz muss differenzierter betrachtet werden.«
SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH ALZHEIMER | INTERVIEW
»Ich wünsche mir, dass Alzheimer 2050 Geschichte ist«
Dr. Peter Dal-Bianco Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
NACHGEFRAGT. Peter Dal-Bianco, Leiter der Spezialambulanz für Gedächtnisstörungen am AKH Wien und Studienleiter der TAU-Impfforschung, über die ersten Schritte im Kampf gegen Alzheimer.
Welche Wirkung soll dieser Wirkstoff im Speziellen haben, welche Ergebnisse liegen schon vor?
FOTOS: MAG. WENZEL MÜLLER, CORBIS
Es handelt sich hier um eine klinische Prüfung in Phase eins. Ziel der Phase ist es, die humane Verträglichkeit zu prüfen. Bis dato ist bei unseren Patienten keine Unverträglichkeit aufgetreten, die zum Abbruch beziehungsweise zum Ausscheiden von Patienten geführt hätte.
ZUR PERSON Peter Dal-Bianco, M.D, ist Univ.-Prof. für Klinische Neurologie an der Medizinischen Universität Wien und Präsident der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft. Er gründete 1987 die erste österreichische Spezialambulanz für Gedächtnisstörungen (Memory Clinic) an der Universitätsklinik für Neurologie, MUW, AKH Wien. Sein Forschungsgebiet umfasst altersassoziierte Erkrankungen des zentralen Nervensystems mit klinischem Schwerpunkt Gedächtnisstörungen, Alzheimer-Krankheit und andere Demenzformen.
An der Universitätsklinik für Neurologie läuft in Kooperation mit der Universitätsklinik für klinische Pharmakologie eine Studie für die Entwicklung einer Tau-Protein-basierten Impfung gegen Alzheimer: Wie kamen Sie zu der Schlussfolgerung, dass dieser Wirkstoff helfen kann?
Alois Alzheimer hat bereits 1906 die typischen neuropathologischen Gehirnveränderungen seiner Demenzpatientin Auguste D. beschrieben. Unter anderem das intrazelluläre Tau-Protein, das in hyperphosphorylierter Form in sogenannter Tangleform die Nervenzellen im Gehirn zerstört. Mit einer Tau-Immuntherapie (Impfung) sollen diese devastierenden Eiweißfädchen durch körpereigene Abwehrzellen eliminiert und damit unschädlich gemacht werden. Die MedUni Wien gilt in der klinischen Erforschung diese Immuntherapie als führend. Warum?
Weil diese aktive Tau-Impfung weltweit erstmals in Österreich klinisch geprüft wird.
Wann muss der Impfstoff verabreicht werden, um bestmöglich zu helfen? Ist dieser dann für alle Patienten geeignet?
Wahrscheinlich wird künftig die Impfung noch vor dem Beginn der klinischen Alzheimersymptomatik durchgeführt werden, also bei Menschen, die Alzheimer-typische Hirngewebsveränderungen haben, aber klinisch noch keine Ausfälle zeigen. Hier gilt es dann, eine sorgfältige Auswahl der Impfkanditaten zu treffen. Woran arbeiten Sie derzeit und gibt es schon eine Studienphase 2?
Derzeit beginnen wir –wieder gemeinsam mit der Universitätsklinik für klinische Pharmakologie – eine Phase-I-Studie für die Entwicklung einer Aß-Protein-basierten Impfung gegen Alzheimer. Es läuft eine Tau-Verlängerungsstudie und es wurde bereits eine multizentrische Phase-zwei-Studie eingeleitet. Was wäre Ihr Wunschziel für die kommenden Jahre aus medizinischer Sicht?
Dass spätestens im Jahr 2050 die Alzheimerkrankheit Geschichte ist.
DIAGNOSTIK. Demenzielle Erkrankungen zeigen zumeist einen kontinuierlichen Übergang von klinisch unauffällig bis schwerst beeinträchtigt.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH MALARIAFORSCHUNG
MALARIAPILLE AUS ÖSTERREICH
Einmal infiziert, muss die Malariatherapie rasch erfolgen. Ein Arzt aus Österreich könnte mit seiner Entwicklung Tausende Neuinfektionen verhindern.
Ein Stich der AnophelesMücke ist lebensbedrohend. Es gibt rund 400 Arten, von denen 30 Malaria übertragen.
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VON CLAUDIA WEBER
DER PARASIT ÜBERLEBT
I
n einem unscheinbaren Ärztezimmer in einem der vielen Winkeln des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) in Wien sitzt Michael Ramharter hinter seinem Schreibtisch. Gelassen erzählt er von seinen Reisen nach Afrika. Man mag kaum glauben, dass der Österreicher drauf und dran ist, die Malariatherapie zu revolutionieren. Österreich in der Malariaforschung? Klingt nach Skifahren in Kenia.
Der tückische Kreislauf der Malaria
Verheerende Blutmahlzeit.
FOTOS: CORBIS, PRIVAT, ALBERT SCHWEITZER HOSPITAL, MOMBO-NGOMA
Erst kommt das hohe Fieber, gefolgt von Kopfund Gliederschmerzen. Übelkeit und Durchfall machen einem zusätzlich zu schaffen. Schüttelfrost und Schweißausbrüche tun ihr übriges. Der Verdacht auf eine schwere Grippe liegt nahe. Irrtum. Es ist Malaria. Eine falsche Diagnose kann tödlich sein. Wird der Patient nicht adäquat oder gar nicht therapiert, endet die schwerste Form der Malaria, die Malaria tropica, in jedem zweiten Fall tödlich. Vor allem Kinder sind betroffen. Im Jahr 2013 waren laut dem aktuellen World Malaria Report der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 78 Prozent der Todesopfer unter fünf Jahre alt. Malaria spielt in Österreich nur für Reisende nach Afrika, Asien, Mittel- und Südamerika sowie Indien eine Rolle. Weltweit betrachtet ist sie allerdings noch immer eine der gefährlichsten parasitären Krankheiten. Um die 3,2 Milliarden Menschen in 97 Ländern – somit fast die Hälfte der Erdbevölkerung – sind dem Risiko einer Malariainfektion ausgesetzt, wobei die häufigsten Malariafälle (90 Prozent) in Afrika südlich der Sahara auftreten. Die Krankheit wird über den Stich einer infizierten, weiblichen Anopheles-Mücke übertragen. Die Erreger der Tropenkrankheit sind einzellige Parasiten der Gattung Plasmodium. Weil zwischen fünf verschiedenen Erregern unterschieden wird, gibt es auch fünf unterschiedliche Malariaformen. Die drei häufigsten sind Malaria tropica, Malaria tertiana und Malaria quartana. Sie zeigen einen schweren Krankheitsverlauf, wobei insbesondere Malaria tropica lebensbedrohlich ist.
Michael Ramharter bei der Untersuchung einer Blutprobe. Malariaparasiten brauchen für ihre Entwicklung zwei Wirte: die Mücke als Hauptwirt und den Menschen als Zwischenwirt. Der Kreislauf: Zunächst infiziert sich eine Mücke bei einem Menschen, der Malaria hat. In der Mücke findet die geschlechtliche Vermehrung der Parasiten statt. Sticht die Mücke nun einen anderen Menschen, wandern die Parasiten in wenigen Minuten in dessen Leber. Dort reifen sie zu Tausenden heran. Danach werden die roten Blutkörperchen befallen. Nach sieben bis zwölf Tagen setzt das Fieber ein, und die Organe werden angegriffen. Stirbt der Mensch, stirbt auch der Parasit. Darum braucht es eine erneute Mücke, die bei dem infizierten Menschen Blut saugt. Der Parasit überlebt, der Kreislauf ist geschlossen.
Meilensteine in der Medizin.
In den letzten 15 Jahren hat sich im Kampf gegen Malaria weltweit sehr viel zum Positiven
3,2 Mrd. 78 % Menschen leben in einem Malariagebiet.
der Todesopfer sind jünger als fünf Jahre.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH XYXYX
REISEVORSORGE
Der Trip in die Tropen Wie sich Reisende in Malariagebieten vor der Krankheit schützen können.
Die häufigsten Malariafälle (90 Prozent) treten in Afrika südlich der Sahara auf. Vor allem Kinder sind betroffen.
verändert. Die Zahl der Todesfälle ist nach UN-Angaben seit dem Jahr 2000 um 60 Prozent zurückgegangen. Außerdem seien vor 15 Jahren von geschätzten 262 Millionen Malariapatienten fast 839.000 gestorben, heißt es in einem gemeinsamen Bericht der WHO und des UN-Kinderhilfswerk Unicef. Für 2015 wird prognostiziert, dass von rund 214 Millionen Malariapatienten 438.000 Menschen sterben. Diese Fortschritte sind höheren finanziellen Investitionen in die Forschung und Prävention zu verdanken. Seit der Jahrtausendwende wurden die Aufwendungen im Kampf gegen Malaria verzwanzigfacht. Menschen in den betroffenen Regionen sind heutzutage besser gegen den Stich der Mücke geschützt. Etwa eine Milliarde mit Insektiziden behandelten Moskitonetze wurden verteilt. Außerdem kann die Krankheit heute mit speziellen Tests schneller erkannt und dadurch auch rascher und richtig behandelt werden. Neue Kombinationstherapien mit dem Wirkstoff Artemisinin sind nach einer Ansteckung effektiver als frühere Medikamente, die durch Resistenz der Parasiten ihre Wirkung verloren haben. Als Meilenstein in der Medizin wird derzeit der erste Impfstoff gegen Malaria gefeiert. Auch wenn es in der Malariaforschung die Entwicklung des Jahrhunderts ist, hat sich die WHO derzeit gegen den breiten Einsatz von RTS,S (auch Mosquirix genannt) ausgesprochen. Denn der Impfschutz hat so seine Tücken: Man benötigt insgesamt vier Spritzen, bis sich der Impfschutz aufgebaut hat – drei im Abstand
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Für Reisende nach Afrika, Asien, Mittel- und Südamerika besteht das Risiko einer Malariainfektion. Schutz: Klimaanlagen mögen die Mücken überhaupt nicht. Außerdem sollte man in der Nacht unter einem Moskitonetz schlafen, lange, helle Kleidung tragen und sich immer mit Insektenschutzmittel einsprühen. Medikamente: Zusätzlich kann man vor der Reise vorbeugend bestimmte Malariamedikamente einnehmen. Hierbei sind das Reiseziel, die Dauer und die Reiseart (Zelt oder Hotel) ausschlaggebend. Aber auch diese Medikamente bieten keinen hundertprozentigen Schutz gegen Malaria. Tipp: Aktuelle Informationen beim Tropeninstitut einholen, bevor man in ein Risikogebiet fliegt.
Nur eine weibliche infizierte Anopheles-Mücke kann die tödliche Krankheit Malaria übertragen.
von einem Monat, die letzte nach eineinhalb Jahren. Aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung in manchen Regionen sei ungewiss, ob die Kinder alle vier Dosen bekommen würden, argumentiert die WHO. Selbst wenn sichergestellt wird, dass Betroffene alle vier Impfungen bekommen, bleibt die Schutzrate gering. Studien belegen, dass der Impfschutz je nach Alter der Kinder zwischen 26 und 36 Prozent liegt. Hinzu kommt, dass die Wirksamkeit mit der Zeit nachlässt. Hoffnung aus Österreich.
Der Wiener Tropenmediziner Michael Ramharter erforscht bereits seit über 15 Jahren Malaria und hat sich auf deren Therapie spezialisiert. Einmal im Monat fliegt er zum Albert-Schweitzer-Spital nach Lambaréné im zentralafrikanischen Gabun. Dort bekommt er unmittelbar die Probleme in der Malariatherapie mit. „Wenn das Fieber einen Tag nach Beginn der Therapie hinuntergeht, wird oft vergessen, die Medikamente weiter verlässlich einzunehmen“, sagt Ramharter. Was verheerend ist, denn so kann eine erneute Infektion entstehen. Aus diesem Grund entwickelte Ramharter eine Tablette, die auf einen Schlag alle Parasiten abtöten würde (siehe Interview). „Wir sind überzeugt, dass die Einzeldosistherapie der Malaria ein wichtiger Fortschritt in der Bekämpfung der Erkrankung und in der geplanten Ausrottung der Krankheit wäre. Es sind aber noch diverse Hürden zu überwinden, bevor wir ein marktreifes Medikament haben.“
Interview
Michael Ramharter Tropenmediziner am AKH und der MedUni Wien
»Auf einen Schlag werden alle Parasiten getötet« Fortschritt in der Malariatherapie. Der österreichische Tropenmediziner Michael Ramharter entwickelt eine Einzeldosis, die die Chance auf Heilung weltweit revolutionieren würde. Laut WHO stirbt jede Minute ein Kind an Malaria. Wie gut funktioniert derzeit die Prävention in Afrika?
In den letzten zehn Jahren hat sich sehr viel in der Malariaforschung und in der Bekämpfung der Krankheit zum Guten gewendet. Die Menschen gehen bei Verdacht schneller zum Arzt, und auch die Infrastruktur hat sich verbessert, sodass der Weg zum nächsten Spital leichter zu bewältigen ist. Malariamedikamente sind nicht nur effektiver und günstiger geworden, sondern auch besser verfügbar. Warum sterben an der Krankheit dann weltweit immer noch über eine halbe Millionen Menschen pro Jahr?
Wenn die Malaria tropica nicht oder zu spät behandelt wird, liegt das Risiko, daran zu sterben, bei etwa 50 Prozent. Michael Ramharter von der klinischen Abteilung für Infektionen und Tropenmedizin am AKH Wien.
Wie werden Patienten in Afrika bei einer Infektion mit Malaria therapiert?
Der Patient bekommt im Falle einer Erkrankung über drei Tage hinweg Tabletten mit einer Artemisinin-Kombinationstherapie.
Nach ein bis zwei Tagen ist der Patient fieberfrei, und bei einer raschen und korrekt angewandten Therapie liegen die Heilungschancen bei über 95 Prozent. Klingt, als gäbe es keine Probleme …
Doch, die gibt es. Viele Patienten nehmen die Tabletten nicht nach Vorschrift ein und hören mit der Therapie auf, sobald es ihnen besser geht. Oft ist es so, dass die Medikamente daheim unter den Familienmitgliedern geteilt werden, wenn diese auch zu fiebern beginnen. So kann die Malaria aber nicht vollständig ausheilen, eine erneute Infektion ist möglich. Ihre Entwicklung einer Einzeldosis soll hier gegensteuern. Welche Vision verfolgen Sie?
Die Idee ist, mit einer Einzeldosis und auf einen Schlag sämtliche Parasiten im Körper abzutöten. Der Patient soll noch beim Arzt eine einzige Pille bekommen und an nichts mehr denken müssen. Somit fallen die Probleme weg: Ist das Medikament in der Apotheke verfügbar? Nimmt der Patient das Medikament richtig ein? Und verträgt er es auch gut? Das alles sieht der Arzt unmittelbar. Wie wirkt das Medikament?
FOTOS: CORBIS (2), REUTERS, EVA SCHIMMER, MOMBO-NGOMA
Sämtliche Parasiten im Blut werden getötet. Das geschieht, indem die Wirkstoffe bestimmte Enzyme des Parasiten hemmen, sodass er sich am Ende selbst vergiftet. Wie weit sind Sie mit Ihrer Forschung?
Wir sind bereits im Stadium der klinischen Studien, bei der wir Hunderte Patienten in Afrika mit einem innovativen Wirkstoff behandeln. Es wird untersucht, welche Wirkstoff-Kombination die beste ist und wie richtig dosiert werden soll. Erste Ergebnisse kommen 2016. Die Chancen stehen gut, dass das Medikament marktreif wird.
»Die neuen Wirkstoffe hemmen bestimmte Enzyme des Parasiten, sodass er sich am Ende selbst vergiftet.«
EXTRA 2015 25
SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH DERMATOLOGIE
SAFER SEX DURCH SCHUTZIMPFUNG
Chlamydien sind die häufigsten sexuell übertragenen bakteriellen Erreger weltweit. An der MedUni Wien wurde nun eine effektive Impfmöglichkeit gefunden.
M
CHLAMYDIEN
Impfung als Nasentropfen?
eist passiert es beim Geschlechtsverkehr, manchmal wandern die gefürchteten Bakterien auch bei der Geburt von Mutter zum Kind. Pro Jahr infizieren sich rund 100 Millionen Menschen mit Chlamydien. Sie werden auch die „stille Krankheit“ genannt, da sie oft lange Zeit keine Symptome verursachen. Doch gerade bei Frauen sind sie eine der Hauptursachen für Unfruchtbarkeit und Eileiterschwangerschaft. Und vor allem in Entwicklungsländern können sie unbehandelt auch zur Erblindung führen. Jetzt ist es einem internationalen Forscherteam unter Mitarbeit von Georg Stary von der Universitätsklinik für Dermatologie der MedUni Wien weltweit erstmals gelungen, herauszufinden, wie die Immunantwort auf Chlamydien effizient und präventiv angekurbelt werden kann – was zur Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs führen könnte.
FOTOS: CORBIS (2)
Schützender Wirkstoff.
Über Schleimhäute (z. B. der Nase) werden spezielle, das Immunsystem stimulierende Nanopartikel eingeschleust, die den Chlamydien im Körper den Garaus machen. Diese sind die am häufigsten sexuell übertragene Infektion. Sie werden bei zehn Prozent der 17-jährigen Frauen bzw. bei 20 Prozent der 20- bis 24-Jährigen festgestellt. Chlamydien sind in den Schleimhäuten von Harnröhre, Scheide und Enddarm, in der Flüssigkeit der Scheide, ebenso im Samen, im Urin und Lusttropfen des Mannes zu finden.
Bei einer Infektion mit Chlamydia trachomatis kommt es zu einer Entzündung von Schleimhäuten. In der ersten Phase merken es die Betroffenen kaum. Stary: „Die Erkrankung verläuft in jedem zweiten Fall ohne Symptome. Wenn sie frühzeitig entdeckt wird, ist sie grundsätzlich gut mit Antibiotika behandelbar.“ Bei einer chronischen Form seien Antibiotika dann meist wirkungslos. „Alle bisherigen Versuche, die Menschen durch eine Immunisierung vor Chlamydien-Infektionen zu schützen, schlugen nicht nur fehl, sondern führten in manchen Fällen sogar dazu, dass sie noch
anfälliger wurden.“ Nun ist es der internationalen Arbeitsgruppe an der Harvard Medical School Boston, wo der Forscher in den vergangenen vier Jahren beschäftigt war, gelungen, im Mausmodell mit Hilfe von Nanotechnologie eine Chlamydien-Infektion nachzuahmen und folglich einen schützenden Impfstoff zu entwickeln. Dieser aktiviert zwei Wellen von Immunzellen und wird direkt auf die Schleimhaut (z. B. der Nase) gegeben. Gedächtniszellen zur Immunabwehr.
Die inaktiven Chlamydien wurden dazu mit Hilfe von speziellen Nanopartikeln an Immunstimulanzien als Adjuvans (Trägerstoff, der die Aufnahme erleichtert) gebunden. Durch die Verabreichung werden die im Blut zirkulierenden Gedächtniszellen via Lymphknoten über die Art und Lokalisation der Infektion unterrichtet. Zusätzlich werden so auch jene Abwehrzellen generiert, die direkt in die Schleimhaut einwandern und dort ein Reservoir an gewebespezifischen Gedächtniszellen bilden. „Diese zwei Wellen an Gedächtniszellen sind nötig, um einen optimalen immunologischen Schutz zu gewährleisten“, erklärt Georg Stary. „Dafür muss die Impfung, über die Schleimhaut verabreicht werden. Das Antigen muss mit diesem Adjuvans versehen sein, der praktisch wie ein Turbolader für die menschliche Immunabwehr wirkt. Jedes für sich alleine bleibt völlig wirkungslos.“
100.000 Frauen und Männer in Österreich sind mit Chlamydien infiziert.
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VON SUSANNA SKLENAR
SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH INTERVIEW
»Es gibt spektakuläre Ergebnisse«
Josef Penninger Krebsforscher
ZUR PERSON JOSEF PENNINGER, 51, Genetiker und Krebsforscher, ist seit 2003 wissenschaftlicher Direktor am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. 2006 gründete Penninger die Apeiron Biologics AG, ein Unternehmen, das u. a. Antikörper-Therapien für Gehirntumore bei Kindern (Neuroblastoma) entwickelt.
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VON DORIS GERSTMEYER
Josef Penninger, Direktor am IMBA, über die Erfolge mit Immuntherapien, neue Forschungsansätze und seine Prognose und Vision über eine vollständige Krebs-Heilung.
Wie ist es möglich, dass die ganze Welt an Krebs forscht und es bisher zu keinen substanziellen Ergebnissen kommt?
Vor drei Jahren hätte ich dieser Aussage noch zugestimmt, aber in letzter Zeit verzeichnen wir unglaubliche Fortschritte. Es gibt jetzt völlig neue Ansätze mit neuen KrebsImmuntherapien. Früher galt es schon als Erfolg, wenn die Patienten mit einer Therapie drei Monate überlebt haben. Mit den neuen Immuntherapeutika sprechen wir von Überlebenszeiten von mehreren Jahren. Wie schauen diese neuen Ansätze aus?
Wir geben dem eigenen Immunsystem eine Chance, die Krebszellen zu erkennen und zu töten. Das gelingt deshalb, weil die Forscher herausgefunden haben, wie das Immunsystem aktiviert und wieder abgeschaltet wird. Dies ist vergleichbar mit einem Auto. Einmal tritt man aufs Gas, einmal auf die Bremse. Die Forscher haben jetzt die molekularen Bremsen des Immunsystems gefunden und können sie betätigen. Seither gibt es bei einigen Krebstumoren spektakuläre Ergebnisse, etwa beim metastasierenden Melanom, dem Hautkrebs, der früher ein Todesurteil war. Jetzt bestätigen neue Daten, dass mit der Kombinations-Immuntherapie bis zu 80 Prozent der Patienten überleben. Ich hätte mir nie gedacht, dass so etwas funktioniert.
FOTOS: LUKAS ILGNER, CORBIS (3)
Funktioniert es bei allen Krebsarten?
Nein, bisher nur bei bestimmten Tumoren. Es gibt noch viel zu tun, aber es gibt einen Anstoß, in diese Richtung zu forschen. Unter bestimmten Umständen führt diese Therapie auch dazu, dass Patienten bei Krebsarten überleben, die vorher sicher zum Tod geführt hätten. Wie kam es zu diesem Forschungsfortschritt?
Der Immunansatz war lange bekannt, aber die Wissenschaftler wussten nicht, wie die Bremsen genau funktionieren. Jetzt weiß man das, man kann sie therapeutisch wegschalten und gibt den Immunzellen eine viel größere Chance, die Krebszellen zu erkennen. Man spricht auch vom „Aufmunitionieren“ der Krebszellen. Wie kann man sich das konkret vorstellen, wie wird das gemacht?
Die Details sind komplex, aber das Prinzip ist einfach: Wenn man eine Wunde am Arm hat, reagiert das Immunsystem und schickt Zellen, die die infizierten Zellen töten. Aber das muss natürlich irgendwann wieder abgeschaltet werden. Wenn das nicht passiert, dann hat man eine ständige Entzündung. Das Immunsystem ist immer in Balance, es reagiert und schaltet wieder ab. Manche dieser Bremsen sitzen auch auf den Oberflächen von Immunzellen und kriegen das An- oder Abschaltsignal. Wenn man diese Schaltsignale kennt, dann kann man Antikörper entwickeln, die das Abschaltsignal blockieren. Das heißt, die Immunzelle bleibt ständig aktiviert. Dieses fundamentale Prinzip wird jetzt in der Krebstherapie angewandt, und zum Erstaunen von allen hat das völlig neue Welten in der Krebstherapie eröffnet. Also: Es funktioniert.
»Die neue Krebs- Immuntherapie ist höchst vielversprechend und eröffnet eine völlig neue Welt.»
Aber nur bei bestimmten Krebsarten?
Ja, etwa bei Darmkrebs nicht, bei Brustkrebs kaum, bei Lungenkrebs und Nierenkrebs schon, beim Melanom sehr gut. Das macht auch Sinn, weil die Brust immunologisch anders ist als etwa die Haut. Einer breiteren Öffentlichkeit sind Sie durch ihre Forschungen mit Mäusen und einem weiteren Balancesystem im Körper bekannt geworden, nämlich dem Knochen-Auf- und -Abbau und der
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH INTERVIEW
weltweit 1,6 Millionen Neuerkrankungen verzeichnet. In Österreich ist Krebs mit 25 Prozent Anteil zweithäufigste Todesursache.
Krebserkrankungen nehmen zu, weil wir alle älter werden. Im 20. Jahrhundert sind in den USA und in Europa durchschnittlich 35 Jahre an Lebenszeit hinzugekommen. Die wollen wir aber möglichst gesund verbringen. Daher sind die Lebenswissenschaften so wichtig, weil sie Lösungen liefern und herausfinden können, warum es zu chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Alzheimer kommt. Das IMBA wird staatlich gefördert. Kommt auch Geld von der Industrie ?
Steuerungsfunktion des Proteins RANKL. Da gibt es auch einen Zusammenhang zum Brustkrebs?
Ja, RANKL kontrolliert den Knochenschwund. Viele Frauen, die an Brustkrebs erkranken, leiden auch an Knochenmetastasen. Wenn man da RANKL abschaltet, verhindert das Schmerzen und bessert auch den Knochenschwund, den die Chemotherapie auslöst. Es gibt bereits einen Antikörper, der schon zur Therapie zugelassen ist. Tausende Frauen in Europa müssen jetzt weniger leiden. Oft geschieht es, dass der Krebs im Körper vermeintlich besiegt ist, nach Jahren aber wieder auftritt. Man weiß nicht, warum. Gibt es auf diesem Gebiet neue Erkenntnisse?
Das ist ein ganz wichtiges Thema, an dem intensiv geforscht wird. Sie gelten als leidenschaftlicher Forscher. Woran arbeiten Sie derzeit bevorzugt?
Wir machen viel Krebsforschung, insbesondere im immunologischen Bereich von Brustund Lungenkrebs. Wieso nimmt Krebs in der Gesellschaft fast epidemische Formen an? Jährlich werden
„Wir sind in Österreich ein LeuchtturmForschungsbeispiel und ein Beweis, dass man auch mit minimalen Rahmenbedingen zu den Weltplayern zählen kann. International erkennt man uns an.“
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Welche Prognose können Sie abgeben? Wann wird Krebs heilbar sein? In dreißig Jahren?
Vor drei Jahren hätte ich mich nicht getraut, eine Prognose abzugeben. Aber mit der Immuntherapie gibt es gute Aussichten. In dreißig Jahren sollten wir neue Werkzeuge haben, Krebs erfolgreich bekämpfen zu können. Was ich mir aber wünsche und woran wir derzeit auch arbeiten, ist, herauszufinden warum Krebs überhaupt ausbricht, wo die Auslöse-Signale sitzen. Weltweit fließen derzeit Milliardenbeträge in die Krebsforschung, da muss etwas dabei herauskommen.
FOTOS: EVA SCHIMMER, CORBIS (2)
Josef Penninger in seinem Büro am IMBA in Wien.
Geld spielt heute eine große Rolle. Wir brauchen sehr teure Geräte. Mikroskope, die etwa zwei Millionen Euro kosten. Die staatliche Förderung ist im Vergleich etwa zur Schweiz nicht ausreichend, um generell als Land wirklich kompetitiv zu sein. In der Schweiz wurde beispielsweise ein neues Stammzellzentrum gegründet, dotiert mit 500 Millionen Franken. Das Geld stammt aus der Schweizer Industrie. Leider gibt es diese großen Firmen in Österreich nicht, mit Ausnahme von Boehringer Ingelheim, die in Österreich tolle Grundlagenforschung fördern. Auch private Sponsoren fehlen in Österreich. Das ist ein Riesenproblem für uns. Wir müssen schauen, dass wir gute Leute bekommen und mehr Excellence-Zentren entstehen.
SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH KÜNSTLICHE GEFÄSSE
ADERN AUS ABBAUBAREM KUNSTSTOFF
NEUES MATERIAL. Verschlossene Blutgefäße können rasch gefährlich werden. Oft ist es notwendig, ein Blutgefäß zu ersetzen – entweder durch ein körpereigenes oder durch künstlich hergestellte Gefäßprothesen. VON CHRISTINA BADELT
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rteriosklerotische Gefäßerkrankungen gehören zu den häufigsten Todesursachen in Industrienationen. Eine Bypass-Operation ist oft die einzige Lösung. Normalerweise entnimmt man dafür Blutgefäße des Patienten von anderen Körperstellen und setzt sie statt des geschädigten Blutgefäßes ein. Dank eines gemeinsamen Projekts von TU Wien und Medizinischer Universität Wien in Zusammenarbeit mit Heinrich Schima sollen in Zukunft auch künstlich hergestellte Gefäße vermehrt zum Einsatz kommen. Helga Bergmeister von der MedUni Wien und Claudia Dworak, Forschungsgruppenleiterin „Definierte Polymerarchitekturen“ an der TU Wien, über die neuesten Erkenntnisse. TU Wien und MedUni Wien entwickelten künstliche Blutgefäße, die vom Körper abgebaut und mit eigenem Gewebe ersetzt werden: Wie kann man sich diese künstlichen Gefäße vorstellen??
Dworak: Künstliche Blutgefäße sind Implantate aus Kunststoffen, die ein erkranktes Gefäßsegment überbrücken sollen. Nach einer bestimmten Zeit verschwindet der Kunststoff durch körpereigene Abbauprozesse, das Implantat wird zeitgleich durch Zellen des Patienten besiedelt. Durch Stimulation körpereigener Regenerationsmechanismen wandelt sich das Ersatzgewebe in ein neues funktionales Blutgefäß um. Bergmeister: Die Wandarchitektur und die biomechanischen Eigenschaften des Ausgangsimplantates sind natürlichen Blutgefäßen weitestgehend angepasst, um eine optimale Funktionalität des Implantates zu erreichen. Zur Herstellung wurden neue Kunststoffe, sogenannte thermoplastische Elastomere, auf Basis von Polyurethanen verwendet. Was ist das Revolutionäre an dieser Entdeckung?
Dworak: Die herausragendste Errungenschaft dieses Forschungsprojekts war die Bioabbaubarkeit der neusynthetisierten Kunststoffe ohne Bildung toxischer Nebenprodukte und das geringe Entzündungspotenzial des Implantates. Weiters war erstaunlich, wie gut die Prothese von körpereigenen, gewebespezifischen Zellen besiedelt wurde und es zur gleichzeitigen Neubildung von TREND. Abbaubare künstliche Blutgefäße werden in Zukunft eine immer größere Rolle spielen.
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GEWEBEREKONSTRUKTION
»Langzeitstudien in Tiermodellen sind bereits sehr erfolgreich.«
wird nach einer bestimmten Zeit abgebaut und die Festigkeit laufend reduziert. Deshalb muss in dieser Zeit eine ausreichende Neusynthese von körpereigenem Gewebe erfolgen, das entsprechende biomechanische Eigenschaften hat. Ist dies nicht der Fall, drohen Rupturen und Blutungen. Derzeit werden abbaubare Materialien für den Blutgefäßersatz im klinischen Bereich noch nicht eingesetzt, außer in der Kinderchirurgie im Rahmen von klinischen Erstanwendungsstudien.
Helga Bergmeister MedUni Wien
»Methode speziell für Blutgefäße mit kleinem Durchmesser geeignet.«
Welche Erfolgschancen verspricht diese Entdeckung, wann kann diese bei Menschen angewendet werden?
Claudia Dworak TU Wien
körpereigenem Gewebe kam. Die Festigkeit der Prothese und auch des neugebildeten Gewebsersatzes war in der Langzeitanwendung sehr gut, es wurden keine Wandschwächen oder Rupturen festgestellt.
FOTOS: CORBIS (2), PHOTOSTUDIO BREJCHA IN 1230 WIEN, BEIGESTELLT (1)
Blutgefäße werden im Laufe der Zeit durch körpereigenes Material ersetzt, wie kann das organisch funktionieren?
Bergmeister: Durch den Elektrospinnprozess werden aus den Polymeren ganz feine Mikround Nanofasern erzeugt, aus denen eine vielschichtige Implantatwand generiert wird. Die Mikrostruktur des Implantates ist durch die zufällige Anordnung der Fasern der extrazellulären Matrix, einem Strukturbestandteil der Blutgefäßwand, sehr ähnlich. Diese Struktur fördert die Zelleinwanderung und Differenzierung der Zellen. Durch Erhöhung der Porosität der Implantatwand konnte die Zellmigration optimiert werden. Weiters kommt es nach Implantation zu einem kurzfristigen Einstrom von Blutzellen und Proteinen in die Prothesenwand. Dies verbessert die Akzeptanz der an sich fremden chemischen Umgebung und führt durch die Freisetzung von Wachstumsfaktoren zu einer Förderung des Zellwachstums. Sobald die Zellen die Prothese besiedelt haben, beginnen sie mit der Zellproliferation und dem Abbau des Polymers sowie dem Aufbau von körpereigenem Gewebe.
Bergmeister: Die ersten Langzeitstudien im Tiermodell waren sehr erfolgreich, alle Prothesen waren funktionstüchtig. Verglichen mit anderen abbaubaren Materialien weisen die neusynthetisierten Kunststoffe eine viel bessere Biokompatibilität auf. Für eine sichere Anwendung im Menschen ist es aber sehr wichtig, dass man den Abbau der Prothese und die Gewebeneubildung für das einzelne Individuum bestimmen kann. Derzeit arbeiten wir intensiv daran, die Abbaudauer des Materials durch Modifikation der Polyurethanbausteine zu varieren. So könnte man bei Patienten mit sehr guter Regeneration wie zum Beispiel Kindern schnell abbauende Implantate anwenden und damit ein mitwachsendes Blutgefäß induzieren. Bei alten Patienten würde man eher langsam abbaubare Materialien verwenden, da die Zellbesiedelung langsamer erfolgt. Weiters muss die Biokompatibilität der neuen Materialien noch qualitätsgesichert im Rahmen von sogenannten GLP-Prüfungen bestätigt werden, die nächstes Jahr erfolgen werden. Bis zu einer sicheren klinischen Anwendung müssen diese Fragestellungen noch im Detail geklärt werden, sodass wohl noch einige Zeit bis zur endgültigen Zulassung als Medizinprodukt vergehen wird.
Die Förderung des Projektes erfolgt durch das Austria Wirtschaftsservice (AWS) im Rahmen einer PRIZE Prototypenförderung und durch langjährige Unterstützung seitens der Ludwig Boltzmanngesellschaft.
Tissue Engineering INNOVATIV. Derzeit entsteht im KH Nord ein Zell- und Gewebelabor für eine Methode, die erstmals vor über zehn Jahren erfolgreich an der chirurgischen Abteilung im KH Hietzing angewandt wurde. Dr. Johann Meinhart: „Tissue Engineering zielt darauf ab, mittels biologischer, chemischer und technischer Methoden die Funktion und Struktur fehlender oder zerstörter Gewebe oder Organe zu ersetzen, ohne von vitalen Spenderorganen oder aufwendigen Maschinen abhängig zu sein. Unsere Arbeitsgruppe hat eine Methode zur lückenlosen Zellbeschichtung von Gefäßprothesen, der sogenannten In-vitro-Endothelialisierung, entwickelt.“ Dabei wird Patienten ambulant ein kurzes Segment einer oberflächlichen Armvene entnommen und die Endothelzellen im Labor enzymatisch isoliert. „Die Zellen werden kultiviert, bis eine genügend große Zellzahl zur Verfügung steht, die Innenfläche einer 70 cm langen Gefäßprothese lückenlos auszukleiden.“ Die Zellen verhindern, dass das Blut mit der Kunststoffoberfläche der Gefäßprothese in Berührung kommt und sich gefährliche Blutgerinsel bilden.
Welche Risken birgt diese Methode?
Dworak: Das Kunststoffgerüst der Implantate QUERSCHNITTT. Freie Gefäße (links) und die voranschreitende Verstopfung.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH BIONISCHE REKONSTRUKTION
EIN HAUCH VON CYBORG
Was bisher nur Stoff für Science-Fiction war, ist heute Wirklichkeit: Bionische Hände und Arme, die sich durch Gedanken steuern lassen, ersetzen verlorene Gliedmaßen.
Bionische Hand: Metall, Kunststoff, Elektromotoren und jede Menge Elektronik ersetzen die 27 Knochen, 39 Muskeln und 36 Gelenke einer menschlichen Hand.
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VON RAINER GRÜNWALD
PATRICK MAYRHOFER. Nach einem Unfall 2008 blieb die linke Hand funktionslos. Als erster Mensch der Welt tauschte Mayrhofer seine Hand gegen eine bionische Handprothese.
OTTO BOCK HEALTHCARE
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FOTOS: CORBIS, OTTOBOCK MXR PRODUCTIONS (3), CHRISTIAN HOUDEK
AISHA JOUALI. Durch die bionische Hand von Otto Bock kann die junge Frau heute wieder ein normales Leben führen.
er 9. Februar 2008 veränderte das Leben des jungen oberösterreichischen Elektrikers Patrick Mayrhofer für immer. Beim Verlegen von Starkstromleitungen in einem Zementwerk verwechselt ein Arbeitskollege eine Leitung, und 6.000 Volt jagen durch den Körper des jungen Mannes. Das Ergebnis: schwerste Verbrennungen an beiden Armen und Händen sowie am Oberschenkel. Während die rechte Hand nach zehn Operationen gerettet werden konnte, versagte die Kunst der Wiederherstellungschirurgie bei der linken. Nerven und Muskeln waren zerstört, die Hand funktionslos. Die letzte konventionelle Möglichkeit, eine Hand-Transplantation, schloss Mayrhofer für sich aus. Nachdem der Fall ein halbes Jahr die Ethikkomission beschäftigt hatte, versuchte der Chirurg Oskar Christian Aszmann und sein Team an der Universitätsklinik der Medizinischen Universität Wien etwas noch nie Dagewesenes: Am 21. Juli 2010 wurde Mayrhofers linke Hand amputiert und durch eine neuartige „bionische“ Prothese von Otto Bock Healthcare ersetzt. Seither ist Patrik Mayrhofer der erste Mensch der Welt, der seine beschädigte Hand gegen einen bionischen Ersatzteil ausgetauscht hat. Mayrhofer kann nun wieder Auto fahren, Bälle fangen, Gurken schneiden oder Schuhbänder zubinden. Bionik: Wenn das Gehirn die Prothese steuert
Der Unterschied zu konventionellen Prothesen: Die bionische Prothese lässt sich wie eine echte Hand durch das Gehirn steuern. Die Bionik (= Biologie + Technik) nimmt sich hier die
Natur zum Vorbild: Die elektrischen Impulse der Muskeln (Myoelektrik) werden über eine Elektrode am Armstumpf aufgenommen und an die Elektronik der bionischen Prothese (bei Otto Bock: „Michelangelo Hand“) weitergeleitet. Wie eine echte Hand erkennt die bionische Hand, welche Greifbewegung ausgeführt werden soll. Bionische Rekonstruktion
Die neue Methode der „Bionischen Rekonstruktion“ verschaffte Aszmann und seinem Team rasch Weltruhm. Die Möglichkeiten, fehlende oder defekte Gliedmaßen durch gehirngesteuerte bionische Prothesen zu ersetzen, beschränkte sich bald nicht mehr auf die Hand. Im Jänner 2012 schickte das britische Verteidigungsministerium einen im Afghanistan-Einsatz verwundeten Soldaten nach Wien. Corporal Andrew Garthwaite hatte seinen gesamten rechten Arm durch einen Raketenangriff der Taliban verloren. Garthwaite ist seitdem der erste Brite mit durch Gedankenkraft gesteuertem bionischem Arm. Lohn der medizinischen und technischen Pionierarbeit: 2015 wurden Aszmann und sein Team für die gemeinsam mit Technologiepartner Otto Bock Healthcare weiterentwickelte bionische Oberamprothese mit dem renommierten „Forschungs-Oscar“ Houskapreis ausgezeichnet. Aszmann: „Unsere Forschung verbindet biomedizinische Technik mit innovativer Chirurgie. So können Personen mit Amputationen oder angeborenen Fehlbildungen verlorengegangene Unabhängigkeit weitgehend wiedererlangen.“
Bionische Hand „Michelangelo“ Elektrische Impulse der Muskeln (Myoelektrik) werden über eine Elektrode am Armstumpf erfasst und dirigieren Otto Bocks „Michelangelo Hand“. Die Steuerung funktioniert dabei intuitiv wie bei einer echten Hand. Über angedockte Armteile kann heute ein ganzer Arm durch bionische Komponenten ersetzt werden. Sieben Griffe. Der separat bewegliche Daumen, der aktiv angetriebene Zeige- und Mittelfinger sowie ein flexibles Handgelenk erlauben sieben verschiedene Griffarten.
Univ.-Prof. O. C. Aszmann: Der bionische Arm brachte dem Aszmann-Team und Otto Bock den Houskapreis 2015.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH BESTE GESUNDHEIT
DER WEG ZU MEHR WOHLSEIN
BESTE GESUNDHEIT. Sieben führende niederösterreichische Gesundheitsbetriebe verbinden moderne Diagnostik, individuelle Therapie und medizinische Betreuung.
Bei Beste Gesundheit steht der Mensch im Mittelpunkt, weil Gesundheit das Wertvollste ist.
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VON CLAUDIA WEBER
IN KOOPERATION MIT
FOTOS: CORBIS, GESUNDHEITSRESORT KÖNIGSBERG BAD SCHÖNAU, XUNDHEITSWELT (3), HERZ-KREISLAUF-ZENTRUM GROSS GERUNGS
U
nter kompetenter medizinischer Betreuung gesund werden und sich dabei rundum wohlfühlen: Genau das bietet Beste Gesundheit, die Partnerschaft führender niederösterreichischer Gesundheitsbetriebe. Oberste Priorität aller sieben Partnerbetriebe ist die bestmögliche Betreuung der Gäste. Geboten werden moderne Diagnostik, individuelle Therapie und kompetente medizinische Betreuung. Zudem liegt der Schwerpunkt auf einer angenehmen Hotelatmosphäre und gesunder Ernährung mit Produkten aus der Region. Im Mittelpunkt der Behandlung steht der Mensch mit seinen individuellen Zielen und Bedürfnissen, da Gesundheit das Wertvollste ist. Die Gäste und Patienten werden von hoch qualifizierten Teams aus unterschiedlichen Fachbereichen behandelt. „Die Verbindung von der heilkräftigen Wirkung natürlicher Vorkommen und modernen, maßgeschneiderten Behandlungsmethoden bietet perfekte Voraussetzungen für die Linderung von Beschwerden“, weiß Karin Weißenböck, die Geschäftsführerin von vier Beste-Gesundheit-Partnerbetrieben. „Bei uns steht jeder Mensch im Mittelpunkt.“
Sieben Partner für die Gesundheit.
Jeder der Beste-Gesundheit-Partnerbetriebe hat sich auf einen Schwerpunkt spezialisiert. Im Folgenden werden alle sieben vorgestellt: Das Moorheilbad Harbach ist Vorreiter in den Bereichen Kur, Rehabilitation und Lebensstil-Verbesserung. Seit 1980 helfen die Heilkräfte des Harbacher Hochmoors Menschen dabei, gesund zu werden – vor allem bei Rücken- und Gelenksschmerzen, Problemen mit der Wirbelsäule, Sportverletzungen und Verletzungsfolgen. Moorbäder, Massagetherapien, Lymphdrainagen, elektrophysikalische Anwendungen sowie Bewegungstherapien schaffen hier Abhilfe. Und auch das neue Kurheilverfahren „Gesundheitsvorsorge Aktiv“ wird angeboten. Das Herz-Kreislauf-Zentrum Groß Gerungs ist auf die Prävention und Rehabilitation von Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen spezialisiert. Zur Rehabilitation kommen zum Beispiel Menschen nach einem Herzinfarkt. Im Rahmen der Prävention werden Patienten mit Grunderkrankungen oder länger zurückliegenden Akutereignissen behandelt.
Im Gesundheitsresort Königsberg Bad Schönau wird man mit der Kraft der Kohlensäure gesund. Natürliches Kohlensäure-Heilwasser bewirkt eine bessere Durchblutung und Sauerstoffzufuhr und wird bei Gefäßleiden sowie bei Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates angewandt. Weiters ist das Resort auf Psychosoziale Gesundheit spezialisiert. Das Badener Kur-Trio mit Badener Hof – Römertherme – Badener Kurzentrum vereint Erholung, Medizin und Wohlfühl-Ambiente unter einem Dach. Das Badener Schwefelheilwasser aus rund 1.000 Metern Tiefe ist reich an Mineralstoffen und bewirkt bei rheumatischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates nahezu Wunder. Im Lebens.Resort Ottenschlag werden Menschen mit psychischen Störungen wie Burnout, Depression oder Angststörungen unterstützt, ihre Lebensfreude wiederzufinden. Ergänzend dazu werden auch Behandlungen von Stoffwechselerkrankungen angeboten. Und auch für eine Kur, besonders bei Beschwerden im Stütz- und Bewegungsapparat, ist das Zentrum der richtige Ort. Das Lebens.Med Zentrum Bad Erlach ist das erste onkologische Rehabilitationszentrum in Niederösterreich für Patienten, die ihre primäre Krebsbehandlung abgeschlossen haben. Ziel des Aufenthalts ist, die Folgen und Symptome, die durch die Tumorerkrankung entstanden sind, zu reduzieren und den Patienten dabei zu helfen, wieder ein aktives Leben zu führen. Das Lebens.Med Zentrum in St. Pölten eröffnet bald und ist auf ambulante Rehabilitationen spezialisiert. Alle sieben Beste Gesundheitsbetriebe gehen individuell auf die Bedürfnisse jedes Patienten ein.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH HÖRIMPLANTATE
TAUBE KÖNNEN WIEDER HÖREN
Jeder Fünfte hat Hörprobleme, zehn Prozent leiden unter Hörverlust. Österreichische Wissenschaftler können heute selbst Taube wieder hörend machen.
MED-EL SYNCHRONY. Das Cochlea-Implantsystem besteht aus zwei Teilen: dem Audioprozessor, der hinter dem Ohr getragen wird, und dem Implantat (Hand).
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VON RAINER GRÜNWALD
MED-EL-GRÜNDER. Das Forscher-Ehepaar DI Dr. Ingeborg und Prof. Dr. Erwin Hochmair arbeitet seit 1975 an Hörimplantaten, die Schwerhörigen und Tauben das Gehör zurückgeben.
MED-EL
gründete Medizintechnik-Firma MED-EL Medical Electronics ihren ersten Mitarbeiter ein. Heute beschäftigt das in Innsbruck ansässige Unternehmen 1.500 Angestellte in weltweit 29 Niederlassungen. Menschen in über 100 Ländern rund um den Globus können dank MED-EL wieder hören. Die von MED-EL entwickelten Hörimplantate gehen inzwischen weit über das klassische Cochlea-Implantat hinaus. Auch Defekte im Mittelohr oder bei der Schalleitung können heute mit MED-EL-Implantaten behoben oder zumindest gelindert werden (siehe rechts). Elektrische „Ersatzleitung“ zum Hörnerv.
FOTOS: MED EL (6), HEINZ TROLL, BEIGESTELLT
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enn die Haare am Kopf schütter werden oder gänzlich ausfallen, ist das schlimmstenfalls ein Fall für den Beauty-Doc. Ganz andere Auswirkungen hat es, wenn die winzigen Haarzellen in der Hörschnecke des Innenohrs (lateinisch: Cochlea) von „Haarausfall“ betroffen sind. Dann lautet das Schicksal schlimmstenfalls Taubheit. Unabwendbar ist dieses Schicksal dank zweier österreichischer Forscher inzwischen nicht mehr. Schon 1975 arbeitet das Ehepaar Ingeborg und Erwin Hochmair an der Technischen Universität in Wien an Hörimplantaten, die defekte Teile des Ohrs „überbrücken“ und damit Schwerhörigen und Tauben ihren Hörsinn zurückgeben können. Das von den beiden promovierten Elektroingenieuren entwickelte, weltweit erste Multikanal-Cochlea-Implantat war ein Meilenstein im Kampf gegen den Hörverlust. Am 16. Dezember 1977 verpflanzte der Chirurg Kurt Burian das neue Implantat erstmals einem Patienten. Um ihrem Implantat-System zum Durchbruch zu verhelfen, wagten die beiden Forscher sogar den Sprung aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft. Im März 1990 stellte die von ihnen geCOCHLEA-IMPLANTAT. Über den Audioprozessor werden Schallinformationen digitalisiert und via Spule zum Implantat geschickt. Das Implantat sendet die elektrischen Impulse an Elektroden in der Cochlea. Der Hörnerv leitet die Signale dann an das Gehirn weiter.
Wie die ständig weiterentwickelte Implantations-Technologie funktioniert, veranschaulicht am Besten das Beispiel Cochlea: Schallwellen versetzen unser Trommelfell in Schwingung. Diese Vibrationen werden auf feine Gehörknöchelchen übertragen, die die Flüssigkeit in einem Hohlraum der schneckenförmigen Cochlea in Bewegung bringt. Hier befinden sich auch die eingangs erwähnten winzigen Härchen, die wie Seegras der Bewegung in der Innenohrflüssigkeit folgen. Über eine Leitung zum Hörnerv melden die Haarzellen alle Schwingungen in der Flüssigkeit ans Gehirn, das das Ganze als Geräusche, Stimmen oder Töne interpretiert. Sind die Haarzellen geschädigt oder die Schallleitung am Weg dorthin unterbrochen, hört man nichts mehr, und die Welt wird stumm. Wie andere Implantatsysteme von MED-EL versucht auch das Cochlea-Implantat, die defekte Stelle zu umgehen beziehungsweise zu überbrücken. Dazu sind mehrere Komponenten nötig. Ein Audioprozessor, der wie ein Hörgerät hinter dem Ohr getragen wird, verwandelt die Schallwellen in digitale Signale, die an eine Induktionsspule über dem Implantat weitergeleitet werden. Das unter der Haut platzierte Implantat leitet die empfangenen elektromagnetischen Impulse schließlich an eingepflanzte Elektroden weiter, die wiederum den Hörnerv elektrisch stimulieren. MED-EL und seine Gründer sammeln heute Auszeichnungen: Auf den internationalen Lasker-Preis für klinische medizinische Forschung 2013 folgte 2014 der Ludwig-Wittgenstein-Preis für Ingeborg Hochmair. 2015 konnten sich das Ehepaar Hochmair jetzt über den Russ-Preis der amerikanischen Ingenieur-Akademie freuen.
Wenn das beste Hörgerät nicht mehr helfen kann … Der Innsbrucker Implantat-Spezialist MED-EL Medical Electronics hilft dort, wo konventionelle Hörgeräte versagen. Implantate überbrücken geschädigte oder zerstörte Regionen des Ohres. Die MED-EL-Implantate: SYNCHRONY. Die neueste Generation des MED-EL-Cochlea-Implantatsystems. SYNCHRONY EAS. Kombiniert bei partiellem Hörverlust die Technologie von Chochlea-Implantat und Hörgerät. VIBRANT SOUNDBRIDGE. Mittelohr-Implantat für Personen mit leichtem bis schwerem Innenohr-Hörverlust oder Schallleitungsproblemen. Das Implantat stimuliert das Mittelohr durch Schwingungen. BONEBRIDGE. Wenn die Schallleitung im Ohr gänzlich unterbrochen ist, hilft nur noch Körperschall. Das Implantat wandelt die vom Audioprozessor empfangenen Signale in Schwingungen um, die über den Schädelknochen schließlich das Innenohr erreichen.
MED-EL SOUNDBRIDGE. Das Mittelohr-Implantat wandelt Schall in mechanische Schwingungen um, die das Mittelohr direkt stimulieren.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH MEDIZINERAUSBILDUNG
Während die theoretische Medizinlehre bereits reformiert wurde, spießt es sich bei der klinischen Ausbildung im Spital – mit ein Grund für die Ärzteflucht ins Ausland.
VON DORIS GERSTMEYER
FOTOS: WWW.PICTUREDESK.COM/VARIO IMAGES/BERNHARD CLASSEN
DIE MEDIZINER VON MORGEN & IHRE SORGEN
Die Medizinstudienordnung wurde reformiert und die Studieninhalte an europäisches Niveau angepasst.
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ie Lage ist dramatisch. In einer jüngst durchgeführten Umfrage der Österreichischen Hochschülerschaft geben mehr als 50 Prozent der Medizinstudenten an, nach Studienabschluss ins Ausland gehen zu wollen. Als Gründe werden vor allem die unzureichende praktische Ausbildung an den Spitälern und die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Arbeitszeit im Arztberuf genannt. Geringe Entlohnung steht seit der jüngsten Angleichung der Ärztegehälter an europäisches Niveau nicht mehr ausschließlich im Mittelpunkt. Die Flucht des Nachwuchses hat zunächst Auswirkungen auf die Spitäler. Existierten vor zwanzig Jahren noch lange Wartelisten für Turnusärzte, also Mediziner, die nach dem theoretischen Abschluss eine praktische Ausbildung im Spital absolvieren, so wird heute händeringend nach Newcomern gerufen. In ländlichen Gemeinden ist die Lage nicht anders. Dort gehen immer mehr Allgemeinmediziner in Pension, und Nachfolger, die in die verwaisten Praxen einziehen könnten, sind nicht in Sicht, obwohl Bürgermeister mit freien Quartieren in schönster Umgebung und anderen Annehmlichkeiten werben. Wurde früher vor einer „Ärzteschwemme“ gewarnt, so klagt man heute über akuten „Ärztemangel“. „Was wir derzeit sehen, ist ein Endzustand eines über Jahrzehnte entstandenen Systems, das nicht mehr zeitgemäß ist“, befindet etwa Markus Müller, der seit Oktober Österreichs größte Medizinausbildungsstätte, die MedUni Wien, als Rektor leitet (siehe Interview Seite 44). Der Wille zu einer substanziellen Verbesserung ist bei allen beteiligten Akteuren, dem Wissenschaftsministerium, Spitalsträgern, Ärztekammern und Universitäten, vorhanden, die Umsetzung wird in manchen Bereichen aber wohl Jahre dauern.
13.000 Medizinstudenten gab es 2014/15 an Österreichs vier Medizin-Unis.
93
Prozent der Studenten, die einen Studienplatz erhalten, schließen das Studium ab.
Maßnahmen.
Als wichtigste Maßnahme gilt unter den Beteiligten die Verbesserung der Ausbildungsqualität, zuerst im Studium, danach in der klinischen Lehre. Dazu gibt es schon erste Ansätze. Nach dem theoretischen Teil der Medizinausbildung wurde dem Praxisteil mehr Gewicht beigelegt. Heute ist etwa eine zehn- bis zwölfmonatige Ausbildung in Innerer Medizin und Chirurgie für den letzten Studienabschnitt zwingend vorgese-
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH MEDIZINERAUSBILDUNG
ÄRZTEDICHTE
Österreichs Ärzteschwemme und Ärztemangel
hen. Dieses medizinisch-praktische Jahr bezahlen sogar immer mehr Spitalsträger, weil der Wettbewerb um den Medizinernachwuchs enorm zunahm. Auch die Turnusausbildungszeit von früher drei Jahren wurde auf fünf Jahre erweitert, was in vielen EU-Ländern bereits State of the Art ist. Um über weitere Verbesserungsmöglichkeiten, dann bei der Facharztausbildung, mehr Übersicht zu gewinnen und Wünsche der Kommilitonen eruieren zu können, startete die Österreichische Ärztekammer jüngst eine Umfrage. „Unser Ziel ist es, mit dieser Facharzt-Ausbildungsevaluierung österreichweit ein genaues Bild über die Ausbildungssituation zu erhalten“, sagt Harald Mayer, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer – „nur so wissen wir, wo die Hebel angesetzt werden müssen.“ Die vom Ärztlichen Qualitätszentrum durchgeführte Erhebung umfasst unter anderen Fragen zu Rahmenbedingungen, Zufriedenheit mit der Qualität der Ausbildung, Einschätzung der Ärzte über die Organisation ihrer Abteilung und über Arbeitszeitbestimmung. Wie nötig Änderungen sind, bekräftigt auch der Wiener Ärztekammerchef Thomas Szekeres, „denn Turnusärzte wurden bisher für Tätigkeiten eingesetzt, die Hilfskräfte erledigen können, etwa Dokumentation oder Blutabnehmen, da kann man keine Qualitätsausbildung erwarten“, sagt Szekeres (siehe Interview Seite 43). Allein im Operationssaal.
Die Mehrzahl der Ärzteflüchtlinge verlässt
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Verantwortung: keine klare Definition, wer die Neulinge im Operationssaal konkret unterweisen soll.
gleich nach dem Abschluss des Studiums das Land und nimmt eine Tätigkeit als Turnusarzt erst gar nicht mehr auf. Der Grund: Die Mediziner erhoffen sich eine bessere Lehre an ausländischen Spitälern. „Bei uns wird die Lehre als Belastung und nicht als Ehre gesehen“, formuliert das einer der Doktoren, der sich gerade nach Finnland aufmacht. „Es gibt bei uns zwar eine formale Auflistung, was ein Turnusarzt operieren muss, um Facharzt für Chirurgie zu werden, aber klar definiert ist nicht, wer ihn konkret unterweisen soll und wer die Verantwortung trägt.“ So komme es schon mal vor, dass ein Neuling allein einen Blinddarm operieren muss, ohne dass ihm ein Ober- oder Chefarzt über die Schulter schaut. Die Lehrenden seien überlastet, hätten weder Zeit noch Energie und oft kein Interesse, sich um die Nachwuchsbetreuung zu kümmern. Qualitätsfaktor Betreuung.
Für Rektor Müller liegen die Probleme im Spitalsbereich auch am Größenverhältnis Lehrer zu Lernenden. Betreuung von Studierenden ist ein Qualitätsfaktor. An der MedUni Wien kümmern sich rund 100 Professoren um etwa 7.000 Studenten. An der Harvard Medical School, für Müller die beste Medizin-Universität der Welt, sei das Verhältnis 100 Lehrer zu 500 Studenten. „Bei einer solchen Betreungsqualität kommen wir nicht mit.“ Auf fast gleicher Ebene liege Wien mit Harvard aber bei der theoretischen Lehre. Harvard habe jetzt ein System eingeführt, „mit genau den Elementen, die wir auch haben.“
FOTOS: CORBIS (2)
Mehr als 50 Prozent der promovierten Mediziner verlassen die Universität in Richtung Auslandsspitäler.
Laut einer aktuellen OECD Statistik kommen hierzulande 4,9 Ärzte auf 1.000 Einwohner. Mit diesem Wert ist Österreich das Land mit der zweithöchsten Ärztedichte unter 34 Staaten. Nur Griechenland liegt darüber. Seit 1990 steigen die Ärztezahlen stetig. 2009 kamen auf 100.000 Einwohner 468 Ärzte, 2010 waren es 477. Zum Vergleich: Im EU-Schnitt kommen auf 100.000 Bewohner 330 Ärzte. Dennoch wird von einem drohenden Ärztemangel gesprochen. Das bezieht sich allerdings nur auf das öffentliche Versorgungsnetz, das für viele Ärzte so unattraktiv wurde, dass sie nicht mehr einsteigen wollen und sich lieber als Wahlärzte niederlassen.
SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH INTERVIEW
„Es geht um die Wertschätzung für die Kollegen“
Thomas Szekeres, Wiener Ärztekammerpräsident, über die Gründe der Ärzteabwanderung ins Ausland und die Probleme in der Ausbildung und der Inhalte.
Thomas Szekeres Ärztekammerpräsident
Viele Jungärzte wandern ins Ausland ab. Zuletzt kündigten in einem Kärntner Spital alle Turnusärzte. Was läuft schief in der Medizinerausbildung?
Die Attraktivität der heimischen Spitäler ist im Vergleich zu Deutschland oder der Schweiz enden wollend. Das heißt, vier von zehn Absolventen gehen gleich ins Ausland. Nach einer Umfrage der Hochschülerschaft wollen sechs von zehn Medizinstudenten in Österreich nicht arbeiten. Und warum?
Ausbildung und Inhalte sind bei uns immer noch beschränkt, man kann sich die Fachrichtung nicht aussuchen.
FOTOS: FORMAT/LUKAS ILGNER
Inwiefern?
Ich brauche eine Ausbildungsstelle für das Fach, das ich machen möchte. Wenn das nicht frei ist, dann geht das nicht. Vor allem in Ostdeutschland ist beispielsweise ein derartiger Ärztemangel, dass man sich dort das Fach jederzeit gleich aussuchen kann. Wie könnte man da gegensteuern?
Man könnte versuchen, Ausbildungsstellen zu vermehren, wenn es geht. Außerdem
VON DORIS GERSTMEYER
brauchte man verbesserte Inhalte. An diesen wird zur Zeit gerade gearbeitet, und man ist dabei, es umzusetzen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Wertschätzung. Man muss sich fragen: Brauchen wir die Jungärzte, schätzt man sie? Sind sie wichtig für das System Krankenhaus? Wenn man glaubt, es sind genug Ärzte vorhanden und man kann sie für Tätigkeiten einsetzen, die Pflegekräfte erledigen können, etwa Dokumentation oder Blutabnahme, kann man keine Qualitätsausbildung erwarten. Wenn Krankenhäuser nicht mehr in der Lage sind, attraktive Arbeitsbedingungen zu bieten, dann wird die Ärzteabwanderung nicht aufhören. Wir haben zwar jetzt massive Gehaltsverbesserungen erreicht und damit auch das deutsche Niveau eingeholt. Schon aus dem Grund, weil der Abgang sonst noch größer gewesen wäre. Geld ist also nicht ausschlaggebend für den Abgang?
Nein, es geht um die Ausbildung, um den Umgang mit den Kollegen und die Wertschätzung. Früher gab es auch Auslandsangebote für Ärzte, aber man wollte nicht weg. Das hat sich geändert. Jetzt gehört eine Auslandsausbildung dazu. Man ist flexibler geworden, was auch gut ist. Aber danach sollten die Ärzte wieder zurückkommen?
Ja, wenn das Umfeld stimmt.
Geklagt wird vor allem über den Mangel an Hausärzten am Land. Viele Praktiker würden gerne junge Kollegen anstellen und sich so ihre Nachfolger heranziehen. Aber Ärzte dürfen keine Ärzte anstellen …
Nein, es sprechen rechtliche Gründe dagegen, heißt es. Wir fordern das. Es wäre eine gute Lösung, etwa auch für Ärztinnen, die Kinder betreuen und halbtags arbeiten wollen. Aber als größtes Handicap sehe ich es, dass während der Ausbildung im Spital nicht alles vermittelt wird, was man später in der niedergelassenen Hausarztpraxis braucht.
ZUR PERSON THOMAS SZEKERES, 53, ist Humangenetiker und Facharzt für klinische Chemie und Labordiagnostik. Seit 2012 ist Szekeres Präsident der Wiener Ärztekammer.
EXTRA 2015 43
SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH MEDUNI WIEN
»Das Studium ist viel besser als früher«
Markus Müller Rektor der MedUni Wien
Markus Müller, Rektor der Medizinischen Universität Wien, über Änderungen der Studienbedingungen, Studieninhalte und die Möglichkeiten der klinischen Forschung für den Standort Österreich.
Es werden dringend Turnus- und Spitalsärzte gesucht, und dennoch gibt es eine große Ärzteabwanderung ins Ausland. Woran krankt es?
Das ist ein hausgemachtes Problem. Wir haben nicht zu wenig Ärzte, absolut gesehen, sondern wir haben ein völlig schiefes System im Gesundheitswesen. Österreich hat beispielsweise eine doppelt oder dreifach so hohe Spitalsbettendichte wie Schweden. Wir leisten uns eine Spitalsinfrastruktur, die sehr personalintensiv ist. Zeichnen sich Änderungen ab?
Es gab bisher zwei Konstante im System: Die Länder durften Spitäler bauen, so viel sie wollten, und die Ärzte waren kein großer Kostenfaktor. Ärzte waren billig, weil es einen freien Zugang zum Studium gab. Was wir derzeit sehen, ist ein Endzustand eines über Jahrzehnte entstandenen Systems, das nicht mehr zeitgemäß ist. Wie könnte eine Trendumkehr aussehen?
Man sollte versuchen, an zwei Hebeln anzusetzen: Das eine ist, die ambulante Versorgung im niedergelassenen Bereich auszubauen, wo es auch erweiterte Öffnungszeiten geben sollte. Im Spital muss die Qualität der Ausbildung verbessert werden. Die bisherige Situation hat dazu geführt, dass es eine Qualifikation nach unten gegeben hat. Das heißt, Ärzte haben Schwesterntätigkeiten übernommen und sind nicht entsprechend ihrer Qualifikation eingesetzt worden. Immer wieder werden auch die Studieninhalte bekrittelt. Wie steht es damit?
Das Studium ist viel besser als früher. Die Universitäten haben bis zu einem gewissen Grad ihre Hausaufgaben gemacht. Wir zahlen unseren Ärzten bald um 30 Prozent mehr Gehalt als
ZUR PERSON MARKUS MÜLLER, 48, ist Univ.-Prof., Facharzt für Innere Medizin und Klinische Pharmakologie und am 1. Oktober 2015 zum Rektor der Medizinischen Universität Wien (MedUni Wien) gewählt worden.
44 EXTRA 2015
VON DORIS GERSTMEYER
vorher, und wir haben die Studienplätze reduziert, weil wir sagen, Österreich hat nicht zu wenig, sondern zu viele Ärzte. Wir müssen weniger ausbilden, aber qualitativ besser. Vor 20 Jahren gab es in Wien 16.000 Studenten. Davon hat nur die Hälfte ihr Studium abgeschlossen. Jetzt schließen 93 Prozent unserer Studenten, die den Aufnahmetest bestanden haben, ihr Studium ab. Dazu haben sie heute auch eine Jobgarantie. Das war früher nicht der Fall. Man warnte vor dem Medizinstudium und einer Ärzteschwemme und stellte den Absolventen Joblosigkeit in Aussicht. Das heißt, die Situation hat sich entscheidend verbessert?
Ja, das heißt, das Medizinstudium ist so gut, so gut es sein kann. Die Studienqualität wird unter anderem auch an der Betreuungsrelation bemessen. Wir haben hier an der Universität etwa hundert Professoren, die über 7.000 Studenten betreuen. In Harvard zum Beispiel, der besten Medizinuniversität der Welt, gibt es auch rund hundert Professoren, aber die betreuen nur 500 Studenten. Das heißt, wir können nicht mithalten bei der Betreuungssituation. Darunter leidet natürlich auch das Studium. Dabei wird von verschiedenen Seiten sogar nach noch mehr Studienplätzen verlangt, weil wir so wenig Ärzte haben. Wer verlangt das?
Das war zum Beispiel der Grund warum auch in Linz eine Medizinuniversität entsteht und dazu noch eine Reihe von Privatuniversitäten.
FOTOS: EVA SCHIMMER
Wie steht es um die Studieninhalte an der MedUni Wien. Ist man hier zeitgemäß oder ist die Situation ähnlich der Betreuung?
Sie ist sehr gut. Bis 2002 galt das alte Studium mit dem Fächerkanon. Das wurde in hundert Jahren nie reformiert. Jetzt wurde komplett umgebaut. Harvard hat auch gerade ein System eingeführt, mit genau den Elementen, die wir auch haben. Es gibt keinen Fächerkanon mehr wie früher, sondern ein verzahntes, quervernetztes System, basierend auf Kleingruppen. Inhaltlich sind wir gut. Probleme gibt es bei der Betreuungssituation.
Wie steht es um die klinische Forschung? Sie waren lange Jahre Leiter der Klinischen Pharmakologie an der MedUni Wien.
Wir leben von der klinischen Forschung. Das ist eigentlich eine Erfolgsgeschichte. In Österreich war die klinische Forschung von 1990 bis 2008 die schnellstwachsende Wissenschaftsdisziplin auf der Welt, das muss man sich vorstellen. Vorher gab es hier de facto fast keine relevante internationale Forschungsaktivität. Erst eine neue EU-Direktive zur klinischen Forschung hat mit alten bürokratischen Hürden Schluss gemacht und uns dadurch zu mehr Aktivität verholfen. Das hat sich ausgewirkt. Wir haben Zugang zu neuen innovativen Medikamenten von der Pharmaindustrie bekommen und waren zum Teil die Ersten, die das am Menschen anwenden konnten. Das heißt, es fließt genügend Geld?
Nein. Ich habe mich immer bemüht, die entsprechenden Minister zu überzeugen, für klinische Forschung etwas zu tun, weil das eine Stärkung für den Standort wäre. Aber wir haben uns daran gewöhnt, dass der Staat offenbar dazu nicht in der Lage ist. Wir können mit Standorten wie Singapur, Peking, Harvard im Bereich Grundlagenforschung auf Augenhöhe nicht mithalten, das hängt mit der Infrastruktur zusammen und natürlich mit Geld. Daher konzentrieren wir uns jetzt auf unsere Stärken, die es gibt. Dazu gehört sicherlich das AKH mit seinen 1,2 Millionen Patientenkontakten pro Jahr. Wir wollen daher klinische Studien im Auftrag der Pharmaindustrie intensivieren. Derzeit laufen rund 400 klinische Studien pro Jahr. Klinische Forschung insgesamt bringt uns rund 40 Millionen Euro Drittmittel jährlich für unser Budget.
»Inhaltlich sind wir gut. Das große Problem ist die Betreuungssituation für die Studenten.«
Was würden Sie sich für die klinische Forschung in Österreich wünschen?
Mehr Wertschätzung vom Staat und mehr Bewusstmachung bei der Bevölkerung über die Bedeutung der klinischen Forschung für die Wirtschaft. Die ganze Welt investiert derzeit Milliarden in die Life-Science-Forschung.
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH WIRTSCHAFTSFAKTOR MEDIZIN
DAS GESCHÄFT MIT PILLEN
Die Pharmabranche gehört zu den aktivsten Wirtschaftsbereichen im Land und sorgt für Wachstum. Zukunftshoffnung geben vor allem Biotechnologie und Life Science.
VON DORIS GERSTMEYER
Ö
sterreichs Phamabranche ist überschaubar und spielt dennoch eine gewichtige Rolle im heimischen Wirtschaftsgeschehen. Die Szene ist geprägt von großen internationalen Pharmakonzernen, die im Land Vertriebsniederlassungen unterhalten oder, wie Sandoz, Boehringer Ingelheim, Pfizer und Baxter, auch Produktion und Entwicklung betreiben. Ende letzten Jahres erweiterte auch Pfizer seinen Vertriebsstandort mit einer Produktion durch die Übernahme der Baxter Impfsparte in Orth an der Donau in NÖ. Dort werden Impfstoffe gegen FSME (Zecken) und Meningokokken C hergestellt. Der Deal kostete Pfizer 473 Millionen Euro. „Aber von hier aus wird die ganze Welt mit den beiden Impfstoffen beliefert“, macht Pfizer-Österreich-Chef Robin Rumler die Bedeutung klar. Neben den Big Playern gibt es noch eine größere Anzahl von kleineren Unternehmen, die über Jahresumsätze von unter zehn Millionen Euro nicht hinauskommen. Das Geschäft läuft für alle gut, weil die Ausgaben für die Gesundheit steigen, vor allem auch im heimischen Gesundheitssystem. Österreich liegt mit jährlichen Ausgaben von rund 35 Milliarden Euro im Spitzenfeld der EU-Länder. Arzneimittel haben an diesen Ausgaben einen Anteil von 12,2 Prozent. Life-Science-Bereich wächst.
Abseits des Geschäfts mit Pillen und Arzneien für Spitäler und Apotheken, wächst in den letzten Jahren der Anteil der Firmen, die sich der Life-Science-Sparte, den Lebens- bzw. Biowissenschaften, widmen. „Während wir in anderen Bereichen kaum zulegen, verzeichnen Biotechnologie-, Pharma- und Medizintechnologieunternehmen ein deutliches Umsatz- und Beschäftigungswachstum“, lobt etwa Staatssekretär Harald Mahrer die Aktivitäten. Laut dem neuen „Life Science Report Austria“ erzielten 823 Unternehmen in der Life-Science-Branche mit rund 51.000 Beschäftigten 2014 einen Umsatz von über 19 Milliarden Euro. In Wien-Meidling gab es jüngst festliche Stimmung bei einer Eröffnungsfeier. Boehringer Ingelheim stellte sein neues Forschungsgebäude vor. In den technisch modernst ausgestatteten Räumen wird die Arbeit an neuen ImmuntheraQuelle: Statistik Austria, 2013
23,8 % Sonstiges
12,2 % Arzneimittel
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25,2 % Ambulanter Bereich
38,8 % Stationärer Bereich
Gesundheitsausgaben in Österreich
FOTOS: XYXYXYXYXY
Die Big Player.
Arzneimittel haben an den Gesundheitsausgaben einen Anteil von 12,2 Prozent.
Gesundheitsausgaben - Ländervergleich in Prozent des BIP 1995
2012
2013
Quelle: Statistik Austria, OECD
9,6
Österreich
11,1 10,8 10,1 11,3
Deutschland Großbritannien Belgien Dänemark Finnland
6,7
9,3 7,6
10,9
8,1 7,8
11 9,1
pien gegen verschiedene Krebsarten aufgenommen. Die Onkologie ist eines der wichtigsten Therapiegebiete des Konzerns. „Wir investieren pro Jahr in Österreich rund 200 Millionen Euro in die nichtklinische und klinische Forschung“, sagt Philipp von Lattorff, Chef der österreichischen Boehringer-Niederlassung. In Westösterreich, im Tiroler Kundl, sorgt ein weiterer Big Player für die Gesunderhaltung der Bevölkerung. Sandoz, eine Tochter von Novartis, hat in Kundl seine Antibiotika-Produktion konzentriert und ist damit der größte Hersteller der Welt. 190 Millionen Arzneimittelpackungen verlassen pro Jahr das Werk. Ein neues Geschäftsfeld hat Sandoz mit Biosimilars eröffnet, Nachahmeprodukten von Biopharmazeutika. Insgesamt ist die Innovationsaktivität der pharmazeutischen Unternehmen im Land laut Statistik Austria mit 93 Prozent deutlich höher als im Vergleich zu allen anderen Wirtschaftszweigen mit 56,5 Prozent.
FOTOS: CORBIS, CLAUDIA BOKMEIER
Start-ups für die Zukunft.
Start-ups werden für Life Science und Lebenswissenschaften immer wichtiger. Das sind kleine Biotech-Forschungsbetriebe, die mit innovativen Ergebnissen zunehmend das Interesse der großen Pharmakonzerne wecken. Die Big Player suchen die Zusammenarbeit mit Start-ups, nicht nur als Ideenlieferanten für neue Produkte, sondern auch, um eigene Forschungsaufwendungen einzusparen. Ein Beispiel geben Walter Schmidt und Frank Mattner, Gründer von Affiris. Die Wiener Firma arbeitet und forscht an Impfungen gegen Alzheimer und erhält von GlaxoSmithKline (GSK) bis zu 430 Millionen Euro Forschungsmittel. GSK sichert sich damit einen Anteil, wenn das Produkt marktreif ist. Auch Österreichs Star-Forscher Josef Penninger gründete seine eigene Firma Apeiron und gab vor zwei Jahren den Abschluss eines Lizenzabkommens mit der kanadischen Paladin Labs Inc. bekannt. Dabei geht es um Forschungsarbeit für eine Immuntherapie gegen Neuroblastome, Gehirntumore, die oft bei Kindern auftreten. Auch Apeiron arbeitet mit GSK und schloss ein Kooperationsabkommen über 236 Millionen Euro für ein Medikament gegen akutes Lungenversagen ab.
Interview
Robin Rumler Präsident der Pharmig
»Pharmaindustrie erwirtschaftet ein Plus von 2,5 Mrd. Euro« Gutes Geschäft. Österreichs Pharmaindustrie ist ein wichtiger Faktor im Export und bei der Beschäftigung. Österreich liegt in Sachen Gesundheitskompetenz der Bevölkerung weit hinter anderen EU-Ländern zurück. Gleichzeitig ist die Pharmaindustrie ein wichtiger Faktor in der Wirtschaft. Ist das nicht ein Widerspruch?
Die schlechte Gesundheitskompetenz ist eine Einstellungsfrage, die entsteht, weil Politiker und die Gesellschaft Gesundheit nicht vorleben. Gleichzeitig hat Österreich in der Medizin eine lange und große Tradition. Österreichs Mediziner zählen zu den besten der Welt. Hierzulande bekommt jeder, egal über welches Einkommen er verfügt, immer die am neuesten Stand der Forschung seienden Medikamente. Daher gibt es hier Therapieerfolge, die in vielen anderen Ländern nicht möglich sind. Damit dieses Gesundheitswesen aber weiter bestehen kann, müssen wir es fit für die Zukunft machen. Wie wichtig ist die Pharmaindustrie für den Wirtschaftsstandort Österreich?
Österreich hat wirtschaftlich in den letzten Jahren sehr stark auf den Pharmasektor gesetzt. Das lohnt sich heute. Die heimische Pharmaindustrie erwirtschaftet einen Außenhandelsüberschuss von 2,5 Milliarden Euro jährlich. Das ist auch dadurch möglich geworden, weil die Unternehmen in Österreich
Robin Rumler ist CEO von Pfizer Austria und Präsident der Pharmig.
in der Lage sind, die teilweise hochkomplexen neuen Medikamente, etwa in der Krebstherapie oder bei neuropsychologischen Erkrankungen, in der notwendigen Qualität herzustellen. Worauf begründet sich dieser hohe Qualitätsstandard?
Die rund 18.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der heimischen Pharmaunternehmen sind top ausgebildet und hoch motiviert. Die Lohnkosten fallen bei der Herstellung hochkomplexer Medikamente nicht so stark ins Gewicht. Hat der Pharmastandort Österreich Zukunft?
Mit Sicherheit, denn der Trend geht zu immer mehr Hightech bei Medikamenten. Gemeinsam mit der klinischen Forschung hat Österreich hier beste Voraussetzungen.
»Der hohe Standard der klinischen Forschung ist ein Wettbewerbsvorteil für Österreich.« Robin Rumler, Präsident der Pharmig EXTRA 2015 47
SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH ZAHNMEDIZIN
»Ganzheitliche Zahnmedizin im Mittelpunkt«
Präsidentin, Honorarkonsulin Prof. h. c. Marga B. WagnerPischel.
Rektor, Prof. Dr. Dr. Dieter Müßig.
Prof. h. c. Marga B. WagnerPischel, Honorarkonsulin, Präsidentin der Danube Private University, und Prof. Dr. Dr. Dieter Müßig, Rektor, über die Veränderungen in der Ausbildung zum Zahnarztberuf und die künftigen Voraussetzungen.
Wie wird der zahnärztliche Beruf in Zukunft aussehen, welche Voraussetzungen werden wichtig sein?
Müßig: Es werden vor allem umfassende Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem Gebiet der Biowissenschaften erforderlich sein, um molekularbiologische, genetische Techniken, Verfahren in Diagnostik und Prävention verstehen und anwenden zu können. Wagner-Pischel: Moderne Zahnmedizin ist präventiv, minimalinvasiv und individuell. Sie bewältigt schon längst Well-Aging, indem sie ermöglicht, dass der Mensch im Alter noch fest zubeißen und über ästhetisch ansprechende Zähne verfügen kann, und liefert einen unverzichtbaren Beitrag zur Gesamtgesundheit des Menschen. Worin unterscheidet sich die Ausbildung zum Dr. med. dent. an der Danube Private
MARGA B. WAGNER-PISCHEL ist Präsidentin der Danube Private University, Prof. h. c. und Honorarkonsulin der Mongolei in Salzburg und Tirol.
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University von anderen Universitäten und Ausbildungsplätzen?
Müßig: Das Studium der Zahnmedizin ist bei uns in höherem Maße als an allen anderen Universitäten üblich spezifisch auf die Zahnheilkunde zugeschnitten. Das heißt etwa, dass die biowissenschaftlichen Fächer in höherem Umfang als im herkömmlichen Medizinstudium vermittelt werden. Dazu erhalten Studierende eine gründliche Ausbildung in naturwissenschaftlichen Fächern, insbesondere auf den Gebieten der Zellbiologie, Molekularbiologie und Genetik. Die Zahl der Unterrichtsstunden und die vermittelten Inhalte gehen über die des Medizinstudiums an anderen Medizinuniversitäten weit hinaus. Wagner-Pischel: An der Danube Private University wird beispielsweise auch der Unterschied zwischen Mann und Frau unter zahnmedizinischen Aspekten bedacht. Es wird also der
DIETER MÜSSIG, Prof. Dr. Dr., ist Rektor der Danube Private University (DPU) und Leiter des Zentrums für Kieferorthopädie an der DPU.
IN KOOPERATION MIT
»Das DPU-Ideal für ein erfülltes Berufsleben: Engagement, Exzellenz und Ethik.« Rektor, Prof. Dr. Dr. Dieter Müßig
Gender-Ansatz berücksichtigt. Wir sind weltweit die erste und einzige Universität, die eine Ausbildung zum Master of Science Frauenzahnheilkunde (MSc) entwickelt und zur Akkreditierung vorgelegt hat.
FOTOS: DANUBE PRIVATE UNIVERSITY GMBH, BEIGESTELLT
Was wird sich am Zahnarztberuf ändern?
Müßig: Manuelle Fähigkeit und handwerkliche Geschicklichkeit sind bis heute in allen operativen ärztlichen Fachgebieten und in der gesamten Zahnmedizin eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufsausübung. Die Weiterentwicklung der digitalen Technologien wird dieses Erfordernis in der Zukunft erheblich reduzieren und teilweise überflüssig machen. Einerseits werden die biowissenschaftlichen Methoden viele heute noch erforderlichen Operationen erübrigen, andererseits werden digital gesteuerte Behandlungsabläufe die Durchführung technisch anspruchsvoller Prozesse vereinfachen. Wagner-Pischel: Mithilfe neuer Therapiekonzepte, die noch bis vor wenigen Jahren undenkbar waren, können unter Einsatz digitaler Technologien, beziehungsweise CAD/CAM, auch komplexe prothetische Konstruktionen, wie hochpräzise gefräste Stege zur Versorgung von Implantaten, hergestellt werden. An der Danube Private University werden Studierende bereits in den vorklinischen Kursen in diesen digitalen Prozessen ausgebildet. Sie praktizieren diese Techniken im Rahmen ihrer klinischen Ausbildung im Ambulatorium der Universität. Müßig: Da dieses Aufgabengebiet Forschungsschwerpunkt in der Universität ist, beschäftigen sich viele Studierende auch wissenschaftlich im Rahmen von Diplom-, Master- oder Doktorarbeiten mit dieser Thematik. Viele werden bereits während des Studiums von der Industrie für die Bereiche Entwicklung und Customer Service angeworben. Was wird künftig mehr Bedeutung erlangen?
Müßig: Sicherlich die Prävention. Eine erfolgreiche präventive Medizin wird die Grundvoraussetzung einer ausreichenden medizinischen Versorgung der kommenden und folgenden Ge-
neration sein. Die Ausgaben für Alterspflege und Palliativmedizin werden große Summen verschlingen. Deshalb werden nur noch geringere finanzielle Mittel für eine wie bisher praktizierte „Reparaturmedizin“ übrig bleiben. Nur mit Prävention kann dann eine Einsparung bei der „Reparaturmedizin“ erfolgen. Wagner-Pischel: Erfolgreiche Prävention ist sehr schwierig. Denn der Erfolg setzt voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung ein Leben lang eine gesundheitsfördernde Lebensweise praktiziert, was leider oft unseren heutigen Lebensweisen in Hinblick auf Alkohol- und Tabakkonsum, Ernährung, Bewegung, Stressmanagement und so weiter erheblich widerspricht. Es bedarf einer medialen und intensiven ärztlichen Kommunikation, um das Bewusstsein für eine gesundheitsfördernde Lebensführung zu etablieren. Der Zahnmedizin ist das bis heute weitaus besser gelungen als der Medizin anderer Fächer. In der Zahnmedizin wird heute auch viel von einem ganzheitlichen Ansatz gesprochen. Was ist darunter zu verstehen?
Müßig: Es muss den angehenden Zahnärzten die besondere Bedeutung des Mundes für das psychosomatische Befinden des Menschen bewusst gemacht werden. Andernfalls können sie durch ihr (Fehl-)Verhalten nicht nur Zahnarztängste, sondern sogar tiefgreifende Störungen auslösen, die sich als unklare Schmerzen des Kiefer-Gesichtsbereiches oder in anderer Form als psychosomatische Störung äußern. Der Mund ist Teil unseres Intimbereichs und dennoch gleichzeitig unser wichtigstes soziales Kommunikationsorgan. Viele unserer Gefühle sind damit verbunden. Wir lachen oder beißen die Zähne zusammen oder knirschen mit den Zähnen. Wagner-Pischel: Ein perfekt ausgebildeter Zahnarzt muss qualitativ hochwertig behandeln können, den Richtlinien der „evidencebased dentistry“ folgend. Wertschätzende Kommunikation und Respekt vor den individuellen Bedürfnissen sowie der Gesundheit des Patienten sollten immer eine Schlüsselfunktion einnehmen.
570
Studierende absolvieren derzeit ein Diplomstudium zum Dr. med. dent.
»Freude am und Leidenschaft zum Beruf schaffen Karrieren.« Präsidentin, Honorarkonsulin Prof. h. c. Marga B. WagnerPischel
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SPITZENMEDIZIN AUS ÖSTERREICH ZAHNMEDIZIN
STUDIUM DER ZAHNMEDIZIN IN KREMS
IN KOOPERATION MIT
Die Danube Private University ist die erste und einzige Privatuniversität Österreichs, die ein Grundstudium zum Dr. med. dent. mit staatlicher Anerkennung anbietet.
Studierende werden bereits in vorklinischen Kursen bei der Arbeit am Phantom in digitalen Prozessen wie CAD/CAM ausgebildet.
750
D
ie Lage ist idyllisch. Gleich am Flussufer der Donau bei Krems liegt der Campus der Danube Private University (DPU). 2009 erhielt die Universität für Zahnmedizin die Akkreditierung und 2014, im Zuge der Reakkreditierung, die amtliche Bestätigung, dass Prüfungsordnung, Inhalt und Studiendauer „internationale Standards jedenfalls erfüllen oder gar übertreffen“. Anders als an anderen Universitäten üblich, so Rektor Dieter Müßig, ist die DPU spezifisch auf die Zahnheilkunde zugeschnitten. Das heißt, dass etwa auch das psychosomatische Befinden des Patienten bewusst gemacht wird und „Empathie, Feingefühl und die Fähigkeit, in angespannten Situationen Ruhe und Kompetenz zu zeigen, vermittelt werden“, sagt die Oberärztin der DPU, Dr. Yana Anastasova-Yoshida. Dazu wird eine umfassende und gründliche Ausbildung in naturwissenschaftlichen Fächern, insbesondere auf
praktizierende Zahnärzte absolvieren aktuell Masterof-Science-Fachspezialisierungen der Zahnmedizin. 50 EXTRA 2015
Studienangebote.
Aktuell gibt es 570 Studierende, die an der DPU ein sechsjähriges Diplomstudium zum Dr. med. dent. absolvieren. Heuer wurden die ersten 39 graduiert. Pro Semester werden nur so viele Studenten aufgenommen, wie Praktikumsplätze im Propädeutikum, Phantom und auch später in der Klinik zur Verfügung stehen. Die Ausstattung ist nach modernsten technischen Richtlinien ausgerichtet, die auch die Anwendung digitaler Technologien, wie CAD/CAM, einschließen. Neben dem Diplomstudium Zahnmedizin umfasst das Angebot der DPU auch die Grundstudien „Bachelor Medizinjournalismus und Öffentlichkeitsarbeit“ und „Bachelor Dental Hygiene“. Darüber hinaus studieren rund 750 praktizierende Zahnärzte aus der ganzen Welt in Master-of-ScienceFächern der Zahnmedizin, etwa Kieferorthopädie oder Implantologie, in deutscher und englischer Sprache.
FOTOS: GREGOR SEMRAD, BEIGESTELLT
Der Campus liegt direkt an der Donau in der Wachau, NÖ.
den Gebieten der Zellbiologie, Molekularbiologie und Genetik, geboten. Die Zahl der Unterrichtsstunden, ganztägig von acht bis 18 Uhr, und die vermittelten Inhalte unterscheiden sich von anderen Ausbildungsstätten. Die Semesterdauer beträgt 20 statt der üblichen 15 Wochen, sodass die biowissenschaftlichen Fächer in höherem Umfang als im herkömmlichen Studium vermittelt werden.