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Adhs Bei Erwachsenen: Diagnose Und Therapie

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FORTBILDUNG ADHS bei Erwachsenen: Diagnose und Therapie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) «wächst» sich bei Erwachsenen nicht einfach aus. Vielmehr bedarf es bei einer ausgeprägten Symptomatik einer multimodalen Therapie. Die Behandlung setzt allerdings auch einiges an Flexibilität beim Therapeuten voraus, erklärt Prof. Dominique Eich-Höchli von der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich im Interview. Dominique Eich-Höchli Psychiatrie & Neurologie: Wie viele Erwachsene sind von ADHS betroffen? Prof. Dominique Eich-Höchli: Epidemiologische Studien zeigen, dass 4 bis 5 Prozent der Erwachsenen eine ADHS haben. Ob eine Abklärung erfolgt, ist abhängig von den Symptomen und ob diese stören. Einige der Erwachsenen haben sich beruflich so eingerichtet, dass die Symptome im Arbeitsbereich nicht weiter auffallen. Das ist bei Kindern etwas anders. Dort fallen Symptome wie Konzentrationsstörungen eher auf, weil beispielsweise die Zeugnisnoten schlecht ausfallen und man nach den Gründen sucht. Ein Paradebeispiel für eine gelungene Anpassung im Erwachsenenalter trotz ADHS ist der Superschwimmer Michael Phelps. Er nahm bis ins Jugendalter Ritalin ein. Durch den Schwimmsport hatte er eine Hyperfokussierung und verpasste ab dem 12. Lebensjahr kaum einmal einen Trainingstag. Die Studie von Moffit et al. wiederum zeigt, dass eine genaue Suche nach Symptomen auch bei Vierzigjährigen und älteren noch sinnvoll ist. Denn ein «Auswachsen» von ADHS-Symptomen gibt es so nicht. Einzelne Symptome persistieren und Defizite bleiben auch im fortgeschrittenen Alter vorhanden. Dazu zählen soziale und ge- Kasten: Wender-Utah-Kriterien der ADHS im Erwachsenenalter (2) Kriterium Aufmerksamkeitsstörung Symptome Unvermögen, Gesprächen aufmerksam zu folgen; erhöhte Ablenkbarkeit; Vergesslichkeit Motorische Hyperaktivität Innere Unruhe; Unfähigkeit, sich zu entspannen; Unfähigkeit, sitzende Tätigkeiten durchzuführen; Dysphorie bei Inaktivität Affektlabilität Wechsel zwischen neutraler und niedergeschlagener Stimmung; Dauer von einigen Stunden bis maximal einigen Tagen Desorganisiertes Verhalten Unzureichende Planung und Organisation von Aktivitäten, Aufgaben werden nicht zu Ende gebracht Affektkontrolle Andauernde Reizbarkeit, auch aus geringem Anlass; verminderte Frustrationstoleranz und kurze Wutausbrüche Impulsivität Unterbrechen anderer im Gespräch; Ungeduld; impulsiv ablaufende Einkäufe; Unvermögen, Handlungen im Verlauf zu stoppen Emotionale Überreagibilität Unfähigkeit, adäquat mit alltäglichen Stressoren umzugehen; Reizüberflutung; Black-outs 1/2017 sundheitliche Probleme oder Schwierigkeiten, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, Substanzmissbrauch oder Depressionen. Wie erfolgt die Diagnose von ADHS? Dominique Eich-Höchli: Die Klassifizierung erfolgt bei uns nach dem ICD-10 mit Störungsbeginn vor dem 7. Lebensjahr und in den USA seit 2013 nach den DSM5-Kriterien, wenn Symptome vor dem 12. Lebensjahr auftreten. Die Studien zur ADHS-Symptomatik sind trotz der unterschiedlichen Klassifikationssysteme vergleichbar. ADHS ist immer wieder ein Riesenthema in der Laienpresse. Ist eine Überdiagnostik und Übertherapie zu erwarten oder besteht diese bereits? Dominique Eich-Höchli: Im Gegenteil: ADHS wird auch heute zu wenig diagnostiziert und behandelt. Epidemiologische Daten aus der Schweiz zeigen, dass die Personen nur dann eine Therapie erhalten, wenn sie diese brauchen. Wer keinen Leidensdruck hat, wird sich auch nicht behandeln lassen. Hat es familiäre Strukturen, in denen ADHS eher anzutreffen ist? Dominique Eich-Höchli: ADHS ist erblich und hat somit eine genetische Komponente, das zeigen Zwillingsstudien deutlich. Daher tritt sie familiär auch häufiger auf. Dafür bedarf es aber einer sorgfältigen Anamnese. Dann zeigt sich beispielsweise, dass nicht nur das Kind Probleme in der Schule hat und Termine nicht einhalten kann, sondern oft auch ein Elternteil, der es nicht schafft, eine geordnete Tagesstruktur einzuhalten, als Mutter zum Beispiel mit Arbeiten im Haushalt beginnt und ohne Struktur am Ende des Tages den Haushalt noch immer nicht erledigt hat, weil verschiedene Dinge von der Tätigkeit ablenken. Welche Diagnostik hat es, wer sollte diese durchführen? Dominique Eich-Höchli: Es ist ein grosses Problem, dass Erwachsene mit ADHS aufgrund der befürchteten Stigmatisierung oftmals keine Diagnostik möchten. Wenn die Symptome nicht so ausgeprägt sind, Alltag und Beruf trotzdem bewältigt werden können, geht das auch. Aber bei ausgeprägten Symptomen ist die gezielte Diagnostik und Behandlung sehr wichtig. Gerade in den Hausarztpraxen hat es immer wieder ADHS-Patienten. Das sind oft die schwierigen und auffälligen Pa- PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE 23 FORTBILDUNG tienten, die anstrengend sind. Das fällt insbesondere den medizinischen PraxisassistentInnen auf. Der Austausch innerhalb des hausärztlichen Teams kann also bereits dazu führen, dass ein Hausarzt ein Screening durchführt. Für Hausärzte bewährt hat sich der ASRS (Adult Self-Reporting System), ein einfacher Screeningtest der WHO mit Selbstbeurteilungsskala für Erwachsene (ASRS-V1.1). Ist das Screening auffällig, sollte die weitere Abklärung über Kinderärzte, Kinder- und Erwachsenenpsychiater erfolgen. Ein ADHS tritt oft mit einer komorbiden Störung auf. Das können Suchterkrankungen sein oder depressive Störungen, Angstund Zwangserkrankungen, die dann einer spezifischen Abklärung und Behandlung bedürfen. Was halten Sie von Selbsttests, beispielsweise online? Dominique Eich-Höchli: Ich finde Selbsttests sehr gut und wertvoll. Denn Neugierde ist immer gut für die Abklärung und Behandlung. Ausserdem ist es heute normal, wenn man über das Internet Informationen bezieht oder sich im Chatroom mit anderen Betroffenen austauscht. Welche Probleme haben die Angehörigen oftmals mit der Störung? Dominique Eich-Höchli: Ich sehe zwei Typen von Patienten: Typ 1 hat sich mit seinen Symptomen arrangiert und Bewältigungsstrategien gefunden. Typ 2 leidet an der Störung, schafft beispielsweise Prüfungen nicht, kann Termine nicht einhalten und so weiter. Typ 2 wird von seinem Umfeld sehr wohl mit seiner Problematik wahrgenommen. Dieses leidet dann mit. Aus diesem Grund haben wir auch viele Zuweisungen von Angehörigen. Der Nachteil dabei ist, dass die Störung von den Betroffenen nicht als Problem wahrgenommen wird. Es fehlt der persönliche Wunsch nach einer Behandlung. Wie sieht die Therapie von ADHS aus? Was ist der Goldstandard in der Behandlung bei Erwachsenen? Dominique Eich-Höchli: Psychoedukation ist der wichtigste Teil der Therapie, und sie muss massgeschneidert sein. «Passt die Jacke nicht, wird sie auch nicht getragen», davon bin ich überzeugt. Die Person muss also wirklich motiviert sein. Die Therapie ist multimodal und beinhaltet Psychotherapie, Coaching und Medikamente. Viele ADHS-Patienten sind in der Berufswelt integriert und haben Angst, aufgrund der Störung den Arbeitsplatz zu verlieren. Eine ADHS-Betreuung setzt beim Therapeuten eine gewisse zeitliche Flexibilität voraus. Ich führe beispielsweise telefonische Konsultationen durch und werde von Mails nahezu überschwemmt. Aber eine engmaschige Face-to-Face-Behandlung können sich die Betroffenen zeitlich oftmals nicht leisten. Auch Online-Module sind in Entwicklung oder stehen bereits zur Verfügung, die zur Psychoedukation genutzt werden können. Dass Termine einfach vergessen oder nicht wahrgenommen werden, gehört zum Krankheitsbild. Allerdings sind ADHS-Betroffene auch sehr flexibel und springen kurzfristig ein. Ich habe aber selten Probleme, einen ausgefallenen Termin zu ersetzen. Was ist der Goldstandard in der medikamentösen Behandlung? Dominique Eich-Höchli: Die medikamentöse Behandlung erfolgt leitliniengestützt. Goldstandard ist Methyl- 24 phenidat (Concerta®), ein First-Line-Medikament. Bei ausbleibendem Erfolg wird eine Second-Line-Therapie eintitriert. Dazu zählen Medikamente wie der Wirkstoff Lisdexamphetamin-Dimesylat (Elvanse®) oder Atomoxetin (Strattera®), ein selektiver Noradrenalin-WiederaufnahmeHemmer. Insbesondere bei komorbiden Störungen haben sich die Second-Line-Medikamente bewährt.* Eine Blutspiegelkontrolle braucht es heute nicht mehr. Sinnvoll ist stattdessen eine engmaschige Kommunikation mit den Patienten, ob sie die Therapie auch vertragen. Was müsste sich in der Vernetzung von Psychiatern, Neurologen und Hausärzten verbessern, um ADHS frühzeitiger entdecken und behandeln zu können? Dominique Eich-Höchli: Die Zusammenarbeit ist bereits sehr gut. In Zürich arbeiten wir seit 1999 eng mit Hausärzten zusammen. In unserer Sprechstunde haben wir, im positiven Sinne, sehr viele Überweisungen durch Hausärzte für weitere Abklärungen. Im Medizinstudium ist ADHS Teil der Ausbildung, und daher sind die jüngeren Ärzte bereits sensibilisiert. Auch in Städten wie Basel funktioniert die Zusammenarbeit sehr gut. Etwas schlechter ist die Abdeckung hingegen auf dem Land, sodass man von einem Stadt-Land-Gefälle in der Abklärung und Behandlung von ADHS sprechen kann. In Deutschland gibt es ein Forschungsnetz zu psychischen Erkrankungen, weil diese stark zunehmen oder/und volkswirtschaftlich grosse Konsequenzen haben. Ist Ähnliches auch in der Schweiz geplant? Dominique Eich-Höchli: Die Schweiz ist zu klein, als dass ein eigenes Forschungsnetz möglich wäre. Dieses wäre auch zu teuer. Aber die Schweiz ist im deutschen ADHS-Netzwerk aktiv. Die SGPP wird wohl noch in diesem Jahr eine Zusammenfassung der Behandlungsempfehlungen – abgestimmt auf Schweizer Verhältnisse – herausbringen. Diese sind notwendig, da sich die zugelassenen Medikamente/Substanzen für die Behandlung eines ADHS in der Schweiz und in Deutschland unterscheiden. ● Sehr geehrte Frau Prof. Eich-Höchli, wir bedanken uns für das Gespräch. Das Interview führte Annegret Czernotta. Korrespondenzadresse: Prof. Dr.med. Dominique Eich-Höchli Leitende Ärztin Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Spezialambulatorium ADHD Lenggstrasse 31, Postfach 1931 8032 Zürich E-Mail: [email protected] Referenzen: 1. Moffitt TE et al.: Is adult ADHD a childhood-onset neurodevelopmental disorder? Evidence from a four-decade longitudinal cohort study. Am J Psychiatry. 2015; 172(10): 967–977. 2. Wender PH: Attention-deficit hyperactivity disorder in adults. Oxford University Press, New York-Oxford, 1995. * Weitere Präparate bei ADHS im Erwachsenenalter sind: Focalin®, MPH-Sandoz®. PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE 1/2017