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Allgemeine Zusammenfassung
Das Gehirn der Vertebraten wird in seiner Komplexität von keinem anderen Organ übertroffen. Als höchstes Koordinationszentrum kennzeichnet es eine hohe Vielschichtigkeit bei der Verarbeitung von Informationen der Umwelt. Wenngleich das Wissen über einzelne Bauelemente des Gehirns, den Nervenzellen und Gliazellen, recht gut ist, so sind komplexe Prozesse, wie zum Beispiel die lateralisierte Verarbeitung von Informationen aus der Umwelt in der linken oder rechten Hemisphäre, bislang nicht umfassend verstanden. Insbesondere die Wirkungsketten, welche zur Ausbildung solcher Hirnasymmetrien führen, sind unbekannt. Grundsätzlich sind alle nervalen Systeme, einschließlich ihrer Musterbildung während der ontogenetischen Entwicklung determiniert. Die genetische Information allein reicht aber nicht aus, um sinnvolle Zellkontakte zwischen einzelnen Neuronen zu etablieren, unsinnige hingegen wieder zu verwerfen. Vielmehr sind weitere Faktoren für das Überleben einzelner Nervenzellen, die korrekte Verschaltung zwischen den Neuronen sowie der Etablierung von Asymmetrien im Gehirn erforderlich. Insbesondere den Neurotrophinen, es handelt sich hierbei um endogene, lösliche Proteine, die das Überleben, das Wachstum, die morphologische Plastizität und die Synthese von Proteinen in Neuronen regulieren, kommen zahlreiche Funktionen zu, welche sich zum einen auf die Etablierung nervaler Systeme, zum anderen aber auch auf die ständigen Feinanpassungen des Systems im adulten Tier beziehen. In der vorliegenden Arbeit wurden mögliche Funktionen der beiden Neurotrophine BDNF (brainderived neurotrophic factor) und NT-3 (neurotrophin-3) während der Entwicklung des Sehsystems der Taube Columba livia untersucht. Es handelt sich hierbei um ein System mit deutlichen morphologisch und funktionell charakterisierten Asymmetrien, die sich in einem Zeitraum von zirka zwanzig Tagen, beginnend vier Tage vor dem Schlupf, unter dem Einfluß einer asymmetrischen Lichtstimulation im Taubenei etablieren. Funktionell zeigen die Tiere eine Dominanz des rechten Auges, und aufgrund der exklusiven Verschaltung mit der linken Hirnhälfte auch eine Dominanz dieser bei der Erkennung und Verarbeitung von Objektinformationen und geometrischen Illusionen, im visuellen Gedächtnis, und beim Zurückfinden zu ihrem Heim über ein bekanntes Gebiet, sofern die Tiere mit dem rechten Auge sehen können. Auf mikroskopischer Ebene lassen sich in histologischen Untersuchungen strukturelle Korrelate dieser funktionellen Lateralisation erkennen, die sich in signifikant stärkeren Projektionen der rechten auf die linken Hemisphäre als umgekehrt sowie links-hemisphärisch größeren Nervenzellen ausdrücken. Für die Etablierung dieser Asymmetrien verantwortlich ist ein exaktes Zusammenspiel genetischer Faktoren und von Umwelteinflüssen während einer kritischen Phase der Entwicklung des visuellen Systems. Eine genetisch determinierte einseitige Expression bestimmter Signalmoleküle steuert zunächst eine Rotation des Taubenembryos im Ei, und diese Position des Embryos im Ei wiederum bedingt eine Abschattung des linken Auges durch den Körper, während das rechte Auge der Eischale
zugewandt ist. Durch die Eischale eindringendes Licht, welches primär vom rechten Auge empfangen werden kann, ist bei der Taube der Umweltfaktor, welche die Ontogenese der visuellen Lateralisation des Taubengehirns in einem Zeitraum von zwei bis drei Wochen nach dem Schlupf steuert. In der von mir angefertigten Dissertation stellte sich nun die Frage, über welche Mechanismen diese asymmetrische Lichtstimulation in ein für Nervenzellen erkennbares Signal transferiert wird. Mit Hilfe verschiedener histologischer Untersuchungen, die am Lichtmikroskop, Fluoreszenzmikroskop und ultrastrukturell am Elektronenmikroskop ausgewertet wurden, konnte gezeigt werden, daß Neurotrophine eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung nervaler Strukturen der Taube spielen. Sowohl in der Netzhaut der Tiere, als auch in den nachfolgenden Gebieten der visuellen Verarbeitung werden diese Proteine produziert. Ein sehr interessanter Befund der Arbeit war hierbei, daß Neurotrophine vermutlich auch an der Zellmigration, daß heißt dem Auswandern von Nervenzellen von ihrem Entstehungsort zu ihrem Zielgebiet im Hirngewebe eine entscheidende Rolle spielen. Mit Hilfe der elektronenmikroskopischen Untersuchungen gelang es, die genauen Signalwege zwischen der Netzhaut und den nachfolgenden Hirnstrukturen zu erfassen, wobei das Neurotrophin NT-3 vornehmlich Entwicklungsprozesse der Verbindungen zwischen dem Auge und dem Gehirn reguliert, während BDNF darüber hinaus auch in den erwachsenen Tieren eine ständige Feinanpassung des Systems ermöglicht. Auf Grund der in der vorliegenden Arbeit gewonnen Daten ist eine Beteiligung von BDNF und NT-3 an der Etablierung von Hirnasymmetrien in der Taube sehr wahrscheinlich. In der jungen Taube stabilisieren BDNF und NT-3 vermutlich morphologische Charakteristika von Nervenzellen, wie zum Beispiel die Größe der Nervenzellen oder deren Verzweigungen, und regulieren somit morpholgische Asymmetrien, die wiederum die Grundlage der funktionellen Lateralisation sind. Ob Neurotrophine auch primär das Umweltsignal Licht in eine für Nervenzellen verständliche Form übersetzen, oder Ihrerseits wiederum Teil einer größeren Signalkaskade sind, bleibt bislang noch unbeantwortet.