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29. Oktober 2015 Zurück zum Inhaltsverzeichnis SEITE 78-80
Armer Schlucker, wer an Angina leidet Der Hals ist feuerrot, das Schlucken wird zur Qual – die Gaumenmandeln sind entzündet. Der Arzt verschreibt ein Antibiotikum. In vielen Fällen unnötigerweise. Denn oft haben Viren die Infektion ausgelöst. Text Angela Lembo
Lange bevor der Wecker klingelt, ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Zu gross ist der Schmerz im Hals. Der Rachen brennt. Bei jedem Schlucken sticht es in der Kehle. Es ist, als ob ein Fremdkörper gegen das Halszäpfchen drückt. Das sind die Anzeichen einer Angina. Wer schon einmal an der Mandelentzündung erkrankt ist, weiss: Der Schmerz wird tagelang anhalten und den Patienten früher oder später zum Hausarzt führen. Dort ist er dieser Tage in bester Ge-sellschaft. «Halsschmerzen gehören im Herbst und Winter zu den häufigsten Gründen für den Hausarztbesuch», sagt Abraham Licht, Internist im Ärzte-zentrum Sihlcity und Chefarzt des Notfallzentrums Hirslanden in Zürich. Meist sind die Gaumenmandeln entzündet. Mediziner sprechen von Angina tonsillaris – einer Enge bei den Gaumenmandeln – oder schlicht von Angina. Die Erreger, die für den Schmerz verantwortlich sind, kommen in der kalten Jahreszeit öfter vor als im Sommer. Sie verbreiten sich über winzige Tröpfchen. Das geht jetzt besonders rasch, da die Menschen oft in geschlossenen Räumen beisammensitzen. Am häufigsten erkranken Klein- und Schulkinder, die beim Spielen in Körperkontakt stehen und beim Niesen und Husten selten die Hand vor Nase oder Mund halten. Im Zusammenhang mit Angina reden Experten wie Laien häufig von «Mandeln». Der Schmerz beschränkt sich aber meist auf die Gaumenmandeln. Bei weit geöffnetem Mund kann man sie rechts und links zwischen den Schleimhautfalten des sogenannten Gaumenbogens sehen. Daneben gibt es noch die Rachenmandeln -sowie die Zungenmandeln (siehe Grafik). Viren oder Bakterien? Alle drei Mandelarten zusammen bilden den sogenannten lymphatischen Rachenring. «Er ist das erste Tor für Erreger, die über Mund oder Nase in den Körper gelangen», sagt Abraham Licht. Hier entscheidet sich, ob ein Keim harmlos ist und weiter in den Organismus vorgelassen wird oder ob ihn das Immunsystem abwehrt. Manchmal sind die Gaumenmandeln selber das Ziel des Erregers. Die Folge sind entzündete Mandeln und mehrere Tage andauernde Halsschmerzen, die zuweilen bis hinauf zu den Ohren ziehen. Für die Diagnose Angina genügt dem Arzt nach den Schilderungen des Patienten ein Blick in den Rachen: Die Mandeln sind gerötet und vielleicht angeschwollen. Bei der Wahl der richtigen Therapie aber wird es schwierig, weil der Arzt zuerst herausfinden 1/4
muss, ob es sich beim Erreger um Viren oder Bakterien handelt. Beide können eine Mandelentzündung verursachen, aber nur gegen Bakterien wirkt ein Antibiotikum. Von diesem Medikament – meist wird Penicillin verschrieben – versprechen sich Betroffene eine schnelle Heilung. «Bei neun von zehn Patienten sind aber Viren für die Angina verantwortlich», erklärt Abraham Licht. Und da hilft kein Penicillin. Umso erstaunlicher: Laut Schätzung von Experten verlässt mehr als die Hälfte aller Angina-Patienten die Arztpraxis mit einem Antibiotikum – obwohl die Medizin bei vielen nicht anschlagen wird. «Ärzte verschreiben bei Angina oft unnötig Antibiotika», sagt Abraham Licht. Vermutlich tun sie das vorsorglich, weil sie sich oft nicht sicher sind, ob sie es mit Viren oder Bakterien zu tun haben. Die Bakterien, die normalerweise für eine Angina verantwortlich sind, heissen A-Streptokokken. Indizien für deren Vorhandensein sind Begleitsymptome wie Fieber, vergrösserte und schmerzempfind-liche Lymphknoten unterhalb der -Ohren und ein Gefühl von Abgeschlagenheit. Eindeutige Zeichen für eine bakterielle Angina sind diese Symptome allerdings nicht, denn sie können auch bei einer viralen Angina auftreten. Auch die kleinen weissen Punkte, die sich zuweilen auf den Mandeln bilden, lassen Bakte-rien lediglich vermuten. Mediziner sprechen von einer eitrigen -Angina. «Aber auch Viren können eitrige Ablagerungen verursachen», sagt David Nadal, Leiter der Infektiologie am Kinderspital Zürich. «All diese Symptome können zwar den Verdacht auf eine bakte-rielle Angina nahe-legen, ein Beweis sind sie nicht.» Klarheit erhoffen sich Ärzte zuweilen von einem Abstrich. Dafür entnimmt der Mediziner mit einem langen Wattestäbchen etwas vom Sekret, das auf den Mandeln haftet, und untersucht es im Labor. So lassen sich A-Streptokokken nachweisen. Doch auch das ist noch kein Beweis. Denn es ist möglich, dass nicht die nachgewiesenen Bakterien, sondern Viren die Beschwerden verursachen. Aufmerksame Diagnostiker Das klingt verwirrend, hängt aber mit der Vielfalt der A-Streptokokken zusammen, von denen es rund 90 verschiedene Typen gibt, die bei einem Test im Labor nicht entschlüsselt werden können. Kommt dazu, dass nicht alle Menschen gleich re-agieren. Viele sind bloss A-Streptokokken-Träger. Sie können die Erreger zwar auf andere Menschen übertragen, werden aber selber nicht krank. Den Grund dafür kennen Wissenschaftler nicht. Fest steht, dass besonders im Winter viele Menschen A-Strepto-kokken-Träger sind, ohne krank zu sein. Nehmen wir eine Gruppe Kleinkinder, unter denen sich ein Erreger schneller verbreitet als unter Erwachsenen. «Würden wir im Winter jedes Kind auf -A-Streptokokken testen, wäre etwa ein Viertel positiv, aber nur die wenigsten hätten eine Angina», sagt Infektiologe -David Nadal. Und selbst bei jenen mit entzündeten Mandeln liesse sich allein aufgrund des Testergebnisses nicht sicher sagen, ob nicht doch Viren schuld an der Angina sind. Befragen, untersuchen, testen – und noch immer keine Klarheit? «Doch, häufig gibt es sie», sagt David Nadal. An Weiterbildungen für Kinderärzte betont der Infektiologe deshalb immer wieder etwas, was bei der Dia-gnose oft vergessen geht: «Hustet der Patient oder läuft seine Nase, sind sicher keine Bakterien Auslöser für die Angina.» Denn A-Streptokokken befallen immer nur die Mandeln und dringen nicht weiter nach unten in die Lunge oder nach oben in die Nase vor. Wer also entzündete Mandeln hat mit Begleitsymptomen wie geschwollenen Lymphknoten, Fieber oder Abgeschlagenheit und weder hustet noch schnupft, -leidet mit grosser Wahrscheinlichkeit an einer A-Streptokokken-Angina. Mit einem Antibiotikum, das der Patient während fünf bis zehn Tagen einnehmen muss, werden 2/4
Antibiotikum, das der Patient während fünf bis zehn Tagen einnehmen muss, werden die Symptome innert Kürze abklingen. Ausserdem ist der Patient 24 Stunden nach der ersten Einnahme des Mittels nicht mehr ansteckend. Ohne Antibiotika bleibt die Ansteckungsgefahr bestehen, bis die Symptome abgeklungen sind. Das kann ein bis zwei Wochen dauern. Genau so lang wie bei den Patienten mit viraler Halsentzündung. Sie brauchen Geduld. «Ihnen bleibt kaum etwas anderes übrig, als Tee zu trinken und die Krankheit auszuschwitzen», sagt David Nadal. Schmerz- und fiebersenkende Mittel sowie spezielle Lutschtabletten lindern die Beschwerden. Helfen können auch Hausmittel (siehe oben stehende Box). Nach etwa fünf bis sieben Tagen klingen die Symptome ab. Eine weitere Woche dauert es, bis der Patient sich wieder ganz gesund fühlt und morgens statt von quälenden Schmerzen wieder vom Ton des Weckers erwacht. ---
Aus der Hausapotheke Das hilft Viel trinken, damit der Körper mit Flüssigkeit versorgt ist. Bevorzugt Kräutertees etwa aus Salbei und Thymian, ihre pflanz-lichen Wirkstoffe lindern die Entzündung. Fruchtsäfte meiden. Die Säure reizt die entzündeten -Stellen zusätzlich. Vermehrt durch die Nase atmen. So verliert die -Rachenschleimhaut nicht so viel Feuchtigkeit. Halswickel machen, mit Magerquark oder mit warmen Kartoffeln. Mehrmals täglich gurgeln mit Kamillen- oder Salbeitee. Inhalieren von heissem Wasserdampf hält die Schleimhäute feucht. Scharlach Bei einer Angina, die durch A-Streptokokken-Bakte-rien (Bild) verursacht wird, sprechen Mediziner zu-weilen auch von Scharlach. Das ist aber nicht ganz richtig. Die Krankheit, von der vorwiegend Kinder betroffen sind, ist ein Spezial-fall einer bakteriellen -Angina. Etwa 90 verschiedene Typen umfasst die Gruppe der A-Streptokokken. Nur einzelne von ihnen können Gifte bilden, welche die für Scharlach charakteristische knall-rote «Himbeer»- oder -«Erdbeerzunge» sowie Blässe um den Mund verursachen. Typisch ist auch ein Hautausschlag. Er beginnt mit kleinen, dicht beieinanderliegenden Punkten unter den Achseln, an Bauch, Brust und in der Leiste, die zu einer roten, einem Samtbezug ähnelnden Fläche zusammenfliessen. Später schuppt sich die Haut ab. Früher war Scharlach gefürchtet, weil er schwere Komplikationen wie rheumatisches Fieber, Nieren- oder Herzentzündungen zur Folge haben konnte. Heute ist er mit Antibio-tika gut behandelbar.
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