Transcript
Oper Frankfurt Intendant Bernd Loebe Generalmusikdirektor Sebastian Weigle
Michail Iwanowitsch Glinka 1804–1857 IWAN SUSSANIN Oper in vier Akten mit Epilog I Text von Gregori Fjodorowitsch Baron von Rosen, Sergej M. Gorodeckij I Epilog von Wassili Andrejewitsch Schukowski Uraufführung der ersten Fassung Ein Leben für den Zaren am 9. Dezember 1836, Bolschoi Theater, Sankt Petersburg Frankfurter Bearbeitung von Norbert Abels und Harry Kupfer In russischer und deutscher Sprache mit Übertiteln Musikalische Leitung Sebastian Weigle Inszenierung Harry Kupfer Bühnenbild Hans Schavernoch Kostüme Yan Tax Licht Joachim Klein Dramaturgie Norbert Abels Video Thomas Reimer Chor und Extrachor Tilman Michael
Premiere: Sonntag, 25. Oktober 2015
Mit freundlicher Unterstützung des Frankfurter Patronatsvereins für die Städtischen Bühnen e.V. – Sektion Oper
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HANDLUNG AKT I. Moskau steht kurz vor der Einnahme durch die feindliche Armee. In einem Dorf vor Moskau hofft Antonida, die Tochter des Bauern Iwan Sussanin, auf die Rückkehr ihres Geliebten Sobinin. Dieser kommt mit freudiger Nachricht von der Front zurück: Die russischen Truppen konnten dem Feind Widerstand leisten. Nun soll Sobinin neuer Anführer der Partisanen werden. Als er bei Sussanin um Antonidas Hand anhält, gibt der besorgte Vater nur schwer nach, da die Zeiten für eine Hochzeit zu unsicher seien. AKT II. Im besetzten Warschau feiern die Feinde den vermeintlichen Sieg über Moskau. Bald erreicht sie aber die Nachricht, dass die Übernahme der Stadt gescheitert ist. Diese militärische und somit wirtschaftliche Niederlage dulden sie nicht. Sie holen erneut zum Angriff aus. AKT III. Wanja, der Ziehsohn Iwan Sussanins, träumt davon, in den Kampf zu ziehen. Als Sussanin ihm von dem neuen Anführer berichtet, wünscht der Junge sich, diesem dienen zu können. Während Sobinins Abwesenheit fallen die Feinde in Sussanins Haus ein. Sie drohen, ihn umzubringen, wenn er sie nicht an den geheimen Ort führt, an dem sich der neue Anführer aufhält. Sussanin stellt sich unwissend, lädt sie zur Hochzeit ein. Heimlich schickt er Wanja mit der Warnung vor dem einmarschierenden Heer zum Lager Sobinins. Sussanin selbst geht scheinbar auf eine Bestechung ein und führt die Feinde in den Wald. Als Sobinin mit seinem Gefolge zurückkehrt und von den Geschehnissen erfährt, macht er sich sofort auf. AKT IV. Wanja erreicht das Schlupfloch des Anführers noch in der Nacht und weckt die Bewohner. Die Männer dort ziehen ebenfalls los, um den Feinden entgegenzumarschieren. Währenddessen hat Sussanin die Feinde tief in den Wald geführt. Diese, inzwischen misstrauisch geworden, schlafen erschöpft ein. Sussanin weiß, dass die Feinde aus dem Dickicht des Waldes nicht mehr herausfinden werden und somit seine Heimat gerettet ist, aber auch, dass ihn dadurch der Tod erwartet. In der Morgendämmerung, als er ihnen seine Irreführung gesteht, bringen sie ihn um. EPILOG. Das russische Volk feiert die Befreiung des Landes und den Sieg über den Feind. Es preist und ehrt die Heldentat Iwan Sussanins. (English translation p. 71) 3
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Harry Kupfer
Iwan Sussanin – Ein Gleichnis Mir gefällt vor allem die Fabulierfreude der russischen Dichtung und der russischen Oper, in der eine ganz andere Vorstellung vom musikalischen Theater und eine ganz andere Dramaturgie erscheint. Die meisten Opern sind Episoden-Opern, bei denen es überhaupt nicht auf die fortlaufend logisch entwickelte Fabelerzählung ankommt. Dazu kommt die musikalische Fabulierlust, das heißt, dort wird eine Situation, die nach unseren Vorstellungen dramaturgisch gar keine große Bedeutung hat, musikalisch ausgeweitet. Der Komponist kann einfach voraussetzen, dass sein Publikum die Werke kennt und hingeht, um bestimmte Szenen aus diesen Werken mit Musik zu erleben. Ausgewählt sind oft nicht die dramatisch kräftigsten Szenen, sondern diejenigen, die die Möglichkeit bieten, Musik in großen poetischen Tableaus und folkloristischen Szenen auszubreiten. Für unsere Konzeption des Stückes stand es von Anfang an fest, dass die ursprüngliche Fassung Ein Leben für den Zaren als eine Huldigung an das Haus der Romanows nach dem, was sich in dem Land ereignet hat, kaum noch spielbar ist. Die mehr als einhundert Jahre später entstandene Bearbeitung von Sergej Gorodeckij (1884–1967) verlagert die Handlung so weit zurück in die Zeit von Sigismund III., dass man sie kaum noch versteht. Darüber hinaus stört ihr allzu großes patriotisches Pathos. Das Wesentliche des Werkes, der große menschliche Zug, der sich durch das Stück tief hindurchzieht, kann jedoch als ewig gültiges Gleichnis betrachtet werden. Die dafür stehende Figur des Iwan Sussanin ist zeitlos. Sie vermag an allen Orten, zu jeder Epoche und durchaus auch in der ganz unmittelbaren Gegenwart zu spielen; überall da, wo es Krieg und Annexion gibt, wo versucht wird, ein Volk zu überrennen und wo sich Widerstand dagegen regt. Damit ist in erster Linie kein verbaler Widerstand, ebenso wenig ein Widerstand mit der Waffe in der Hand gemeint, sondern ein Widerstand von innen, ausströmend vom Herzen und der aus ihm hervorgehenden Moral, die bis in der letzten Entscheidung gipfelt, sein Leben zu opfern. Das ist der eigentliche und tiefe Grund dieses Stückes und das war es, das unser Interesse daran erweckte.
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Das ursprüngliche Textbuch mit seinem nicht selten übertriebenen Patriotismus löste zunächst eher Abneigung aus; die ungeheuer suggestive und in vielerlei Hinsicht mutige Musik jedoch hat mich von Anfang an fasziniert. Die Frage, wo man dieses Stück ansiedelt, damit es in seiner einfachen Botschaft wieder unter die Haut geht – wie das ursprünglich der Fall gewesen sein mag –, drängte sich unverzüglich auf. Rasch erkannten wir in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs den für uns adäquaten Schauplatz und die richtige Zeit. Dabei ist eine Fassung entstanden, die dennoch alles historisch Begrenzende und Eindimensionale vermeidet und sich auf die Charaktere und die gleichnishafte Haupthandlung konzentriert, die in einem Dorf bei Moskau spielt. Moskau steht kurz vor dem Einfall der Feinde, der aber nicht vollzogen wird. Stattdessen wandelt sich das Geschehen in einen Partisanenkrieg. Sobinin, der im Heer gekämpft hat, kehrt zurück, um zum einen die Tochter von Iwan Sussanin, Antonida, zu heiraten und zum anderen, weil er inzwischen den Partisanenkampf in dessen Region organisiert und anführt. Diese Geschichte lässt sich bruchlos in die Zeit um die Mitte des 20. Jahrhunderts versetzen, ohne dass hier massive inhaltliche Veränderungen vorgenommen werden mussten. Nur im zweiten Akt, der noch in Polen spielt, war die Motivation zu verlagern. Dieser spielt zwar in Warschau, aber die Stadt ist inzwischen von den Deutschen besetzt und darin treten auch an der Ausbeute der Ressourcen Russlands und Polens finanziell interessierte Kriegsgewinnler auf. Der Bühnenbildner Hans Schavernoch hat dafür einen grundlegenden, fast symbolischen Raum geschaffen, der sich von einer naturalistischen Sichtweise zurückzieht – eine Kirchenruine und die von der Kirche herabgefallenen, zerbrochenen Glocken. Zu den Charakteren: Antonida ist eine das Leben der Partisanen teilende junge Frau. Sie wartet auf die Rückkehr ihres Geliebten, der wiederum seine Heirat bei ihrem Vater einfordert. Sussanin befindet sich aber in einem inneren Konflikt, unterbindet das Hochzeitsfest zunächst: In Zeiten des Krieges sei dergleichen unangemessen. Schließlich lässt er sich doch umstimmen, will dem Glück des Paares nicht länger im Wege stehen. Im zweiten Akt steht musikalisch die Feier der Polen im Zentrum; hier also der Triumph der Feinde, in den sich jedoch unvermittelt die Nachricht hineinmischt, dass Moskau nicht besiegt sei und man die Stadt nicht ausbeu-
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ten könne. Die Stimmung schlägt augenblicklich um in ein geradezu chaotisches Kriegsgeschrei. Der dritte Akt ist vielleicht der menschlich berührendste; dort erfährt man, dass der kleine Wanja als Waise von Sussanin aufgenommen und wie ein Geschwisterkind mit Antonida erzogen worden ist. Wanja singt von einem verlassenen Vögelchen, ein sehr poetisches Bild des Waisenjungen. Zwischen den beiden, Sussanin und Wanja, entspinnt sich eine überhöhte menschliche Beziehung; sie träumen davon, wie der Vater dem Ziehsohn Pferd und Sattel schenken will. Diese idyllische Szene wird brutal von den einfallenden Feinden gestört. Sie nehmen Sussanin gefangen, wollen ihn dazu bringen, dass er ihnen das Lager der Partisanen zeigt – nicht wie ursprünglich das Versteck des Zaren, sondern das des neuen Anführers Sobinin. Sussanin schickt den jungen Wanja mit der Warnung los und führt selbst die Feinde in den Schnee. Dort ermorden sie ihn auf grausamste Weise, bevor sie selbst im Wald ihren Tod finden. In den Chorfinali am Ende jedes Aktes steht an der Stelle eines fortlaufenden Handlungsstranges eine einzige emotionale Explosion. So endet auch die Oper in einem großen hymnischen Chorgesang. Wenn man indessen bedenkt, dass die Großen nach dem Sieg stets den Ruhm ernten und die armen Leute im Volk dafür mit ihrem Blut gezahlt haben, hört man diese große Hymne mit äußerst gemischten Gefühlen.
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Norbert Abels
Ist es etwa leicht, zum Tode verurteilt zu sein? Überlegungen zu Michail Iwanowitsch Glinkas Iwan Sussanin »Es ist keine Hütte so abgeschieden, in der nicht das Lied vom Vaterlande erklingt.« Berthold Auerbach Tutto il mondo è paese. Italienisches Sprichwort
I. Vorsicht Der gründungsmythische Topos von Michail I. Glinka als wegbereitendem Vater der russischen Musik und Klassiker der russischen Nationaloper entstammt bereits dem 19. Jahrhundert. Kaum eine der nachfolgenden Tonsetzergenerationen, die sich nicht in diesem Sinne auf ihn berief. Seine Ethik und Ästhetik verbindende Auffassung, »die Forderungen der Kunst mit den Forderungen des Lebens zu vereinen«, machte ihn in Iwan Sussanin bzw. Ein Leben für den Zaren zum Vorkämpfer des musikalischen Realismus. Die Zauberoper Ruslan und Ljudmila nach dem gleichnamigen Versepos Alexander Puschkins liest sich heute mit all ihren volkstümlichen Anleihen, finnischen, persischen, kaukasischen Einflüssen, aber auch mit ihrer vorwärtsweisenden Klangfarbenmotivik wie ein leuchtendes Mosaik der übernationalen romantischen Strömung. Wie bei Heine, Byron, Puschkin oder Hugo alternieren realistische und romantische Momente in Glinkas Werk für das Musiktheater. Sein Charakterportrait zeigt einen Menschen mit großem Mut, aber ebenso großer depressiver Veranlagung. Er konnte jäh von einer Gemütsstimmung in die andere wechseln. Zu einem österreichischen Pfarrer sagte er einmal ganz unvermittelt: »Was soll man tun! Ist es etwa leicht, zum Tode verurteilt zu sein, vor allem, wenn man in der Blüte seines Lebens steht?« 1 Die drei historischen Ereignisse, die sich für sein von ewiger Hypochondrie und Fatalismus überschattetes Leben anführen lassen, sind der später auch von Tschaikowski und Prokofiew musikalisch gestaltete Sieg über Napo-
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leon im Jahre 1812, der blutig niedergeschlagene Dekabristenaufstand von 1825, der einigen Freunden und Bekannten des Komponisten den Tod oder die Verbannung einbrachte; schließlich die autokratische und menschenverachtende Herrschaftsepoche unter Zar Nikolai I. (1825–1855), den man flüsternd auch »den Prügler« nannte und der mit seinem allgegenwärtigen Geheimpolizeichef Alexander C. Graf von Benckendorff einen erbarmungslosen Exekutoren in Amt und Würden gesetzt hatte; einen Mann, mit dem ebenso gefürchteten französischen Polizeiminister Joseph Fouché genauso gut zu vergleichen wie mit den politischen Verbrechern und Massenmördern der späteren Lenin- und Stalinzeit, darunter Felix Dserschinski, Lawrenti Beria oder Genrich G. Jagoda. Glinka unterhielt Beziehungen zu den Petraschewzen, den Petersburger Intellektuellen, deren Aufstand ebenfalls niedergeschlagen wurde und in Exekution oder der sibirischen Katorga endete. Dostojewskis Aus einem Totenhaus offenbarte die ganze Brutalität der Verbannungspraxis. Man musste vorsichtig sein, um davonzukommen. Dass Nikolai I. während der Vorstellung von Ruslan und Ljudmila den Saal verließ, konnte größte Gefahr anzeigen. Schostakowitsch und Prokofiew sollten mehr als ein Jahrhundert später ähnliche Ängste ausstehen – ein grausamer cantus firmus der russischen Geschichte, in der die Freiheit der Kunst bis zum heutigen Tag ein Wagnis ist. Glinka schwärzte aus Furcht vor politischen Repressalien in seinen Erinnerungen einige Stellen über seine »früheren Kameraden«, zu welchen nicht zuletzt auch Puschkins Freund Wilhelm Küchelbecker gehörte, der nach einem Attentat auf den Zarenbruder zum Tode verurteilt, dann aber zu zehn Jahren westsibirischer Festungshaft begnadigt wurde. Sein Gedicht Rylejews Schatten war eine Elegie auf den hingerichteten Dekabristen und Poeten Kondrati F. Rylejew. In dessen Dumy (Träumereien, 1825) fand Glinka auch jenes lange und balladeske Gedicht über den Bauern Iwan Sussanin (siehe S. 64). Fabulöse, Wahrheit und Erfindung vermischende Historien über diesen todesmutigen Wolgabauern aus Kostroma gab es bereits seit gut zweihundert Jahren. II. Legende Die alten Geschichtsschreiber, behauptet Oscar Wilde, hätten uns wundervolle Dichtungen in der Form von Tatsachen hinterlassen. Daraus resultiere
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ein groteskes Paradoxon, das Wilde in seiner typischen Über-
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spitzungsmanier zu dem Schluss kommen lässt: »Nur solche Gestalten sind wahr, die niemals existiert haben.« 2 Erstaunlich ist der Automatismus, der nie stattgefundenen Begebenheiten die Leuchtkraft der Faktizität verleiht. Der Lebenswille von Legenden scheint unbegrenzt und es möchte für solch eine hartnäckige Dauer gar nicht entscheidend sein, ob das Ereignis, auf das sie sich beziehen, jemals in der sogenannten Wirklichkeit stattfand – oder ob es hernach nur eine eigene Interessen verfolgende, arabeskenreiche Überwucherung ihres vermeintlich historischen Kerns erfahren hat. Nicht selten kann man, eine Prägung Richard Wagners aufnehmend, von einer Wirkung ohne Ursache ausgehen, einer Variationsgeschichte ohne explizite thematische Vorgabe. Martin Luthers Verballhornung der Legende zu Lügende gerät hier in den Sinn. Auch wenn eine ihren Anspruch auf Authentizität glaubhaft beanspruchende Historie im Zeitenwandel mit poetisierenden Erfindungssegmenten amalgamiert wird, bleibt von ihr selbst oft nicht viel übrig. Wohl aber von den Wegen und Wagnissen ihrer Tradierungsanstrengungen. Die Geschichte eines Ereignisses wird dann selbst zum eigentlichen Ereignis. Da erfüllen solitäre Legenden die gleiche Aufgabe wie die kompakteren Mythen. Sie treten, imprägniert von der jeweils epochalen Horizontalität, die Aufgabe an, obsolete, leergeräumte oder anachronistische Bedeutungskomplexe neu zu besetzen. Die historisch verbürgte, in den nachfolgenden vier Jahrhunderten aber stets in spezifische Interessenskontexte placierte Gestalt des Iwan Sussanin kann hierfür als Beispiel par excellence angeführt werden. An ihr ließe sich ohne Mühe zeigen, wie die das eigene Leben kostende Tat eines Großbauern im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts zum ideologisch funktionalisierten Gebrauch in allen Epochen der nachfolgenden russischen Geschichte über die Selbstauflösung der Sowjetunion bis zum heutigen Tag herhalten musste. Die gerade in der Stalinzeit mit aller Finesse betriebene Rehabilitierung der russischen Militärhistorie unter Einschluss der nunmehr als Heldenepos ausgewiesenen zaristischen Herrschaftsgeschichte – man erinnere sich an Stalins Identifikation mit Iwan IV., genannt Der Schreckliche – zeigte sich etwa nach dem XVIII. Parteikongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, jenes propagandistisch aufgeblähten Parteitages »des vollendeten
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Sieges des Sozialismus« im April 1939. Damals brüstete sich der Diktator damit, über 93 % der bäuerlichen Betriebe kollektiviert zu haben. Pompös flankiert wurde das durch eine obskure Revue anlässlich der Premiere der inzwischen zur Etalage eines agrarischen Patriotismus depravierten Bauernoper Iwan Sussanin im Februar 1939 am Bolschoi-Theater, Moskau. Michail A. Bulgakow, der sich in dieser Zeit als Regieassistent, Dramaturg und Librettist notdürftig über Wasser hielt, war dabei. Er berichtete, wie die Herrschaften der Regierungsloge vor dem Epilog in die frühere Zarenloge umzogen. Kaum ostentativer, kaum zynischer aber auch konnten die totalitären Politiker eine vermeintliche Traditionsverhaftung zur Schau stellen. Am Ende der von allen Romanow-Bezügen purifizierten, mit einem neuen Text von Sergej Gorodeckij sowjetkonform versehenen Oper, als sich der Volksbefreier Minin hoch zu Ross präsentierte, brach im Publikum der anbefohlene Jubel aus; die Regierung applaudierte den Darstellern und diese der Regierung. Man tat sich hier hervor mit der verfälschenden Erfindung einer so niemals dagewesenen Vergangenheit zu politischen Zwecken – eine Intention, die Wilde mit seinem Satz von der Umformung der Dichtungen in Tatsachen als Wesen aller Historiografie bestimmt nicht gemeint hat – eher wohl Friedrich Nietzsche mit seinen Überlegungen Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, worin er vor den Gefahren einer monumentalistischen Historisierung des Gewesenen warnt, vor seiner missbräuchlich geprägten Fiktionalisierung, vor seiner Mythisierung zum »Werkzeuge der Großen«, zum »Zweck raubsüchtiger Ausbeutung« im staatlichen »Weltsysteme des Egoismus«, vor seiner Fälschung also. 3 III. Fälschung Der weitverbreitete Brauch der Geschichtsfälschung und -klitterung hat in Russland eine besonders ausgeprägte Praxis erfahren. Ein extremes Beispiel hierfür waren die schreckliche Konsequenzen heraufbeschwörenden Protokolle der Weisen von Zion, erschienen 1903 in der präfaschistischen Sankt Petersburger Zeitung Snamja, worin ein jüdisches Programm zur Welteroberung erfunden wurde. Hieran konnte dreißig Jahre später die gewaltige deutsche NS–Presse mit ihren Diffamierungskampagnen ansetzen und hiervon zehren ebenso noch die gegenwärtigen obskuren Verschwörungstheorien.
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Zur Pseudohistorie gehören im russischen Kontext die man-
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nigfaltigsten Manipulationsstrategien. Erinnert sei an die berühmte Fotofälschung des Petersburger Blutsonntags im Revolutionsjahr 1905, die stalinschen Fotoretuschen (etwa die aus den Aufnahmen herausgezogenen Revolutionäre Trotzki und Kamenew), das nicht minder berühmte, aber nachgestellte Hissen der Roten Fahne auf dem Berliner Reichstag Anfang Mai 1945 oder die inzwischen digital betriebene Bildrevolution mit ihren kaum noch nachprüfbaren Verformungen. Das reicht bis hin zu den nach der Jahrtausendwende in Gang gesetzten staatlichen Anstrengungen zur Rehabilitierung Stalins, die eigens eine Kommission entstehen ließen, die sich zum größten Teil aus Geheimdienst- und Armeeangestellten zusammensetzt; mit dem Interesse, gegen die »Falsifizierung der Geschichte zum Nachteil der Interessen Russlands« vorzugehen, darunter auch die 2008 ins Leben gerufene Institution Istoritscheskaja Pamjat (Historische Erinnerung), die sich dem Kampf gegen nicht-opportunistische Historikerstimmen widmet; jenen Stimmen, die mit großem Mut immer wieder auf die menschenverachtenden Unternehmungen der Stalinepoche hinweisen; den Pakt mit Hitler, die totalitäre Agrar- und Entwurzelungspolitik, die zu Millionen verhungerter Menschen führte, oder der paranoide Terror des Diktators und schließlich auch die Verbrechen der nachstalinistischen Sowjetisierung in den Staaten jenseits des sogenannten Eisernen Vorhangs sowie die gleichgeschaltete Medienwelt der unmittelbaren Gegenwart. Es ist traurig, dass dergleichen auch im heutigen Westen noch legitimiert werden kann. Ein Beispiel: »Und was immer man – berechtigt oder unberechtigt – gegen die Stalin-Zeit vorbringen mag, ihre Ergebnisse waren jedenfalls nicht Niedergang und Verwesung, sondern die Entwicklung eines um Jahrhunderte zurückgebliebenen Landes in eine moderne Großmacht während eines weltgeschichtlich einzigartigen Zeitraums; damit die Überwindung von Elend, Hunger, Analphabetismus, halbfeudalen Abhängigkeiten und schärfster kapitalistischer Ausbeutung.« 4 IV. Helden Es gibt vielerlei Helden. Es gibt die, die in den Dichtungen, den Ölgemälden, Statuen und – mit besonderer Hartnäckigkeit – in den Opern mythisiert, gepriesen, idealisiert oder, zumeist in später einsetzender tradierungskriti-
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scher Intention, auch entmythologisiert, psychologisiert und auf ein menschlich-allzumenschliches Format zurücktransformiert werden. Ein universelles Phänomen. Es ist bekannt in aller Welt und keineswegs auf die okzidentale Narrativik mit ihren Goten, Burgundern, Franken, den Kriegszügen gegen Wikinger und Mauren oder im weiteren Verlauf auf Figuren wie z. B. Jeanne d’Arc, Wilhelm Tell oder Robin Hood beschränkt. Nimrod, Gilgamesch, Herkules, Odysseus, Aeneas, Judith: Heldenlieder, Heldenepen, Heldensagen, oft in mündlicher Überlieferung aus einer als heroisch angesehenen Vorzeit, einem Heroic Age anhebend und dann der schriftlichen Überlieferungsgeschichte zum Fortfabulieren anheimgestellt, erfreuten sich von jeher erstaunlicher Resonanz. Das gilt ebenso für die ostslawische Form der Heldensage, die schlicht als Begebenheit zu übersetzende großrussische Byline, volkspoetisch auch Starine geheißen, ferner die melodiegetränkten, balladenhaften ukrainischen Dumky, die gerne Familienszenen mit Schlachtgemälden alternieren lassen; ein Verfahren, das als großangelegtes Prosa-al Fresco in Lew Tolstois Krieg und Frieden zu einem einzigartigen Epochenporträt gelangte. Nur wenig von Letzteren hat sich in die von ideologischer Verflachung geprägte Welt des abgelaufenen Säkulums zu retten vermocht, dessen Heldenfriedhöfe wirkliche Neuzugänge kaum noch zu verzeichnen hatten. Die berühmten Volkshelden Stenka Rasin und Alexander Newski versanken im melodramatischen Zelluloid des propagandistischen Filmtheaters. Der Geroj Sowetskogo Sojuza vollends, der von der Politikerkaste verkündete Ehrensäulenheld der Sowjetunion, ließ als derangierte Schwundstufe einstiger Heroik kaum noch etwas von deren Faszination erkennen. Prämierte politische Morde wie der an Trotzki, militärische Massaker wie der von Sukow niedergeschlagene Ungarn-Aufstand, kosmonautische Höhenflüge oder Überbietungen von Arbeitsnormen als Heldentaten zu etikettieren, brachte den einstigen Heroenstatus ebenso auf den Tiefstand wie der faschistische Heldenkult mit seinen Märtyrern der Bewegung, seinen jämmerlichen Blutzeugenschaften; ebensowenig dem einstigen Heldencharakter gemäß bieten sich die transatlantischen Selbstjustizgestalten dar, die War Machines aus Hollywood, von den Ku-Klux-Klan-Idolen in Birth of a nation bis zu den Rambos, Terminatoren oder Iron Eagles der Gegenwart.
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Anders sieht es aus mit den stillen Helden des Alltags, sol-
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chen, die sich ihrer Verdienste als Heldentaten niemals zu rühmen wissen, die überhaupt niemals ein Wesen daraus machen. Von den meisten solcher Helden sind nicht einmal die Namen bekannt. Wiederum anders steht es mit den Couragierten in Extremsituationen wie – um ein Beispiel zu nennen – dem Polen Witold Pilecki, der sich freiwillig nach Auschwitz deportieren ließ, um dort eine Untergrundbewegung zu gründen und das System des Vernichtungslager durch den inneren Widerstand der Häftlinge zu vernichten. Da sind auch noch die kleinen Leute aus dem sogenannten Volk, die Normalbürger; jene, die wie Tolstois Gerichtsangestellter Iwan Iljitsch Golowin im Angesicht des eigenen Todes zur Humanitas, zur Menschenliebe, gelangen; solche wie das in Plötzensee hingerichtete Arbeiterpaar Otto und Elise Hampel, die Anti-Hitler-Postkarten verteilten und deren Wagemut Hans Fallada in Jeder stirbt für sich allein eine moderne Heldensaga gewidmet hat. An diesen Menschen zeigt sich die Wahrheit des alten Sprichwortes, wonach man nicht als Held geboren wird, aber als Held stirbt. Nicht zu vergessen seien, sagt Dostojewski, die alltäglichen Helden: »Wer diesen grauen Alltag erträgt und dennoch dabei Mensch bleibt, der ist wahrhaft ein Held.« 5 Robert Musil führt dies fort: »Also setzen wohl auch die kleinen Alltagsleistungen in ihrer gesellschaftlichen Summe und durch ihre Eignung für diese Summierung viel mehr Energie in die Welt als die heroischen Taten; ja die heroische Leistung erscheint geradezu winzig, wie ein Sandkorn, das mit ungeheurer Illusion auf einen Berg gelegt wird.« 6 Iwan Sussanin aus Kostroma war ein solcher Held des Alltags. V. Kostroma Unter den Leuten aus der einstmals drittgrößten russischen Stadt Kostroma und dem umliegenden Land waren und sind, seltsam genug, auffällig viele Helden dieses Schlages. Iwan Sussanin steht vielleicht am Anfang einer erstaunlichen Galerie wirklicher Helden. »Es gibt in ganz Russland und vielleicht auf der ganzen Welt niemand, der seinem Geschmack, seiner Beschaffenheit, der Organisation seiner Seele nach wurzelhafter wäre als die Leute aus Kostroma, besonders aus dem Gebiet jenseits der Wolga. Von da kommt
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die organische Abneigung gegen alles, was wurzellos ist, was die Wurzeln zerfrisst, was nicht aus der Wurzel wachsen will, sondern ›aus sich selbst‹.« 7 Dies schrieb im Oktober des Kriegsjahres 1915, als in der Duma gerade der Kampf für die Amnestie religiös und politisch Verfolgter sowie die Gleichberechtigung der Bauern auf den Höhepunkt gelangte, der Philosoph, Theologe, Wissenschaftler Pawel Alexandrowitsch Florenski. Der Adressat war der Philosoph Wassili Wassiljewitsch Rosanow, ein couragierter Gegner der Bolschewiken, der seine Jugend in Kostroma verbracht hatte und nach der Revolution mit seiner Familie in einem Kloster Unterschlupf fand. Florenski, dessen Vorfahren väterlicherseits Geistliche aus der Gegend von Kostroma waren und der selbst Material zu Sprache und Volkstum im Gouvernement Kostroma sammelte, weigerte sich 1937, dem Volkskommissariat des Inneren den Ort anzugeben, an dem kostbare Klosterschätze versteckt lagen. Die berüchtigte stalinistische Gerichtstroika ließ ihn, der bereits zehn Jahre im menschenverachtenden Gulagsystem verbracht hatte, in einem Wald in der Nähe von Leningrad hinrichten. »Die schneidend schmerzhafte Liebe zum Konkreten, zum Blutvollen und, genau gesagt, zur Wurzel – zur Wurzel der Persönlichkeit« 8 – das waren die Charakteristika, die der Gelehrte der Kostroma-Mentalität attestierte. Zu den Leuten der gute dreihundert Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen alten Stadt Kostroma – gelegen direkt am Zusammenfluss des gleichnamigen Stromes mit der Wolga – sowie der weiten Landschaften des sie umschließenden Oblast gehören eine ganze Reihe von jenen Helden des Alltags, darunter nicht wenige Künstler. Alexander Solschenizyn etwa leistete seinen Militärdienst an der dortigen Artillerieschule. Sein Leben und sein Schaffen waren – die Bände des Archipel Gulag offenbaren es eindringlich – tief beeinflusst durch die lange Zeit als Häftling in der sibirischen Katorga, dem grauenvollen Strafgefangenenlager, wo es ums pure Überleben ging. Auch seine Freundin Olga Alexandrowna Ladyschenskaja, die berühmte Mathematikerin, stammte aus dem Oblast und musste gleichfalls beständig um ihr Leben bangen. Ihr Vater Alexander Iwanowitsch Ladyschenski, ein Mathematiklehrer, wurde 1937 im Rahmen der Stalin’schen Säuberungen festgenommen und zum Tode verurteilt. Ein Bauer hatte ihn zuvor gewarnt; er wollte jedoch seine Schüler nicht verlassen – auch ein stiller Held des Alltags. Der Philosoph und Dissi-
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dent Alexander Sinowjew, geboren in einem Kostromaer
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Dorf, verlor seine Lehrerlaubnis, seine Kriegsauszeichnungen als Kampfflieger im Vaterländischen Krieg und schließlich seine Staatsbürgerschaft. Arseni Tarkowski, einer der bedeutendsten russischen Poeten des 20. Jahrhunderts und Vater des nicht weniger mutigen Filmregisseurs Andrei Tarkowski, musste seine Gedichte vor Stalin und seinen Schergen geheim halten, bis erst zu Beginn der sechziger Jahre sein erster Lyrikband publiziert werden durfte. Erinnert sei schließlich auch an den Kostromaer Journalisten und Bürgerrechtsaktivisten Aleh Bjabenin, den, so scheint es nun gewiss, ein weißrussisches Todesschwadron 2010 ums Leben brachte. Erstaunlich ist diese Reihe der nonkonformistischen und oppositionellen Gestalten der etwas mehr als dreihundert Kilometer von Moskau gelegenen Stadt und ihres Umfeldes. Sie beginnt in der Tat mit der historischen Gestalt des freien und vermögenden Bauern Iwan Sussanin. An dessen Wiege dürfte es kaum gestanden haben, als Allegorie Russlands selbst in einer 1913 errichteten monumentalen Statue (Amandus I. Adamson) aufs weite Land hinauszuschauen. Sein in den Epochen sich wandelndes Charakterbild, das ihm entgegengebrachte Ansehen könnte man sich kaum wechselvoller vorstellen, und man zögert kaum, mit Schiller zu sagen: »Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.« Nach der Oktoberrevolution und der Ermordung der Zarenfamilie mitsamt des jungen Thronfolgers Michail in Jekaterina versuchten die Bolschewiken, den alten Nimbus der Stadt als Geburtsstätte der Romanow-Herrschaft zu unterminieren. Auch Sussanin, der große Freiheitsheld der Stadt, fiel diesem Verdikt zum Opfer. Nicht mehr gedacht werden sollte seiner. Das Anathem wurde aufrechterhalten bis zu der nicht minder fragwürdigen stalinistischen Rehabilitierung des nationalrussischen Erbes, als man ihn erneut, aber nun ideologisiert, zum Vorläufer des Sowjetkommunismus hochstilisierte. Dem Patrioten und Retter des ersten Zaren der Romanow-Dynastie galt nun wieder die staatlich verordnete Ehrerbietung. Ungleich wichtiger und signifikanter aber ist seine unverdrossene Präsenz in des Volkes Alltags- bzw. Umgangssprache. Noch heute wird ein Mensch Sussanin genannt, wenn er eine Gruppe zu einem Ort führt und ihr
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dies länger als gedacht vorkommt. »Du führst uns wie Iwan Sussanin«, ist dann, völlig abgelöst von jeder angstvollen Erwartung, zu hören. Wer aber war Iwan Sussanin, jener Mann also, dessen Name ursprünglich den Titel der Oper Michail Glinkas bilden sollte? Auf jeden Fall eine historische Gestalt von ungeheurem Mut; zugleich ein Mensch, der seine Aufopferung nicht in erster Linie aus Treuepflicht und Loyalität – »amor patriae nostra lex« –, sondern als autonome freiwillige Entscheidung eines Einzelnen zum Sterben beschloss. Damit, durch und in seinem Willen stärker zu sein als die condition humaine, überstieg seine über die bloße Pflicht langende und deshalb überverdienstliche Tat das Stadium des bloßen Lebenserhaltungskampfes. VI. Denkmal Gewiss ist es, dass der Grundbesitzer und Großbauer Sussanin das Oberhaupt einer durchaus vermögenden Familie war; ein Mann der zudem berechtigt war, die aus der Zeit Iwans IV. eingeführten Wahlrechte im Bereich des lokalen Selbstbestimmungsrechts wahrzunehmen. Es ist ebenso gewiss, dass er in dem unweit von Kostroma gelegenen Dorf Domnino einen landwirtschaftlich ertragreichen Hof führte. In der Gegend des Dorfes lagen jene undurchdringlichen Sümpfe, in die er die feindlichen Kriegsleute führte, um den Mord an dem gerade eben sechzehn Jahre zählenden künftigen Zaren zu verhindern. Dessen Versteck, das Kloster Ipatiew am Wolgaufer von Kostroma, galt es, um jeden Preis geheim gehalten zu werden. Auch unter der schwersten Folter verriet er es nicht. Iwan Sussanin wandte eine List an, die ihn, wie er wusste, das Leben kosten würde. Nur zum Schein hatte er eingewilligt, die polnischen und litauischen Soldaten zum Versteck Romanows zu bringen, während sein Sohn zum Kloster lief, um den designierten Zaren vor dem geplanten Attentat zu warnen. Es begann die Herrschergeschichte der Familie Romanow und es mutet seltsam an, dass fast genau drei Jahrhunderte später im Jekatarinenburger Hause eines Kaufmanns namens Ipatiew (sic !) die gesamte Zarenfamilie brutal ermordet wurde, darunter auch der kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag stehende, an Hämophilie leidende Thronfolger Alexei Nikolajewitsch Romanow; den Jungen versuchte man mit Bajonetten zu erstechen,
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nachdem die Gewehrkugeln den in seinem Hemd eingelas-
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senen Schmuck nicht durchdrungen hatten. Schließlich, als er immer noch lebte, jagten ihm die bolschewistischen Schergen zwei Kugeln durch den Kopf. Als man 1913 in Anwesenheit Nikolaus II. das dreihundertste Jahr der Romanow-Dynastie feierte, beschloss man den Bau eines Denkmals, bestehend aus den großen Gestalten der Familie. Immerhin lag hier, am Wolgaufer, der unter ganz besonderer Protektion stehende Ort, wo mit dem jungen Michail, dem Iwan Sussanin das Leben gerettet hatte, diese Dynastie begann. Nikolaus sollte da mit dem ihm zu Füßen sitzenden Zarewitsch Aleksej im Zentrum ste-hen. 1917 plante man, die fertiggestellten schweren Bronzefiguren auf die riesigen Sockel zu platzieren. Die Realgeschichte trat dazwischen. An die Stelle der schon bald eingeschmolzenen Zarenstatue trat rund zehn Jahre später eine nicht weniger als sieben Meter hohe Lenin-Skulptur. Die Bürger der Stadt tauften sie auf den Namen Romanow-Lenin-Denkmal. Kaum besser als in den Worten einer Stadtführerin lässt sich das zusammenfassen: »Hier liegt der historisch einmalige Fall vor, dass die Skulptur eines Mörders auf dem Postament steht, das für das Denkmal seiner Opfer gedacht war.« 9 2002, als man erwog, das Romanow-Lenin-Denkmal abzureißen, legten die Bürger der Wolgastadt bei einer Volksabstimmung ihr Veto ein und beschlossen: »Lenin bleibt.« Auch das Denkmal des Bauern Iwan Sussanin fand keine Gnade bei den bolschewistischen Ikonoklasten. Es missfiel den Parteigenossen dessen devote Position zu Füßen des ersten Romanow-Zaren. Deshalb wurde der Held gesprengt, um in einem Park, direkt am Wolgaufer gelegen, in gigantischer Größe neu errichtet zu werden. 2013 wiederum war es so weit, die alte Konstellation mit dem vor Michail knieenden Sussanin als Hochreliefgestaltung erneut wieder errichten zu lassen. Sussanin wurde ebenso instrumentalisiert wie der Komponist Glinka. Stalin soll sich Glinkas Oper 50-mal angehört haben; er griff in den Text selbst ein, verlangte, die Siegeshymne (Slaw’sja) zu spielen und wollte, dass die Volkshelden Minin und Pozarskij hoch zu Ross auf der Bühne einreiten. 1945 defilierten Einheiten der Sowjetarmee auf den Roten Platz und veranstalteten bei dröhnender Marschmusik vor dem Lenin-Mausoleum eine
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Parade. Gespielt wurde das Ruhm-Dir-Finale aus Glinkas Iwan Sussanin. Das »Heil dem Genossen Stalin!« wurde mit einem »Hurrah« beantwortet. Der in Paradeuniform gekleidete Diktator selbst, inmitten des Politbüros stehend, hatte Glinkas Melodie anbefohlen. Glinkas Patriotisches Lied (»Patriotitscheskaja Pesnja«) avancierte in der Ära Jelzin von 1990 bis 2000 tatsächlich zur Nationalhymne der russischen Konföderation. Die Musik- und Textähnlichkeit mit dem Schlusschor von Glinkas Oper war kein Zufall. Das Notenblatt, auf dem sich die für den Zaren Nikolai I. angefertigte kleine Komposition fand, wies dasselbe Format auf wie die Partitur der Oper. Wahrscheinlich ist deshalb, dass Glinkas Motif de chant national darin erklingen sollte. Am 23. November 1990 wurde Glinkas Melodie auf der Sitzung des Obersten Sowjets vom Blasorchester (sic!) des Verteidigungsministeriums der UdSSR so eindrucksvoll intoniert, dass der Präsident um ein da capo bat. Feierlich erhob man sich dazu. Glinkas Hymne avancierte zur Nationalhymne. Jelzin aber, der das Haus der Ermordung der Zarenfamilie einreißen ließ, um die Spuren des Verbrechens endgültig auszulöschen, stand der alten Geschichtsverfälschungstradition keineswegs unaufgeschlossen gegenüber. Er apotheotisierte Glinkas Musik so nachdrücklich als tönendes Vaterlandsmanifest, dass er sogar dafür sorgte, dass aus dem Epilog das Trio der verwaisten Familie Sussanins gestrichen wurde, um die explosiv triumphale Wirkung des Schlusschors »Sei gepriesen« nicht durch dessen bitteren Kontext, die Trauer der Familie, zu gefährden. Auch das währte indessen nicht ewig. Anfang 2000 beschloss der neue Präsident Wladimir Putin die Rückkehr zur Melodie der alten Hymne der Sowjetunion: »Sei gepriesen, sei gepriesen, Heimat Russland! / Du hast Jahrhunderte und Unwetter überdauert.« Dieses »Überdauern« erwies sich in der russischen Geschichte sowohl als Haltung den eigenen Herrschern als auch als Haltung den periodisch einmarschierenden äußeren Aggressoren gegenüber. Glinkas Oper, ursprünglich Iwan Sussanin geheißen, dann auf Anordnung Nikolaus I. in Ein Leben für den Zaren umbenannt, später – und glücklicherweise nur für einige Male – auf den Titel Für Hammer und Sichel festgelegt, konnte endlich ohne ideologisch gefärbte Kürzungen aufgeführt werden. Inzwischen greift man wieder auf Glinkas Originaltitel zurück.
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»Tempora mutantur, nos et mutamur in illis« (Die Zeiten
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ändern sich, und wir ändern uns in ihnen) – so lautet ein kluges Sprichwort aus jener Epoche, in der der wirkliche Iwan Sussanin gelebt hat. Es existiert eine Schenkungsurkunde des im Frühjahr 1613 von einer Reichsversammlung der Bojarendelegierten zum Zaren gewählten Michail Fjodorowitsch aus dem Jahre 1619. Sie wurde aufgesetzt gute sechs Jahre nach der Heldentat des Großbauern. Darin wird Iwans Schwiegersohn Bobdaschka Sobinin ein Stück Land mit einem kleinen Ort vermacht, und auch »seine Nachkommen erhielten nach Michaels Thronbesteigung einen Landstrich in der Nähe des Pfarrdorfes«. 10 Das war der Dank für die Tat Iwans, welchen »polnische und litauische Leute aufgesucht und ihn unermesslich großen Torturen aussetzten, um zu erkunden, wo zu der Zeit der erhabene Herrscher, Zar und Großfürst Fjodorowitsch war (…), der, obwohl er von uns wusste (…), unermessliche Qualen erduldete (…) und nichts über uns sagte (…) und dafür von den Polen und Litauern zu Tode gequält, (…) in kleinste Stücke versäbelt wurde«. 11 VII. Opfer Sussanins Opfertat vollzog sich vor einem düsteren historischen Hintergrund. Über einen Zeitraum von mehr als zweieinhalb Jahren blieb Russland ohne Regierung. Es waren Bürgerkriegszustände. Smuta wurde das später getauft: Zeit der Wirren. Polnische Truppen rückten vor, stürzten den von den gleichfalls eingedrungenen Schweden unterstützten Zaren Wassilij. Als der polnische König Sigismund sich zum neuen Zar inthronisieren lassen wollte, kam es zum Aufstand. Der Metzgermeister Kusma Minin und der Fürst Dmitrij Poscharski – zwei Volkshelden, die weit über dreihundert Jahre später Gorodeckij in Glinkas Werk versetzte – organisierten den Widerstand. Von ihnen ist in der Urfassung des deutschen Librettisten Georgi von Rosen an keiner Stelle die Rede. Iwan Sussanins Transferierung zur Legende, weitergegeben von Generation zu Generation, vollzog sich in den folgenden Jahrhunderten. Seine Heldentat beschreibt der Geograph, Historiker und Schriftsteller Afanasij Schekatov erstmals ausführlich in seinem Geographischen Wörterbuch (Geo-
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graficˇesko-politicˇeskij und statisticˇeskij) aus dem Jahre 1807. Auch Sergej Glinka, der Onkel des Komponisten, erzählte in seiner mehrbändigen Russischen Geschichte für die Jugend sowie seiner Ruskaja istorija (1823) davon, ebenso Batyshev-Kamensky in seinem Wörterbuch denkwürdiger Menschen der russischen Lande. Die entscheidende Inspiration für Glinka aber waren wohl die 1825 als Sammelwerk erschienenen Dumy, die als Elegien geformten Historischen Gesänge des nach dem kurz darauf folgenden Dekabristenaufstand als Rädelsführer durch den Galgen hingerichteten Kondrati Fjodorowitsch Rylejew, eines ehemaligen Fähnrichs der Artillerie, der den Feldzug gegen Napoleon mitgemacht hatte. »Die Jugend an die Taten der Ahnen zu erinnern, sie mit den glanzvollsten Epochen der Nation bekannt zu machen, die Liebe zum Vaterlande mit den ersten Eindrücken der Erinnerung zu verknüpfen« 12 – das war das Ansinnen des Dichters, der neben Sussanin einige historische Helden, darunter auch Boris Godunow und Peter der Große, in seine poetische Galerie aufnahm. Ganz offensichtlich zeigt sich in den Dumy die Affinität zu den politischen Forderungen der Dekabristen: »Wer ein russisches Herz hat, der stirbt für eine gerechte Sache / Tapfer, und entschlossen, und mit Freude!« Catterino Cavos zweiaktige historische Oper Ivan Susanin wurde im Herbst 1815 im Maly-Theater von St. Petersburg uraufgeführt. Fast zwanzig Jahre zuvor war der Sohn des Direktors des Teatro La Fenice, der sich auch als Dirigent auszeichnete, dorthin gelangt. Inzwischen galt er als allseits geachteter Komponist, der bereits über zwanzig in der italienischen Manier verfasste und durchaus erfolgreiche Opern geschrieben hatte. Seine Sussanin-Oper, basierend auf dem Libretto von Alexander Schachowskoi, sahen noch einige Rezensenten als erste vollgültige russische Oper vor Glinka an. Dabei hatte sich Schachowskoi vom alten barocken Gesetz des lieto fine, des frohen Endes also, leiten lassen, das nach Mord und Totschlag obligatorisch wieder Glück und Frieden restabilisiert. Genau dies aber wurde im Jahre 1815 bei aller Bereitschaft zur Fiktionalisierung der Historie nicht mehr als glaubwürdig angesehen. Der Kritiker Rafail Michailowitsch Zotov empörte sich zu Recht: »Die Veränderung der historischen Wirklichkeit ist einfach unnötig. Der Tod Sussanins
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gehört zu den großen und edlen Ereignissen in der Geschichte
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Russlands. Warum es also der Erinnerungen, auf die sie stolz sein können, berauben?« 13 VIII. Tragödie Glinka, der seinen Freund Wassili Schukowski, den zutiefst patriotischen Meister der russischen Ballade, das Libretto schreiben lassen wollte, konnte von diesem nur den Epilogtext erhalten. Der vom Zaren selbst als Librettist empfohlene Baron Gregori von Rosen, der das Textbuch in ununterbrochenem Kontakt zum kritisch korrigierenden Glinka verfasste, schien diesem von übermäßiger Devotheit gegenüber dem Zarenhof bestimmt zu sein. Glinkas Schluss aber war kein Dithyrambos auf den Monarchen. Es war ein Schluss, der den Kampf des Einzelnen auf dem Roten Platz explizit vom Volk und nicht vom Zarenhof feiern ließ. Cavos selbst war es, der die Uraufführung dirigierte. Glinkas Musik, so verriet er es 1836 einem Bekannten, sei »in der Tat besser als meine«, konstatierte er großmütig und attestierte der Oper zugleich den Rang als wahrhaft authentisches nationales Werk: »Sussanin ist keine melodramatische Figur: ein einfacher, gelassener Held ohne übertriebene, hochtönende Züge, ohne sich nur für den Effekt aufzuplustern; er singt, wie er im Leben sprechen würde, die Worte langsam und mit Bedacht fallen lassend, wie ein alter Bauer oder – wenn man so will – wie ein antiker Held. Was waren denn die homerischen Herrscher anderes als mythische Hirten oder Bauern?« 14 Nur das sei stark, wofür Blut vergossen werde, notierte in seinen Gedanken zu Beginn der achtziger Jahre Dostojewski. »Bloß vergessen die Schufte, dass es sich nicht bei denen als stark erweist, die das Blut vergießen, sondern bei denen, deren Blut vergossen wird. Und das, gerade das ist das Gesetz des Blutes auf Erden.« 15 – Ein zutiefst wahres Wort. Unerbittlich, unwiderruflich ist das Gesetz der Tragödie. Die einzige Lösung des Widerspruchs von kollektivem und individuellem Interesse oder Glücksanspruch liegt im irreversiblen Untergang, im Tod des tragischen Helden. Keine moderne Entlastungstherapie, keine psychoanalytische Kur, keine Sozialisationstheorie vermag dieses Gesetz aufzuheben. Es hat seine Gültigkeit bewahrt.
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Gerade im Musiktheater der Neuzeit offenbarte sich mit unverminderter Insistenz die Macht der tragischen Weltsicht. Nietzsches berühmtes Wort von der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik reklamierte, dargetan an der Gesamtkunstwerkästhetik Wagners, in der Oper, der Vereinigung von Wort, Ton und Bild, bereits die andauernde Geltung dieser Sicht; der Philosoph entdeckte sie noch unter der gleisnerischen Oberfläche einer zur Verflachung aller Geisteskultur tendierenden Gesellschaft. Ödipus, Antigone, Phèdre, Medea, King Lear oder noch Woyzeck oder Millers Handlungsreisender Willy Loman – sie alle stehen mit ihren unentwegten Transformationen im Banne jenes archaischen Gesetzes und es ist kein Zufall, dass sie in der Tonkunst bis in die unmittelbare Gegenwart hinein immer wieder auftreten. Denn weiterhin gilt: An der Größe seines Leidens erfährt das am Einzelnen vollzogene Opfer für das Ganze seinen Rechtsanspruch auf die Würde des Menschen schlechthin. Wassili Andrejewitsch Schukowski, neben seinen Freunden Puschkin und Gogol wohl die bedeutendste Gestalt der russischen Romantik, trug jenes ewige Gesetz im Sinn, als er Michail Glinka motivierte, ein tragisches Sujet sui generis, den Tod eines Menschen für das Vaterland, zur Oper auszuarbeiten. Schukowski selbst hatte die Schrecken des großen Vaterländischen Krieges gegen Napoleon als Soldat am eigenen Leben erfahren. Er setzte sich bei dem kaltherzigen Zaren Nikolaus I. für die aufständischen adligen Dekabristen ein, bewahrte einige dieser gegen die Leibeigenschaft und für eine republikanische Verfassung kämpfenden, adeligen Revolutionäre vor dem Galgen. Der Stoff, auf den er Glinka hinwies, ist von archaischer Einfachheit. Es ist der selbstgewählte Opfertod eines kleinen, aus dem Volk stammenden Mannes für das Wohl des Ganzen. Glinka, der zunächst an ein szenisches Oratorium dachte, befand sich, als er Schukowskis Stoffvorschlag annahm, in einer Phase des Wandels seiner künstlerischen Ausrichtung. Nach Jahren des Aufenthaltes in Italien und Deutschland entdeckte er jetzt die musikalisch-volkstümliche Tradition seiner Heimat. Er vollzog damit jenen typischen, als Rückkehr zum Volk ausgewiesenen Paradigmenwechsel, der sich Jahrzehnte später auch bei Dostojewski, Tolstoi oder Gontscharow vollzog. »Schreiben Sie russische Musik«, riet dem späteren Kaiserlichen Russischen Kapellmeister sein Berliner Kon-
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trapunktlehrer und Musikhistoriker Siegfried Dehn. Glinka
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folgte in seiner »heroisch-tragischen Oper« diesem Appell sogleich. Die nicht zuletzt von Heimweh gezeichnete Idee, »in russischer Art zu schaffen« (Glinka), fand in der vieraktigen, mit einem Epilog komplettierten Oper ihren unmittelbaren Ausdruck. Sie tat dies, ohne dabei die bewunderte Musik Rossinis, Bellinis, aber auch Webers ganz preiszugeben. Der großen, von einer in f-Moll sinnierenden, mit einer betörenden Klarinettenmelodie melancholisch anhebenden Kantilene der Antonida etwa, der Tochter des Titelhelden, gelingt eine geglückte Vereinigung von westlichen und östlichen Elementen. Von Rosens Libretto musste von Glinka unentwegt eingerichtet und redigiert werden. Allzu offensichtlich präsentierten sich die dramaturgischen Schwächen des Textbuches, allzu handlungsarm der Gang der gleichnishaften Geschichte, allzu autonom und unvermittelt die oft schroff aneinandergereihten musikalischen Tableaus. Ein dramatischer Phrasierungsbogen über das ganze Werk ist kaum auszumachen. Glinkas offensichtliche Vernachlässigung theatraler Wirkung zugunsten rein tonsprachlicher Ausarbeitung, ein der sinfonischen Anlage geschuldeter, gelegentlicher Verlust an dramatisch-psychologischer Ausleuchtung der Figuren, das überproportionale Gewicht der großangelegten, aber in die Handlung keineswegs integrierten Chorpassagen, gelegentlich gar der vollständige Verzicht auf Handlungsfortschreitung verursachen nicht eben selten den Eindruck von Stagnation. Die musikalische Durchformung der Faktur erhält eine geradezu protagonistische Funktion, die von der Handlungsebene völlig abstrahierenden, sinfonisch disponierten Tänze und Zwischenmusiken geraten an die Grenze zum Inflationären. Und dennoch: Wo die Sprache des Textes oft in eine klischeehafte und chauvineske Attitüde verfällt – vor allem im sogenannten Polenbild – bewahrt die dazu erklingende Musik eine ressentimentfreie Behandlung der tonsprachlich sich unterscheidenden nationalen Sphären. Iwans großangelegte Todesarie ist in seiner episodisch die Stationen vergangenen Glücks erinnernd, ein Solitär in der Geschichte des Musiktheaters. Glinka, der dem Werk aus von ihm erwarteten Opportunitätsgründen dann den Titel Ein Leben für den Zaren gab, gelang es mit kompositorischem Genie, seine ethische Passion für das Ganze musikalisch zum Ausdruck gelangen zu lassen: »Es schafft das Volk die Musik, wir Musiker arrangieren sie nur.«
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IX. Gleichnis Nicht selten liegt ein Gleichnis unter der Oberfläche der historischen Erscheinung. Modest Mussorgski hat das erkannt, als er das 1836 in Petersburg entstandene Hauptwerk des tief verehrten romantischen Komponisten Glinka, des »Vaters der russischen Musik«, charakterisierte. Als Held dieser ersten russischen Oper, die ohne gesprochene Dialoge auskommt, tritt gleichfalls erstmals ein einfacher Mann vom Lande auf den Plan, ein Ideal verkörpernd, das sich als »Werk der Notwendigkeit« offenbart. Ein solches Ideal in der Tonsprache zu realisieren, war Glinkas Ziel. Zugrunde legte er dafür jenen später auch von Tolstoi immer wieder gestalteten Wechselbezug des Einzelnen und des Ganzen. Der tragisch endende Weg des einfachen Mannes vom Lande, sein bewusst geplanter Untergang als Blutzoll für die Befreiung der Unterdrückten, wird flankiert von großen, volksmusikalisch geprägten, metrisch aber hochkomplizierten Chorszenen und melodisch weit ausgreifenden, farbreichen Kantilenen, sinfonischen Zwischenspielen, mannigfaltigen Tanzformen und einer extrem ausgeweiteten Polyphonie. Voller Missgunst schmähte die Petersburger Hofkamarilla die als Sprache der Revolte erscheinende Diktion der in einer Freiheitsapotheose endenden Oper als »Kutschermusik«: »C’est la musique de chochers.« Glinka konnten dergleichen Schmähungen nicht mehr verletzen, schon gar nicht die Herabsetzung dieses Berufsstandes. Die ganze Stadt sprach immer noch von Alexander Fjodorowitsch Labsin, dem mutigen Vizepräsident der Petersburger Akademie der Künste, der es, die Standeshierarchie verhöhnend, mit Swift’schem Spott gewagt hatte, einen Kutscher zum Mitglied vorzuschlagen, weil dieser in seinem Gefährt ja sogar noch vor dem Zaren sitze. Er wurde daraufhin nach Sibirien verbannt. Glinka selbst nahm in den schwermütigen, orientalisch beeinflussten Kutscherliedern aus dem Wolgagebiet, zu dem ja auch Kostroma gehörte, etwas zutiefst Russisches wahr, worin sich »die Liebe, dieses herrliche, das All belebende Gefühl, bei uns stets mit Traurigkeit verbunden«, artikuliere. 16 Um den gleichnishaften Kern des Werkes, die Geltung des tragischen Gesetzes eben, von den allzu üppig geratenen Massenszenen zu lösen, um die eigentliche Geschichte nicht aus den Augen zu verlieren, bedarf es einer Kon-
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zentration auf deren Thema, die auch Kürzungen und Raf-
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fungen einschließt. Unverdrossen hat sich auch eine gegenwärtige Inszenierung des Werkes die Aufgabe zu stellen, diese Diktion und auch das ihr verbundene Opfer eines einfachen Mannes zu gestalten. Die Geschichte des Bauern aus Kostroma ist ein Gleichnis, resistent gegen alle Kontingenz der aufeinanderfolgenden Epochen.
1 Michail Iwanowitsch Glinka, Aufzeichnungen aus meinem Leben, Wilhelmshaven 1969, S. 105. 2 Oscar Wilde, Der Verfall der Lüge, Werke in zwei Bänden, Bd. 1, München 1970, S. 400. 3 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Werke in drei Bänden. Bd. 1, Hrsg. Karl Schlechta, München: 1954, S. 272, 274. 4 Sahra Wagenknecht, Marxismus und Opportunismus – Kämpfe in der Sozialistischen Bewegung gestern und heute, in: Weißenseer Blätter, 4/1992, S. 12–26. 5 Fjodor Michailowitsch Dostojewski, zit. n. Frankfurter Hefte, 6. Jg., 1951, Faksimileausgabe, 1978, S. 129. 6 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke I. Reinbek bei Hamburg, 1978, S. 12. 7 Pawel Florenski, Leben und Denken. Bd. 2, Hrsg. Fritz und Sieglinde Mierau, Ostfildern 1996, S. 18. 8 Ebd. 9 Barbara Denscher, Die Stadt der Denkmäler, Reminiszenzen an Vergangenes, 29.04.2011; http:// oe1.ORF.at/artikel/224401, Zugriff am 4.10.2015. 10 Zit. n. Saint Petersburgische Zeitschrift , Hrsg. August Oldekop, Bd. 17, 4. Jg, 1. Bd., Leipzig 1825, S. 154. 11 Iwan Sussanin. Die historische Gestalt, aus: Enzyklopeditscheskj Slowas, Bd. XXXII., Hrsg. F. A. Brokgaus, J. A. Efron, Petersburg 1901, zit. n. Iwan Sussanin, Programmbuch, Zürich 1996, Übs. Markus Wyler, o. S. 12 Kondrati Fjodorowitsch Ryleev, Stivhotvorenija, Moskau 1956, zit. n. M. Berndt, J. Niemcewicz und K. Ryleev, Berlin 1961, S. 41. 13 Zit. n. Anna Giust, Ivan Susanin di Catterino Cavos, Un’opera russa, Turin 2011, hier Übs. Stephanie Schulze, S. 254. 14 Ebd. S. 282 15 Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers, in: Sämtliche Werke in zehn Bänden, München 1980, S. 599. 16 M. Glinka, a. a. O., S. 103.
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