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Dr. Andreas Püttmann, Bonn
Das Christliche in der Demokratie Theologische Grundlegung, sozialethische Aktualität, strategische Opportunität 1. Ein Christ betet, dass Gottes Wille geschehe, dass sein Reich komme, „wie im Himmel so auf Erden“. Er sollte also politisch sein, darf die Welt nicht sich selbst überlassen. Das II. Vatikanische Konzil fordert alle „geeigneten“ Katholiken auf, sich „darauf vorzubereiten, den schweren, aber zugleich ehrenvollen Beruf des Politikers auszuüben, und sich diesem Beruf unter Hintansetzung des eigenen Vorteils und materiellen Gewinns zu widmen“ (GS 75,6). Jenseits der Politik sind alle Christen zur Übernahme von Verantwortung für die res publica berufen. Mit dem heilsgeschichtlichen Datum der „Inkarnation“ ist das „Reich Gottes“ angebrochen, das zu vollenden zwar göttlicher Gnade und Vorsehung vorbehalten ist, woran mitzuarbeiten Gott aber die Menschen aufruft. „Inkarnation“ meint nicht nur das kosmische Ereignis der Geburt Jesu Christi auf der Erde, sie ist „das Kriterium jeder vitalen Gestalt jüdischer und christlicher Existenz. (…) Der Gott, den Jesus ‚Vater’ nannte, ist keine Chiffre und schon gar keine Projektionsfläche für selbstgebastelte Werte. Im Gegenteil: Er ist unangenehm konkret. Sein Wille – von Israel ‚Tora’ genannt – soll das Leben des auserwählten Volkes so prägen, dass die anderen Völker sich von selbst anschließen. In der Bibel wird der Versuch, ganze Lebensbereiche von Gottes Willen abzukoppeln, als heidnisch bezeichnet. Was für das auserwählte Volk Israel gilt, gilt analog für die Kirche: Wo ihre Mitglieder das Leben in Wirtschaft, Ausbildung, Wissenschaft, Beruf und Familie als Tabuzonen des Glaubens betrachten, bietet das Christentum das Bild einer fortschreitenden Schwindsucht. (...) Wo das Christentum zu einer unsichtbaren Privatsache wird, ist es desinkarniert und deshalb in zunehmendem Maße wirkungslos“ (K.-H. Menke). 2. Das Christentum setzt der politischen Ambition jedoch auch Grenzen. Karl Raimund Popper warnt: „Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln (...). Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unsere Träume der Weltenbeglückung aufgeben. Dennoch können und sollen wir Weltverbesserer bleiben – aber bescheidene Weltverbesserer“. Ist die Rolle des „bescheidenen Weltverbesserers“ aber nicht geradezu auf den Christen zugeschnitten? Besteht doch das Weltverhältnis des christlichen Glaubens „in jenem überaus differenzierten Verhalten, zu dem es gehört, die Welt sowohl zu fliehen, als auch zu gestalten als auch sie als Gottes Schöpfung gegen die Kräfte der Zerstörung in Schutz zu nehmen, vor allem aber, sie zu ertragen“ (B. Hanssler). Die christliche Sozialethik fördert einen „Typus der distanzierten Beteiligung“, der für Bestand und Funktionen der demokratischen Ordnung eine wichtige Aufgabe erfüllt: „In den neueren Anschauungen über das, was in der Demokratie wünschenswert sei, ist dem Staatsbürger, der dem politischen Geschehen mit distanzierter Aufmerksamkeit folgt, eine besondere Rolle zugedacht. Er soll die Veränderung ermöglichen, er soll bürgerkriegsähnliche Spaltungen der Nation verhindern, und er hält im Ganzen das System für die Zukunft offen. Dieser Staatsbürger ist nicht der Mann der ideologischen Verhärtung“ (G. Schmidtchen). Der Christ wird die Verfassungsrealität zwar an übergeordneten Werten messen und daraus einen Impuls zur politischen Verbesserung bewusst ableiten oder unbewusst verspüren. Kraft seines Jenseitsglaubens sollte er aber zugleich immun gegen die Utopie der irdischen Paradiese sein und die Notwendigkeit des vernünftigen Kompromisses sehen. „Das Politische, in seiner Wichtigkeit reduziert, kann temperiert, diskutabel, pragmatisch, zweckrational werden. Der Gläubige mag in demokratischen Verfahren siegen, als siege er nicht, und verlieren, als verlöre er nicht. Er bringt die Grundgelassenheit in das staatliche Leben ein, auf die das moderierte und limitierte Verfassungssystem angewiesen ist. Er
findet hier zwar den Ort seiner zeitlichen Bewährung, aber nicht den seiner endgültigen Erfüllung. (…) Die christliche Hoffnung fängt die Weltunsicherheit auf durch das Vertrauen auf den, der die Welt überwunden hat. Sie ist gefeit gegen heilsutopischen Aktionismus wie gegen Aussteigertum aus Angst. Sie greift nicht zu hoch und schlägt deshalb nicht um in Enttäuschung oder Verzweiflung. Sie lässt sich nicht erschüttern durch das Scheitern der Entwürfe, weil sie das mögliche Scheitern von vornherein einkalkuliert. Sie akzeptiert die Unvollkommenheit dieser Welt und bietet ihr – das Bild einer besseren vor Augen – Widerstand. Sie fordert Bewährung im Dienst für die anvertrauten vergänglichen Güter. Sie entbindet das scheinbar Widersprüchliche: Hingabe und Distanz, Anstrengung und Gelassenheit. Sie gibt auch dem politischen Wirken fröhliche Tatkraft, weil sie die Perspektive der Zukunft, damit die Möglichkeit von Sinn, über die Grenzen der Zeitlichkeit hinaus, offen hält. Der Christ bewährt sich auch als homo politicus, gemäß dem Lutherwort, dadurch, dass er, selbst dann, wenn er sicher wüsste, dass morgen die Welt unterginge, heute noch ein Bäumchen pflanzte“ (J. Isensee). 3. Der Christenschwund in Deutschland und Europa (ihr Bevölkerungsanteil in der Bundesrepublik sank seit 1950 von - nominell - 95 auf 58 Prozent) entzieht christlich-demokratischer Politik geistig den Nähr- und Resonanzboden. Nur noch etwa ein Zehntel der Wahlberechtigten besucht regelmäßig den Gottesdienst. Das „christliche Menschenbild“ als programmatischer Angelpunkt der „C“-Parteien ist aber ohne christlichen Gottesglauben auf die Dauer nicht zu bewahren, was sich in bioethischen Fragen bereits zeigt. Das Abschmelzen der CDU/CSU-Wählerschaft von „ 50 minus x“ (1953-1983) auf „40 plus x“ (1987-1994), „40 minus x“ (1998-2005), „30 plus x“ (2009) und nur noch ausnahmsweise über 40 Prozent (2013) hat hier eine Ursache. 4. Damit wurde die christliche Selbstdefinition parteipolitisch jedoch nicht automatisch inopportun, denn „die säkularisierte Gesellschaft ist mitnichten religions- oder kirchenfeindlich“ (V. Neu). Die Wertschätzung des Christentums geht weit über den Kreis der kirchennahen Bürger hinaus. Zwei Drittel der Wähler sind Christen, die Sympathiewerte des Wortes „Christlich“ stets deutlich höher als die der C-Parteien. Die Zahl der Kirchenaustritte (<1%/Jahr) ist, gemessen an der Glaubenssubstanz, erstaunlich gering, die Scheu vor einer „Gesellschaft ohne Gott“ verbreitet. Nicht von ungefähr bemühen sich alle demokratischen Parteien um ein gutes Verhältnis zu den Kirchen. Eine Zweidrittelmehrheit hält Deutschland und Europa für „sehr stark“ oder „stark durch das Christentum geprägt“. Eine absolute Mehrheit findet es „sehr“ oder „auch wichtig, dass eine Partei sich an christlichen Grundsätzen orientiert“. Die Vorstellungen von den Positionen eines christlichen Politikers fallen positiver aus als die von denen eines konservativen Politikers: Vom Christen erwartet man häufiger, „dass er sich für sozial Schwache einsetzt“ (75:29%), „für Freiheit eintritt“ (52:34%), „weltoffen, tolerant ist“ (52:17%), „sich für den Umweltschutz einsetzt“ (35:18%); weniger als beim konservativen Politiker vermutet man bei ihm, „dass er von Ausländern verlangt, sich weitgehend an die deutsche Kultur anzupassen“ (35:67%) und fordert, „dass die Arbeitslosen-unterstützung deutlich niedriger ist als das Einkommen eines Berufstätigen“ (15:41%), „dass er patriotisch, stolz auf sein Land ist“ (19:57%) und „gegen die rechtliche Gleichstellung von homosexuellen Paaren ist“ (28:58%). 5. Für die Anhänger der Union hat das Christliche „eine größere Bedeutung als für die Anhängerschaften anderer Parteien. Somit haben sie auch spezielle Bedürfnisse hinsichtlich des ,C‘ an die Partei“ (V. Neu). Eine gewichtige Minderheit der CDU/CSU-Anhänger meint: „Es wäre besser für Deutschland, wenn mehr Menschen mit einer starken religiösen Überzeugung öffentliche Ämter innehätten“ (37%) und: „Die Standpunkte der Kirchen sollten in der CDU stärkeres Gewicht haben“ (38%).
6. Adenauer plädierte 1962 dafür, zum C „aus klaren Gründen prinzipieller Entschiedenheit zu stehen und die Frage der Opportunität in diesem Punkte überhaupt nicht zuzulassen“. Eine Partei müsse „einen weltanschaulichen Boden haben“. Ausgerechnet ein ostdeutscher Christdemokrat (A. Vaatz) sprach 1998 sogar vom C als „unserer offensivsten politischen Waffe“. In den politischen Eliten der neuen Bundesländer sind Christen – insbesondere Katholiken – seit 1990 überrepräsentiert. Authentisches Christsein schadet in der säkularen Öffentlichkeit grundsätzlich nicht. 7. Die vier ursprünglichen Bedeutungen des C: die antitotalitäre, ökumenische, sozialintegrative und wertorientierte, haben ihre Relevanz nicht verloren, sondern in modifizierter Form behalten oder sogar noch erhöht. Die sozialethische Aktualität christlicher Wertorientierungen für die Politik lässt sich „negativ“ an einer Fülle gesellschaftlicher Krisenphänomene ablesen, für deren Bearbeitung das Christentum mehr Orientierungswissen bereit hält als sozialistische, liberale, ökopazifistische oder rein technokratische Weltanschauungen . „Positiv“ erkennbar ist sie in empirischen Untersuchungen zu demokratischen Bürgertugenden (Christen als „Werte-Elite“). Sie bestätigen das Vermächtnis des Widerstandes gegen die NS-Diktatur ebenso wie die Verfassungserwartungen an die Kirchen. 8. „Die Vitalität der religiösen Kultur beeinflusst das Wertesystem der Gesellschaft“ (R. Köcher) vor allem bei Lebensschutz, Rechtsbewusstsein, normativem Denken, ökonomisch relevanten Haltungen, sozialem Engagement, politischer Mäßigung und Partizipation sowie bei der Beziehungsstabilität, der psychischen Gesundheit und der Lebenszufriedenheit. 9. Maßstäbe der „Christlichkeit“ einer Partei können gemäß dem „kulturethischen Dreieck“ von Normen, Institutionen und Tugenden (Ethik der Mittel) zur Verwirklichung von Werten (Ethik der Ziele) bestimmt werden. Das heißt konkret: Besteht eine Kongruenz oder zumindest Konvergenz von Programmatik, Gesetzesinitiativen und Diskurs einer Partei mit den christlichen Normen? Wie steht es um Dialog und Kooperation der Partei mit den Institutionen des Christlichen (Kirchen)? Entspricht der Habitus eines christlichen Politikers im Umgang mit politischen Gegnern, in seiner privaten Lebensführung (soweit sie öffentlich wird) und im religiösen Bekenntnis (ohne dass dies aufdringlich sein sollte) dem Ethos des Christentums, weicht zumindest nicht zu oft oder zu krass davon ab? 10. Zum Kriterium Normen: Die Schriften des Christentums enthalten kein politisches „Rezeptbuch“. Es gibt Differenzen zwischen Christen schon in der zugrunde liegenden Realitätswahrnehmung (z.B. zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern) und in der Einschätzung der adäquaten Zweck-MittelRelationen bei unstrittigen Zielen (z.B. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit). Zudem kann keine Partei ihre Vorstellungen im politischen Prozess von Willensbildung und Willensintegration ohne Kompromisse (unter den eigenen Mitgliedern, mit Koalitionspartnern, gegenüber der öffentlichen Meinung, bisweilen auch der Opposition) „Eins zu Eins“ durchsetzen. Gesinnungstüchtiger Bibelfundamentalismus würde schon bald ins politische Niemandsland führen, in Dilettantismus und Misserfolg, Mehrheitsunfähigkeit und Machtverlust. Auch die Kirchen entwickeln ihre ethischen Positionen am besten im Dreischritt: sachwissenschaftliche Analyse (religiös weitgehend unspezifisch), philosophisch-ethische Wertereflexion (christlich inspiriert) und prophetische Sinndeutung (spezifisch christlich), wobei letztere nicht mehr ins Metier der Politik fällt. Insofern darf auch bezweifelt werden, dass man sinnvoll von einer „christlichen Politik“ sprechen kann.