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Das Journal Nr. 15 - Die Staatstheater Stuttgart

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Das Journal Nr. 15 // Frühjahr / Sommer 2015 Die Staatstheater Stuttgart // Frühjahr / Sommer 2015 // Nr. 15 Das Journal Inhalt Das Journal Frühjahr / Sommer 2015 Typisch BW-Bank Kunden: Haben stets auch die Wertbeständigkeit im Auge. Schauspielerin Caroline Junghanns mal nicht auf sondern hinter der Bühne der Staatstheater Stuttgart – inmitten der Bühnentechniker während eines Kulissenumbaus. (Foto: Martin Sigmund ) 01.  Die Möglichmacher // SEITE 5 Die Künstlerischen Betriebsbüros der Staatstheater 02.  Dinner unterm Reifrock // SEITE 8 Wiederaufnahme Der Rosenkavalier 03.  Ein ganzes Tänzerleben // SEITE 10 Marcia Haydées prachtvolles Märchenballett Dornröschen 04.  „Die wahre Liebe ist sehr schwierig“ // SEITE 12 Regisseur Yannis Houvardas über Mozarts Così fan tutte 05.  So werden Sie zum Cranko-Profi! // SEITE 14 Eine Gebrauchsanweisung 06.  Da tropft, plätschert und rauscht es // SEITE 16 Nixe – Eine Meerjungfrauenoper ab 12 Jahren Baden-Württembergische Bank Blicken Sie ganz entspannt der Zukunft entgegen. Mit höchster Sorgfalt und professionellem Know-how finden wir gemeinsam mit Ihnen Lösungen, die Sie überzeugen werden. Das beschert uns seit Jahren sehr gute Ergebnisse bei der Zufriedenheit unserer Kunden.* Erleben auch Sie ausgezeichnete Beratung. * 93 % zufriedene Kunden laut repräsentativer Kundenzufriedenheitsanalyse 2013 bei Privatkunden 07.  Southern Belle // SEITE 18 Nach über zehn Jahren wieder im Spielplan: Endstation Sehnsucht 08.  TERRORisms // SEITE 20 Internationales Theaterfestival des Schauspiel Stuttgart vom 24. bis 28. Juni 2015 Plus  10 Fragen an … // SEITE 26 Arno Laudel, Direktor Zentrale Technische Dienste www.bw-bank.de Karten und Informationen 0711.20 20 90 // www.staatstheater-stuttgart.de 01.  Und, wie läuft’s? Vorwort Sehr geehrte Leserinnen und Leser, liebes Publikum der Staatstheater Stuttgart! Stefan Herheims fulminante Rosenkavalier-Inszenierung, für die er in der Opernwelt-Kritikerumfrage 2010 zum »Regisseur des Jahres« gewählt wurde, steht seit 12. April wieder auf dem Spielplan der Oper Stuttgart. Am 16. April feiert die Junge Oper mit Nixe, einer Meerjungfrauenoper für alle ab 10 Jahren, die Premiere ihrer ersten Neuproduktion in dieser Spielzeit. Der griechische Regisseur Yannis Houvardas inszeniert mit Mozarts Tragikomödie Così fan tutte, musikalisch geleitet von Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling, zum ersten Mal in Stuttgart (Premiere: 31. Mai). Beim Stuttgarter Ballett stehen in dieser Spielzeit noch eine Premiere und zwei Wiederaufnahmen bevor ... Der Ballettabend Alles Cranko! vereint vier Juwelen des Cranko-Repertoires, allesamt Stücke, die die Musik vier sehr unterschiedlicher Komponisten in Tanz umsetzt. Hochdramatisch geht es dann mit John Neumeiers tänzerischer Umsetzung von Tennessee Williams’ Drama Endstation Sehnsucht weiter und den feierlichen Abschluss der Spielzeit bildet Marcia Haydées beliebtes Märchenballett Dornröschen in der spektakulären Ausstattung von Jürgen Rose. Seit Beginn der Spielzeit 2013/14 ist das Schauspiel Stuttgart Mitglied der Union des Théâtres de l’ Europe (U.T.E.). In einem gemeinsamen Projekt wurden fünf Uraufführungen erarbeitet, die sich mit dem Themenfeld »Terrorismus« beschäftigen. In Stuttgart kommen diese fünf Inszenierungen im Rahmen des internationalen Theaterfestivals TERRORisms im Juni zu einer europaweit einmaligen Gesamtpräsentation zusammen. Wir freuen uns auf Sie! Die Staatstheater Stuttgart Umbau auf der Bühne des Opernhauses: Viele Arbeitsschritte müssen geplant werden, damit geprobt und gespielt werden kann. Auf den folgenden Seiten dreht sich alles um »die Möglichmacher« dieser gewaltigen logistischen Aufgaben. Die Möglichmacher Ohne sie wären die Bühnen der Staatstheater Stuttgart leer: Die Künstlerischen Betriebsbüros sind die Schaltzentralen von Oper, Ballett und Schauspiel, deren Disponenten wahre Magier. Denn sie koordinieren nicht nur Programme und Proben, sondern auch Technik, Maske und vieles mehr. Opernfans fiebern ihnen entgegen: Così fan tutte, Into the Little Hill oder Rigoletto – so heißen die Premieren, die noch in dieser Saison den Spielplan der Oper Stuttgart bereichern werden. Auch Halina Ploetz freut sich, obschon sie längst in der Zukunft unterwegs ist. Die Chefdisponentin im Künstlerischen Betriebsbüro (KBB) der Stuttgarter Oper muss schon jetzt planen, was die Zuschauer in drei bis vier Jahren zu sehen und zu hören bekommen. »Oper ist eine grenzüberschreitende Kunstform. Nicht nur spielen wir Werke in den verschiedensten Originalsprachen, wie Italienisch, Deutsch, Französisch, Englisch, Tschechisch oder Russisch, auch Sängerinnen und Sänger, Dirigentinnen und Dirigenten arbeiten international. Und um die zu bekommen, mit denen wir arbeiten wollen, müssen wir früh die Verträge mit ihnen schließen.« KBBs sind die Schaltzentrale in Theaterbetrieben. Dort wird versucht, die Ideen der Intendanten umzusetzen, und – abgestimmt mit allen Abteilungen von der Technik über die Maske und die Kostüme bis zu den Künstlern – der Spiel- und Probenbetrieb geplant. Das Aufgabengebiet umfasst die Tages-, Wochen-, Monats- und Jahrespläne aller Beteiligten. Diese wiederum sind die Arbeitsgrundlage für alle Mitarbeiter der Staatstheater von der Logistik über die Transporte bis zum Notfallmanagement. Und weil im Stuttgarter Dreispartenhaus bei den Planungen die Oper zeitlich ganz vorne dran ist, laufen dort auch die Zügel der Dispositionskollegen der andern beiden Sparten zusammen. Doch nicht nur, wenn die nächsten Spielzeiten geplant werden, ist Ploetz mit Krzysztof Nowogrodzki, Produktionsleiter des Stuttgarter Balletts, und Lydia Herweh, Leiterin des Künstlerischen Betriebsbüros am Schauspiel Stuttgart, in Kontakt. Denn Ploetz ist die Taktgeberin für insgesamt 130 Orchestermusiker, 75 Choristen, einen Kinderchor, ein Ensemble aus 31 Sängern, das Opernstudio sowie eine Vielzahl internationaler Gastkünstler. Leidenschaftlich beschreibt Ploetz, wie sich aus all den Parametern ein Spielzeitprogramm herausschält. Erst einmal würden die Premieren festgelegt. Wenn deren Titel mit dem Intendanten Jossi Wieler, der Operndirektorin Eva Kleinitz, dem Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling und dem Chefdramaturgen Sergio Morabito gesetzt seien, würden die passenden Dirigenten und Regisseure gesucht. In der Regel werden im Opernhaus in jeder Spielzeit fünf Opern und zwei oder drei Ballette neu produziert. Hinzu kommen 26 Produktionen aus dem bestehenden Repertoire von Oper und Ballett. »Ziel ist, dass der Spielplan im Opernhaus aus mindestens 155 Opern, besser mehr Vorstellungen, besteht, das Ballett wiederum 75 bis 80 Auftritte hat«, so Ploetz. Daraus ergäbe sich, zu welchem Zeitpunkt wie viele Musiker des Staatsorchesters gebraucht würden. Denn der Spielplan umfasst Werke verschiedener Epochen: von kleiner besetzten Barockopern bis zu großen sinfonisch besetzten Werken. Hinzu kommen die Konzertreihen des Staatsorchesters in der Liederhalle. Ebenfalls in der Planung zu berücksichtigen ist die Disposition von Opern mit und ohne Chor, denn der Staatsopernchor müsse neben seinen Auftritten im laufenden Repertoire genügend Zeit haben, um neue, schwierige Werke einzustudieren, wie beispielsweise in der vergangenen Spielzeit die Uraufführung von Mark Andres wunderzaichen oder in dieser Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 Taktgeberin für Sängerensemble, Chor und Orchester: Halina Ploetz, die Chefdisponentin für Oper und Ballett (rechts, mit Assistentin Franziska Nothdurft) plant drei bis vier Jahre im Voraus. Flexibler als ihre Kollegen von Oper und Ballett plant Lydia Herweh, die Leiterin des KBB im Schauspiel Stuttgart. Nur so können die ca. 420 Vorstellungen der Spielzeit über die Bühne gehen. »Alles, was geht, möglich machen«: Der Produktionsleiter des Stuttgarter Balletts, Krzysztof Nowogrodzki, plant nicht nur für das Haus am Schlossgarten, sondern auch für zahlreiche Gastspiele auf der ganzen Welt. Spielzeit Mussorgskijs Oper Chowanschtschina in russischer Sprache. »Wir erstellen aufgrund all dieser Gegebenheiten ein Gerüst, nach dem dann das Ballett planen kann.« Für beide Sparten kommen in der Planung noch die baulichen Herausforderungen des über 100 Jahre alten Opernhauses hinzu: Der Lagerplatz für die Kulissen ist sehr begrenzt und sie können nur im auseinandermontierten Zustand auf die Bühne und auch wieder herunter gebracht werden. Der Weg vom Lager dorthin ist ein Flaschenhals, knapp über zwei Meter breit und gerade einmal doppelt so hoch wie eine Berliner Altbauwohnung. Auf- und Abbau beanspruchen daher kostbare Zeit, die dann für Proben nicht mehr zur Verfügung steht. »Im laufenden Betrieb wird es dann richtig eng«, so Ploetz. Oper und Ballett können gleichzeitig nur etwa sieben Produktionen im Haus lagern. Die Kulissen aller anderen Produktionen werden in einem Außenlager aufbewahrt. Das teilen sich alle Sparten. Und es ist voll. »Um die 15 neuen Opernproduktionen, die bis zum Sommer 2017 hinzu kommen, lagern zu können, müssen 15 ältere Produktionen aus dem Repertoire genommen werden. Das stellt den Opernintendanten vor schwierige Entscheidungen.« Ist all dies für die Spielzeit bedacht, wirft schließlich am Schluss das Schauspiel seinen Ball in die komplexe Jonglage der Koordination. »Nachdem Oper und Ballett sich über die Planung im Opernhaus geeinigt haben, stehen damit auch zwangsläufig die Zeiträume für eine Ballett-Premiere und eine Ballett-Wiederaufnahme für das Schauspielhaus fest. Diese Zeiträume lassen sich einfach kaum mehr bewegen und das ist manchmal ein harter Brocken für Lydia«, schmunzelt Halina Ploetz. Doch die KBB-Leiterin des Schauspiels kann damit gut umgehen. »Bei uns läuft es kurzfristiger ab, wir planen unsere Vorstellungen in der Regel Monat für Monat wie andere Schauspielhäuser auch. Über die gesamte Spielzeit plane ich ca. 420 Vorstellungen für das Schauspiel«, schildert Lydia Herweh. »Die Disposition funktioniert anders als bei der Oper. Schauspieler sind oft gleichzeitig an anderen Theatern engagiert, drehen Filme oder Fernsehserien.« Dabei sei das Schauspiel, das neben dem eigenen Ensemble von 36 Schauspielern auch Gäste engagiere, darunter prominente Namen wie Corinna Harfouch und Fritzi Haberlandt, vor allem von der deutschsprachigen Theaterlandschaft abhängig. »Das liegt in der Natur der Sache, im Schauspiel wird gesprochen. Internationale Koproduktionen, wie die Zusammenarbeit mit dem Nationaltheater Radu Stanca Sibiu, sind dabei eher die Ausnahme.« Während das Schauspiel sein Haus und als weitere Stätte das Nord bespielt, nutzen Oper und Ballett das Opernhaus gemeinsam. Lachend erklärt Chefdisponentin Ploetz: »Und um es noch komplizierter zu machen, das Ballett tanzt auch im Schauspielhaus, da müssen sich die beiden wiederum einigen – und wir alle teilen uns ja auch noch das Kammertheater.« Klar, dass hier nichts ohne ständige Absprache geht. So muss Ploetz beispielsweise recht früh von Krzysztof Nowogrodzki wissen, wann die Compagnie Gastspiele hat. Denn während das Ballett eher selten Gäste auf die Bühne holt, weil das Publikum, wie Nowogrodzki betont, gerne die eigenen Tänzer sehen will, wird die Stuttgarter Compagnie oft eingeladen, in an- 5 01. deren Städten und Ländern aufzutreten. Das wiederum wirkt sich auf die Oper und das Schauspiel aus, denn den Tänzern kann eine solche Reise nur durch die Solidarität der anderen Sparten ermöglicht werden, in diesem Fall durch die Bereitschaft des Opernensembles, das Opernhaus alleine zu bespielen. »Das ist durchaus herausfordernd, weil Choristen, Solisten und Musiker ja auch freie Tage haben und Pausen brauchen«, beschreibt Ploetz. Entsprechend muss der Spielplan so gestaltet werden, dass ihn Sänger und Chor bewältigen können. »Bei einem längeren Gastspiel ist klar, dass wir eine chorlose Oper spielen müssen, sonst kollidiert das Programm mit den Arbeits- und Ruhezeiten.« Hier steht denn auch in der kommenden Spielzeit den Staatstheatern eine Feuerprobe ins Haus: Zur Feier der 20-jährigen Ballettintendanz von Reid Anderson geht das Stuttgarter Ballett seit längerem zum ersten Mal wieder für mehrere Wochen auf Tournee. Dazu Ploetz: »Damit das Sängerensemble und der Chor noch Zeit für Einstudierung wie Proben finden und das Ballett nicht ganz vom Spielplan verschwindet, hat Ballettintendant Reid Anderson eine Gastcompagnie eingeladen.« Klar sei, so fügt Krzysztof Nowogrodzki hinzu, dass das Ballett ohne Orchester tourt – und auch nur einige Mitarbeiter aus den Bereichen Maske, Kostüm, Technik, Beleuchtung und Ton mitnehmen könne. Denn ein Großteil derer würde ja auch im Stuttgarter Betrieb gebraucht. »Hier schaut man, welcher Beleuchter oder Tonmann sich gut mit welchem Stück auskennt, und versucht, entsprechend einzuteilen, wer mitfahren und wer hier bleiben muss. Ansonsten muss man auch freie Mitarbeiter engagieren.« Oder am Gastspielort mit Technikern und Komparsen, etwa Ballettschulen, zusammenarbeiten, wie es das Stuttgarter Ballett seit Jahren tut. »Durch all diese Zusammenhänge wird deutlich, warum wir nicht jede Gastspieleinladung annehmen können.«, sagt Krzysztof Nowogrodzki. Zumal ein Ballett, das die Compagnie auf einem Gastspiel präsentiere, nicht in derselben Saison in Stuttgart gezeigt werden könne. Unter anderem aus logistischen Gründen: Die Kulissen des Balletts gehen lange vor der Compagnie auf die Reise, gut verpackt per Containerschiff. Und damit sind sie in der Regel mehrere Monate zum Gastspielort hin und zurück unterwegs. Für die Oper ist es durch die enge Verzahnung des Spielbetriebs und die Bedienung der zahlreichen Abonnements leider kaum möglich, die regelmäßig eingehenden Gastspieleinladungen renommierter Festivals anzunehmen, zumal die Planung hier noch einmal komplexer ist, weil das Staatsorchester dann natürlich mitreisen muss. Durch diese gegenseitigen Bedingtheiten muss denn auch so manche Idee der Intendanten anders umgesetzt oder manchmal auch fallen gelassen werden. »Das passiert sehr selten, wir versuchen alles, was geht, möglich zu machen«, lacht Nowogrodzki. »Formulieren wir es so: Die Intendanten haben klare Vorstellungen. Aber die Kunst ist lebendig – und so entwickeln sich Dinge, die vor vier Jahren geplant wurden, eben auch mal anders, weil sie in einem Dreispartenhaus passend zusammengefügt werden müssen.« Als Beispiel führt er das Ballett Romeo und Julia zur Musik Sergej Prokofjews an. Dafür sei ein volles Orchester von rund 80 Mann nötig – gleichzeitig könne daher keine großorchestrierte Oper wie Tristan oder Rosenkavalier gespielt werden. »Die Musiker sind hier mit den Diensten schnell über ihre arbeitsrechtlichen Grenzen hinaus«, weiß Ploetz. Der Kinderchor hat noch restriktivere Vorgaben. Dieser hatte etwa in der letzten Spielzeit durch die Opern die Auftrittszahl erreicht, die gerade noch genehmigt waren. Daher fand man für Demis Volpis Krabat, nachdem es so viele Zuschauer nochmals sehen wollten, eine andere Lösung: Die Lieder, die die Kinder in der Ursprungsfassung live im Off sangen, wurden aufgenommen und vom Band abgespielt. »Auch für Krabat gilt: Da es für seine magischen Momente eine enorme Vorbereitungs- und Aufbauzeit braucht und viele Kapazitäten bindet, kann es nur begrenzt aufgeführt, beziehungsweise im Spielplan nur mit weniger aufwändigen Stücken kombiniert werden«, betont Ploetz. Die Herausforderungen bei Kooperationen zwischen zwei Sparten sind nicht nur technischer Natur. Auch die unterschiedlichen Arbeitsweisen und -zeiten sind nicht einfach unter einen Hut zu bringen. Im Ballett wird beispielsweise täglich trainiert, außerdem finden bis abends Proben statt. »Klar brauchen auch Tänzer ihre Pausen, dennoch müssen die Körper Bewegungen und Choreographien ständig wieder- 6 01. holen, um das Niveau zu halten«, erläutert Krzysztof Nowogrodzki. Das wiederum beeinflusst die Probenpläne. In den Arbeitsphasen zu Glucks Orphée et Euridice, bei dem das Ballett und die Oper kooperierten und Choreograph Christian Spuck Regie führte, hätten die Beteiligten auf die jeweiligen Bedürfnisse der Partner aus der anderen Sparte reagiert. »Die Tänzer kamen etwas früher, die Musiker etwas später zur Probe«, so Nowogrodzki. Und Ploetz ergänzt: »Einiges wurde in Einzelcoachings oder in Gruppen erarbeitet. Und so erfuhren die Sänger, wie es ist, im Ballettsaal zu proben und das Ballett, wie es auf der Probenbühne der Oper ist.« Einig sind sich beide, dass es eine wunderbare Erfahrung gewesen sei. Während die Sänger schon fast tanzen wollten, hätten die Tänzer die Lippen zu den Arien mitbewegt. Eine zentrale Aufgabe der Disponenten ist die Planung der Auf- und Abbauzeiten auf den Bühnen. Nach einer Ballettprobe muss der spezielle Schwingboden abgebaut werden, ... ... während am Bühnenrand bereits der Aufbau für Kulissenteile der abendlichen Vorstellung gesteuert wird. Für alle Umbauten müssen immer genügend Bühnentechniker eingeplant werden, die mitunter auch große Stoffbahnen schnell und sicher an die richtigen Seile knoten. Zur gleichen Zeit verschiedene Aufgaben an einem Ort erledigen: Was für Bühnentechniker gilt, ist auch für die Mitarbeiter der Künstlerischen Betriebsbüros ganz normaler Arbeitsalltag. Die Chefdisponentin der Oper ist denn schon gespannt auf die neue Spielzeit, in der eine Koproduktion zwischen Schauspiel und Oper auf dem Programm steht. »Das wird sehr spannend«, freut sich auch Lydia Herweh. So wird Regisseur Calixto Bieito im Januar 2016 im Schauspielhaus Henry Purcells Semi-Oper The Fairy Queen nach Shakespeares Sommernachtstraum spartenübergreifend auf die Bühne bringen. Diese Koproduktion sei auch für die Disponierung des Schauspiels herausfordernd, weil sich deren Probenplanung stark an jener des Opernhauses orientieren müsse. »Das Orchester muss zur selben Zeit zwei Produktionen spielen können, das Ballett bringt daher ein Stück mit kleinerer Orchesterbesetzung auf die Bühne«, betont Ploetz anerkennend. Und Herweh ergänzt augenzwinkernd: »Wir betreten Neuland.« Denn während die Sänger vor der ersten gemeinsamen Probe schon ihre Partien lange einstudiert haben – verlangt doch die Partitur genaues Einstudieren und häufig das Auseinandersetzen mit der Originalsprache –, gehen die Schauspieler hier zuweilen andere Wege. Oft ist der Text nicht gänzlich auswendig gelernt und es wird mit Hilfe der Souffleuse geprobt. »Das hat Gründe: Nicht selten werden so individuelle Textfassungen im Laufe der Proben erarbeitet, Passagen verändert, manches entsteht aus der Improvisation heraus«, schildert Herweh. Im Schauspiel habe man die Möglichkeit, flexibler mit dem Material umzugehen und zu variieren. Das gilt auch, wenn – wegen Krankheit oder aus anderen Gründen – mal schnell umbesetzt werden muss. Zwar habe man keine Doppelbesetzungen im Schauspiel, aber je nach Vorlauf könne man kurzfristig auch ein anderes Stück auf den Spielplan nehmen. »Voraussetzung dafür ist allerdings nicht nur, dass alle an der Vorstellung Beteiligten dann einspringen können, sondern auch, dass die Dekoration rechtzeitig ins Haus gebracht werden kann«, betont Herweh. »In der Oper versuchen wir aufgrund des erhöhten logistischen Aufwandes eher, das Programm zu halten. Wenn wir keine einstudierte Zweitbesetzung haben – was wir, da unser Sängerensemble hierfür zu klein ist, nicht immer schaffen – versuchen wir, für einen erkrankten Sänger einen Einspringer zu finden«, beschreibt Ploetz. »Am leichtesten ist das, wenn es sich um eine Oper des gängigen Repertoires handelt, etwa La Bohème. Für andere, äußerst anspruchsvolle Rollen, wie einige hochdramatische Wagnerpartien, gibt es weltweit oft nur fünf oder sechs Namen, die bei einem bestimmten Qualitätsanspruch in Frage kommen – um die dann kurzfristig zu kriegen, braucht man auch eine gute Portion Glück. Das Ballett ist da flexibler«, so Ploetz. Dort werden die Rollen grundsätzlich von mehreren Tänzern einstudiert. »Wir haben für die wichtigen Rollen stets drei bis fünf Besetzungen und somit immer Reserve«, sagt Nowogrodzki. »Außerdem sieht unser Publikum auch gerne unterschiedliche Tänzer in einer Rolle.« In Zukunft gilt es noch eine andere Herausforderung zu koordinieren, steht doch die Sanierung des Opernhauses an. »Das wird uns viel Arbeit machen, verspricht aber auf lange Sicht die Chance einer nachhaltigen Verbesserung der Proben- und Aufführungssituation, letztlich ein Gewinn auch für das Publikum«, sinniert Halina Ploetz. Nowogrodzki freut sich auf die neue John Cranko Schule, die endlich gebaut wird. »Dort auf der Probenbühne des Balletts, die die gleichen Dimensionen haben soll wie die Opernhausbühne, können wir 1:1 alles entwickeln und brauchen hier nur noch wenige Bühnenproben, das entzerrt die Situation ebenfalls.« Doch trotz oder gerade wegen aller Herausforderungen lieben die drei ihren Job. Es mache Spaß, immer neue Lösungen zu suchen. Herweh bringt es auf den Punkt: »Es wird nie langweilig.« Petra Mostbacher-Dix Erst die genaue Planung der Bühnenzeiten durch die Disponenten ermöglicht es, in kurzer Zeit Tanzteppich und Schwingboden der Ballettprobe abzutragen (oben), um im Anschluss das Bühnenbild für La Traviata aufzubauen (unten). Fotos: Martin Sigmund Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 7 02.  Der Rosenkavalier 02. r e n n i D m r e t n u k c o r Reif Stefan Herheims Inszenierung, für die er 2010 von den Kritikern der Theaterzeitschrift Opernwelt zum »Regisseur des Jahres« gewählt wurde, steht im April und Mai wieder auf dem Spielplan der Oper Stuttgart. In der gleichen Umfrage zeigten sich die Kritiker auch von der Ausstattung dieses Rosenkavaliers begeistert und wählten Rebecca Ringst zur »Bühnenbildnerin« und ihre Kollegin Gesine Völlm zur »Kostümbildnerin des Jahres«. Rosenkavalier, 3. Akt: Wir befinden uns in einem Restaurant, in das der Schürzenjäger Baron Ochs von Lerchenau die Zofe Marianderl eingeladen hat. Wir, die Zuschauer, wissen, dass es sich bei der Zofe um den verkleideten »Rosenkavalier« Octavian handelt. Doch ebenso wie im Restaurant befinden wir uns unter dem Rock der Marschallin: Der Rosenkavalier wird in der Inszenierung von Stefan Herheim zu einer Begegnung der Marschallin mit ihren Sehnsüchten und Ängsten – und mit ihrer überbordenden Phantasie: Barocke Faunsfiguren treffen auf eitle Gockel, Tapeten werden lebendig, aus einem zerschlagenen Spiegel wird eine silberne Rose, und die Marschallin begegnet sich selbst in neuer Gestalt. Die üppig ausgestattete Inszenierung ist seit 12. April in einer außergewöhnlichen Neubesetzung zu erleben: Die Ensemblemitglieder Simone Schneider und Ana Durlovski debütieren als Feldmarschallin und Sophie – in zwei Vorstellungen im Mai ist außerdem Ensemblemitglied Lenneke Ruiten als Sophie zu erleben. Der Baron Ochs von Lerchenau wird von Friedemann Röhlig verkörpert. Der Rosenkavalier von Richard Strauss Musikalische Leitung: Marc Soustrot, Regie: Stefan Herheim Wiederaufnahme: 12. April 2015 // 18:00 Uhr // Opernhaus Foto: Martin Sigmund Weitere Vorstellungen: 26.04. // 03.05. // 10.05. // 14.05. // 24.05.2015 8 Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 9 03.  Dornröschen Wiederaufnahme von Marcia Haydées prachtvollem Märchenballett Ein ganzes Tänzerleben Generationen von Zuschauern hat dieses Ballett schon zum Träumen gebracht: Dornröschen. Und Generationen von Tänzern haben das Stück seit seiner Uraufführung getanzt. Um aber als Prinzessin Aurora und Prinz Desiré die Augen des Publikums zum Leuchten zu bringen, haben angehende Tänzerinnen und Tänzer einen weiten Weg vor sich ... Rangordnungen im Ballett Jeder fängt mal klein an. Sieben kleine Zwerge, die im echten Leben Schülerinnen und Schüler der John Cranko Schule sind, werden diesen Sommer in Marcia Haydées Dornröschen zum ersten Mal auf der Bühne im Opernhaus auftreten, gemeinsam mit ihren Mitschülern aus höheren Klassen und natürlich mit den Tänzerinnen und Tänzern des Stuttgarter Balletts: dem Corps de ballet, Halbsolisten, Solisten und den Ersten Solisten – sie sind die »Stars« der Compagnie, sie haben den höchsten Rang, den ein Tänzer in seiner Karriere beim Stuttgarter Ballett erreichen kann. Aber was bedeutet diese Rangordnung eigentlich? Es gibt sie nicht nur in Stuttgart, sondern in jeder klassischen Ballettcompagnie auf der ganzen Welt. Um auf dieser »Karriereleiter« des Balletts ganz nach oben zu kommen, gilt es allerdings, früh mit der Ballettausbildung zu beginnen und nach dem Abschluss Mitglied in einer Ballettcompagnie zu werden. Vom Zwerg zum Dornröschen Zurück zu den sieben Zwergen: Sie stehen noch am Beginn ihres Tänzerlebens. Sie besuchen die erste Klasse, meist sogar erst eine der Vorschulklassen der John Cranko Schule, sind also zwischen sieben und zehn Jahren alt. Im letzten und festlichsten Akt des Balletts sind sie zusammen mit Schneewittchen (getanzt von einer Tänzerin des Stuttgarter Balletts) und vielen anderen Märchenfiguren auf der Hochzeit der Prinzessin Aurora eingeladen. Manche von ihnen tanzen auch im ersten Akt gemeinsam mit dem Corps de ballet den sogenannten Blumenwalzer. Für den Prolog werden ihre Mitschüler aus den etwas höheren Klassen gebraucht: Sie begleiten die sechs Feen, die das neugeborene Königskind beschenken, und bringen kleine Rosensträucher für die Prinzessin. So haben Schüler aus jeder Klassenstufe an der John Cranko Schule bestimmte Rollen in Dornröschen. Einige der Schüler aus den Akademieklassen, die schon bald ihre Ausbildung beenden, unterstützen sogar das Corps de ballet. Wenn sie Glück haben, tanzen sie in Dornröschen zum ersten Mal gemeinsam mit ihren zukünftigen Kollegen, denn nach ihrem Abschluss an der John Cranko Schule gilt es, Mitglied in einer Compagnie zu werden, am liebsten natürlich beim Stuttgarter Ballett. Auch nach der Ausbildung gibt es noch viel zu lernen Ballettintendant Reid Anderson nimmt zu Beginn jeder Spielzeit einige Absolventen als Eleven in die Compagnie auf. Sie tanzen gemeinsam mit dem Corps de ballet und steigen entweder nach einem Jahr zum Gruppentänzer auf oder müssen anderswo eine Beschäftigung suchen. Für Eleven und noch junge Gruppentänzer gibt es in der Compagnie noch viel zu lernen. Vor allem die männlichen Tänzer brauchen Kraft und Erfahrung beim Partnern. Aber auch ganz banale Dinge, wie das Tanzen in üppigen Kostümen, brauchen Übung. Für Marcia Haydées Dornröschen hat Jürgen Rose unzählige aufwändige Kostüme geschaffen, aus edlen Stoffen und mit etlichen Dekorationen – genauso wie das prächtige Bühnenbild sind sie ein echter Augenschmaus fürs Publikum. Für einen Tänzer beim Auftritt allerdings können sie natürlich eine Herausforderung sein. Apropos Bühnenbild: Die jungen Tänzer müssen auch lernen, beim Abgehen die Kulissen nicht zu berühren, damit nicht alles ins Wanken gerät. Wer tanzt was? Aber ohne das Corps de ballet wäre ein klassisches Ballett wie Dornröschen nicht denkbar! Um einen königlichen Hof angemessen darzustellen, braucht man ja schließlich mehr als den König und die Königin. Das Corps de ballet übernimmt die Tänze der Hofgesellschaft und wird in jedem Akt auf der Bühne benötigt. Manche Corps de ballet-Tänzer tanzen, genauso wie die Halbsolisten, auch kleinere solistische Rollen wie die Märchenfiguren im dritten Akt: Schneewittchen, Froschkönig, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und der Wolf zum Beispiel. Für diese Rollen ist schauspielerisches Talent gefragt, auch wenn sie tänzerisch nicht ganz so anspruchsvoll sind. Schwierigere Rollen werden von den Halbsolisten und Solisten getanzt: Die sechs Feen, die zur Taufe im ersten Akt erscheinen, die vier Prinzen, die im zweiten Akt versuchen, die jugendliche Aurora für sich zu gewinnen, oder die vier Edelsteine, die Ali Baba zur Hochzeit mitbringt. Je »adliger« die Rolle, desto höher der Rang der jeweiligen Tänzer. Die »adligsten« von allen sind im Falle von Dornröschen natürlich Prinz Desiré und Prinzessin Aurora, die Hauptrollen des Balletts. Sie werden von Solisten oder Ersten Solisten getanzt – und das zu recht: Die Rollen sind technisch sehr anspruchsvoll und nicht einfach zu tanzen, die Tänzer brauchen also einiges an Erfahrung. Regelmäßig hält das Publikum zum Beispiel die Luft an, wenn Dornröschen im ersten Akt mit den vier Prinzen das berühmte Rosenadagio tanzt und darin für eine gefühlte Unendlichkeit die Balance halten muss. Doch nicht nur die Darstellerin der Aurora muss einiges leisten: Auch die Rollen von Prinz Desiré und natürlich die böse Fee Carabosse werden klassischerweise von Solisten oder Ersten Solisten getanzt. Carabosse nimmt überhaupt in der Dornröschen-Fassung von Marcia Haydée eine Sonderstellung ein: Nicht nur, weil die Rolle von einem Mann getanzt wird, sondern auch, weil ihr Charakter im Gegensatz zum klassischen Gut-Böse-Muster des Märchens nachvollziehbar und psychologisch feinfühlig herausgearbeitet ist. Die Darstellung dieses vielschichtigen Charakters macht die Rolle zu einer spannenden Herausforderung für jeden Tänzer. Das große Finale: Prinzessin Aurora (Anna Osadcenko) und Prinz Desiré (Friedemann Vogel) umringt von den Sieben Zwergen, vielen anderen Märchenfiguren und der Fliederfee (Myriam Simon), Fotos: Stuttgarter Ballett Je größer die Erfahrung, desto komplexer die Rollen Neben den klassischen Hauptrollen gibt es in Dornröschen aber noch einige andere Rollen, die vor allem deshalb berühmt sind, weil ein hohes Maß an Technik und Ausdruck erforderlich ist, um sie zu tanzen, und die daher ebenfalls nur von erfahrenen Tänzerinnen und Tänzern übernommen werden. Dazu gehört zum Beispiel die Fliederfee – die gute Gegenspielerin der bösen Fee Carabosse –, die ihre schützende Hand über die Prinzessin hält. Aber auch die Rolle des Ali Baba wird meist von einem Ersten Solisten übernommen. Ebenso wie der Auftritt des Blauen Vogels und seiner Prinzessin, der als kompletter Pas de deux mit Entrée, zwei Variationen und Coda in den dritten Akt eingebettet ist. Weil es sich um einen sowohl anspruchsvollen als auch beeindruckenden Pas de deux handelt, wird er auch oft losgelöst vom Stück als Galastück oder bei Wettbewerben gezeigt und ist selbst für erfahrene Erste Solisten eine technische Herausforderung, die viele Proben erfordert. Ein ganzes Tänzerleben Jason Reilly in der Rolle der bösen Fee Carabosse 10 Anna Osadcenko und Friedemann Vogel als Prinzessin Aurora und Prinz Desiré im Grand Pas de deux von Marcia Haydées Dornröschen Überblickt man die vielen unterschiedlichen Rollen, die ein so großes und aufwändiges Ballett wie Dornröschen zu bieten hat, dann stellt man nicht nur fest, dass Tänzerinnen und Tänzer fast jeden Alters und jeder Rangordnung dafür gebraucht werden, sondern auch, dass mit den unterschiedlichen Partien, die entsprechend der Übung und Erfahrung immer schwerer werden, fast jede Etappe eines Tänzerlebens abgedeckt werden kann. Von den Kleinsten der John Cranko Schule bis hin zu den Schülern der beiden Akademieklassen ebenso wie von den Eleven der Compagnie durch alle Ränge hindurch bis zu den Ersten Solisten werden die Rollen verteilt. Selbst ehemalige Tänzer der Compagnie treten in Dornröschen auf: Sie übernehmen sogenannte Charakterrollen, bei denen man zwar nicht mehr tänzerisch aktiv sein muss, für die aber Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 schauspielerisches Talent, Bühnenerfahrung und natürlich Kenntnisse über das Stück erforderlich sind. Beim Stuttgarter Ballett werden diese Rollen von ehemaligen Solisten und Ersten Solisten übernommen, die der Compagnie noch immer eng verbunden sind. Sie treten dann zum Beispiel als König und Königin und als Amme auf. Eine Ode an das Königshaus Zur großen Hochzeit von Prinzessin Aurora und Prinz Desiré stehen dann alle Tänzer noch einmal gemeinsam auf der Bühne. Das prachtvolle Fest am Ende von Dornröschen ist aber mehr als das feierliche Schlussbild eines Ballettstücks. Bewusst hat der Choreograph Marius Petipa, der das Ballett 1890 in Sankt Petersburg kreierte, das Finale als herrliches Fest am Königshof inszeniert – schließlich stand er selbst im Dienste der russischen Zaren, deren Herrschaft es in ein gutes Licht zu rücken galt. Überhaupt galt es für Petipa, der Erster Ballettmeister am königlichen Hof war, auf die Wünsche und Bedürfnisse der Angehörigen der Königsfamilie einzugehen. So war es zum Beispiel üblich, dass Fürsten und Prinzen, die ihre Mätressen gerne bei den Tänzerinnen suchten, diese auf der Bühne bewundern oder vielmehr zur Schau stellen wollten, mit Vorliebe auch dekoriert mit wertvollen Schmuckstücken, die ihnen ihr jeweiliger Liebhaber geschenkt hatte. Für diese Damen kreierte Petipa mehrere einander ähnliche Rollen in Form von Feen und Edelsteinen, die zwar wenig zur Handlung beitragen, aber aufgrund ihres solistischen Charakters heute noch bei Tänzerinnen begehrt sind. Aurora und Desiré am Schluss, muss auch das Stuttgarter Ballett in dieser Spielzeit auf ein imposantes Finale hinarbeiten: Ab der Wiederaufnahme von Dornröschen am 22. Juli bis zur letzten Vorstellung am 29. Juli 2015 wird das Stück ganze acht Abende hintereinander ohne Unterbrechung getanzt. Für die Compagnie ist das eine Riesenherausforderung, die es mit mehreren Besetzungen zu bestreiten gilt – und zwar mit vollem Einsatz. Das Publikum darf sich schon freuen auf eine ganze Dornröschen-Woche voller glanzvoller Vorstellungen und das Public-Viewing-Ereignis Ballett im Park, bei dem das zauberhafte, farbenreiche Ballettmärchen von der Wiese neben dem Eckensee aus kostenlos auf der Leinwand verfolgt werden kann. Franziska Klamm Dornröschen Ballett von Marcia Haydée nach der Erzählung La belle au bois dormant von Charles Perrault Choreographie: Marcia Haydée nach Marius Petipa; Inszenierung: Marcia Haydée; Musik: Peter I. Tschaikowsky; Bühnenbild und Kostüme: Jürgen Rose; Licht: Dieter Billino; Uraufführung: 10. Mai 1987, Stuttgarter Ballett; Musikalische Leitung: James Tuggle, Staatsorchester Stuttgart Wiederaufnahme: Mi 22. Juli 2015 // Opernhaus Weitere Vorstellungen: 23.07. // 24.07. // 25.07. // 26.07. // 27.07. // 28.07. // 29.07.2015 Ballett im Park: Sa 25. Juli 2015 Ein Dornröschen-Festival mit Ballett im Park Wie sich die technischen Herausforderungen der Dornröschen-Choreographie im Laufe des Stücks immer weiter steigern, bis hin zum anspruchsvollen Grand Pas de deux von 11 04.  „Die wahre Liebe ist sehr schwierig“ 04. Yannis Houvardas inszeniert Mozarts Così fan tutte h c u r p s r e d i W e h c i l h c n s r n e e d m n r a W De n e h c n s e g a l zwi h c s n l e z r u W d n u Ein Gespräch mit dem griechischen Regisseur YANNIS HOUVARDAS über verletzte Seelen und naive Leidenschaften, über die Frage, was Liebe ist und was Treue bedeutet, und über das poetische Universum, das durch den Rhythmus einer Oper entsteht. Ist Così fan tutte eine Tragödie oder eine Komödie? Yannis Houvardas: Auf den ersten Blick wirkt die Handlung von Così täuschend einfach: Zwei junge Männer, die äußerst verliebt sind in ihre Partnerinnen, wetten mit einem älteren Freund, der nicht an die Beständigkeit der Liebe glaubt, dass ihre Geliebten ihnen immer und unter allen Umständen treu bleiben werden. Während des Stückes ereignen sich viele unterhaltsame, süße, schmerzhafte und traumatische Begegnungen, Verkleidungen, Täuschungen und Paarungs-Kombinationen unter den vier jungen Liebenden, orchestriert vom älteren Freund, aber auch von der Dienerin einer der zwei jungen Frauen. Die Verhältnisse werden zunehmend kompliziert und die Gefühle schwerer zu kontrollieren, wechselhaft echt und unecht, reizvoll und qualvoll, bis ans trügerisch-glückliche Ende, an dem die Wahrheit enthüllt wird, und alle sechs Personen der abgründigen Wirklichkeit ihrer Gefühle gegenüber stehen. Die Liebe scheint gar kein Spiel mehr zu sein, sondern eine sehr ernsthafte, gefährliche, undurchschaubare Realität. Così ist keine Komödie und keine Tragödie, sondern eine Tragikomödie. Man lacht, man leidet, man hat Lust und Freude, und gleichzeitig ist man von einem tiefen Schmerz gepeinigt. Beide – die Personen im Stück und die Zuschauer und Zuhörer. Und am Ende hat man den Eindruck, dass man befriedigt ist, aber auch einen bitteren Geschmack im Munde hat. Wenn das nicht die Definition von Tragikomödie ist, was wäre sie dann? Foto: Patroklos Skafidas Ist die Tatsache, dass es mit der Treue schnell vorbei sein kann, einfach ein Faktum des Lebens, mit dem wir leben und über das wir lachen sollten, weil wir sonst darüber weinen müssten? Denn: »Così fan tutte« – »So machen es alle«? Was genau bedeutet Treue? Man betrügt die anderen und sich selbst die ganze Zeit. Untreue bedeutet ja nicht etwa nur, mit jemand anderen als unserem Partner eine parallele Beziehung zu haben oder einen Liebes-Eid zu brechen, sondern auch zu lügen, etwas ganz Wichtiges zu verheimlichen, oder auch – und das ist das Furchtbarste, und das, worum es eigentlich in Così fan tutte geht – sich selbst gegenüber unbewusst untreu zu sein, oder sich selbst zu täuschen. Jeder Tag ist voll von kleinen oder größeren Betrügereien und Untreuen. Wenn das so ist, kann man natürlich beides tun: Lachen UND weinen, je nachdem, wie ernsthaft man sein Leben betrachtet. 12 „Jeder Tag ist voll von kleinen oder größeren Betrügereien und Untreuen.“ Ist »Liebe« auch deshalb oft so schwierig, weil wir uns in unserer ich-bezogenen Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung einfach sehr leicht »ablenken« lassen? Es ist interessant, dass Sie das Wort »Liebe« in Anführungszeichen setzen. Die Liebe, die wahre Liebe, und nicht die SelbstLiebe, ist natürlich sehr schwierig, genau weil in der Familie, in der Schule, in der Arbeit, in der Gesellschaft, aber auch angesichts des Todes, in der Regel das »Ich« im Zentrum aller Aktivität und allen Denkens steht. In unserer Realität ist es nicht unmöglich, wahre Liebe zu empfinden, ganz im Gegenteil; wir brauchen sie wie Wasser und Luft. Schwierig, ja fast unmöglich ist aber, dieses Gefühl in der Länge völlig rein zu halten, weg vom Schmutz des Alltags. Deswegen gibt es ja so viele Kunstwerke, die die romantische, utopische, ewige Liebe thematisieren und zelebrieren. Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 Ist die Person des Don Alfonso diejenige, die das (desillusionierte?) »Liebeswissen« eines älteren, erfahrenen Menschen vertritt? Was ist die Liebe für einen erfahrenen Menschen – und was ist sie für »Anfänger«? Gibt es Unterschiede? Dass Alfonso in der Liebe ein erfahrener Spieler ist, das ist im Stück sehr klar. Die Frage ist natürlich, welche Art von Erfahrungen er gemacht hat. Meiner Meinung nach ist seine Erfahrung eine sehr bittere, sehr leidvolle gewesen. Er ist gewiss ein Mann in reifen Jahren, und hat viel mit der Liebe gespielt, aber offensichtlich ist er in diesem Spiel gescheitert. Er ist kein Sadist, im Laufe des Stückes aber entwickelt er quasi sadistische Instinkte, eben weil er eine tief verletzte Seele ist. Natürlich brennt in ihm im Hintergrund das Feuer einer Hoffnung, dass die Liebesgeschichte der vier Jungen doch ein Happy End nehmen möge, was Don Alfonsos Charakter eine menschlichere, tiefere Dimension gibt. Die vier jungen Liebenden scheinen andererseits den Inbegriff von Unerfahrenheit und Naivität zu verkörpern, aber ist das wirklich wahr? Natürlich ist man als junger Mensch viel unschuldiger, leicht verletzbar und neigt zu Übertreibung und Leidenschaft, aber wie unbewusst ist all das? Hier ist eine offene Frage, ganz besonders heutzutage, wo sich die jungen Menschen schon früh ihrer Sexualität bewusst sind und schon sehr bald im Leben eine Menge positive und negative Erfahrungen machen. Das Liebesspiel in Così fan tutte (was das Alter und die Geschlechter betrifft) ist für mich viel offener und vielschichtiger, als es an der Oberfläche aussieht. Das ist ja genau das, was mich an Mozart und Da Ponte besonders fasziniert: diese schillernde Oberfläche, unter der man nie weiß, wie tief das Wasser ist, und was für Schätze oder Lebensgefahren darunter verborgen sind. Wie der Stuttgarter Intendant Jossi Wieler kommen auch Sie vom Sprechtheater und inszenieren sehr viele Theaterstücke, aber eben auch Opern. Nach welchen Kriterien wählen sie Opernarbeiten aus? Meine Kriterien haben sich im Laufe der Zeit sehr verändert. Früher war für mich das höchste Kriterium, ob ich mich von einem Projekt, sei es in der Oper oder im Schauspiel, hinreißen ließ. Das ist natürlich immer noch wichtig, aber jetzt ist es für mich das Allerwichtigste, dass ich mich in der Umgebung, in der ich arbeite, wohlfühle. Und in Stuttgart, wo der Intendant jemand ist, den ich als Künstler, Theaterleiter und Menschen sehr hoch schätze, und der im ganzen Haus einen kollegialen, lockeren Ton angibt, habe ich mich vom ersten Moment wohlgefühlt. Sehr bedeutsam ist es für mich auch, dass mein künstlerisches Team aus Menschen besteht, vor denen ich Respekt habe, und die ich gut kenne. Das ist hier in Stuttgart auch der Fall. „Das Bedürfnis, gleichzeitig zu entdecken und Wurzeln zu schlagen, ist ein der menschlichen Natur eingeschriebener Widerspruch.“ Sie haben einmal gesagt, Theater sei für Sie als Jugendlicher auch ein Zufluchtsort gewesen, der Möglichkeiten zur Seelenwanderung geboten habe. Was bedeutet Ihre Arbeit als Regisseur heute für Sie? Leider scheint meine Seelenwanderung nie ein Ende zu nehmen, und so muss ich das Theater gezwungenermaßen immer noch als Zufluchtsort betrachten. Vielleicht ist mit den Jahren auch eine gewisse Reife hinzugekommen, die ein starkes Interesse mit sich gebracht hat, die Leute, mit denen ich arbeite, tiefer kennenzulernen, sich voneinander beeinflussen zu lassen. Dazu braucht man natürlich immer zwei Seiten, aber das passiert glücklicherweise bis jetzt oft. Eine letzte, wichtige Motivation ist meine sehr persönliche, anderen Menschen schwer zu erklärende, Beziehung zum jeweiligen Stoff, die aber hoffentlich dann in meiner Inszenierung zu erkennen ist. Was macht eine Oper mit einem Regisseur, der auch das Sprechtheater sehr gut kennt? Verwandelt sie ihn ein wenig – wenn etwa die Gefühle der Protagonisten während einer Arie oder eines Duetts sehr viel Zeit haben, sich zu entfalten? Für mich ist es immer verblüffend kreativ, dass das Tempo in der Oper vollkommen anders ist, als im Schauspiel, dass es ein Rhythmus völlig außerhalb des realen Lebens ist, und folglich ein ganz und gar poetisches Universum herstellt. Das bewegt mich sehr. Auch die Hingabe der Personen an ihre Leidenschaften ist sehr befreiend, die vorbehaltlose Bindung an ihre Gefühle, was sie immer sehr menschlich und – paradoxerweise – sehr dreidimensional macht. Und last but not least ist die Tatsache, dass die Musik das erste und das letzte Wort hat, für einen Regisseur, der hauptsächlich im Schauspiel arbeitet, eine Herausforderung, und eine wunderbare Übung für die Unterdrückung seines Egos. Sie haben in London Schauspiel studiert, in Deutschland und Skandinavien inszeniert, sind aber dennoch auch fest verwurzelt in Griechenland. »Hat man Wurzeln, so kann man auch reisen« haben Sie darüber einmal gesagt. Hat dieser Satz nicht auch ein wenig mit Così fan tutte zu tun? Ist es vielleicht auch in der Liebe so: Wenn man verwurzelt ist, kann man auch »reisen«? Dieser Satz hat eine enge persönliche Bedeutung für mich. Ich bin jemand, der immer ein starkes Gefühl gehabt hat, sehr tiefe Wurzeln zu haben, und dennoch wollte ich mich nie an meine Wurzeln gebunden fühlen. In diesem Sinne könnte man sagen, dass in Così ein ähnliches Thema behandelt wird: Alle sechs Personen haben (oder hatten irgendwann in der Vergangenheit) das starke Bedürfnis, in jemand anderem Liebes-Wurzeln zu schlagen, und gleichzeitig entdecken sie in sich selbst das Gegen-Bedürfnis, in andere Seelen und/oder Körper zu wandern. Das ist ein der menschlichen Natur eingeschriebener Widerspruch. Wie man in seinem Leben damit umgeht, gestaltet zu einem gewissen Grad das eigene Schicksal. Interview: Babette Karner Così fan tutte von Wolfgang Amadeus Mozart Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling; Regie: Yannis Houvardas Premiere: So 31. Mai 2015 // 18:00 Uhr // Opernhaus Weitere Vorstellungen: 03.06. // 08.06. // 10.06. // 21.06. // 30.06. // 03.07.2015 Yannis Houvardas Geboren 1950 in Griechenland, studierte an der Royal Academy of Dramatic Art in London und arbeitete anschließend als Schauspieler in London und Athen. Von 1977 bis heute ist er als freischaffender Regisseur in Griechenland, Deutschland und Skandinavien tätig. 1991 gründete er die Notos Theatre Company, die er bis 2007 leitete. Seit 1999 ist er auch als Opernregisseur tätig, u. a. an der Königlichen Oper Kopenhagen und der Oper Göteborg. Von 2007 bis 2013 war er Intendant des Griechischen Nationaltheaters in Athen. 13 05.  Alles Cranko! 05. Illustration: Zsuzsanna Ilijin So werden Sie zum Cranko-Profi. Eine Gebrauchsanweisung Wo simmer denn dran? Aha. Heut hammer das CRANKO-PHÄNOMEN. Wat is das CrankoPhänomen? Da stelle mr uns jetzt mal janz dumm ... Sie sind also neu in der Stadt. Und jetzt wollen Sie ins Ballett, weil Sie haben so viel von diesem Cranko gehört. Man soll aber auf gar keinen Fall merken, dass Sie sich nicht auskennen? Sie hätten gern ein paar Verhaltensregeln und Insidertipps? Kein Problem! Als Erstes brauchen Sie natürlich Eintrittskarten. Leider ist das die größte Hürde auf Ihrem Weg zum Cranko-Profi und hier haben Sie die erste Gelegenheit zu beweisen, dass es Ihnen wirklich ernst ist. Hartnäckigkeit ist gefragt! Am besten nehmen Sie sich den ersten Vorverkaufstag zwei Monate vor Vorstellungstermin frei. Zehn Sekunden vor zehn wählen Sie die 202090. Und nein, das ist nicht übertrieben. Denn außer Ihnen haben sich noch mehr Ballettfans den Tag rot im Kalender angestrichen, und selbst wenn Sie Punkt zehn Uhr anrufen, werden Sie in der Warteschleife landen. »Staatstheater Stuttgart, Kartenservice, Sie werden gleich verbunden.« Gleich ist relativ, also nur Geduld! Vielleicht gibt’s nur noch Karten mit eingeschränkter Sicht im 3. Rang, wenn Sie endlich 14 durchkommen. Sei’s drum, Sie sind ja neu hier, und immerhin brauchen Sie sich nicht warm anzuziehen, denn in dem im Volksmund »Zwetschgendörre« genannten 3. Rang geht’s kuschelig zu. Günstig sind die Karten außerdem! Der große Tag ist angebrochen. Vorstellungsbeginn ist um 19 Uhr, aber selbstredend kommen Sie nicht auf den letzten Drücker, denn um 18.15 Uhr ist Einführung in den Ballettabend. Zehn vor sechs knubbeln Sie sich zusammen mit vielen anderen, erwartungsfrohen Menschen vor den verschlossenen Türen und tauschen sich aus, wie Sie an die Karten gekommen sind. »Ich habe mir die Finger wundgewählt, um zwanzig nach zehn bin ich endlich durchgekommen!« »Ein halbes Jahr vorher haben wir die Karten bestellt. Das Ballett ist einfach soo stark nachgefragt!« »Wenn man ein Highlight will ... und man kann die Sachen ja öfter anschauen!« Punkt sechs öffnen sich die Türen, Sie stürzen hinauf in den 1. Rang und sichern sich in dem prachtvollen Foyer mit Ihrer Jacke einen Stuhl, damit Sie vor der Einführung noch ein wenig flanieren und Klamotten gucken können. Was soll das heißen, Sie brauchen eigentlich gar keine Einführung, weil Sie sich mittlerweile ein solides Wissen über Cranko und das Handlungsballett oder die Einakter Ihrer Wahl angeeignet haben? Darum geht es doch gar nicht! Cranko erzählt Geschichten ohnehin so, dass man das Ballett versteht, ohne die Handlung zu kennen. Es geht darum, Präsenz zu beweisen, und um Zugehörigkeit zum Cranko-Universum. Und Sie wollen doch dazugehören? Also raunen Sie wissend oder nicken Sie schein- Illustration: Zsuzsanna Ilijin bar abwesend, wenn der Name »Haydée« oder »Cragun« fällt. Sollte das »Stuttgarter Ballettwunder« erwähnt werden, dann blicken Sie hinauf zu den prächtigen Kronleuchtern und murmeln Sie, »Clive Barnes, New York, 1969.« Sie können auch zu der Ihnen vollkommen unbekannten Nachbarin sagen, »Alles ist logisch bei John.« Diesen Satz können Sie übrigens im Laufe des Abends mehrmals fallen lassen, er passt eigentlich immer. Nun beginnt die eigentliche Vorstellung und es ist so viel los auf der Bühne, und diese Opulenz der Kostüme und das prachtvolle Bühnenbild, und dann passiert am Rande immer noch irgendwas Lustiges, was Sie vom Pas de deux ablenkt, und Sie wissen gar nicht, wohin Sie zuerst gucken sollen, aber keine Sorge, das ist ganz normal, daran werden Sie sich schon noch gewöhnen, und Sie kommen ja wieder. Nun klettern Sie hinauf in den 3. Rang, geben Ihre Jacke ab und kaufen bei den freundlichen Damen an der Garderobe ein Programmheft. Werfen Sie einen kurzen Blick auf den eingelegten Besetzungszettel und schmettern Sie dann in Richtung der Garderobenfrauen: »Tolle Besetzung!« Am besten gehen Sie noch vor der Vorstellung aufs Klo, denn in den Pausen werden Sie mit anderen Dingen beschäftigt sein. Nehmen Sie das Programmheft mit und blättern Sie darin herum. So kommen Sie schnell ins Gespräch. Zeit für ein Gespräch haben Sie in jedem Fall, vor allem, wenn Sie eine Frau sind, weil das Anstehen, das kann so lange dauern wie die Kartenbestellung. Outen Sie sich aber unter keinen Umständen als Neuling, im Gegenteil! Behaupten Sie frech, dass Sie sich wahnsinnig drauf freuen, Friedemann Vogel als Onegin zu erleben, nachdem Sie ihn das letzte Mal als Lenski gesehen haben, und dann auch noch in der umwerfenden Kombination mit Alicia Amatriain, die Sie als Worschula in Krabat zu Tränen gerührt hat. Bedauern Sie, dass Marijin Rademaker das Ballett verlassen hat. Merken Sie an, was für eine rasante Entwicklung Daniel Camargo genommen hat, was natürlich vor allem der Talentschmiede John Cranko Schule zu verdanken ist, und wie glücklich Sie darüber sind, dass die Finanzierung des Neubaus nun endlich in trockenen Tüchern ist. Ach ja, ganz wichtig ist natürlich, dass Sie immer nur »der Friedemann«, oder »die Alicia« sagen, so, wie Sie vorher von »John« gesprochen haben. Sie erwecken so den Eindruck, als ob Sie regelmäßig mit den Stars des Balletts in der Kantine der Staatstheater Kaffee trinken, und unterstreichen Ihre Zugehörigkeit zum inneren Zirkel der Crankoianer. Jetzt ist Pause, auf dem Klo waren Sie schon, und Sie können sich uneingeschränkt Ihren Canapés, den Antipasti und dem Champagner widmen, denn als Insider haben Sie natürlich vorbestellt und die Häppchen stehen auf Ihrem persönlichen Tischchen für Sie bereit. Verplempern Sie aber nicht die ganze Pause damit, denn Sie müssen ja noch am Promitisch im 1. Rang vorbeiflanieren und beäugen, wer die Geschicke des Stuttgarter Balletts lenkt. An dem Stehtisch plaudert Intendant Reid Anderson wahrscheinlich gerade mit seinem Stellvertreter Tamas Detrich. Wenn Sie den Intendanten darauf ansprechen, was das Geheimnis seines Erfolgs ist, dann wird er Ihnen sicher bereitwillig Auskunft geben: die Pflege des Cranko-Erbes einerseits und die Förderung junger Choreographen andererseits. Vielleicht steht noch eine Dame mit am Tisch. Das winzige, gertenschlanke Persönchen mit dem zeitlos schönen Gesicht, das sich so grazil bewegt wie ein junges Mädchen, ist die Choreologin und Ballettmeisterin Georgette Tsinguirides, von Cranko höchstpersönlich dazu auserkoren, die Choreographien seiner Ballette schriftlich zu fixieren. Sie ist so etwas wie die Seele des Balletts, von allen hochverehrt und die höchste Instanz in Sachen korrekte Cranko-Choreographie, aber jetzt klingelt es und Sie müssen das Promigucken abbrechen, wenn auch noch nicht ganz. Endlich herrscht weniger Gedränge vor dem Signiertisch und Sie nutzen auf dem Weg zurück in den 3. Rang noch rasch die Gelegenheit, die Stars der Compagnie aus nächster Nähe zu betrachten und sich Ihr Programmheft oder eine frisch erworbene Devotionalie signieren zu lassen. Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 Nun aber fällt der Vorhang. Eben noch hat Tatjana mutterseelenallein vorne am Bühnenrand gestanden, mit dieser abgrundtiefen Verzweiflung im Blick, eben noch sind Romeo und Julia vor Ihren Augen in den Tod gegangen. Sie haben die Luft angehalten vor lauter Spannung, und jetzt müssen Sie erst einmal tief durchatmen oder sich verstohlen eine Träne abwischen, denn das Drama auf der Bühne hat Sie ganz schön mitgenommen. Aber nur eine Sekunde Pause! Denn als angehender Cranko-Profi klatschen Sie jetzt. Enthusiastisch. Lange. Bis zur Schmerzgrenze und darüber. Und natürlich brüllen Sie Bravo. Wenn Sie noch einen draufsetzen wollen, dann quetschen Sie sich aus Ihrer Reihe und sausen vom 3. Rang im Schweinsgalopp durchs Treppenhaus hinunter ins Parkett links vorne und werfen Katharina oder Petrucchio einen Blumenstrauß zu, aber mit Schmackes, sonst landet er im Orchestergraben. Die Solistin oder der Solist wird die Blumen elegant aufheben und sich anmutig in Ihre Richtung hin verneigen, während Sie selbstverständlich weiterklatschen! Nicht nur das Stuttgarter Ballett hat nämlich einen fabelhaften Ruf, auch sein Publikum. Es klatscht frenetisch, und es gibt unzählige Vorhänge, viel mehr als anderswo, was auch für die Tänzer etwas ganz Besonderes ist. Das mit dem tosenden Applaus gilt übrigens grundsätzlich, nicht nur für Cranko, sondern auch für alle, die ihm choreographisch nachgefolgt sind, für Haydée, Neumeier, Kylián, Spuck, Goecke, Volpi, und wie sie alle heißen, es gilt genauso für die junge ChoreographenAbende der Noverre-Gesellschaft, aber angefangen hat der Ballett-Wahn(sinn) mit Cranko. Also strengen Sie sich gefälligst an, und werden Sie diesem Ruf gerecht! Die Vorstellung ist vorüber, und während Sie sich vor der Garderobe drängeln, um Ihre Jacke abzuholen, kommentieren Sie mit Ihrer Begleitung noch einmal fachmännisch den grandiosen Ballettabend. Machen Sie jetzt nicht alles kaputt, indem Sie fragen, ob dieser Cranko irgendwo im Opernhaus Autogramme gibt. Sie können sein Grab besuchen, droben an der Solitude, wo er seit 1973 begraben liegt. Sie wundern sich jetzt, dass er schon so lange tot ist? Weil er noch so lebendig wirkt, in seinen Balletten, bei seinem Publikum, bei allen, die sein Werk pflegen, einstudieren, tanzen? Das ist er auch. Quicklebendig. Alles Cranko! Elisabeth Kabatek ALLES Cranko! Choreographien von John Cranko Konzert für Flöte und Harfe Musik: Wolfgang Amadeus Mozart Aus Holbergs Zeit (Pas de deux) Musik: Edvard Grieg Opus 1 Musik: Anton von Webern Initialen R.B.M.E. Musik: Johannes Brahms Premiere Do 30. April 2015 // 19:00 Uhr // Opernhaus Weitere Termine: Do 07.05 // Mo 11.05 // Fr 15.05 // Sa 16.05 // Do 11.06. // Fr 12.06. // So 14.06. (nm/abd) // Do 18.06. // Sa 20.06. // Di 23.06. // Fr 26.06. // Sa 27.06.2015 Über die Autorin Elisabeth Kabatek ist in Gerlingen bei Stuttgart aufgewachsen, studierte Sprachen und Politikwissenschaft und lebt seit 1997 in Stuttgart. Seit 2010 ist sie freie Autorin und Kolumnistin. Bekannt wurde sie durch die Bestseller-Serie um die Stuttgarter Heldin Pipeline Praetorius. Im Juli erscheint der vierte Band, Zur Sache, Schätzle. In dem Sachbuch Gebrauchsanweisung für Stuttgart (2012) widmete der leidenschaftliche Ballettfan ein Kapitel dem Stuttgarter Ballett. 15 06.  Nixe 06. Erste Neuproduktion der Jungen Oper in dieser Spielzeit t r e h c s t ä l p , t f p o r s e t Da t h c s u a r und Den Warnungen des Wassermanns zum Trotz wünscht sich die Nixe Rusalka sehnlichst, das Wasser zu verlassen und als Mensch bei den Menschen zu leben. Sie sucht Hilfe bei der Hexe Jezˇibaba. Doch der Preis ist hoch: Rusalka muss ihre Stimme opfern und sich durch die Liebe eines Mannes eine Seele erkämpfen. Verrät sie der Traumprinz, sind beide für immer verloren. Gibt es einen Ausweg? Auf der Basis von Antonín Dvorˇáks Rusalka entwickelten Dramaturgin und Regisseurin Barbara Tacchini und Dirigent Till Drömann unter dem Titel Nixe eine eigene Fassung der Meerjungfrauenoper für alle ab 10 Jahren, zu der DJ und Komponistin Alexandra Holtsch elektronische Wassersounds beigetragen hat. Im Orchestergraben sitzt das Patenorchester des Staatsorchesters Stuttgart, das Landesjugendorchester Baden-Württemberg, auf der Bühne agiert neben den ProfisängerInnen der Projektchor der Jungen Oper als kleine Nixenschwestern von Rusalka. Dass Meerjungfrauen auch heute eine geheimnisvolle Faszination besitzen, zeigt neben dem Lieblings-Disney-Film Arielle und TV-Serien wie H2O: Plötzlich Meerjungfrau und Mako der Trend zu einer neuen Sportart: MermaidingSchwimmkurse in Hallenbädern boomen! Barbara Tacchini und Sängerin Kristi Anna Isene sprachen über Wasser auf der Bühne und die Sehnsucht nach einer anderen Welt. Die Fragen stellten Koen Bollen und Julian Kämper. Zwei Welten auf der Bühne Interview mit Regisseurin BARBARA TACCHINI Sehen wir die Unterwasserwelt, in der Rusalka anfangs mit ihren Schwestern lebt, auf der Bühne? Ja, die sieht man. Wir benutzen Flugwerke, um die Leichtigkeit, das Schweben unter Wasser zu erzählen. Und ich habe mich sehr früh entschlossen, für die Inszenierung von Nixe mit Live-Video zu arbeiten. Der Videokünstler Stephan Komitsch filmt Details des Geschehens auf der Bühne, die auf einer großen Leinwand verfremdet und mit einer neuen Bedeutung erscheinen. Wenn die Nixen ihre Hände sehnsüchtig nach dem Prinzen ausstrecken oder ihre Haare kämmen, werden ihre Hände zu Wasserpflanzen. Ihre Welt und ihre Sehnsüchte erschaffen sich die Figuren selbst. Die Bühne von Jelena Nagorni wandelt sich so vom Meeresgrund zum Schloss und Traumlabor. Wie sieht im Gegensatz dazu die Welt der Menschen aus? Wir haben uns überlegt, wie wohl eine Nixe die Menschenwelt wahrnimmt: Sie sucht das Wasser. Aber es ist in Rohren und Waschmaschinen eingeschlossen, zivilisiert. Inspiration für das Bühnenbild waren die elektronischen Sounds, die für die Menschenwelt stehen: Da tropft, plätschert und rauscht es. Alexandra Holtsch hat dafür Wasserklänge und Stimmen aufgenommen und mit technischen Mitteln verzerrt, verfremdet und rhythmisiert. Dennoch ist für Rusalka die Menschenwelt eine trockene, dürre Welt. Sie verdurstet innerlich und äußerlich. Rusalka opfert der Hexe Jezˇibaba ihre Stimme, um eine Seele zu erlangen und im Schloss des Prinzen leben zu können. Mit welchen Konsequenzen? Wir haben in die Oper eine von Autor Tim Staffel verfasste Schauspielszene integriert, in der das Scheitern der Liebesbeziehung zwischen dem Prinzen und Rusalka schmerzlich erfahrbar wird: Sie sind unfähig, sich einander verständlich zu machen. Da war etwas zwischen ihnen im ersten Moment der Liebe, eine Schwingung, die sie nicht mehr wiederfinden. Jeder fühlt sich dauernd fremd, wo er gerade ist. Es singen und spielen auch wieder Kinder und Jugendliche mit: im »Chor der Nixen«. Wer sind diese Nixenschwestern? Sie bevölkern die Meereswelt und halten Rusalka zurück, wie Schlingpflanzen. Denn es ist verboten, Prinzen zu retten, um mit ihnen zu fliehen. Im Gegensatz zu Rusalkas größeren Schwestern – drei solistische Rollen – mit Fischschwänzen, sind die kleinen Schwestern wie Kaulquappen oder Morphwesen. Sie können als Nebel, als Wasserpflanzen oder als Nixen erscheinen. Sie werden sich auf der Bühne im sogenannten »Suri ashi«-Schwebegang bewegen und werden dadurch zu einer sehr unberechenbaren Masse, die durch Wände eindringen kann wie Wasser. Wer kann am Ende wen retten? Gibt es überhaupt jemanden, der gerettet wird? Ich glaube, die Rettung liegt darin zu erkennen, dass man nicht einem anderen aufbürden kann, einen zu retten, und dass man stark und ganz sein kann ohne zu jagen oder sich im anderen auflösen zu wollen. Und einander wirklich so wahrzunehmen, wie jeder ist: Und nicht als Märchenprinz und Nixe. Rusalka (Kristi Anna Isene) verliebt sich in den Prinzen (Philipp Nicklaus) und rettet ihn vor dem Ertrinken. „Als Kind nannte man mich Meerjungfrau“ Kommende Projekte Im Gespräch mit Sängerin KRISTI ANNA ISENE INTO THE LITTLE HILL und LEBENS LAUF Du singst die Rusalka in Nixe. Welcher Traum erfüllt sich hier für Dich? Als Kind hat man mich schon immer Meerjungfrau genannt. Ich wollte immer tiefer und tiefer ins Meer hinab tauchen. Ich war mehr unter als über Wasser. Auch heute ist das noch so. Es ist ein Traum, dass ich die Rusalka singen darf. Die Musik ist fantastisch, die Rolle ist wunderbar. Welche Meerjungfrauen-Geschichten hast Du als Kind kennengelernt? Ich kannte als Kind vor allem den Disney-Film. Ich wollte genau so sein wie Arielle und damals natürlich auch einen Prinzen haben! Die Meerjungfrau habe ich als eine total starke und mutige Frau empfunden: Sie entscheidet sich, ihre Heimat und alles ihr Vertraute trotz Warnungen zu verlassen. Du bist in Norwegen aufgewachsen, hast zunächst dort studiert und bist dann nach Deutschland gekommen, wo du noch immer wohnst und arbeitest. Du warst auch mutig, als du deine Heimat verlassen hast ... Ja, ich wollte unbedingt auf der Bühne stehen, aber in Norwegen gibt es nicht so viele Möglichkeiten dazu. Als sich die Gelegenheit ergeben hat, nach Deutschland ziehen zu können, habe ich deshalb ohne nachzudenken sofort meine Koffer gepackt. Was fasziniert so an Meerjungfrauen-Geschichten? Mädchen möchten doch immer wieder einmal wie eine Prinzessin oder eine Meerjungfrau sein. Die Männer sind Jäger, Fischer und Prinzen auf der Suche nach dem ganz Besonderen. Das ist bei uns allen so. Wir sind doch niemals zu hundert Prozent zufrieden mit uns selbst. Es ist egal, wie viel Erfolg oder Glück wir haben. Wir sehnen uns immer nach etwas anderem. Jeder möchte doch mal, wie Rusalka eben auch, irgendwo anders hin flüchten, wenn auch gerne nur für kurze Zeit: Da liegt der Konflikt, wenn man sich wie Rusalka für immer entscheiden muss und der Preis so hoch ist ... Regisseurin Barbara Tacchini bei der Probe 16 Chor der Nixen (Fotos: Christoph Kalscheuer) Rusalka sehnt sich nach der Liebe des Prinzen. Wenn sie aber endlich zusammen sind, scheitert die Beziehung. Warum? Rusalka hat ihre Stimme geopfert und kann nicht sprechen. Sie ist unsicher, wie sie ihre Liebe körperlich ausdrücken soll. Das ist ihr als Wasserwesen fremd. Wenn diese beiden Arten von Kommunikation nicht funktionieren, können Rusalka und der Prinz einander nicht richtig kennenlernen. Das löst Verwirrung und Angst aus. Dazu kommt der große Druck, denn ihnen droht der Fluch der Hexe, wenn die Beziehung scheitert. Mit welchem Gefühl sollen die Zuschauer nach Nixe nach Hause gehen? Ich wünsche mir, dass die Leute eine tiefgründige Erfahrung machen. Sie sollen etwas erleben, das sie niemals vergessen werden, und mit neuem Mut herausgehen. Nixe von Antonín Dvořák /Alexandra Holtsch Oper ab 10 Jahren Musikalische Leitung: Till Drömann; Regie: Barbara Tacchini Premiere: 16. April 2015 // 19:00 Uhr // Forum am Schlosspark, Ludwigsburg Weitere Vorstellungen: 17.04. // 22.04. // 23.04. // 25.04.2015 Into the Little Hill. Der Rattenfänger von Hameln von George Benjamin Premiere: 11. Juni 2015 // 19:00 Uhr // Kammertheater Während die Probenarbeiten für die Oper Nixe in vollem Gang sind, tut sich auch schon was für die nächste Produktion der Jungen Oper Into the Little Hill. Der Rattenfänger von Hameln. Neunzehn Kinder wurden bei einem Casting ausgewählt, die gemeinsam mit den beiden Profisängerinnen Marie-Pierre Roy und Nadia Steinhardt sowie der Schauspielerin Julienne Pfeil auf der Bühne stehen werden. In der Regie von Jenke Nordalm und unter der musikalischen Leitung von Nicholas Kok führen sie eine Oper im Kammertheater auf, die auf einer wahren Begebenheit beruhen soll: Hundertdreißig Kinder sind in der norddeutschen Stadt Hameln über Nacht verschwunden. Man schrieb das Jahr 1284. Und noch heute, mehr als 700 Jahre danach, wird darüber gerätselt: Der renommierte Komponist George Benjamin und Autor Martin Crimp spüren mit faszinierenden Sprach- und Klangwelten dem mysteriösen Rattenfänger nach, der dem Minister durch seine Dienste zur Wiederwahl verhilft und um seinen Lohn geprellt wird. Lebens Lauf Inklusives Musiktheaterprojekt gemeinsam mit der Theatergruppe »DunkelMunkel« Wer in der Jungen Oper mitspielen und miterfinden will, hat im Projekt Lebens Lauf die nächste Möglichkeit: Aufgenommen werden zehn Jugendliche von 12 bis 24 Jahren, welche gemeinsam mit einer Gruppe von sehbehinderten und blinden Jugendlichen in vorerst zehn wöchentlichen Workshops unter der Leitung der Regisseurin Barbara Tacchini und des Schlagzeugers Michael Aures eigene Musiktheaterszenen entwickeln möchten. Die Workshops finden von April bis Juli immer donnerstags von 16 bis 19 Uhr statt (außer Ferien), im Juli gibt es zwei Werkstattpräsentationen. Das Casting ist am Samstag, den 18. April von 14 bis 16 Uhr (Info und Anmeldung unter www.oper-stuttgart.de/jungeoper). Trommeln und viele andere Musikinstrumente sind vorhanden, in den Workshops erlernen die Jugendlichen einfache Spiel- und Improvisationstechniken. Voraussetzung zur Teilnahme sind aber einzig Offenheit und Interesse an der Auseinandersetzung in einer inklusiven Musiktheatergruppe mit großen und kleinen Lebenszielen, wie wir sie träumen, wünschen und vielleicht auch fürchten. Jeanne Seguin als Erste Nixe Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 17 07.  Endstation Sehnsucht 07. Wiederaufnahme von John Neumeiers Ballettdrama Southern Belle »Die Südstaatenschönheit« steht für eine junge, schöne, kultivierte und gebildete weiße Frau. Im Mittelpunkt von Endstation Sehnsucht, das beim Stuttgarter Ballett nun nach über zehn Jahren wieder im Spielplan ist, steht die Figur Blanche DuBois, eine Südstaatenschönheit, deren Glanz jedoch unwiederbringlich verblasst ist. Der Amerikaner John Neumeier, Ballettintendant des Hamburg Balletts, hat Endstation Sehnsucht im Jahre 1983 für Marcia Haydée und das Stuttgarter Ballett kreiert. Es gilt als eines seiner besten Ballette und er setzte damit nicht nur der großen Ballerina Marcia Haydée ein Denkmal, sondern adaptierte auch eines der bedeutendsten Dramen des 20. Jahrhunderts von Tennessee Williams für die Ballettbühne. Der Choreograph nimmt den amerikanischen Autor beim Wort, ohne ihn wörtlich zu nehmen, und scheut nicht davor zurück, den Zuschauer mit den verheerenden Folgen unerfüllter menschlicher Sehnsüchte zu konfrontieren. Mit dramaturgischem Geschick lässt John Neumeier sein Ballett Endstation Sehnsucht dort beginnen, wo Tennessee Williams’ gleichnamiges Psychodrama endet. Geisterhaft entrückt sitzt die verblasste Südstaatenschönheit Blanche DuBois auf ihrem weißen Bett in einer Anstalt. Den Schritt aus der Realität hat sie längst getan und sich in ihre eigene Wirklichkeit gerettet. Sie lässt die wesentlichen Episoden ihres Lebens Revue passieren und die Erinnerungen werden im Tanz lebendig: Ihre Hochzeit auf dem luxuriösen Familienanwesen, ihr Abstieg in die Unsittlichkeit, ihre Flucht nach New Orleans bis zur Eskalation, der Vergewaltigung durch ihren Schwager, welche sie schließlich um den Verstand gebracht hat. In aufwühlender Deutlichkeit zeigt Endstation Sehnsucht das Schicksal einer zwiespältigen Frauenfigur, die letztlich den Kontakt zu einer Welt verliert, in der kein Platz mehr für sie ist. Bild oben Alessandra Ferri (Gast) als Blanche und Jason Reilly als Stanley Großes Bild links Bridget Breiner als Blanche (Fotos: Stuttgarter Ballett) Blanche DuBois ist die ältere von zwei Schwestern aus einer Familie, die in Mississippi durch Plantagenwirtschaft zu großem Reichtum gekommen war. Die Handlung spielt in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs im Süden der Vereinigten Staaten. Denn nach dem Bürgerkrieg und der Befreiung der Sklaven in den Konföderierten Staaten zerbrachen die alten Eliten der Baumwoll- und Tabakindustrie. So auch geschehen mit der Familie DuBois vom Anwesen namens Belle Reve – »Schöner Traum«. Blanches schöne Träume sind zerplatzt. In der Welt, in der sie groß geworden ist, haben die männlichen Mitglieder der Familie für den Wohlstand gesorgt, wohingegen die Aufgabe der Frauen es war, eine gute 18 Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 Gesellschaft abzugeben, hübsch und jung zu sein und den Männern zu gefallen, die für sie sorgten. Die Veränderungen nach dem Bürgerkrieg leiteten auch den Beginn des Niedergangs der Familie DuBois ein. Die jüngere Schwester Stella verließ die Familie, um ihr eigenes Glück zu suchen, Blanches Ehemann Allan Gray nahm sich bereits kurz nach der Hochzeit das Leben und nach und nach sind auch die letzten Familienmitglieder gestorben, die Belle Reve bewohnten. Die zerbrechliche Blanche ist das letzte Überbleibsel dieser ehemals glanzvollen Welt. Sie bleibt zurück, allein, gealtert, unfähig zu wirtschaften oder sich um sich selbst zu kümmern und voller unbewältigter Schuldgefühle. Und doch ist sie im Geiste immer noch gefangen in ihrer alten Welt der Schönheit und Reinheit, krankhaft bemüht, Männern zu gefallen, von denen sie sich vergeblich Rettung erhofft. Ihre neurotische Sehnsucht äußert sich in geradezu hysterischem Verhalten, doch treibt ihr zwanghafter Versuch, ihr Selbstbild einer reinen Schönheit aufrechtzuerhalten, sie nicht in rettende, sondern in viele falsche, begierige Hände im verruchten Flamingo Hotel. Als sie schließlich alles verloren hat, flieht sie vor ihrer unrühmlichen Vergangenheit zu ihrer Schwester Stella, die in einer leidenschaftlichen Beziehung mit dem polnisch stämmigen Arbeiter Stanley Kowalski zusammen in einem ärmlichen Teil von New Orleans lebt. Bei ihrer Ankunft steht Blanche, die zarte weiße Frau, die offensichtlich so gar nicht in dieses Umfeld passt, verunsichert in den dampfenden Straßen New Orleans’ und hat alles bei sich, was von ihrem luxuriösen Leben übrig geblieben ist. Mit ihrem Koffer mit Kleidern und Schmuckstücken ist sie an der Endhaltestelle der Straßenbahn namens »Sehnsucht« angekommen. Für sie ist es der letzte Ort, den sie aus eigener Kraft aufsucht, denn für Blanche bedeutet New Orleans die endgültige Zerstörung ihrer selbst. Für sie endet ihre Geschichte, daran lässt der Choreograph von Beginn an keinen Zweifel, in der Nervenheilanstalt – ihrer Endstation Sehnsucht. Geschmackvoll ausgestattet von Neumeier selbst, zeichnet Endstation Sehnsucht ein aufregendes Südstaaten-Seelengemälde, das die Unbändigkeit menschlicher Sehnsucht in uns zeigt. Es gelingt ihm, die besondere Atmosphäre der Zwanziger Jahre punktiert einzufangen und obendrein den inneren Zwiespalt der Hauptfigur und ihre Manie durch eine besondere Bewegungssprache sichtbar zu machen, was eine enorme darstellerische und nicht zuletzt emotionale Herausforderung für eine Tänzerin bedeutet. Die Musik Sergej Prokofjews bringt durch einen Hauch von Nostalgie und Traurigkeit das Vergehen gesellschaftlicher Normen zum Ausdruck, während Alfred Schnittkes Komposition, die frei von Form und Zwängen ist, sich durch große Ausdrucksstärke und Emotionalität auszeichnet. Das Publikum erwartet ein intensiver Abend über ein tragisches Frauenschicksal, der unter die Haut geht und zugleich voller Eleganz und Schönheit ist. Isabel Lehmann Endstation Sehnsucht Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams Musik: Sergej Prokofjew, Alfred Schnittke; Choreographie, Bühnenbild, Kostüme und Lichtkonzept: John Neumeier; Uraufführung: 3. Dezember 1983, Stuttgarter Ballett Wiederaufnahme: 30. Mai 2015 // 19:00 Uhr // Schauspielhaus Weitere Vorstellungen: 02.06. // 04.06. // 17.06. // 19.06.2015 19 08.  TERRORisms 08. Internationales Theaterfestival vom 24. bis 28. Juni 2015 Oslo, Tel Aviv, Belgrad und Reims zu Gast in Stuttgart Seit Beginn der Spielzeit 2013/2014 ist das Schauspiel Stuttgart Mitglied der Union des Théâtres de l´Europe (U.T.E.), einer Vereinigung von über 20 Theatern aus 16 Ländern, darunter Griechenland, Österreich, Russland, Luxemburg, Portugal, Bulgarien, Rumänien, Tschechien oder Italien. Das erste Großprojekt mit Stuttgarter Beteiligung entstand in Zusammenschluss mit dem norwegischen Nationaltheater Oslo, dem israelischen Nationaltheater Tel Aviv, dem Nationaltheater Belgrad und der Comédie de Reims. An diesen Häusern wurden über die vergangenen beiden Spielzeiten hinweg insgesamt fünf Uraufführungen erarbeitet, die sich mit dem Themenfeld »Terrorismus« beschäftigen. Ausgehend vom Phänomen realer oder fiktiver Gewalt suchen die Theaterproduktionen nach den länderspezifischen Bedeutungsebenen des Themas. In Stuttgart kommen die Inszenierungen zu einer europaweit einmaligen Gesamtpräsentation zusammen. Sie werden ergänzt durch Vorträge, Diskussionen und Vorstellungen aus dem Stuttgarter Repertoire. Auch die internationalen Teams – Autoren, Regisseure und Ensembles – sind vom 24. bis 28. Juni in Stuttgart zu Gast: vier Tage für künstlerischen und gesellschaftlichen Austausch, mit den Gästen und mit dem Publikum. In Zusammenarbeit mit der Union des Théâtres de l’Europe (U.T.E.) im Rahmen des internationalen Projekts TERRORisms Mit Unterstützung des Programms Kultur der Europäischen Union Gefördert durch die 20 Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 21 08.  TERRORisms 08. Internationales Theaterfestival vom 24. bis 28. Juni 2015 Fünf Städte, fünf Blicke Das Theaterfestival Scènes d’ Europe in Reims zeigte die Uraufführung von La Baraque von Aiyat Fayez. Eine französische Inszenierung der Comédie de Reims, die diesen Juni nach Stuttgart kommen wird: Während des TERRORisms-Festivals werden Gastspiele aus unterschiedlichen Ländern zu sehen sein. Seit nunmehr zwei Jahren arbeiten die Theater aus Oslo, Belgrad, Reims, Tel Aviv und Stuttgart an einem internationalen Projekt der Union des Théâtres de l‘Europe. Als Mitglieder dieses besonderen Theaterbündnisses befassen sie sich thematisch mit einem Gegenstand, der vielschichtiger nicht sein könnte: Terror. Ein Begriff, der trotz seines Singulars ausschließlich Pluralität kennt, der trotz seiner Bilder des Schreckens im Wesentlichen verschwommen bleibt. Wie also sich solch einem delikaten Gegenstand nähern, ohne gewaltsam darüber hinweg zu bürsten? Und vor allem, wie sieht diese Annäherung bei jenen Theatern aus, die sich am TERRORisms-Festival beteiligen? Diese Fragen, sie begleiten die Reise in die Champagne: Reims. Geradezu malerisch scheint die Stadt im Stillstand, ein Bild ferner Zeiten. Nur die Plattenbauten drum herum verraten den Spuk postmoderner Vereinzelung, der die Gegenwart prägt. Im verträumten Zentrum liegt auch das Theater »Comédie de Reims«, dessen Abendprogramm allerdings wenig Traumcharakter besitzt. Vielmehr steht hier eine Dystopie im Vordergrund, die längst nicht mehr nur fiktionale Zukunftserzählung ist. Diejenigen, die ihrem gewaltvollen Inhalt dennoch zuhören, stimmt sie an diesem Abend nachdenklich. So sind bei La Baraque auch Vertreter des TERRORisms-Festivals zu Gast; Mitwirkende eines Theaterprojekts also, die sich sehr ernsthaft mit einer Welt auseinandersetzen, die sprachlos scheint. Denn in ihr droht sich ein wie auch immer gearteter Terror lautzumachen. Der scharfe Ton, nach Ilan Ronen generiert er vor allem eines: Angst. Und genau hierin gründet sich laut des Präsidenten der UTE die Kraft von Kunst, von Theater. So spiele die israelische Inszenierung des Habima Nationaltheaters God waits at the Station genau mit diesem verhängnisvollen Gefühl namens Angst, das wohl jeder, der in Israel lebt, kennt. Im theatralen Spiel gibt man damit dem eine Sprache, wofür es ansonsten kaum Worte gibt. Und diese Sprache berührt, gerade weil sie die Menschen auf der Bühne und im Zuschauerraum verbindet. Den Projektbeteiligten an diesem Donnerstagabend in Reims zu begegnen, verdeutlicht aber auch die verschiedenen Blickwinkel. Allein, die Blicke treffen sich: Sie suchen nach einem spielerischen Umgang mit jenem Terrorbegriff, der sich auf unterschiedliche Weise in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben hat. Ebenso mannigfaltig wie das Phänomen Terror erscheint, ist dabei auch der spielerische Umgang. Denn der modernen Geschichte vom Terrorismus liegen verschiedenste Erzählperspektiven zugrunde. Die Gastspiele zeigen also bloße Fragmente eines Weltphänomens. Gleichberechtigt stehen sie nebeneinander. In ihren Erscheinungen machen sie keinen Anspruch auf Deutungshoheit geltend. Ohnehin verweisen Erscheinungen eines Phänomens nicht auf ein Ding, dessen verblassendes Abbild sie sind, sondern aufeinander. Das Phänomen selbst verbirgt nicht ein Wesen, sondern das Wesen wird enthüllt, indem es sich als Grund einer Reihe von Erscheinungen zeigt. Eine mögliche Antwort auf die einleitenden Fragen: Gerade in der Phänomenologie gründet sich die Dringlichkeit eines Festivals über Terror. TERRORisms ist also ein transkulturelles Theaterfest, das das Phänomen des Terrors durch die theatrale Darstellung seiner Erscheinungen enthüllt. „Plötzlich gab es da eine andere, tiefergehende Ernsthaftigkeit, die Erfahrung nämlich, dass Terror nicht nur den Einzelnen betroffen macht, sondern jeden betrifft.“ Ludovic Lagarde Doch wie genau werden die Erscheinungen des Phänomens Terror hier theatral dargestellt? Grand und Petit sind die beiden Protagonisten in La Baraque. Nicht nur ihre Namen verraten die stilistische Ent-individualisierung derer sich der Autor Aïat Fayez bedient. Die Figuren, sie sind Platzhalter: Haben die beiden zunächst den Plan eines Attentats qua selbstgebauter Bombe gesponnen, so sollen sie sich alsbald im Netz politischer Forderungen verstricken. Ex negativo schärft sich hier die Kontur der Ideologien, die sie selbst nicht verfechten: Denn Klein und Groß mangelt es an einem politischen Bewusstsein, das die Tragweite menschlichen Handelns zu reflektieren sich anmaßt. Sie werden zu Marionetten unhinterfragter Mächte, an deren seidenem Faden gleichzeitig ihr Profitgedanke hängt. Was einst als hauseigene Bombe konzipiert war, akkumuliert zum Waffenhandel gesichtsloser Opportunisten. »Im Takt des Geldes« tanzt das gewissenslose Kriegsgeschäft und gleicht dabei einer Maskerade. Dass La Baraque in Zeiten der Pariser Anschläge auf Charlie Hebdo erarbeitet wurde, hat nicht nur die Dringlichkeit aufgezeigt sich mit Terrorismus auseinanderzusetzen. Es habe auch die Stimmung innerhalb der Proben verändert, so der französische Regisseur. »Plötzlich gab es da eine andere, tiefergehende Ernsthaftigkeit, die Erfahrung nämlich, dass Terror nicht nur den Einzelnen betroffen macht, sondern jeden betrifft«, erzählt der Regisseur der Inszenierung Ludovic Lagarde sehr eindringlich. 22 Die norwegische Performance We chew on the bones of time. des Nationaltheaters aus Oslo hingegen zeigt eine Arbeit, deren Text der Autor und Regisseur Jonas Corell Petersen in die metaphorische Gestalt einer Arche Noah-ähnlichen Apokalypse kleidet: Vier junge Personen sind es, die noch einmal die großen Fragen menschlicher Existenz aufwerfen. Sie richten sich an eine denkwürdige Entwicklungsgeschichte, deren Inhalt der Mensch selbst ist. Dabei sind sie selten einer Meinung, immer wieder entzünden sich Streitigkeiten, die zwar komisch scheinen, aber doch auch die Tragik menschlicher Kommunikation bergen. Petersens Figuren tun dabei weitaus mehr als in launigen Gesprächen nach den Zuständen längst vergangener Zeiten zu fragen: Der phantasmagorische Entwurf einer früheren, wie auch immer gearteten Welt, impliziert die desillusionierende Faktizität der jetzigen. Abermals verweist das Andere auf das Eigene, die dezidierte Frage auf das Enigma der Antwort. Banalitäten des Lebens stehen so einer Tiefsinnigkeit des Seins entgegen, das im Schatten einer grausamen Welt gleichzeitig auch ihr Licht sucht. „Man könnte etwas sarkastisch sagen, dass ein ordentlicher Angriff des Gegners beim Auffinden der eigenen Frontlinie hilfreich sein kann.“ Fritz Kater Mit Geschichte befasst sich auch Milena Markovic´. Als Autorin des serbischen Beitrags, der vom Belgrader Theater Yugoslav Drama Theatre stammt, widmet sie ihr Stück der serbisch-nationalistischen Unabhängigkeitsbewegung: Gavrilo Princips Hand, die die Kugel auf Franz Ferdinand abfeuerte, hielt auch jenen Stift, der Weltgeschichte schrieb. The Dragonslayers ist also ein Stück, in dessen Zentrum ein Freiheitspostulat steht, das in erster Linie kein patriotisches, sondern ein philosophisches ist. Dabei verwendet auch die Regie (Iva Miloševic´) die Form einer reflexiven Geschichtsstunde. Sie desavouiert ihren Inhalt nicht mit edukatorischen Instanzen, sondern kristallisiert Bedeutung(en) heraus; »die Welt beruht nicht auf Tatsachen, sondern auf Interpretationen.« Protagonist ist ein bewaffneter junger Mann, der zugleich Sinnbild ist, für einen Freiheitsgedanken, der zeitlos scheint. Das Gewesene, es tritt hier mit der Jetzt-Zeit in eine Konstellation und zeigt als Bild Büchnerische Automaten, deren Determination – statt im Defätismus zu erkalten – absolute Emanzipation entzünden möge. Weitaus direkter in seiner politischen Formulierung stellt sich God Waits at the Station von Maya Arad dar, referiert das Stück aus Tel Aviv doch sehr explizit auf palästinensische Terrorakte. Gleichzeitig vergisst die Perspektive nicht die israelische Kontergewalt, die sich mit dem Feindeslager assoziiert. So leuchtet Maya Arads Text letztlich eine fragmentierte Wirklichkeit aus, die sich in unverbindliche Steinchen von Wahrheiten zersplittert hat. Ihre Figuren suchen nach der Schuld, nach dem Terroristen und verlieren sich im zirkulären Tötungskreislauf, der jede eigene Gräueltat in Beziehung zu einer fremden setzt. Jedes Schicksal verweist auf ein anderes, gefangen in Relationen sind die Trennlinien längst dissimulierte und zeigen eine Kette von Stellvertretern auf, die auch keine weitere Bombe zu sprengen vermag. Ihr Zentrum ist seit jeher leer. Die Welt, bei Arad hat sie einen Riß und offenbart einen Kern, der beiden Seiten innewohnt: Im Benjaminschen Sinne sind sie mythische Gewalt. Was in den anderen Gastspielen pessimistisch anklingt, findet in 5 morgen seinen apokalyptischen Schlusspunkt. Der deutsche Beitrag zu TERRORisms stammt aus der pseudonymen Feder eines Fritz Kater und zeichnet ein synoptisches Gesellschaftsbild, in das eine tödliche Epidemie sich fräst. Doch ist das Fleisch längst ein krankes, zermürbt von jenem parasitären Zeitgeist, der es bislang bewohnte. Der virale Befall ist dabei ebenso toxisch wie sein Wirt: Beide mehren sie sich auf dem trüben Grund der Undurchsichtigkeit, allerdings mit unterschiedlicher Saat. Denn die kursierende Seuche generiert Menschlichkeit, während die andere, implizitere Krankheit bei Kater den Namen Postmoderne trägt. Aus dem Bodensatz dieser spätkapitalistischen Welt weissagt er. Wie die Autos vom Fließband, strömen nicht nur die Menschen in die Revue, sondern sie tanzen auch zum synthetisierten Elektroklang, der sich in die bereits mechanisierten Köpfe hämmert. Die Gastspiele des TERRORisms-Festivals entfalten dabei in der Summe ihrer Teile eine besondere Wirkung. Indem das Phänomen Terror in der Reihe seiner theatralen Erscheinungen unterschiedliche Ausleuchtung erlangt, offenbart sich das verbindende Element. Ein Dazwischen, aus dessen Abgrund das Dunkel menschlichen Daseins irrlichtert. Allein, was ist wirksamer, als dem archaischen Theater von Gewalt, wie Jacques Derrida den Terroranschlag von 2001 einst bezeichnete, ein Theater(festival) entgegenzusetzen, das die wohl archaischste Ausdrucksform des Menschen manifestiert? Ein Spiel mit Festcharakter. Im Juni ist es ein Zusammenspiel, das Grenzen von Kulturen aufhebt. Grenzen, die Terror benötigt, um den Menschen in Angst einzuhegen. Charlotte Wegen Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 23 08.  TERRORisms 08. Internationales Theaterfestival vom 24. bis 28. Juni 2015 Festivalproduktionen Das Schauspiel Stuttgart zeigt im Zeitraum vom 24. bis 28. Juni 2015 ein knappes Dutzend Theaterproduktionen zum Thema »Terrorismus«, darunter viele Ur- und Erstaufführungen. Über diese Gastspiele und Repertoirevorstellungen hinaus präsentieren wir weitere Veranstaltungen: Vorträge, Podiumsdiskussionen, Buchvorstellungen, Installationen und vieles mehr. Das Gesamtprogramm des Festivals finden Sie im Internet und in einer ausführlichen Festivalbroschüre. Der Vorverkauf beginnt am 4. Mai. Weitere Informationen erhalten Sie auf unserem FestivalBlog unter terrorismsfestival.wordpress.com Schauspiel Stuttgart La Comédie de Reims Regie: Jan Gehler Dirk Laucke hat in seiner Auftragsarbeit für das Schauspiel Stuttgart dokumentarisches Material zu Szenen verdichtet; ein Stück über die Kontinuität rechten Denkens in deutschen Köpfen. La Baraque (Uraufführung) von Aiat Fayez Regie: Ludovic Lagarde Grand und Petit sind zwei zukunfts- und hoffnungslose Männer, die das Geschäft mit dem Terror – beinahe ungewollt – zu Marionetten des Profits werden lässt. Young Habima Theatre, Tel Aviv God waits at the Station (Uraufführung) von Maya Arad Regie: Shay Pitowski Acht Schauspieler versuchen, die Splitter von Leben und Tod, die eine Selbstmordattentäterin hinterlassen hat, wieder zusammenzubauen. Wer war die Attentäterin? Jugoslovensko Dramsko Pozoriste, Belgrad The Dragonslayers (Uraufführung) von Milena Marković, Regie: Iva Miloševic´ Dragonslayers begibt sich auf die Fährte eines jungen Mannes, der im heutigen Serbien und am Ende einer langen Kette der Gewalt steht – beseelt von einem Wunsch: frei zu sein. Nationaltheatret Oslo We chew on the bones of time. Four people, a guitar, some mud and some melancholy (Uraufführung) Eine Stückentwicklung von Jonas Corell Petersen Regie: Jonas Corell Petersen Vier junge Menschen bei einem Langzeit-Seminar, vierzig Tage und Nächte. Ihr Thema: die Menschheitsentwicklung über die Jahrtausende. Ein Stück über die Schatten einer grausamen Welt, und über das Licht in ihr. 5 morgen (Uraufführung) von Fritz Kater Regie: Armin Petras Das Stück spielt in einer Zeit, in der alles schwimmt und verschwimmt: fünf Menschen an fünf Morgen entwickeln fünf Strategien zum Leben und Überleben. Schauspiel Stuttgart Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute (Uraufführung) Szenen aus Deutschland von Dirk Laucke Schauspiel Stuttgart Die Reise frei nach dem Roman von Bernward Vesper Regie: Martin Laberenz Bernward Vesper, langjähriger Lebensgefährte Gudrun Ensslins, verbrennt auf der Spurensuche seiner eigenen Lebensgeschichte. Schauspiel Stuttgart Mord (Deutschsprachige Erstaufführung) von Hanoch Levin Regie: Wojtek Klemm »Da gibt es kein Warum, das verstehst du doch.« Der Mord an einem palästinensischen Jungen setzt eine Spirale der Rache und Gewalt frei. Der Krieg wird zur perfiden Form des Alltags. Schauspiel Stuttgart Das schweigende Mädchen von Elfriede Jelinek Regie: Alia Luque Elfriede Jelinek weitet den NSU-Prozess zu einem Tribunal biblischen Ausmaßes. In seinem Zentrum: die Hauptangeklagte, die als letzte Überlebende beharrlich schweigt. Schauspiel Stuttgart Autostück. Belgrader Hund (Uraufführung) von Anne Habermehl Regie: Stefan Pucher Ein Stück wie ein Roadmovie – zwischen Brinkmann und Lynch. Das Auto als kleinstmöglicher Zuschauerraum, Stuttgart als Bühne. 24 Das Journal Frühjahr/Sommer 2015 25 Plus  10 Fragen an ... O R U M A M S C H L O S S PA R K Arno Laudel, Direktor Zentrale Technische Dienste „Wie ein Bootsmann auf einem Segelschiff“ DI 12. Mai 2015 | 20 Uhr MI 13. Mai 2015 | 20 Uhr Nederlands Dans Theater 2 Choreografien von Johan Inger, Alexander Ekman, Sharon Eyal und Gai Behar, Sol Léon & Paul Lightfoot SA 2. Mai 2015 | 20 Uhr Orquesta Buena Vista Social Club® Adiós Tour featuring Omara Portuondo, Guajiro Mirabal, Barbarito Torres, Jesus »Aguaje« Ramos Der Direktor für Zentrale Technische Dienste Arno Laudel in seinem Büro: ein Manager für täglich wechselnde Herausforderungen. (Foto: Anna Busdiecker) Karten (0711) 2 555 555 oder (07141) 910 3900 | www.forum.ludwigsburg.de 01 04 07 Seit wann arbeiten Sie an den Staatstheatern Stuttgart? Wie wird man Direktor für Zentrale Technische Dienste? Das schönste oder vergnüglichste Erlebnis? 02 05 Seit September 1997. Was ist eigentlich ein Direktor Zentrale Technische Dienste? Das ist jemand, der sich schwerpunktmäßig um Grundfunktionalitäten eines Theaters kümmert – ähnlich wie ein Bootsmann auf einem Segelschiff. Dazu zählt auch, den Gebäudebestand weiterzuentwickeln und an die heutigen Bedürfnisse im Rahmen der zur Verfügung stehenden Ressourcen anzupassen. Ein Theater funktioniert leider nicht einfach nur so, sondern es braucht mit seinen zahlreichen betriebstechnischen Anlagen und seiner komplexen Gebäude- und Lagertechnik sowie den Anforderungen aus den einzelnen Abteilungen sehr viel Pflege und Zuwendung. Diese Pflege gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern so zu organisieren, dass »nebenher« noch Theater gespielt werden kann, zählt zum Kerngeschäft. 03 Mit Geduld, Interesse und Zutrauen. Wie kamen Sie ans Theater? In der Wiege lagen (aus der Zeit meiner Großeltern) bereits einige Theatergene. Erste Berührungen mit Theatertechnik gab es dann während der Schulzeit. Nach der Schule wurden die Kenntnisse sowohl beim Studium der Theater- und Veranstaltungstechnik in Berlin sowie in verschiedenen anderen Theatern (Schauspielhaus Hamburg, Festspielhaus Bayreuth) vertieft. Danach ging es dann auf direktem Wege nach Stuttgart. 06 Meine Kinder aufwachsen zu sehen. 08 Einblicke Führungen durch die Staatstheater Stuttgart för de rv e r e i n de r sta atst h e at e r st u t tg a rt e .v. Meine Lieblingsinszenierungen sind … Ring them Bells von Marco Goecke, Szenen einer Ehe von Jan Bosse und Die Götterdämmerung von Peter Konwitschny. 09 SPITZENKUNST FÖRDERN – EXKLUSIVE VORTEILE GENIESSEN Theater ist für mich… ... die Welt im verkleinerten Maßstab. Was war bisher die größte Herausforderung? Die Sanierung des Schauspielhauses und parallel dazu der Neubau und die Inbetriebnahme des Probebühnenzentrums. 10 Die Stuttgarter Staatstheater bieten Oper, Ballett und Schauspiel auf höchstem Niveau. Private Förderung trägt dazu bei, dieses herausragende und umfassende Kulturprogramm aufrechtzuerhalten. Das wünsche ich mir: Störungsfreie Anlagen. Das Engagement des Fördervereins der Staatstheater Stuttgart reicht von der Unterstützung von Theaterprojekten an Schulen, der Finanzierung von Stipendien bis hin zur Förderung besonders wichtiger Produktionen. Wie viele Mitarbeiter arbeiten in der Abteilung? 90 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. An über 300 Abenden im Jahr hebt sich der Vorhang für Oper, Ballett und Schauspiel – und die Künstler stehen im Rampenlicht. Doch was geschieht im Theater eigentlich tagsüber und wie entsteht eine große Produktion? Lernen Sie einen der größten Theaterbetriebe Europas aus einer neuen Perspektive kennen! Impressum: Herausgeber Die Staatstheater Stuttgart // Geschäftsführender Intendant Marc-Oliver Hendriks // Intendant Oper Stuttgart Jossi Wieler // Intendant Stuttgarter Ballett Reid Anderson // Intendant Schauspiel Stuttgart Armin Petras // Redaktion Oper Stuttgart: Claudia Eich-Parkin, Thomas Koch Stuttgarter Ballett: Vivien Arnold Schauspiel Stuttgart: Rebecca Rasem // Gestaltung Anja Haas // Gestaltungskonzept Bureau ErlerSkibbeTönsmann // Druck Bechtle Druck&Service GmbH // Titelseite Caroline Junghanns, Schauspiel Stuttgart. Foto: Martin Sigmund Redaktionsschluss 8. April 2015 // Hausanschrift Die Staatstheater Stuttgart, Oberer Schlossgarten 6, 70173 Stuttgart / Postfach 10 43 45, 70038 Stuttgart. 26 Karten und Termine Theaterkasse, Königstraße 1 D, 70173 Stuttgart Telefon 0711. 20 20 90 www.staatstheater-stuttgart.de Hauptsponsor des Stuttgarter Balletts Förderer des Stuttgarter Balletts Partner der Oper Stuttgart Weitere Informationen und Gruppenbuchung unter 0711. 20 32 644 und [email protected] Als Mitglied oder Stifter sind Sie bei uns in bester Gesellschaft. Erleben Sie Theater hautnah – bei Proben, Sonderveranstaltungen und exklusiven Gesprächen mit den Künstlern der Staatstheater. Wir informieren Sie gerne: för derv er ei n der sta atsth e ater st u t tga rt e.v. Am Hauptbahnhof 2, 70173 Stuttgart Telefon 0711.12 43 41 35 Telefax 0711.12 74 60 93 [email protected] www.foerderverein-staatstheater-stgt.de IBAN: DE66 6005 0101 0002 4130 04 BIC: SOLADEST www.porsche.de Sicherlich die 2 schönsten Arten der Fortbewegung. Porsche ist stolz auf die erfolgreiche Partnerschaft mit dem Stuttgarter Ballett und wünscht Ihnen erstklassige Unterhaltung. Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 11,8–6,7 · außerorts 7,8–5,7 · kombiniert 9,2–6,1; CO2-Emissionen 216–159 g/km