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Das Leben - rast in der Kult-Metropole Europas Trotz der politischen Unruhen mit täglich neuen Todesopfern, trotz Inflation und Kriminalität: In den 20er-Jahren stieg Berlin unaufhaltsam zur Kult-Metropole Europas auf. Unter der Stadtverwaltung mit Oberbürgermeister Gustav Böß an der Spitze zählte Großberlin nach mehreren Eingemeindungen 3,8 Millionen Einwohner auf einer Fläche von fast 900 Quadratkilometern und hatte damit Paris oder London überrundet. Am 29. Oktober 1923 um 20 Uhr begann in Berlin eine neue Ära: Im Vox-Haus startete der Sendebetrieb des Deutschen Rundfunks - auf „Welle 400“. Über Hochantenne, Kristalldetektor und Kopfhörer empfingen die 1.580 gebührenpflichtigen Hörer eine Mischung aus Plattenaufnahmen und LiveKonzerten; zahllose Bastler hörten „schwarz“ mit. Auf dem Messegelände an der Masurenstraße eröffnete 1924 die erste deutsche Funkausstellung ihre Pforten und sorgte für den DurchAuf der AVUS bruch des brummten erstmals neuen Medi1921 die Motoren.
ums. Und ab 1926 überragte der 150 Meter hohe Funkturm das Messegelände als neues Wahrzeichen der Stadt. Der Sender auf dem „Langen Lulatsch“ deckte 40 Prozent der Fläche ab. Noch einmal drei Jahre später flimmerten - noch als Experiment - die ersten Bilder über den Kathodenbildschirm: Weltpremiere des Fernsehens in Berlin. Auf der 1921 am Grunewald eröffneten Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße, kurz AVUS, heulten die Motoren auf. Tausende Zuschauer säumten die zweispurige, mit 20 Kilometern längste Autorennbahn der Welt. Den ersten Vergleich gewann Opel mit einem Schnitt von 129 Kilometern pro Stunde vor Mercedes Benz. Die Universal-Film AG (Ufa) entwickelte sich in kürzester Zeit zum führenden deutschen Unternehmen der Filmindustrie. Im September 1919 eröffnete sie mit dem Film „Madame Dubarry“ von Ernst Lubitsch das größte Kino Berlins, den UfaPalast am Zoo. Dort liefen Filme wie „Nosferatu“ von Wilhelm Murnau sowie „Dr. Mabuse“ und „Metropolis“ (Plakat oben links) von Fritz Lang an. Die ersten Tonfilme hatten 1922 in den Alhambra Lichtspielen am Kurfürstendamm Premiere. Mehr als 50 Bühnen boten Regisseuren und
Künstlern ein in der gesamten Republik einzigartiges Experimentierfeld: Max Reinhardt arbeitete gleichzeitig am Großen Schauspielhaus, am Deutschen Theater und an den Kammerspielen. Schauspielerinnen und Schauspieler wie Rosa Valetti, Pola Negri, Marlene Dietrich und Emil Jannings zog es nach Berlin. Der Schauspieler Erwin Piscator wollte „Kunst für das Volk“ schaffen und eröffnete 1920 in „Kliems Festsaal“ auf der Hasenheide sein proletarisches Wandertheater, das als intellektuelle „Waffe“ kommunistische Ideen propagierte. Zunächst allein, dann mit Laienspielern zog er durch die Kiezkneipen, bis er 1923 das Central-Theater pachtete und 1927 auch das Theater am Nollendorfplatz übernahm. Im Auftrag der KPD inszenierte Piscator politische Revuen, so zu den Reichstagwahlen 1924 den „Roten Rummel“. Mit der Uraufführung der Dreigroschenoper (Musik: Kurt Weill) feierte Bertolt Brecht 1928 im Theater am Schiffbauerdamm große Erfolge. Legendär: Marlene Dietrich als „blauer Engel“, daneben Pola Negri mit Hund.
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Der Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Robert Wiene schrieb Stummfilmgeschichte. Stinkbomben rechtsradikaler und streng katholischer Bürger flogen im Januar 1921, als im Charlottenburger „Kleinen Schauspielhaus“ Arthur Schnitzlers frivoles Stück „Der Reigen“ die verklemmte Sexualmoral an den Pranger stellte. „Jüdische Pornografie“, pöbelten die Krawallmacher. DADA-Sprüche wie „Kunst ist Scheiße“ oder „Berlin, dein Tänzer ist der Tod“ polarisierten das Publikum ebenso wie die Filme „Der Blaue Engel“ und „Im Westen nichts Neues“. Eines der ersten Fernsehgeräte mit Mini-Bild.
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m Sportpalast in der Potsdamer Straße trafen sich Schickeria und Halbwelt zum Sechstagerennen und zu Boxveranstaltungen. Schauspieler, Spekulanten, Politiker, Kaufleute und betuchte Gauner feuerten aus den Logen die Sportler an, während die einfachen Berliner auf dem „Heuboden“ ihre berühmten Pfiffe hören ließen. Kleinere Arenen lockten mit Damen-Box- und -Ringkämpfen. Im Josefine Baker im knappen BananenRock. Unten die „Tiller-Girls“ in Aktion.
„Haus Vaterland“ am Potsdamer Platz schwoften Buchhalter und Verkäuferinnen, Tippsen, Hausmädchen und Vertreter, bevor sie in die Separees der „Mokkabar“ in der Friedrichstraße verschwanden. Sodom und Gomorra in Berlin? Der Szene jener Jahre war das schnurz. Unter den Linden flanierte der „Damenverkehr“: Transvestiten hatte ihre Quartiere praktischerweise gleich in den Seitenstraßen. Dort konnte der Besucher auch „eine Nase ziehen“. Das für seine frivolen Darbietungen bekannte Kabinett „Weiße Maus“ hielt Masken bereit, damit sich die Berliner inkognito den Aufführungen und den anschließenden „Lustbarkeiten“ hingeben konnten. Auch Heterosexuelle besuchten die Lokale der Schwulen- und Lesbenszene gern - beispielsweise das „Eldorado“ in der Motzstraße oder die „Silhouette“ am Ende der Culmbachstraße. Schlepper komplimentierten Kaufleute und Bauern aus der Provinz, aber auch Reichstagsabgeordnete in ein Etablissement, wo Cäcilie Schmidt alias „Celly de Rheydt“ alle Hüllen fallen ließ. Der Berliner Revuekönig Rudolf Nelson entdeckte die Dame und ließ mit ihr 1921 die erste „Nackttanzgruppe“ der Republik über die Bretter tingeln. Josefine Baker, die „Schwarze Venus“ aus den USA, agierte
Kurt Tucholsky
Zilles „Gemischter Ringkampf“ (unten).
nur mit einem Bananenröckchen auf der Bühne. Als Kontrast zu den Nacktrevuen engagierte der Tänzer Erik Charell die TillerGirls aus London für das umgebaute Große Schauspielhaus an der WeidendammBrücke. Die „Girls“ reisten in Begleitung ihrer Hausmutter und ihres Pastors an; sie begeisterten mit langen Beinen und exakten Choreografien ein eher konservatives Publikum. Mit Charells Revue „An Alle“ zog der Jazz in Berlin ein. „Alles wirft die Glieder in grausiger Euphorie“, beschrieb der Schriftsteller Klaus Mann die „JazzInfektion“ aller Schichten. Das „Romanische Café“ gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Kirche (heute Gedächtniskirche) galt als Stammlokal der Künstlerszene: „Der Kuchen war alt und der Kaffee schlecht.“ Hier trafen sich Dadaisten, Expressionisten und Sezessionisten
aus der bildenden Kunst, Regisseure, Schauspieler und Bühnenbildner der Theaterwelt, Drehbuchautoren und Literaten. Ein „Obdachlosenasyl für die Unbehausten im Geiste“, so nannte ein Zeitgenosse das Café, das vielen Künstlern als Arbeitsplatz, Lesestube und Wärmehalle diente. Die Kellner drückten ein Auge zu, wenn sich ein Stammgast auch ohne den obligatorischen Verzehr dort über Stunden niederließ. „Alle Wege führen nach Berlin zurück und ins Romanische“, notierte Kurt Tucholsky. In der Stadt hatte sich eine vielfältige Presselandschaft mit 45 Morgenzeitungen, 14 Abend- und zwei Mittagsblättern etabliert. Die Journalisten trafen sich im „Café Jänicke“ ( Motzstraße) in der Nähe der Pressehäuser von Ullstein, Mosse und Scherl. Journalisten wie Alfred Kerr, Egon Erwin Kisch, Siegfried Kracauer, Carl von Ossietzky und Josef Roth, Journalistinnen wie Gabriele Tergit, Erika Mann und Ruth Landshoff griffen in Berlin zur Feder. Ernst Rowohlt gründete 1925 die Wochenzeitung „Die literarische Welt“. Und verpflichtete die Essayisten Robert Musil, Thomas Mann, Marcel Proust, Ernst Jünger und Johannes R. Becher. Das pralle Leben und die kulturelle Vielfalt sollten ein jähes Ende finden, als die NSDAP 1933 die Weimarer Republik staatsstreichartig unter ihrem braunen Sumpf aus Intoleranz, Erik Charell Terror und Mord begrub. - 133 -