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Monika Löscher
DAS ROTE WIEN 1919-1934 Der Gewinn der Wiener Gemeinderatswahlen 1919 ermöglichte es den Sozialisten, ihre sozialpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konzepte in die Praxis umzusetzen. Die Kommunalpolitik wurde zum großen Spielfeld eines gesellschaftlichen Experimentes, den „Neuen Menschen“ zu schaffen. In der sozialdemokratischen Vorstellung sollte die parlamentarische Demokratie durch einen umfangreichen Sozialkatalog legitimiert werden. Wenn jeder Mensch von der Idee der Demokratie beseelt sei – so Otto Bauer, der sozialistische Theoretiker dann könne eine „Sozialdemokratisierung“ durchgeführt werden. “Der Weg des Sozialismus“ sollte durch den „Neuen Menschen“ beschritten werden. Die „Neue-Mensch-Bewegung“ ist eine österreichische Bildungspolitik der Austromarxisten, die sich an der Programmatik des Marxismus und der Werteskala des Bürgertums orientierten. Der „Neue Mensch“ umfasste folgende Leitgedanken: 1. Die Geschichte ist ein Prozess des ständigen kulturellen Aufstieges. 2. Dieser kultureller Aufstieg bedarf der freien bewussten Tätigkeit aller Menschen. 3. Die Klassenzuteilung bewirkt eine extreme Verzehrung des Zuganges zu den gesellschaftlichen Gütern wie Schulbildung, geregelte Arbeit, materielle Güter wie Grund, Wohnung, Geld.... und bewirkt für die Mehrheit der Menschen eine „Entwertung, Entfremdung der Menschenwelt“ 4. Die Vererbung sozialer Positionen, gesellschaftlicher Rollen, materieller Möglichkeiten soll durch die klassenlose Gesellschaft verhindert werden. 1 Voraussetzung für eine eigenständige Kommunalpolitik war zunächst die Trennung Wiens von Niederösterreich im Jahr 1922. Die Verhandlungen erwiesen sich als nicht leicht: alle Landesanstalten und Besitz mussten neu bewertet werden. Die Trennung war für Niederösterreich nicht besonders günstig. Es gab keine eigene Hauptstadt und Wien war Sitz der Landesregierung. Folgende Anstalten kamen unter Wiener Verwaltung: Am Steinhof, Ybbs, das Zentralkinderheim in Schwadorf, das Seehospiz Lussinggrande, Eggenburg, die Taubstummenanstalt Wien XIX und die Landeserholungsstätte Hütteldorf.
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Helmut Reinfeldt, Familienpolitik im Roten Wien: 1919 – 1934. Exkursion auf der Eisbergspitze. Dipl.Arb., Wien 1993, 23. 1
Sozialpolitik der christlich-sozialen Gemeindeverwaltung (18951919) Karl Lueger war bis zu seinem Tod 1910 Bürgermeister von Wien. Er kommunalisierte die Gas- und Strombetriebe und baute öffentliche Verkehrsmittel und Wohlfahrtseinrichtungen aus, um das wachsende Elend weiter Teile der Bevölkerung zu lindern. Mit seinem „Gas- und Wassersozialismus“ war ein Grundstein gelegt, auf dem dann später die Sozialisten in den 20er Jahren aufbauen konnten. Unter christlich-sozialer Verwaltung entstand eine Kommission mit der Aufgabe die „humanitären Anstalten“ der Gemeinde zu überwachen. Um die Jahrhundertwende wurden mehrere Reformen der Armenpflege beschlossen, wesentlich waren die Schaffung eines „Zentralrates für das Armenwesen“ und die Errichtung einer Auskunftsstelle im „Zentralarmenkataster des Magistrates“. Aufgabe des Zentralrates war es u.a. mit der privaten Armenpflege zusammenzuarbeiten. Zwar setzte sich immer mehr die Ansicht durch die Armenpflege zu verbessern, allerdings war die In-Hilfe-Nahme kommunaler Dienstleistungen immer noch an die Heimatzugehörigkeit beschränkt.
Situation nach dem Ersten Weltkrieg Der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie brachte auch einen Zusammenbruch der bisherigen Gesellschaftsordnung. Das Wien der Nachkriegszeit war geprägt durch eine große Hungersnot, die medizinische Versorgung war unzureichend und es mangelte an Heizmaterial. Die heimkehrenden Soldaten fanden schwer Arbeit und viele von ihnen prägten schwer traumatisiert von den Fronterfahrungen als sogenannte Kriegsneurotiker und „Zitterer“ das Stadtbild. Es herrschte eine akute Wohnungsnot und es gab die „Bettgeher“, die sich keine eigene Wohnung leisten konnten, und die nur gegen Miete zu genau festgelegten Stunden ein Bett in einer Privatwohnung benutzen durften. Aufgrund der ungünstigen Wohnverhältnisse – dunkle, feuchte und meist überbelegte Wohnungen – konnten sich Krankheiten leicht verbreiten. So wurde die Tuberkulose auch „Wiener Krankheit“ genannt, da Wien davon besonders betroffen war. Die Inflation konnte zwar mit den Genfer Anleihen 1922 gestoppt werden, die Wirtschaft hatte aber nur kurz Zeit, sich zu erholen. Die Weltwirtschaftkrise 1929 verschärfte die schwierigen Wirtschafts- und Lebensbedingungen und Massenarbeitslosigkeit wurde so zu einem Dauerphänomen.
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Wien – die erste sozialdemokratisch regierte Millionenstadt Europas Die sozialistische Kommunalpolitik umfasste neben dem Wohnungsbereich, dem Erziehungs- und Kulturbereich vor allem das Fürsorge- und Gesundheitswesen. Diese vier Bereiche wurden nun nach sozialistischen Vorstellungen und Überlegungen gestaltet. Wesentlich geprägt wurde diese Politik von Hugo Breitner, dem Stadtrat für Finanzen, und dem Anatomen Julius Tandler, dem Stadtrat für Wohlfahrt und Gesundheit. Eine Unzahl von Reformen wurde im Bereich des Armenwesens, des Gesundheitswesens und dem Schulund Bildungswesen durchgeführt. Finanziert wurde es durch das „Breitnersche Steuersystem“, das eine Fürsorgeabgabe und die Wohnbausteuer beinhaltete. Sozial- und Fürsorgepolitik Julius Tandler, der Stadtrat für Wohlfahrt und Gesundheit, legte am 30. Juni 1921 dem Gemeinderat seine vier Grundsätze vor2: 1. Die Gesellschaft ist verpflichtet, allen Hilfsbedürftigen Hilfe zu gewähren. 2. Individualfürsorge kann rationell nur in Verbindung mir Familienfürsorge geleistet werden. 3. Aufbauende Wohlfahrtspflege ist vorbeugende Fürsorge 4. Die Organisation der Wohlfahrtspflege muss in sich geschlossen sein. Die Ausgaben für das Fürsorgewesen und das Gesundheitswesen betrugen je 20% des Budgets der Stadt. Die Erfolge wurden jedoch schnell sichtbar: Die Säuglingssterblichkeit ging stark zurück und auch die Tuberkulose nahm ab. Eugenik in der Volkswohlfahrt Tandlers Fürsorgekonzept orientierte sich an einem produktiven, leistungsfähigen „Volkskörper“ als Ganzem. Der Großteil der Investitionen der Fürsorge in den Einzelnen wurde in der Überzeugung getätigt, dass damit das Ziel künftiger Kostenersparnis und effizienter Verwaltung des „Volkskörpers“ - des „organischen Kapitals“ - zu erreichen sei. Im „Roten Wien“ wurde den Fürsorgebedürftigen ein „Recht auf Fürsorge“ zugestanden, gleichzeitig erwartete man die „Pflicht zu angepasstem Verhalten“. Fürsorge war im „Roten Wien“ mehr als gesundheitspolitische Präventionsstrategie. Von immenser Bedeutung war die erzieherische Absicht, ein Verantwortungsgefühl zu erwecken und verantwortungsbewusste Proletarier zu schaffen.
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Karl Sablik, Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer. Wien 1983, 205. 3
Ziel der Fürsorge war es, sich eines Tages selbst überflüssig zu machen. Diese Zukunftsvision formulierte Tandler im Mai 1931 anlässlich der Bilanz „Zehn Jahre Wohlfahrtsamt“: Wir alle, Ärzte, Sozialbeamte, Schwestern und Fürsorgerinnen, Helfer und Helferinnen auf allen Gebieten menschlicher Not, wir haben daran zu arbeiten, uns selbst überflüssig zu machen. Zehn Jahre Weg haben uns noch lange nicht zum Ziele geführt. Vor uns liegt in weiter Ferne das Ziel unserer Selbsterübrigung, das Ende des Elends und der Not. [Das Wohlfahrtsamt der Stadt Wien und seine Einrichtungen 1921-1931 (Wien 1931), Vorwort] Dieses „präventive Konzept“ brachte eine besondere Betonung der Jugendfürsorge mit sich, die als „Fundament jeder Fürsorge“ galt und die Entstehung sozialen Elends und körperlicher wie geistiger „Minderwertigkeit“ bereits im Keim ersticken sollte. [Tandler, Gefahren der Minderwertigkeit, In: Das Jugendhilfswerk. Jahrbuch 1928, Wien 1928, S. 3-22]. Die Wohlfahrtsphilosophie verdichtet sich im berühmten Spruch Tandlers: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“ Tandler forderte nun Maßnahmen gegen die „körperliche und geistige Verwahrlosung“ der Jugend. Er unterschied dabei zwischen jenen Kindern, die, selbst wenn sie aufwendiger finanzieller Zuwendung bedurften, eines Tages die in sie investierten Gelder wieder „abarbeiten“ und an die „Allgemeinheit“ zurückzahlen können würden und jenen „Minderwertigen“, die nicht Werte schaffen, sondern nur konsumieren würden. Sein Ziel war, dass ein Teil der Fürsorge, nämlich der Bereich der Erwachsenenfürsorge, eines Tages überflüssig werden sollte. Dies konnte dann gelingen, wenn man Kindern aus allen sozialen Schichten eine möglichst gute Erziehung und Ausbildung ermöglichte, sie geistig und körperlich förderte; dann würden sie später keine kranken Erwachsenen werden. Somit stellt das Programm Tandlers ein Beispiel einer eugenisch motivierten Sozialpolitik dar, in der Wohlfahrtsinstitutionen eine Vermittlungsinstanz zwischen staatlicher Politik und Bevölkerung einnahmen.
Bevölkerungspolitik im „Roten Wien“ Ziel und Aufgabe von Bevölkerungspolitik war nach Tandler „die Bewirtschaftung des organischen Kapitals, das durch die in einem Gemeinwesen lebende Menschheit dargestellt ist.“ Als amtsführender Stadtrat für das gesamte Wohlfahrtswesen oblag nun ihm die Aufgabe als „Verwalter des organischen Kapitals“ tätig zu sein. Julius Tandler differenzierte zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem Leben“ und leitete hiervon seine Unterscheidung von „produktiven“ und „unproduktiven“ bevölkerungspolitischen Ausgaben ab. Unproduktive Ausgaben waren für ihn Ausgaben für „Alte, Gebrechliche, Sieche, Irre,...“ [Tandler, Ehe- und Bevölkerungspolitik, In: Wiener Medizinische Wochenschrift 74, (1924), Sonderabdruck im Josephinum] Produktive Ausgaben, also Gelder, die vor allem in die Jugendfürsorge gingen, sollten überwiegen, dann sei das Wohlfahrtsbudget vom Standpunkt der Bevölkerungspolitik in Ordnung. Die Aufstellung des Budgetvorschlages im 4
Wiener Gemeinderat war zumindest unterschwellig von diesem dualen Denken, das seinen Niederschlag in „bevölkerungspolitisch produktive“ und „bevölkerungspolitisch unproduktive“ Ausgaben fand, bestimmt. Tandler, der den Arzt als „Verwalter des organischen Kapitals“ sah, teilte die Menschen in Produzenten und Konsumenten und dachte dabei in Kategorien der Arbeitsleistung. [Tandler, Arzt und Wirtschaft, In: Volksgesundheit 7, (1932), S. 2-13, sowie Gesundheitsfürsorge, In: Volksgesundheit 1, (1927), S. 11]. Der jugendliche Mensch, bevor er zu produzieren imstande ist, fällt bei ihm unter die Kategorie „Nurkonsument“, darauf folgt die Zeit des „ProduzentenKonsumententums“ des erwerbsfähigen Menschen, und schließlich wieder das „Nurkonsumententum“ [Tandler, Arzt und Wirtschaft, 1932, S. 6]. Tandler ging es also um eine unverhohlene Kalkulation mit menschlicher Arbeitskraft. Er rechnete vor, dass nur 49% der Kinder der Armenbevölkerung das 16. Lebensjahr erreichten und merkte an: ...das heißt jedes zweite Kind ist umsonst gezeugt und tilgt nicht die Aufzuchtsspesen. Nur eine ganz gedankenlose Bewirtschaftung des organischen Kapitals kann einen solchen Unfug, einen solchen Mangel an Rationalität überhaupt erdulden. Man schlage einmal einem Tierzüchter vor, mit gleichem Risiko zu züchten; kein Züchter der Welt wird sich für ein solches Experiment hergeben. [Tandler (1924), Ehe- und Bevölkerungspolitik, S. 4] In der Wiener Medizinischen Wochenschrift schreibt Julius Tandler im Jahr 1924 von seinem Wunsch, die Zahl der „Irrsinnigen“ durch „bevölkerungspolitische Maßnahmen“ herabzusetzen sowie weiters: Das Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens gewinnt im Interesse der Erhaltung lebenswerten Lebens an Aktualität und Bedeutung. Gewiss, es sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe, welche dagegen sprechen, aber schliesslich und endlich wird auch die Idee, dass man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewusstsein dringen. Denn heute vernichten wir vielfach lebenswertes Leben, um lebensunwertes zu erhalten [...] Dieselbe Gesellschaft, welche in ihrer Verständnislosigkeit, in ihrer leichtsinnigen Gleichgültigkeit hunderte, darunter vielleicht Talente und Genies, glatt zugrunde gehen läßt, füttert in sorgsamer Ängstlichkeit Idioten auf und rechnet es sich als eine Leistung an, wenn es ihr gelingt, denselben ein behagliches Greisenalter zu sichern. [Tandler, Ehe- und Bevölkerungspolitik, 1924, S. 2, 3] Aber, fragt man sich heute, hat dies nicht gerade Tandler durch den Ausbau des Wohlfahrtswesens ermöglicht? Sein geschlossenes System der Fürsorge umfasste den Menschen von der Geburt bis zum Tod, unabhängig von sozialer Klasse. Wieso kritisiert er einerseits den modernen Sozialstaat, der doch nach Theorie vieler Eugeniker das Selektionsprinzip außer Kraft setzt und damit die „Degeneration“ weiter verschärft, und baut andererseits diesen doch gerade im „Roten Wien“ auf? Bezugnehmend auf die „Minusvarianten“ in der Gesellschaft argumentierte Tandler folgendermaßen: Wenn ein Epileptiker eine Schwachsinnige 5
heiratet, so gehört nicht viel Kenntnis der Vererbungstheorie dazu, um von vornherein sagen zu können, daß die Gemeinde Wien die Kinder dieser Ehe wird erhalten müssen, solange sie leben. Ich sehe darin eine Ungeheuerlichkeit, weil wir wissentlich etwas gestatten, was bevölkerungspolitisch, finanzpolitisch ein Unsinn ist. [WStLA, GRSP, 27.6.1921] Für sein Ziel, daß „Minderwertige“ erst gar nicht geboren werden, boten sich ihm neben einem moralischen Appell an das Verantwortungsgefühl des Menschen prinzipiell drei Möglichkeiten: Eheberatung, Sterilisation, Abortus sind vorderhand die bescheidenen Mitteln der Auslese, die uns zur Verfügung stehen, sind die Wege, auf denen es der Eugenik gelingen kann, an die Stelle der verlorenengegangenen natürlichen Auslese die künstliche zu setzen. [Tandler, Qualitative Bevölkerungspolitik, In: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik (Wien 1927), S. 17] In die Praxis konnte Tandler aber nur die Eheberatung umsetzen. Seine Haltung zu Maßnahmen der negativen Eugenik ist sehr ambivalent und nicht eindeutig bestimmbar. In den Quellen findet man immer wieder sich widersprechende Aussagen. So ist seine Position zur Frage der Abtreibung von Anfang an durch eine Doppelstrategie bestimmt: Prinzipiell lehnt er die Abtreibung vehement ab, da für ihn menschliches Leben mit dem Zeitpunkt der Zeugung beginnt und unantastbar ist; andererseits ist seine Furcht vor „lebensunwertem“ Leben noch größer. Deswegen findet man in seinen Aufsätzen oft divergierende Meinungen. Tandler kann man immer mit Tandler widerlegen. Noch 1932 betonte Tandler, dass er nicht vor „Laien“ die „Kardinalsfrage“ des Abortus diskutieren wolle, bevor die Ärzte sich nicht geeinigt hätten [ Tandler, Arzt und Wirtschaft, 1932, S. 9] Er entwickelte aber ein Konzept der Indikationslösung bei medizinischer, sozialer und eugenischer Indikation. Den Embryo verstand er als „Teil der Gesellschaft und nicht als Teil der Mutter“, so hätte auch die Gesellschaft sowohl die Pflicht, sich um dieses Individuum zu kümmern, als auch das Recht, es im “Interesse der Allgemeinheit“ zu opfern. Er argumentiert sein dualistisches Menschenbild zwischen Biologie und Soziologie folgendermaßen: „Biologisch“ so meint er, sei der „Embryo vom Augenblick der Zeugung ein Individuum und nicht Teil der Mutter“. „Soziologisch“ hingegen sei der „Embryo Teil der Gesellschaft und nicht Eigentum der Mutter“. Tandler entwickelte Pläne einer Kommission, die den „Wert“ des Embryos zu überprüfen hätte. Diese Kommission sollte aus einem Richter bestehen, einem „Anwalt des Embryos“, einem „gewählten Vertreter der Gesellschaft“ und einer Frau. Sämtliche Mitglieder der Kommission sind also durch ihre gesellschaftliche Stellung definiert - außer der Frau. Die medizinische Indikation sollten drei Ärzte bestimmen, bei eugenischer Indikation kämen noch zwei Sachverständige dazu. Diese Kommission war jedoch heftig umstritten und wurde nicht realisiert. Zur Frage der Sterilisation ist zu bemerken, dass Julius Tandler sie bei „blödsinnig geborenen Kinder und den Insassen der Anstalten für Epileptiker und unheilbar Geisteskranke vor deren Entlassung“ forderte. 6
Eine Sterilisation von Frauen mit unehelichen Kindern lehnte Tandler allerdings ab [Tandler, Gefahren der Minderwertigkeit, 1928, S. 15] Seine Haltung zur Sterilisation ist aber nicht so einfach zu bestimmen. So schrieb er 1928: Die Unfruchtbarmachung der Minderwertigen selbstverständlich unter allen Kautelen der Wissenschaft und der Menschlichkeit und unter voller Bürgschaft des Rechtes ist meiner Überzeugung nach eine unabweisliche Forderung. [Tandler, Gefahren der Minderwertigkeit, 1928, S. 16] Er hatte aber die Vorstellung, dass jemand, durch Aufklärung belehrt, von sich aus, dieser Operation zustimmen würde. Auf die Frage, was passiert, wenn sich jemand „uneinsichtig“ zeigt, geht Tandler jedoch nicht ein. Die Rechtslage war bei der Sterilisierung alles andere als eindeutig. Vor allem wurde zwischen der Sterilisierung als therapeutische Maßnahme und der Sterilisierung zum Zwecke der Unfruchtbarmachung bei eugenischer Indikation unterschieden. Letztere fiel unter den Tatbestand der Körperverletzung. [Jochen-Christoph Kaiser/Kurt Nowak/Michael Schwartz, Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“: Politische Biologie in Deutschland 1890-1945. Eine Dokumentation (Berlin 1992), XIX] Julius Tandler ging es um Präventivmaßnahmen, d.h. die Geburt eines behinderten Kindes war zu verhindern; war es aber einmal auf der Welt, so gab es dafür ein Fürsorgemodell und die Pflicht, es zu versorgen. Unter diesem Aspekt muss man die Mutterberatungsstelle betrachten, in denen schwangere Frauen in den ersten vier Monaten der Schwangerschaft untersucht werden sollten, ob sie an Syphilis erkrankt seien. Wie bereits erwähnt, war die hereditäre Syphilis in Wien nach dem Krieg relativ weit verbreitet. War die Frau gesund, so erhielt sie eine Bescheinigung darüber, war sie krank, bekam sie eine Behandlungsanweisung. Erschien die Frau nach der Geburt des Kindes mit dem Gesundheitsnachweis bzw. mit einem Behandlungsschein und brachte sie ihr Kind zur „weiteren Befürsorgung“, so erhielt sie von der Gemeinde Wien eine finanzielle Zuwendung. Diese Maßnahme wurde „Mutterhilfe“ genannt. Tandler ging es aber vor allem um einen Appell an das Verantwortungsgefühl der Menschen, sie sollten das richtige Wissen vermittelt bekommen. Es ging ihm um die Weckung der so genannten generativen Ethik, dass heißt eine die Fortpflanzung betreffende Ethik. Die Vorstellung war, dass mittels Aufklärung und Propaganda jeder einzelne ein „Eugenik-Gewissen“ entwickeln, die Grundsätze und Hierarchisierung dessen, was eugenisch gut bzw. falsch ist, verinnerlichen sollte. Die Erziehung zur generativen Ethik war nach Tandler Hauptaufgabe der Jugendfürsorge, weil es ja um die Verantwortung der menschlichen Gesellschaft für die nächste Generation gehe. Ein Ort dieser Wissensvermittlung wurde die „Gesundheitliche Beratungsstelle für Ehewerber“. Diese Beratungsstelle für „Ehewerber“ bestand seit Juni 1922 und war im städtischen Gesundheitsamt organisiert. Wie der Name bereits impliziert, ging es nur um eine Beratung und um keine Behandlung. Die Aufgaben und Ziele wurden folgendermaßen definiert: Aufgabe ist es, die Ehewerber darüber zu beraten, ob ihre geistige und körperliche 7
Verfassung mit Wahrscheinlichkeit entspricht, dass die von ihnen gezeugten Nachkommen geistig und körperlich gesunde Menschen sein können. [Tandler, Wohltätigkeit oder Fürsorge? 1925, S. 6, 7] Nach dreijährigem Bestehen der Eheberatungsstelle resümiert Tandler im Jahre 1925, dass die Eheberatung ganz ausgezeichnet wirksam und die Zahl der „Ehewerber“, die sich in den Beratungsstellen einfänden, in ununterbrochenem Ansteigen begriffen sei. Ende der zwanziger Jahre wirkte Tandler aber etwas ernüchtert. Denn trotz massiver Werbung in Zeitschriften, Kinos und Rundfunk entsprachen die Besucherzahlen nicht seinen Erwartungen.
Versorgungsheim Lainz Wien hatte 1910 etwa 2 Millionen Einwohner, davon waren 148.000 Personen über 60 Jahre. 1930 hatte zwar die Einwohnerzahl abgenommen, die Zahl der alten Menschen wuchs jedoch auf 167.000. Für das Versorgungsheim Lainz bedeutete dies eine zusätzliche Belastung. In Lainz befand sich auch seit 6. September 1921 die zentrale Aufnahme für alle anderen Versorgungsheime. Jährlich gingen durch diese Stelle etwa 6000 bis 7000 Personen. Gleichzeitig wurde auch eine Quarantänestation eingerichtet. Aufnahmekriterien waren Pflegebedürftigkeit, nicht aber soziale Not. Der Normalbelag in Lainz war um 1926 an die 5 800 Betten, 240 Betten waren in der Ehepaarabteilung.
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