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Demografischer Wandel In Deutschland: Verändern Statt Verdrängen

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Demografischer Wandel in Deutschland: Verändern statt Verdrängen Drei Generationen: Zwingende Vorsorge ausgeblendet Die Menschen werden immer älter - und das Leben immer teurer. Doch statt die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, verdrängen viele Deutsche immer noch den demografischen Wandel. Ein Gastbeitrag des Soziologen Thomas Druyen. Was erwartet Deutschland im neuen Jahr? In einer kleinen Serie geben Experten auf SPIEGEL ONLINE Antworten - von der Wirtschaft über Außenpolitik bis zur Einwanderung. --------------------------------------------------Gastbeitrag---------------------------------------------------------------Auf die Frage wie Deutschland sich in den nächsten Jahren verändern wird, kann man mit den unterschiedlichsten prognostischen Sprachspielen antworten. Probieren wir mal eine andere Variante, die indirekt zu höherer Verlässlichkeit führt und stellen die Frage: Wie ist Deutschland in den letzten Jahrzehnten mit Zukunft und Wandel umgegangen? Es gibt ein existentielles Beispiel, da ist uns die Zukunft tatsächlich schon seit vielen Jahren zugänglich. Ich spreche vom demografischen Wandel. Welche Veränderungsbereitschaft unsere Gesellschaft besitzt, kann man hier über einen langen Zeitraum dezidiert verfolgen. Dazu gibt es eine Fülle von Material und auch eine eigene Studie, in der wir Großeltern, Eltern und Enkel befragt haben, inwieweit sie mit der demografischen Entwicklung vertraut sind. Insofern darf ich aus dem Vollen schöpfen und eindeutig feststellen: Das gesamte Wissen über die gesellschaftlichen, politischen, unternehmerischen und sozialen Folgeerscheinungen der demografischen Entwicklung ist innerhalb unserer Bevölkerung weder ganzheitlich bekannt noch umfassend verstanden. Zur Person Der Soziologe Thomas Druyen ist Direktor des Institutes für vergleichende Vermögenskultur und Vermögenspsychologie sowie des Institutes für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. 2015 erschien das von ihm herausgegebene Buch "Drei Generationen im Gespräch - Eine Studie zum intergenerativen Zukunftsmanagement". bernhardhuber.com Daraus ergeben sich schwere Handlungsdefizite in Bezug auf die notwendige Neugestaltung individueller und kollektiver Lebensbiografien. Vor allem die einmalige Lebensverlängerung bleibt ohne intergenerative und präventive Resonanz. Die einzelnen Generationen haben sich spezifische Verdrängungsperspektiven zurechtgelegt, um sich der zwingenden Vorsorgenotwendigkeiten und der mit dem Altern einhergehenden Gesundheitsrisiken gedanklich zu entledigen. Keine Kinder - aber unterhaltspflichtig Den beschriebenen unverrückbaren Tatsachen der demografischen Veränderung fügt der Präsident des Statistischen Bundesamtes Roderich Egeler die aktuelle Prognose hinzu, dass der Renteneintritt bis zum Jahre 2060 auf das Alter von 74 angehoben werden müsse, um die Erwerbstätigkeit konstant zu gestalten. Das bedeutet für diesen Zeitraum auch, dass hundert erwerbsfähige Deutsche hundert Nicht-Erwerbsfähige, neben den Rentnern gehören natürlich auch die unselbständigen Kinder dazu, zu versorgen haben. Das ist genauso spektakulär wie eine vierzigjährige Lebensverlängerung, die selbst Kinderlosen unaufgefordert Unterhaltspflichtige beschert. Willkommen im Zeitalter der Paradoxie. Seit fünfzehn Jahren werden Themen im Zusammenhang der demografischen Entwicklung für eine breitere Öffentlichkeit immer wieder neu aufgegriffen und medial präsentiert. Die Varianten der Erläuterung umfassen die ganze Spannbreite zwischen Horrorszenarien und Unsterblichkeitsillusionen. In welchem Ausmaß die Aufklärung in weiten Teilen gescheitert ist, wird an unzähligen Beispielen ablesbar. Die Altersrente selbst wurde im Jahr 1889 eingeführt und bezog sich auf wenige Lebensjahre. Nun hat sich die relevante Absicherungszeit auf mehrere Jahrzehnte erweitert. Das Verfahren ist aber im Prinzip nicht verändert worden. Schon 1932 sagten populärwissenschaftliche Prognosen die anstehende Altersproblematik bis zum Jahre 1980 korrekt voraus. Die Rentenreform 1957 oder die 1995 beginnende Pflegeversicherung und viele Zäsuren inklusive Norbert Blüms Diktum von der "sicheren Rente" sowie der aktuellen abschlagsfreien Rente mit 63 Jahren sind Monumente der Verdrängung und der Paradoxie. Präventive Inkompetenz Auf diesem Humus einer über 80-jährigen Widersprüchlichkeit, die bis heute politisch weder aufgelöst noch transparent gemacht worden ist, sind die Früchte der Ahnungslosigkeit, der Orientierungslosigkeit und des Zorns keine Überraschung. Wenn man dennoch aus dem Staunen nicht herauskommt, dann über die unfassbaren Verblendungen, Verdrängungen und den Fatalismus, die den demografischen Wandel begleiten, obwohl das relevante Wissen auf dem Tisch liegt. Vor diesem Hintergrund lautet die klare Botschaft unserer Generationenstudie: Wir haben es bei diesem Thema mit zwei verschiedenen Wahrheiten oder Wirklichkeiten zu tun. Rationalität und Emotionalität haben sich getrennt. Die innere und die äußere Sicht des Menschen auf den demografischen Wandel fallen auseinander. Das rational Eindeutige eines extrem verlängerten Lebens kann man emotional nicht übersetzen, weder im Moment des Erlebens, noch des Erwartens, auf keinen Fall Jahrzehnte vorher. Anzeige Thomas Druyen: Drei Generationen im Gespräch Eine Studie zum intergenerativen Zukunftsmanagement. Springer; 230 Seiten; gebunden; 34,99 Euro. Wir finden zur demografischen Entwicklung seit Jahrzehnten keine ganzheitliche Einstellung, weil wir bislang größte Schwierigkeiten haben, uns die Zukunft vorzustellen, ganz zu schweigen von der Unfähigkeit, sie in unserem Handeln zu berücksichtigen. Diese präventive Inkompetenz zieht sich wie ein roter Faden durch die individuelle und kollektive Menschheitsgeschichte. Neben großen Beispielen wie Kriegen, Umweltzerstörung oder Überschuldung kann ein vertrautes Alltagsphänomen wie das Rauchen das fatale Fehlen einer vernünftigen Folgenabschätzung veranschaulichen. Von den Silvesterentschlüssen, Selbstvorwürfen und anderen individuellen Hin-und-her-Szenarien einmal abgesehen, treffen selbst aufwendige Einwirkungen des Gesetzgebers, der Ärzteschaft und der Krankenkassen sowie drastische Horrorverpackungen oder systemische Verbote auf eine unfassbare Resistenz. Obwohl den Menschen rational die Thematik vollkommen klar ist, entscheiden sich viele dennoch emotional und genussvoll mit jedem Zug für die Verkürzung der Lebensspanne. Dieser in fast allen Lebensbereichen zu beobachtende Mechanismus einer kurzfristigen Orientierung mit gleichzeitigem Verdrängungsreflex langfristiger Konsequenzen ist auch signifikant und dominant für den individuellen und kollektiven Umgang mit dem demografischen Wandel. Wo bleibt das rationale Handeln? Insofern müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen, dass wir es mit zwei grundlegenden Formen der Rezeption zu tun haben, einer rationalen und einer emotionalen, die über unterschiedliche Kommunikationskanäle funktionieren. Dies ist der Grund, warum die reichlich vorhandene wissenschaftliche Expertise beim Bürger nicht ankommt und sich gleichzeitig die mediale Darstellung vornehmlich auf negative Berichterstattung fokussiert. Generationenkrieg und Altersarmut eignen sich leider weit besser zur öffentlichkeitswirksamen Emotionalisierung als eine Diskussion über Zukunftsentwürfe und gewonnene Lebensjahre. Die emotionalen Äußerungen der Studienteilnehmer sowie die Diskussion in den sozialen Netzwerken zeigen, dass die innere Auseinandersetzung um die Themen der Zukunft, der Planung und auch der Vorsorge kreist, ohne dass die Betroffenen einen Weg finden, dies im rationalen Handeln auch umzusetzen. In Verbindung mit der allseits praktizierten Kurzfristigkeitsorientierung ist über Jahrzehnte ein riesiges, systemisches Vakuum entstanden, das psychologisch, politisch und gesellschaftlich aufrechterhalten wird. Dies geschieht, so meine Diagnose, in Ermangelung einer mutigen und entscheidungsfreudigen Zukunftsvision. Man könnte sagen, der demografische Wandel wird systematisch in der Schwebe gehalten, um politisch, unternehmerisch und interessenspezifisch die jeweils vorteilhafteste kurzsichtige Lösung in Anspruch zu nehmen und auch, um sich nicht mit dem riesigen und unpopulären Umbau unseres Sozialsystems auseinandersetzen zu müssen. Überraschenderweise bedienen sich jedoch die vollkommen unterschiedlichen Interessen der Beteiligten eines gemeinsamen Handlungsmusters: der Verdrängung. Die Macht der Älteren Je größer die Bedrohung, die Unsicherheit und die Orientierungslosigkeit, desto stärker wirken die Kräfte der Verblendung, der Verschleierung und der Bewahrung. Die Veränderungsbereitschaft sinkt kontinuierlich, die Ängste wachsen unentwegt und die Fülle des nicht Beeinflussbaren wird verdrängt. Am Beispiel des demografisch und interessengeleiteten Komplexes können wir ablesen, dass selbst eine bereits bekannte Zukunft nicht zu gesellschaftsdienlichen Lösungen führt. Die Reaktionsarchitektur ist kurzfristig, eigensinnig, vorteilsgetrieben und verantwortungslos. Dies ist in Zeiten knapper werdender Ressourcen leider auch nicht anders zu erwarten. Ein letztes Beispiel demografischer Prägung: in den nächsten Jahrzehnten werden die Wahlen von einer dominierenden Zahl älterer Mitbürger entschieden. Glauben Sie, die Parteien werden sich zu Anwälten der Jugend und der Zukunft aufschwingen? Oder doch eher das Projekt der Wiederwahl in Angriff nehmen? Natürlich wird man nach der Mengenlehre die Älteren hofieren. Also eins ist klar und man spürt es überall und jederzeit: maximale und radikale Veränderungsbereitschaft ist unsere Ultima Ratio. Das ist zweifellos eine große Herausforderung, die dennoch sofort begonnen werden muss. Für uns als Bürger heißt das, das Alter und Altern konkret vom Ende her zu denken. Wie will ich im Alter leben, wie will ich abgesichert sein, was will ich meinen Angehörigen hinterlassen? Diese Fragen hängen natürlich vom eigenen Alter und der gegenwärtigen Lebensphase ab. Aber eins ist für alle gleich: Jetzt handeln und nicht aufschieben und verdrängen, unabhängig von Ängsten, von Tabus, von Zweifeln oder weil es noch so weit weg ist. Die Kunst der Veränderung liegt allein im Beginnen und Umsetzen.