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ISSN 2411-6750
Germivoire 2/2015
Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber Patrice ADICO, Université Félix Houphouët-Boigny (Abidjan, Côted’Ivoire)
Résumé La violence, quelle qu’en soit la forme, est imbriquée dans les relations humaines. Cependant, ce phénomène, qui est perceptible à travers plusieurs indicateurs, n’est pas inopiné. A ce titre, on pourrait alors se demander comment la violence, en particulier la violence physique, prend-t-elle forme. Pour répondre à une telle préoccupation, nous avons recours à l’œuvre « Les tisserands » de l’écrivain allemand Gerhart Hauptmann. Ce travail s’articule ainsi autour de deux points essentiels : le premier regardant les facteurs de la violence physique et le second cherchant à savoir l’expression de cette violence et ses effets. La violence physique répond ainsi à un processus qui conduit indubitablement à la négation de l’autre. Mots-clés : Identité, lutte, société, Violence. Abstract Violence, whatever its form, is embedded in human relations. However, this phenomenon, which is noticeable through a number of indicators, is not unexpected. One could also wonder how violence, particularly physical violence, takes shape. That is the reason why it appears useful to analyze it more in a Drama like “the Weaver” of Gerhart Hauptmann. This work revolves thereby around two main points: the first is related to the different factors of the physical violence and the second enlightens the expression of this violence and its effects. Physical violence is the fruit of a certain process which undoubtedly leads to the negation of the other. Keywords: Dehumanization, identity, society, violence.
Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
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Einleitung Die Geschichte der Menschheit lässt eine Fülle von Gewaltakten erkennen, die in der Dichtung nach wie vor verarbeitet werden. In den Mythen, tollen Geschichten, sogar in den Texten der ersten Dichter und Gelehrten nimmt Gewalt einen bedeutenden Platz ein. Die Geschichten der Götter sind voll von Wut,
Kämpfen
und
Rache
bzw.
Blutbad,
wie
sie
in
den
Gründungserzählungen unserer Zivilisationen zu finden sind. Die Gewalt nimmt
viele
Formen
an;
sie
erfolgt
individuell,
kollektiv
bzw.
zwischenmenschlich und zwischenstaatlich. Gewalt ist also ein tagtägliches Phänomen,
das
an
Kriegen,
Terroranschlägen,
gewaltsamen
Demonstrationen, Militär- und Polizeieinsätzen etc. manifest ist. Die Medien vermitteln jeden Tag Informationen und Bilder über die Gewalttaten aus aller Welt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Gewalt, insbesondere die physische Gewalt, in vielen literarischen Texten thematisiert wird. Was ist Gewalt und wie lässt sie sich definieren? Wir wollen uns auf die von Böttger gegebene Definition berufen. Ihm zufolge ist Gewalt der intentionale [vorsätzliche] Einsatz physischer oder mechanischer Kraft durch Menschen, der sich unmittelbar oder mittelbar [=gegen Sachen] gegen andere Personen richtet, sowie die ernsthafte Androhung eines solchen Krafteinsatzes, soweit sie im Rahmen einer sozialen Interaktion erfolgt.1 Unter „Gewalt“ versteht man eine physische Kraft, die die Schädigung gegen Sachen oder Menschen in einem sozialen Kontext zum Ziel hat, damit etwas erreicht wird. In diesem Sinne betrachtet Popitz die Gewalt als eine „Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt“2. Die physische Gewalt, auf die sich Popitz‘ Definition der Gewalt bezieht, entsteht aber nicht ohne Grund; sie hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wie entsteht die physische Gewalt in einem sozialen Kontext? Welches sind ihre Mechanismen und Grundlagen? Wie lässt sich diese Gewalt als soziales Handeln verstehen? Im Rahmen einer Untersuchung zu „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann wird versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Dieses Drama zeichnet den historischen Aufstand der schlesischen Weber von Peterswaldau und Langenbielau im Juni 1844 nach. Die Weber, die zu Hause ihre Arbeit verrichteten, bekamen dafür einen ärmlichen Lohn. Diese
Böttger zitiert nach Rainer Strobl (2003): Worüber man nicht spricht: Strukturelle Gewalt. Bielfeld: IKG. S. 3. 2 Heinrich Popitz (1992): Phänomen der Macht. Tübingen: Mohr. S.48. 1
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beständigen ärmlichen Lebensbedingungen führten die Weber dazu, gegen die Fabrikanten zu rebellieren, welche die Weber ausbeuteten. Zur Durchführung dieser Untersuchung werden wir zunächst die Faktoren der physischen Gewalt aufzeigen. Im weiteren Verlauf werden physische Gewalt und deren Effekte in Gerhart Hauptmanns Drama „Die Weber“ dargelegt.
1. Die Faktoren der physischen Gewalt Gewalt tritt nur selten als ein plötzlicher und unerwarteter Schwenk auf. Es ist das Resultat eines spezifischen Vorgangs, welcher sowohl von einer einzigartigen Sozialisation als auch von miteinander vernetzten Faktoren geprägt ist. Die Entstehung der Gewalt kann von den folgenden Elementen bestimmt werden: den situationellen, kommunikativen und psychologischen Faktoren.
1.1. Situationelle Faktoren Was den Ursprung der Gewalt angeht, so schreibt Karl Marx: “Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.“3 Aus diesen Worten von Karl Marx geht hervor, dass die Gewalt in die Struktur der Gesellschaft verwickelt ist. Unter situationellen Aspekten versteht man soziale Ungerechtigkeit, schlechte Verteilung der Ressourcen und die Marginalisierung etc. Solche Elemente können Gewalt mit sich bringen, wie sich im Drama „Die Weber“ sehen lässt. Die Gewaltanwendung der Weber entsteht zusehends aus diesen situationellen Aspekten. Die Lebensbedingungen der Weber waren nicht glänzend. In den Regieanweisungen des zweiten Aktes gibt Hauptmann eine Beschreibung dieser
Lebensbedingungen
am
Beispiel
der
Lebenssituation
einer
Weberfamilie:
In einem engen, von der sehr schadhaften Diele bis zur schwarz verräucherten Balkendecke nicht sechs Fuß hohen sitzen: zwei junge Mädchen, Emma und Bertha Baumert, an Webstühlen – Mutter Baumert, eine kontrakte Alte, auf einem Schemel am Bett,
3
Karl Marx (1968): Das Kapital. Bd. I. Berlin: Dietz Verlag. S. 779.
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wo sich ein Spulrad – ihr Sohn August […]. Durch zwei kleine, zum Teil mit Papier verklebte und mit Stroh verstopfte Fensterlöcher der linken Wand dringt schwaches, rosafarbenes Licht des Abends. Es fällt auf das weißblonde, offene Haar der Mädchen, auf ihre unbekleideten, mageren Schultern und dünnen, wächsernen Nacken, auf die Falten des groben Hemdes im Rücken, das, nebst einem kurzen Röckchen aus härtester Leinewand, ihre einzige Bekleidung ist. […] Auf der Ofenstange hängen Lumpen zum Trocknen, hinter dem Ofen ist altes, wertloses Gerümpel angehäuft.4 Dieser Auszug aus der Regieanweisung veranschaulicht in großen Zügen die Lage der Weber, die kümmerlich ihr Leben fristen. Diese Weber sind dadurch Einwohner von Elendsvierteln, sozusagen einer Gesellschaft verschlimmerter Unbeständigkeit,
wo
schlechte
Gesundheitszustände,
ökonomische
Unsicherheit bestehen. Hier sind die Weber in einer Welt zu finden, in der sie in große Not geraten sind. Diese Weber, die alltags bei der Arbeit sind, können nicht von ihrem Werk profitieren, um ein gutes Leben zu führen. Im Gegensatz dazu ist ihr Alltagsleben in einem schlechten Zustand verankert. Ihr Körperzustand ist ein Beweis dafür. Gerhart Hauptmann verwendet ein ausdrückliches Wortfeld dazu: „zwerghaft“, ärmlich“, schmutzigblass“, „Knien sind gekrümmt“5, „zerlumpter Junge“6… Der Lohn, den sie für ihre Arbeit empfangen, ist so niedrig, dass einer der Figuren, nämlich Bäcker, sich empört: „Das is a schäbiges Almosen, aber kee [sic] Lohn“7 Sie können sogar ihre primären natürlichen Bedürfnisse kaum befriedigen; sie verhungern. Die Szene mit dem unerwähnten Jungen, der in Ohnmacht fällt, bestätigt diese Tatsache8. Diese Situation führt die Weber dazu, ihre Nahrungsgewohnheiten zu ändern. Die Weberfamilie „Baumert“ hat einen Hund getötet und ihn gegessen, weil sie schon lange kein Fleisch gegessen hat9. Offensichtlich liegen das Leiden und die Frustration der Gewalt zugrunde. In diesem Sinne ist der Begriff „Begierde“ interessant, um die Mechanismen, die hinter dem Phänomen der Gewalt stecken, zu verstehen, umso mehr als die unbefriedigenden Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken Auslöser von Gewalt sein können.
Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. Berlin: Cornelsen Verlag. S. 29. ebd. S. 18. 6 ebd. S. 30. 7 ebd. S. 22. 8 ebd. S. 24. 9 ebd. S. 37. 4 5
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Allem Anschein nach kann die Gewalt entstehen, wenn man auf etwas verzichten muss, das heißt, wenn man mit einer Situation der Frustration und des Ärgers konfrontiert ist. Es liegt klar auf der Hand, dass die sozialen und politischen Umstände die Gewalt provozieren können. Darüber schreibt Erich Fromm Folgendes:
Viele Menschen glauben lieber, dass unser Hang zur Gewalt und zur atomaren Auseinandersetzung auf biologische Faktoren zurückzuführen ist, die sich unserer Kontrolle entziehen, als dass sie die Augen aufmachen und erkennen, dass die von uns selbst verursachten sozialen, politischen und ökonomischen Umstände daran schuld sind.10 Die Lebenslage der Weber ist so erbärmlich, dass der alte Baumert sich als die Verkörperung der Armut ansieht: Haut und Hemde. All’s richtig,‘s ist der Armut Haut und Hemde. Hier steh ich, Robert Baumert, Webermeister von Kaschbach. Wer kann vortreten und sag’n… Ich bin ein braver Mensch gewest mei lebelang und nu seht mich an! Was hab’n se aus mir gemacht? Hier wird der Mensch langsam gequält. Dahier, greift amal an, Haut und Knochen. Ihr Schurken all, ihr Satansbrut!!11 Das Leben der Weber steht im Kontrast zu diesem der Fabrikanten, die ein Leben in Wohlstand führen: Peterswaldau. – Privatzimmer des Barchentfabrikanten Dreissiger. Ein im frostigen Geschmack der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts luxuriös ausgestatteter Raum. Die Decke, der Ofen, die Türen sind weiss; die Tapete gradlinig kleingeblümt und von einem kalten, bleigrauenTon. Dazu kommen rotüberzogene Polstermöbel aus Mahagoniholz, reich geziert und geschnitzt, Schränke und Stühle von gleichem Material.12 Die Reaktion von Jäger13 fasst die Situation zusammen: „Je mehr d’r hungert, umso desto fetter speis ich. Je grösser de Not, desto grösser mei Brot.“14 Diese strukturellen Faktoren rechtfertigen allein die Gewalt nicht. Dazu kommen die kommunikativen Elemente.
Erich Fromm (1973): Anatomie der menschlichen Destruktivität. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. S. 33. 11 Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 40. 12 ebd. S. 54. 13 Vor vier Jahren hat er das Dorf verlassen und kehrt nun zu seinen Verwandten, den Baumerts, zurück. Seine Militärzeit bei den Husaren hat ihm Welterfahrung gebracht. Er ist im Besitz des gesamten Textes des Weberlieds, einer wichtigen Waffe der Weber. 14 ebd. S. 49. 10
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1.2. Kommunikative Faktoren Die Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein Zeichen des Denkens, ein Signal zu dem, was einer tun will. Sie ist einigermaßen der Ausdruck des Willens, wie Butler es feststellt:
Wir tun Dinge mit der Sprache, rufen mit der Sprache Effekte hervor, und wir tun der Sprache Dinge an; doch zugleich ist Sprache selbst etwas, was wir tun. Sprache ist ein Name für unser Tun, d.h. zugleich das, „was“ wir tun [...] und das, was wir bewirken; also die Handlung und ihre Folgen.15 Durch den Sprechakt gibt der Mensch Informationen, die einigermaßen sein Wesen hervorhebt, wie Benjamin überzeugend meint: „Der Mensch teilt sein […] Wesen in [sic] seiner Sprache mit.“16. Der Mensch hängt, in seinem sozialen Leben, von der Sprache ab, weil er sich der Sprache bedient, um anzureden, die Dinge zu benennen bzw. zu bezeichnen. Der Mensch drückt ständig damit seine
Gefühle aus und erweckt Sensationen. Die
gesellschaftliche Struktur ist von diesem Element stark geprägt. Einer der Wendepunkte im Leben ist der Tag, wo der Mensch seine ersten Worte spricht. In diesem Sinne ist die Sprache einer der bevorzugtesten Sprachkanäle. So kann sie positiv oder negativ die angeredete Person beeinflussen und dadurch eine gewisse Reaktion bei dieser Person provozieren. Diese Reaktion kann zur Gewalt führen. Hinter der Sprache selbst steckt eine Gewaltform, die allmählich, wenn sie nicht erstickt werden kann, zur physischen Gewalt aufruft. Mit diesem Stück versteht man, wie eine schlechte Anwendung von Sprache große Konsequenzen hervorbringen kann. Die Verkettung der Ereignisse in diesem Stück dreht sich nicht nur um die „Weber“ (die Ausgebeuteten), sondern auch um die Fabrikanten (verkörpert hier in Dreißiger). Sie machen die Ausbeuter aus: „Die Herren Dreißiger die Henker sind, die Diener ihre Schergen…“17 Diese üben einen großen Einfluss auf die Weber. Die Verhältnisse zwischen den beiden Entitäten kommen einigermaßen denen zwischen einem Sklaven und seinem Meister gleich. Eine Lawine von Worten markieren immerfort ihre
Judith Butler (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 19. 16 Benjamin, Walter(1977): „Über Sprache überhaupt über die Sprache des Menschen.“ In: Gesammelte Schriften unter Mitw. Von Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 140-145. 17 Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. 49. 15
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Beziehungen, welche die „Weber“ oft zum Erstarren bringen, wie dies aus diesem Auszug hervortritt, in dem sich Pfeifer an Weber Heider wendet:
Pfeifer: das Stück an die Waage gebend. Das ist eben wieder’ne rich’ge Schlauderarbeit. Schon wieder ein neues Weber in Augenschein nehmend. So ein Salband, bald breit, bald schmal. Emal hat’s den Einschuss zusammengeriss’n, wer weess wie sehr, dann hat’s wieder mal’s Sperritt auseinandergezog’n. Und auf a Zoll kaum siebzig Faden Eintrag. Wo is denn der ieberiche? Wo bleibt da die Reelletät? Das wär so was! Weber Heiber unterdrückt Tränen, steht gedemütigt und hilflos.18 Angesichts aller Tätigkeiten, die sie verrichten, fühlen sich die Weber misshandelt besonders mit den unangebrachten Worten, so dass sie ratlos sind: Erste Weberfrau: […] Ich habe schon viele Woch’n keen’n Schlaf in a Aug’n gehabt und’s wird auch schonn wieder gehen, wenn ock ich und ich wer de Schwäche wieder a bissel rauskrieg’n aus a Knoch’n. Aber Se miss’n halt ooch a eenziges bissel a Einsehen hab’n. Inständig, schmeichlerisch flehend. Sind S’ock scheen gebet’n und bewilligen mer dasmal a paar Greschl.19 Dreißiger und seine Anhänger reden rücksichtslos die Weber mit Missachtung und Drohung an, wie dieser Dialog zwischen Dreißiger und der Bäcker es zeigt: Bäcker: Das is a schee Lied, das!20 Dreissiger. Noch ein Wort und ich schickte zur Polizei – augenblicklich. Ich fackle nicht lange. Mit euch Jungens wird man doch noch fertig werden. Ich bin doch schon mit ganz anderen Leuten fertig geworden. Bäcker: Oh, ob ich am Webstuhle d’rhungere oder im Strassengrab’n, das is mir egal. Dreissiger: Raus, auf der Stelle raus! Bäcker.Erst will ich mei Lohn hab’n. Dreissiger: Was kriegt der Kerl, Neumann? Neumann: Zwölf Silbergroschen, fünf Pfennige. Dreissiger: nimmt überhastig dem Kassierer das Geld ab und wirft es auf den Zahltisch, so dass einige Münzen auf die Diele rollen. Da – hier! und nu rasch mir aus den Augen!21 Man bemerkt schon, dass die Weber von den Fabrikanten abhängig sind, so dass sie ein untertäniges Verhältnis manifestieren. Die Adressaten, d.h. die Weber, werden von den Fabrikanten herabgesetzt, herabgewürdigt und
ebd. S. 20. Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 21. 20 Er spielt auf das Weberlied an, das das Verhältnis zwischen den Webern und den Fabrikanten darlegt. 21 ebd. S. 24. 18 19
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verleumdet. Der Fabrikant und seine Anhänger schreien die Weber an, beleidigen und erniedrigen sie, indem sie verletzende Worte sprechen. Die Beziehungen zwischen den Fabrikanten und den Webern drehen sich um Beleidigung, Herabwürdigung, Bedrohung und Hohn. Man erkennt diese Tatsache durch die benutzten Wörter. Die Weber sind missachtet. Dieses Drama stellt eine ganze Reihe von Wörtern und Ausdrücken dar, die die gewaltsamen Aktionen und Herabwürdigung in der Rede erkennen lässt: „Macht de Tiere zu, wer reinkommt“22, „Maul halten“23, „Raus“24, „Hingeschlagen“25,
„unvernünftig“26,
„Presshund“27,
„Satansbrut“28,
„Menschenschinder“29….. Die Weber sind ständig gehänselt, so dass der Sprechakt in diesem Drama eine soziale Diskrepanz entstehen lässt. Unter sozialer Diskrepanz versteht man die schlechte Behandlung einer sozialen Gruppe durch eine andere, die autoritär ist, besonders durch die Benutzung der Sprache. Es entspricht einer besonderen Behandlung einer Person anhand gesellschaftlicher Kriterien, die zugleich die Identität der behandelten Person ans Licht bringt. Bourdieu deutet Folgendes an: „Es bedeutet [sic] jemanden seine Identität, aber in dem Sinne, dass er sie ihm ausspricht, und sie ihm zugleich, indem er sie ihm vor allen Augen ausspricht, auferlegt [...] und ihm auf diese Weise mit Autorität vermittelt, was er ist und was er zu sein hat.“30 In diesem Sinne fühlten sich die Weber sehr verletzt durch die Worte, so die Reaktion von Bäcker auf die Androhung von Dreißiger, ihn zur Polizei zu schicken: Bäcker: Nu das will ich gloob’n. Aso a richtiger Fabrikante, der wird mit zweedreihundert Webern fertich, eh man sich umsieht. Du lässt a ooch ni a paar morsche Knoch’n iebrich. Aso eener, der hat vier Mag’n wie’ne Kuh und a Gebiss wie a Wolf. Nee, nee, da hat’s nischt!31 Diese Reaktion auf bedrohende bzw. verletzende Worte kann mit der Zeit eine Verteidigung der eigenen Identität hervorbringen, die möglichst mithilfe der physischen Gewalt zum Ausdruck kommt, wenn die Situation nicht
ebd. S. 19. ebd. S. 22. 24 ebd. S. 24. 25 ebd. S. 25. 26 ebd. S. 26. 27 ebd. S. 27. 28 ebd. S. 53. 29 ebd. S. 65. 30 Pierre Bourdieu (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Wien: Braunmüller. S. 87f. 31 Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 24. 22 23
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tragbar ist und sich der Unterdrückung nährt. Diese spiegelt sich in dem psychologischen Umfeld wider.
1.3. Psychologische Faktoren Die physische Gewalt ist generell nie spontan, auch wenn die Ursachen nicht immer offensichtlich sind. Manche Personen reagieren aus einem plötzlichen Impuls heraus, andere greifen aber zur Gewalt infolge von Ressentiments. Die Gewalt ist die Konsequenz eines Leidens und einer Frustration. In dieser Beziehung behauptet Johan Galtung: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“32 Die folgende Szene bestätigt Galtungs Aussage: Kassierer Neumann: Geld aufzählend. Bleibt sechzehn Silbergroschen, zwei Pfennig. Erste Weberfrau: dreißigjährig, sehr abgezehrt, streicht das Geld ein mit zitternden Fingern. Sind Se bedankt. Neumann: als die Frau stehenbleibt. Nu? Stimmt’s etwa wieder nich? Erste Weberfrau: bewegt, flehentlich. A paar Fenniche uf Vorschuss hätt ich doch halt a so neetig Neumann: Ich hab a paar hundert Taler neetig. Wenn’s ufs Neetighaben ankäm-! Schon mit Auszahlen an einen andern Weber beschäftigt, kurz. Ieber den Vorschuss hat Herr Dreißiger selbst zu bestimmen. Erste Weberfrau: Kennt ich da vielleicht amal mit’n Herrn Dreißiger selber red’n? Expedient Pfeifer: ehemaliger Weber. Das Typische an ihm ist unverkennbar, nur ist er wohlgenährt, gepflegt gekleidet, glattrasiert, auch ein starker Schnupfer. Er ruft barsch herüber. Da hätte Herr Dreißiger weeß Gott viel zu tun, wenn er sich um jede Kleenigkeit selber bekimmern sollte. Dazu sind wir da. Er zirkelt und untersucht mit der Lupe. Schwerenot! Das zieht. Er packt sich einen dicken Schal um den Hals. Macht die Tiere zu, wer reinkommt.33 Diese Szene zeigt, wie die Weber von den Angestellten des Herrn Dreissiger psychologisch misshandelt werden. Dem Willen bzw. dem Wunsch der Weber wird fast nie entsprochen. Sie haben einigermaßen ein Demütigungs- und Erniedrigungsgefühl, das zur Gewalt führen kann. Die Gewalt ist eine starke Ressource kollektiver Affirmation, um ein Kräftegleichgewicht zu erhalten. Es besteht also ein Verhältnis zwischen der physischen Gewalt und dem Selbstwertgewicht. In diesem Fall dient die Gewalt – wenigstens im Falle der
32 33
Johan Galtung (1975) : Strukturelle Gewalt. Hamburg: Reinbeck. S. 9. Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S.18.
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physischen Gewalt – dazu, die Ungleichheit im sozialen Erfolg und die Ausschließung in der sozialen Anerkennung zu verwandeln. Diese Ungleichheit haben die Weber schon bemerkt und sind dessen bewusst. Um sich dieser Lage zu entziehen, schließen sich die Weber zu einer Gruppe zusammen.Aber sie brauchen, um sich ihrer Lethargie zu entziehen, einen Impuls, den sie im Weberlied gefunden haben. Dieses Lied, das von Jäger vorgetragen wird, stellt die schlechte Lage der Weber dar. Als Jäger dieses Lied in dem zweiten Akt des Stückes fertiggelesen hat, haben einige Weber den Entschluss zum Aufruhr gefasst: Der Alte Baumert: springt auf, hingerissen zu deliranter Raserei. Haut und Hemde. All’s richtig, s ist der Armut Haut und Hemde. Hier steh ich, Robert Baumert, Webermeister von Kaschbach. Wer kann vortreten und sag’n… Ich bin ein braver Mensch gewest mei lebelang und nu steht mich an! Was hab ich davon? Wie seh ich aus? Was hab’n se aus mir gemacht? Hier wird der Mensch langsam gequält. Er reckt seine Arme hin. Dahier, greift amal an, Haut und Knochen. Ihr Schurken all, ihr Satansbrut!! Er bricht weinend vor verzweifelten Inngrimm auf seinem Stuhl zusammen. Ansorge: schleudert den Korb in die Ecke, erhebt sich, am ganzen Leibe zitternd vor Wut, stammelt hervor. Und das muss anderscher wer’n, sprech ich, jetzt uf der Stelle. Mir leiden’s nimehr! Mir leiden’s nimehr, mag kommen, was will.34 Die Gruppeneffekte können erwähnt werden, denn die gebildete Gruppe kann ein großes Gewicht in dem gewalttätigen Aktivismus haben. Die geeignete Gruppe zwingt zum Respekt vor ihrer Dynamik. Sie ruft nicht nur einen praktischen Konsens hervor, sondern auch ein Gruppengedenken, das die Gewalt legitimiert und ihre Anfechtung komplex macht. In diesem Zusammenhang führt die Gewalt zur Einführung einer Vision der sozialen Realität, die es ist, auf die Angst, die Furcht vor dem Anderen, die Hervorhebung der Angst und die dringende Notwendigkeit zu reagieren. Die Weber lassen ihre Absicht einfach erkennen, wie diese Regieanweisung zeigt: „Man hört draußen das Weberlied singen“.35 Diese Weber möchten augenfällig einen Aufstand machen: Wittig: Ihr Leute, ihr Leute, ich lach mich tot. Der alte Baumert will Rebellion
machen“.36
Am Ende des dritten Aktes ziehen die Weber schon auf die Straße und singen dabei das Weberlied. Das ist ein Signal zum Aufstand.
ebd. S. 40. Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. 48. 36 ebd. S. 50. 34 35
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2. Ausdruck der physischen Gewalt und deren Effekte 2.1. Ausdruck der physischen Gewalt Die gewalttätige Person will denjenigen beseitigen, der ihr Gewalt antut. Dieser Übergang zur Handlung ist der Lust bar. Sie wird als eine einfache Notwendigkeit erlebt. Auch wenn der Täter die sozialen Gesetze oder Regeln nicht ignoriert, die die zwischenmenschlichen Beziehungen regeln, handelt er ohne Schuld: die Unterdrücker sind als
Feinde zu töten. Um dies zu
erreichen, mobilisiert er all seine Energie, um sie zu entfernen. Für sein Leben und das seiner Familie handelt er. Die revolutionäre Gewalt ist ein Weg, um sein Recht geltend zu machen: Dritter Alter Weber: mit gehobener Stimme. Daher die Helle die Seele weit aufgesperrt und den Rachen aufgetan, ohn alle Masse, dass hinunterfahren alle die, so die Sache der Armen beugen und Gewalt üben im Recht der Elenden, spricht der Herr. Der alte Weber, plötzlich schülerhaft deklamierend. Und doch wie wunderlich geht’s wenn man es recht will betrachten, wenn man des Leinwebers Arbeit will verachten37 Die Absicht der Weber durch die Absage ist klar; sie möchten mithilfe der Gewalt das Recht und die Justiz wiederherstellen. An diesem Punkt ist die Anwendung von Gewalt die einzige Möglichkeit, um Recht und Justiz zu erreichen. Eines ist sicher: wo Gewalt angewendet wird, gibt es zwangläufig zwei Instanzen: einen Täter und auch ein Opfer. In diesem Beitrag sind die Weber die Täter und Dreißiger und dessen Angestellte die Opfer. In dem vierten Akt kommen die Weber an Dreißigers Haus an. Der Sinn der Gewalt besteht darin, dass die Symbole der Herrschaft zerstört und in den Jubel unterzogen werden müssen. Die Unterdrücker zielen weniger auf das Weh als auf den Spott, sogar auf die Demütigung des Gegners. Deswegen dringen die Weber in Dreißigers Villa mit ihrem Wohlstand, die dessen Herrschaft symbolisiert. Daraus erfolgt, dass die physische Gewalt darin besteht, die sichtbaren Elemente der Unterdrücker zu vertilgen, weil die Unterdrückten beim Ansehen dieser Symbole weiterhin Leiden und
37
ebd. S. 51.
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Frustration empfinden. Die Anwendung von physischer Gewalt gilt als „die letzte Maßnahme zur Verhinderung störenden Handelns“.38 Der Aufstand ist im Grunde genommen ein Ausdruck der Unzufriedenheit. Die daraus erfolgte Zerstörung wird als eine Rache empfunden: Jäger: Wenn mersch o ni kriegen, das Dreißichervieh… arm soll a wern. Der Alte Baumert: Arm soll a wer wie ne Kirchenmaus. Arm soll a wern. Alle stürmen in der Absicht zu demolieren auf die Salontür zu.39 In der Tat symbolisiert Dreißiger die Industriellen, die die Mechanisierung eingeführt haben und die Weber daran hindern, ihre Arbeit zu genießen. Deswegen setzten die Weber ihre Aktion fort. Sie haben vor, die mechanischen Webstühle zu zerstören. Die Weber, welche die Täter sind, üben nahezu eine Macht aus; sie realisieren ein Herrschaftsverhältnis. Die Täter flössen den Opfern Angst ein. Die Reaktion von Dreißiger und seiner Umgebung beweist es: Kittelhaus: Ja aber… Gebrüll von unten. Ja, aber …. Wissen Sie: Die Leute machen einen so schrecklichen Skandal Dreißiger: Ziehen wir uns einfach in das andere Zimmer zurück. Da sind wir ganz ungestört. […] Pfeifer: auf einem Stuhl sitzend, am ganzen Leibe zitternd, wimmernd. Herr Dreißicher, s wird ernst! Herr Dreißicher, s wird ernst! Dreißiger: Na, dann kann mir aber die Polizei… Pfeifer: Herr Dreißicher, s wird ernst! […] Dreißiger: Rosa wirf dir was über und spring in den Wagen, ich komme gleich nach! Er stürzt nach dem Geldschrank, schließt ihn auf und entnimmt ihm verschiedene Wertsachen.40 Dreißiger und seine Umgebung ergreifen die Flucht, um sich der Gewalt der Weber
zu
entziehen.
Die
physische
Gewalt
kann
erfolgversprechende Gelegenheit angesehen werde, um
als
eine
die Macht zu
übernehmen. Aber derjenige, der Gewalt anwendet, ist seines Sieges nicht immer sicher und hat sogar keine Ahnung von den vernichtenden Konsequenzen. Wir
Talcott Parsons (1986) : Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 28. 39 Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 66. 40 Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 67. 38
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können dadurch auf einen Zirkel von Rachgier stoßen. Die Gewaltanwendung kann also Effekte haben. 2.2. Effekte der Gewaltanwendung Die Gewaltanwendung führt zu einigen Effekten, die nicht nur die Gewalttätigen, sondern auch das Opfer betreffen. Erstens ignorieren die Täter die anderen Leute. Im äußersten Fall hat die gewalttätige Person nur Angst davor, zerstört zu werden. Ihr einziger Zweck ist es, sein Überleben und das ihrer Familien zu gewährleisten. Seine Gewalt ist eine Reaktion auf ein Gefühl von Gefahr. Der Täter gibt nicht auf das Weh acht, das er dem anderen tun kann. Die verschiedenen Reaktionen der Weber, als sie das Weberlied hörten, ist ein Beweis dafür:
Der Alte Baumert: mit zitternder Wut den Boden stampfend. Ja, Satansbrut!! Jäger: liest … ihr höllischen Kujone, ihr fresst der Armen Hab und Gut, und Fluch wird euch zum Lohne. Ansorge: Nu ja ja, das ist auch an Fluch wert Der Alte Baumert: die Faust ballend, drohend. Ihr fresst der Armen Hab und Gut-! Jäger: Liest Hier hilft kein Bitten und klein Flehn, umsonst ist alles Klagen, […] Der Alte Baumert: Wie steht’s? Umsont ist alles Klagenc? Jedes Wort… jedes Wort …. da is all’aso richtig wie in d’r Bibel. Hier hilft kein Bitten und kein Flehn! Ansorge: Nu ja ja! nu nee nee! Da tutt schon nischt helfen. Jäger: liest. Nun denke man sich diese Not und Elend dieser Armen, zu Haus oft keinen Bissen Brot, […] Der Alte Baumert: springt auf, hingerissen zu deliranter Raserei. Haut und Hemde. All’s rictig, s ist der Armut Haut und Hemde. […] Ich bin ein braver Mensch Gewest mei lebelang und nu seht mich an. Was hab’n se aus mir gemacht? Hier wird der Mensch langsam gequält. Ansorge: schleudert den Korb in die Ecke, erhebt sich, am ganzen Leibe zitternd vor Wut, stammelt hervor. Und da muss anderscher wer’n, sprech ich, jetzt uf der Stelle. Mir leiden’s nimehr.41
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Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S.50.
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Die Ehrerbietung hat also keinen Platz in der Gewalt; der andere ist nur ein Objekt unter anderen zu zerstören, um sich zu retten. Die Gewalt bezieht den Selbsterhaltungstrieb ein, anders gesagt das Überleben und das Festhalten an der eigenen Gruppe. Die Gewalt ist nicht erotisierter als die Aggressivität. Während sich die Aggressivität durch Sadismus charakterisiert, ist die Gewalt vielmehr der Erbarmungslosigkeit (Grausamkeit) nahe, wie Jean Bergeret es bemerkt : “Quand, dans la guerre, il y a deux individus face à face, que c’est "lui ou moi" et que la survie de l’un est conditionnée par la disparition de l’autre, on se trouve face à une violence archaïque. “42 Daraus erfolgt zwangsläufig die Entmenschlichung des anderen. Der Gewalttätige nimmt dem anderen die menschliche Qualität und verdinglicht ihn. Er zieht ihn aus dem Feld der moralischen Regeln heraus. Der andere kann nicht gut und zugleich schlecht sein; er ist einfach schlecht. Aber physische Gewalt anwenden bedeutet auch sich der anderen Gewalt aussetzen, die darin besteht, die Ordnung zu erhalten. Eine solche Gewalt lässt einfach an diese der Polizei denken. Die Polizei ist normalerweise dazu beauftragt, die Gesetze respektieren zu lassen und die Bürger unvoreingenommen zu verteidigen, wenn sie in Gefahr sind. Dreißiger wendet sich in diesem Stück an den Polizeiverwalter, um Hilfe zu rufen: Dreißiger: hastig. Ist jemand zur Polizei gelaufen? […] Polizeiverwalter: etwas fünfzigjähriger Mann, mittelgroß, korpulent, vollblütige. […] Verfügen Sie über mich. Beruhigen Sie sich nur, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.43 Durch solche Worte lässt sich die Verehrung der Polizei gegenüber Dreissiger erkennen; er gibt sich ihm unterwürfig. Er hat dadurch seine Pflichten aus den Augen verloren. Der Gewährmann der Gesetze ist nicht erkennbar. Er geht weiter; Auf Befehl von Dreißiger lässt der Polizeiverwalter die Weber festnehmen: Jäger wird von fünf Färbereiarbeitern hereingeführt, die, an Gesicht, Händen und Kleidern mit Farbe befleckt, direkt von der Arbeit herkommen. Der Gefangene
Jean Bergeret (1985): La violence fondamentale. Paris: Dunod. S. 72. „Wenn zwei Personen im Krieg gegenüberstehen […] und dass das Überleben von einem von dem Verschwinden des anderen abhängt, hat man mit einer archaischen Gewalt zu tun.“ [Übersetzung von mir] 43 ebd. S. 57. 42
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hat die Mütze schief sitzen, trägt eine freche Heiterkeit zur Schau und befindet infolge des vorherigen Branntweingenusses in gehobenem Zustand. Polizeiverwalter: schreit Jäger an. Mütze ab, Flegel! Jäger nimmt sie ab, aber sehr langsam, ohne sein ironisches Lächeln aufzugeben […] Polizeiverwalter: Mit Erlaubnis, Herr Pastor. Er tritt zwischen ihn und Jäger. Kutsche! Binden Sie ihm die Hände!44 Diese Gewalt seitens der Polizei lässt die Weber nicht widerstandslos; sie haben energisch gegen die Polizei reagiert, indem die Weber sie durch Steinwürfe zurückdrängt. Zu guter Letzt kann der Täter auch zum Opfer werden. Zwar dient die physische Gewalt dazu, den anderen zu vernichten, aber es kommt manchmal vor, dass der Gewalttätige zum Opfer derselben provozierten Gewalt wird. In Hauptmanns Stück geschieht etwas Dramatisches: die Alte Hilse wird von einem Streifschuss getroffen, der sie getötet hat.
Schluss Im Lichte von Hauptmanns „Die Weber“ erweist sich die physische Gewalt als die Summe von verschiedenen Elementen. Sie hängt von manchen Faktoren ab, die scheinen, miteinander verbunden zu sein. In Wirklichkeit führen viele soziale Faktoren zur physischen Gewalt. Unter anderen können die situationellen Aspekte erwähnt werden. Die Situation teilt die Gesellschaft in zwei Teile. In dem vorliegenden Stück ist einerseits die benachteiligte Klasse, die ihre Arbeit nicht genießt und anderseits Herr Dreißiger, der von der Arbeit der Weber profitiert und immer reicher wird, während die Weber verelenden. Dazu kommt noch die kommunikative Situation. Die Weber sind ständig von Dreißiger und dessen Anhängern eingeschüchtert, umso mehr ihre Wörter von Drohungen geprägt sind. Die Weber leiden unter dem tyrannischen Verhalten von Dreißiger und seinen Leuten. Durch ihren Sprechakt erniedrigen sie die Weber, da ihr Sprechakt verletzende Wörter enthält, was ein psychologisches Leiden zur Folge hat.
44
Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 59.
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Sie folgen einer übergeordneten Herrschaft, und die Ausbeuter erteilen Aufforderungen, denen die Weber willenlos nachkommen müssen. In dieser dominierenden Beziehung entstehen Proteste und physische Gewalt. Die Weber haben die Gewalt angewendet, um die Ungleichheit zu vertilgen und ihre Interessen zu vertreten. Aber die physische Gewalt kann in allen Lagern Opfer fordern. Die physische Gewalt entsteht in einem gesellschaftlichen Kontext und dehnt sich in diesem Kontext aus. Sie ist in Wirklichkeit ein Prozess, auch wenn dieser Prozess nicht zu Ende geht und auch nicht mit der physischen Beseitigung der gezielten Person oder Gruppe endet. Ihr Hauptzweck ist die Zerstörung. Der Wunsch, den Anderen verschwinden zu lassen, ihn zu beseitigen, auszuschließen und ihn zum Stillschweigen zu bringen, wird stärker als der Wille zum Dialog. Die physische Gewalt ist nicht der Konflikt. Im Gegenteil verschlimmert sie diesen Konflikt und führt nicht nur zur Negation des Anderen, sondern auch zu einer sozialen Unordnung.
Literaturverzeichnis Benjamin, Walter (1977): „Über Sprache überhaupt über die Sprache des Menschen.“ In: Gesammelte Schriften unter Mitw. Von Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 140-145. Bergeret, Jean (1985): La violence fondamentale. Paris : Dunod. Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Wien: Braunmüller. Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fromm, Erich (1973): Anatomie der menschlichen Destruktivität. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Galtung, Johan (1975): Strukturelle Gewalt. Hamburg: Reinbeck. Hauptmann, Gerhart (1996): Die Weber. Berlin: Cornelsen Verlag. Marx, Karl (1968): Das Kapital. Bd. I. Berlin: Dietz Verlag.
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Parsons, Talcott (1986): Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Popitz, Heinrich (1992): Phänomenen der Macht. Tübingen: Mohr. Strobl, Rainer (2003): Worüber man nicht spricht: Strukturelle Gewalt. Bielefeld: IKG.
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