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„der Ganz Normale Wahnsinn“ Erwachsene Kinder Suchtkranker Eltern

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    July 2018
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„Der ganz normale Wahnsinn“ Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern Martin Kurz Krankheiten und Störungen im Entwicklungsverlauf XVI. Kinder- und Jugendpsychiatrisches Symposium Pöllau Schloss Pöllau, 07.-09. Mai 2015 Themen • • • • Was erleben Kinder mit abhängigkeitskranken Eltern ? Wie lösen sie diese Probleme ? Was wird aus Ihnen ? Wie meistern sie ihr Leben heute, wie blicken sie als Erwachsene zurück ? • Warum ist der Wahnsinn „normal“ ? • Erste Lösungsversuche Kinder von Eltern mit Substanzproblemen Fakten: • Jedes 7. Kind lebt zeitweise (etwa jedes 12. dauerhaft) in einer Familie mit einem Elternteil, der eine alkoholbezogene Störung aufweist (Lachner & Wittchen, 1997). • Bis zu 50% aller Patienten einer ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Normalpraxis weisen einen alkoholabhängigen Elternteil auf (Rosen-Runge, 2002). • Ca. 40% der im Rahmen von Jugendhilfemaßnahmen betreuten Kindern weisen ein Elternteil mit einem Alkoholproblem auf (Hinze & Jost, 2006). • Jedes 3. Kind in einer alkoholbelasteten Familie erfährt regelmäßig physische Gewalt (als Opfer und/oder Zeuge) [Klein & Zobel, 2001]. Was erleben die Kinder (1) ? Nach: Cork, M. (1969): The forgotten children. • Keine Freunde nach Hause einladen können. • In der Schule mit den Gedanken zu Hause sein, was dort gerade Schlimmes passiert oder bald passieren wird. • Andere Kinder beneiden oder (abwertend) eifersüchtig auf diese sein, wenn sie Spaß und Leichtigkeit mit ihren Eltern erleben. • Sich als Kind unter Gleichaltrigen isoliert, abgewertet und einsam fühlen. • Sich von den Eltern vernachlässigt, bisweilen als ungewolltes Kind fühlen, Angst, fortgeschickt zu werden. Was erleben die Kinder (2) ? Nach: Cork, M. (1969): The forgotten children. • Für die Eltern sorgen, sich um sie ängstigen, insbesondere wenn die Mutter süchtig trinkt. • Als Jugendlicher die Eltern nicht im Stich lassen wollen (z. B. keine Unternehmungen planen, nicht von zu Hause ausziehen können). • Die Eltern für ihr Fehlverhalten entschuldigen. Lieber andere Menschen oder sich selbst beschuldigen. • Vielfache Trennungen, Trennungsdrohungen und Versöhnungen der Eltern erleben und sich nicht auf einen stabilen, dauerhaften Zustand verlassen können. Beziehungsgeschichten – der Anfang Beziehungsgeschichte 1 Lernphase: • Erste Probleme/Konflikte im Alltag • Erprobung und Etablierung verschiedener individueller Abwehrmöglichkeiten zur persönlichen und der ReStabilisierung des Beziehungsrahmens (Rationalisierung, Bagatellisierung) • Kein spezifisches Bewusstsein von (Sucht-) Problem in der Familie, Kind(ern) fehlt oft noch Abstraktions- und Reflexionsfähigkeit Beziehungsgeschichte 2 Suchphase: • Erste Hinweise auf Drogen/Alkohol/Spielen als Ursache der Probleme • Abhängige/r wird identifiziert, Sucht-Mittel als Feind geortet • Abwehr dient zunehmend der Realitätsverleugnung (Gefahr des Liebes-/ Beziehungsverlusts, Frustration, Kränkung, Stress) • Etablierung von rigiden Verhaltensmustern (Helfen ,„zu gut sein“, Rebellion, Apathie) • Übernahme von Mit-Verantwortung für pathologisches Verhalten bzw. für Wohlbefinden des Elternteils (aktive Rolle) Beziehungsgeschichte 3 Schädliche Phase: • Emotionale Verwirrung • Abschottung nach außen • Gefühl der einsamen All-Zuständigkeit, möglicherweise auch Besonderheit oder Wertlosigkeit • Ritualisierter, zwanghafter Umgang (z.B. Schadensbegrenzung, „Retten“, Übernahme bestimmter Rollen, auch im Auftrag des kranken und/oder gesunden Elternteils) • Vernachlässigung eigener Bedürfnisse (Hobbies, Beziehungen, Spielen, etc.) La mère à boire – The fortunate son Claude Brie Beziehungsgeschichte 4 Flucht-/Trennungsphase: • Zusammenbruch der Überlebensstrategien durch Eingriffe von außen, Existenzbedrohung, Krisen auf verschiedenen Ebenen, altersentsprechende Distanzierung • „schuldhafte“, ambivalente Beziehungsabbrüche • Erleben und Speichern als persönliche Niederlage und Insuffizienz • Verhalten und Erleben bleibt Teil der Persönlichkeit und des zukünftigen Beziehungs-Repertoires Wie lösen die Kinder das Unlösbare ? Parallelen in der Entwicklung von Abhängigkeit und „Co-Abhängigkeit“ Abwehrmechanismen/ Verhalten: • Zwanghaftigkeit / Überverantwortlichkeit • Realitätsverleugnung • Rationalisierung • Wiedergutmachung • Hypervigilanz • Apathie • Substanzmißbrauch; „Spiegel“ des Abhängigen „Rollen“ – Übernahmen, Bindungsmuster Der Preis für das Überleben Rollenfixierungen in Familien mit suchtkranken Eltern: • Held, Macher, verantwortungsbewusstes Kind, Partnerersatz, Vorzeigekind • Sündenbock, ausagierendes Kind, schwarzes Schaf • Verlorenes Kind, Schweiger, fügsames Kind, unsichtbares Kind • Clown, Friedensstifter, Maskottchen, Nesthäkchen Bindungsstörungen von Kindern mit suchtkranken Eltern • Alkoholprobleme: 40-50 % • Drogenprobleme: bis 85% • Meist ambivalente Bindungstörung Was wird aus den Kindern ? Höhere Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Menschen mit abhängigkeitskranken Eltern (Jacobi et al. 2004) • Schizophrenie Alkohol: + 116% • Affektive Störungen Alkohol + 25%; Drogen + 80% • Neurotische Störungen Alkohol + 25% ; Drogen + 62% • Persönlichkeitsstörungen Alkohol + 61% ; Drogen + 80% • Entwicklungsstörungen in der Jugend: Alkohol + 1,7%; Drogen + 90% Höhere Prävalenz von Alkoholproblemen bei Menschen mit abhängigkeitskranken Eltern (Anda et al. 2002) Wie meistern sie ihr Leben heute (1) ? • Signifikante Nachteile in Ausbildung und Beruf - sind häufiger krank - kommen seltener zur Matura - sind häufiger arbeitslos zu Beginn des Arbeitslebens (Effertz) • Ca. ein Drittel wählt einen suchtkranken Partner • Die Mehrheit (ca. 2/3) wird aber nicht selbst sucht- oder anderweitig psychisch krank, leidet jedoch häufig an subklinischen Einbußen der Lebensqualität: - Probleme vertrauensvoller Beziehungsgestaltung - sozialer Stress, Konfliktscheu - mangelnde Selbstfürsorge - Erschöpfung - somatische Störungen Wie meistern sie ihr Leben heute (2)? • Entwicklung besonderer Ressourcen durch die früh (über-) erlebte chronische Ausnahmesituation: - soziale Intelligenz und Einfühlungsvermögen (Held) - Loslösung von der Familie, Orientierung nach außen (Sündenbock) - Autarkie, Pflege von Begabungen und Hobbies (verlorenes Kind) - Vermeidung, Opfer aggressiver Attacken zu werden - Beliebtheit erlangen, unterhaltsam sein (Clown) Meisterung Wie blicken sie heute zurück (1) ? • (Ambivalente) Erleichterung, dass es vorbei ist (andere Zeit, suchtkranke Eltern gestorben) • Chronischer Ärger und Schuldzuweisung (auch dem gesunden Elternteil gegenüber) • Ungelöster Schmerz über Versäumtes mit Eltern und im eigenen Leben • Späte irritierende Erkenntnis zu vergangenen Verleugnungsund Tabuisierungsmechanismen und hemmende Anpassungsleistungen Wie blicken sie heute zurück (2) ? • Kein Gefühl für Abnormalität der Situation trotz kognitiver Einsicht • Kein emotional stimmiger phantasierter Alternativ-Entwurf zum Verhalten der Mitglieder der Herkunftsfamilie • Vermeidung des Themas und der damit zusammenhängenden Affekte der Ohnmacht, Leere und Niedergeschlagenheit • Persistierende Idealisierungen, Insuffizienzgefühle, Verantwortungs- und Schuldübernahme Warum ist der Wahnsinn „normal“ ? Der „normale“ Wahnsinn • Bindungsmuster persistieren, färben die Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit und gestalten die Gegenwart • Identifizierungen und Rollenfixierungen in Verbindung mit Stressregulationsdefiziten versperren den Blick auf die „Normalität“ • Gesellschaftliche Entscheidungsträger sind statistisch gesehen häufig selbst Betroffene (und damit Beschämte) • Die Angst vor der Wut durch Enttabuisierung (und EntRomantisierung von Elternschaft) verzögert (gesundheitspolitisch) ein pragmatisches kindergerechtes Handeln (Europäischer Aktionsplan Alkohol 1995). Das Mitgefühl für das „jüngere Ich“ hält sich in selbstschützenden Grenzen Lösungsmöglichkeit auf individueller Ebene (auch für Erwachsene geeignet) Die 3+4 C´s:  I didn´t Cause it.  I can´t Control it.  I can´t Cure it. „Versagen“ But     I can help take Care of myself by Communicating feelings Making good Choices and Celebrating myself.” (aus: Children´s program kit, SAMHSA, 2003) Entwicklung Fazit für die Erwachsenen