Preview only show first 10 pages with watermark. For full document please download

Deutsches ärzteblatt 1985: A-1864

   EMBED


Share

Transcript

EDITORIAL Cochlear-Implantate nimmt, was im wesentlichen durch die nahe bei der Unbehaglichkeitsschwelle liegende elektrische Reizschwelle bedingt ist. Thomas Lenarz, Hans-Georg Boenninghaus eit etwa 10 Jahren arbeiten weltweit verschiedene Arbeitsgruppen intensiv an der systematischen Entwicklung von elektronischen Hörprothesen, um durch direkte Stimulation des Hörnerven akustische Wahrnehmungen auszulösen. Ziel dieser Bemühungen ist der funktionelle Ersatz der spezifischen Sinneszellen des Innenohres, der sogenannten Haarzellen, deren funktioneller Ausfall den meisten Ertaubungen zugrundeliegt. Die nachgeschalteten Hörnervenfasern bleiben je nach Ursache der Ertaubung im unterschiedlichen Ausmaß erhalten. Dies ist die Voraussetzung für jede Form einer elektronischen Hörprothese. S 1. Prinzip Das Prinzip des Cochlear-Implants besteht darin, diese Hörnervenfasern unter Nachahmung der physiologischen Vorgänge der Cochlea über Elektrodensysteme so zu stimulieren, daß akustische Information einschließlich Sprache perzeptiert, analysiert und verstanden werden kann. Als wesentliche Parameter müssen dabei Frequenzgehalt, Intensität und Zeitstruktur der akustischen Information übertragen werden. Im Innenohr geschieht dies unter anderem durch die Frequenzdispersion der Wanderwelle entlang der Basilarmembran. Die so erregten Haarzellen geben die frequenzspezifische Information tonotop an angekoppelte Hörnervenfasern weiter, die durch diese Bestfrequenz erregbar sind. Die Reizintensität wird dabei über die Entladungsrate der Einzelfasern und die Anzahl der erregten Fasern codiert. Die Elektrodensysteme versuchen nun, diese Prinzipien der 1864 Frequenz-, Intensitäts- und Zeitcodierung zu imitieren. Wie psychophysische Untersuchungen von Zwicker gezeigt haben, müssen für die Sprachanalyse mindestens sechs voneinander unabhängige Eingangskanäle bestehen, die jeweils einen bestimmten Anteil des für Sprache relevanten Frequenzspektrums zwischen 300 und 3000 Hz als Bandpaß übertragen. Die zugehörigen Elektroden müssen so nahe wie möglich an die zugeordneten Neurone herangebracht werden, um eine möglichst isolierte Reizung der dem jeweiligen Frequenzbereich entsprechenden Nervenfasern zu erreichen. Andernfalls kommt es durch die mit zunehmendem Abstand zwischen Elektrode und Nervenfasern zunehmende, für die Stimulation notwendige Stromstärke zu einer starken Ausbreitung des von jeder Elektrode ausgehenden elektrischen Feldes. Die gegenseitige Überlagerung dieser elektrischen Felder bewirkt eine verschlechterte Kanaltrennung. Je nach Elektrodenposition läßt sich aus diesen Parametern die maximal mögliche Zahl voneinander unabhängig nutzbarer Elektroden bestimmen. Für die Sprachvermittlung dürfte sie im Idealfall gerade ausreichend sein. Die beste frequenzspezifische Auffächerung der einzelnen Hörnervenfasern besteht im Bereich der Basilarmembran, in deren Nähe die Elektroden gebracht werden müssen. Problematisch erweist sich weiterhin die Codierung des notwendigen Dynamikbereiches, der für ein gesundes Ohr 120 dB (1 zu 1 Million) umfaßt. Elektrische Reizexperimente erbrachten jedoch nur einen mittleren Dynamikbereich von 12 dB unterhalb 1000 Hz, der bei höheren Reizfrequenzen noch weiter ab- (68) Heft 24 vom 12. Juni 1985 82. Jahrgang Ausgabe A Bei der Reizfolgerate sind ebenfalls Grenzen gesetzt, so daß eine Frequenzcodierung nur bis etwa 1 kHz darüber möglich ist. 2. Sprachcodierung Unter klinischen Gesichtspunkten muß das Verstehen der Sprache und damit die Teilnahme an der menschlichen Kommunikation als wesentlicher Zweck einer jeden elektronischen Hörprothese angesehen werden. Als wesentlich für den Erfolg hat sich dabei die Art der Sprachcodierung, das heißt der Umsetzung in elektrische Erregungsmuster herausgestellt. Neben dem bereits oben beschriebenen VocoderPrinzip, das das Sprachsignal in eine gewisse Anzahl von Frequenzbändern zerlegt, kommt als weiteres Prinzip die FormantenAnalyse in Frage. Neben der Grundfrequenz und deren Intensitätsamplitude wird vor allem die zweite Oberschwingung als wesentliches Merkmal übertragen. Weitere Verfahren sind in der Entwicklung. 3. Bausteine des Systems Ein komplettes Cochlea-lmplantSystem umfaßt neben dem zu implantierenden Elektrodensystem folgende Elemente: • einen externen Schallaufnehmer in Form eines Mikrofones, zum Beispiel in der Nähe der Ohrmuschel, • einen am Körper getragenen, individuell programmierbaren Sprachprozessor, der die aufgenommene akustische Information verarbeitet und nach dem programmierten Codierungsverfahren in elektrische Impulse umsetzt, die dann entweder direkt über eine in die Haut hinter der Ohrmuschel eingepflanzte Steck- verbindung oder drahtlos über ein Sendersystem in das meistens im Planun mastoideum untergebrachte Empfängersystem übertragen werden, • das Empfängersystem, das die ankommenden Impulse decodiert und die entsprechenden Elektroden ansteuert. naltrennung verbessert wird. Eine tonotope Reizung erscheint damit in ausreichendem Maße möglich zu sein. Bei intraneuralen Systemen werden die Elektroden direkt in den Hörnerven, zum Beispiel im Modiolus der Schnecke oder im inneren Gehörgang, eingebracht. Hierüber liegen nur sehr wenige Erfahrungen vor. 4. Die einzelnen Systeme Unterschieden werden extra- von intracochleären beziehungsweise intraneuralen und Einkanal- von Mehrkanal-Systemen. Bei extracochleären Implantaten werden die Elektroden ohne Eröffnung des Innenohres entweder am runden Fenster oder in dem Bereich der medialen Paukenhöhlenwand befestigt, der an die Cochlea angrenzt. Dabei ist eine tonotope Positionierung auch im Bereich der apikalen Schneckenwindungen möglich. Dem Nachteil höherer Reizstromstärken und damit verbundener schlechterer Kanaltrennung steht der Vorteil gegenüber, daß das Innenohr dabei nicht eröffnet wird, somit keine Labyrinthitisgefahr besteht und die Elektrodenplazierung exakt unter Sicht möglich ist. Bei intracochleären Systemen werden die Elektroden in die Scala tympani nach Eröffnen des runden Fensters oder der basalen Schneckenwindung eingeführt und blind bis zu 25 mm vorgeschoben. Nachteilig können sich Zerreißungen der Basilarmembran und damit die Zerstörung von Hörnervenfasern durch das Vorschieben der Elektrode, der Perilymphabfluß, die Infektionsgefahr und die Tatsache erweisen, daß damit die apikalen Schneckenanteile nicht direkt erreicht werden. Die Vorzüge liegen in der sehr kurzen Distanz zwischen Elektrode und den in der Basilarmembran aufgefächerten Hörnervenfasern, wodurch die Reizstromstärke gering gehalten werden kann und die Ka- Obwohl theoretisch MehrkanalSysteme den Einkanal-Systemen überlegen sein sollten, hat jedoch die bisherige klinische Evaluierung keine eindeutige Überlegenheit bezüglich des Sprachverständnisses belegen können. 5. Praktisches Vorgehen Nur bei vollständig oder praktisch Tauben ist ein ChochlearImplant gerechtfertigt. Nach Ausnützung aller alternativen Methoden, wie Lippenablesen, Anpassen von Hochleistungshörgerät bei noch vorhandenen Hörresten und einem intensiven Sprachtraining müssen die Patienten vollständig über die Problematik dieser Methode informiert werden. Der eigentlichen Implantation muß ein sogenannter Promontoriumstest vorangehen, bei dem über eine provisorisch durch das Trommelfell gestochene, auf dem Promontorium plazierte Elektrode die elektrische Erregbarkeit und die elektrophysiologischen Eigenschaften des Hörnerven überprüft werden. Fällt dieser Test zufriedenstellend aus, wird das jeweilige Elektrodensystem zusammen mit dem Empfängersystem im Rahmen einer das Maß der Routine nicht übersteigenden Mittelohroperation implantiert. Nach Abschluß der Wundheilung werden zunächst die elektrischen Eigenschaften des implantierten Systems überprüft und die elektrophysiologischen Grundwerte wie Schwellenstromstärke, Unbehaglichkeitsschwelle, Dynamikbereich, Frequenzbereich, Intensitäts- und Frequenzunter- scheidungsvermögen festgelegt und der Sprachprozessor nach diesen individuellen Daten programmiert. Daran schließt sich ein intensives Hörtraining an, das unter gradueller Steigerung der Schwierigkeitsgrade die Patienten mit der neuen Sinnesmodalität vertraut macht. Dem Erkennen verschiedener Tonhöhen und dem Unterscheiden verschiedener Grundgeräusche schließen sich Konsonanten- und Vokalerkennung, Ein- und Zweisilberunterscheidung sowie Satzerkennung an. 6. Ergebnisse Der Prozentsatz richtig verstandener freier Sprache ist bei den einzelnen Patienten sehr unterschiedlich und hängt auch von dem verwendeten System ab. Das Ausmaß der erreichten Rehabilitation kann bisher durch keinen Test vorhergesagt werden. Demnach beinhaltet die Methode zur Zeit noch ein für den Patienten nicht unerhebliches Risiko des Mißerfolges. Allerdings stellt die neu gewonnene Sinneserfahrung (bei dem vor dem endgültigen Spracherwerb Ertaubten) oder die wiedergewonnene Sinnesmodalität (bei dem nach dem endgültigen Spracherwerb Ertaubten) für den jeweils Betroffenen den akustischen Kontakt zur Umwelt und damit den Zugang zur menschlichen Kommunikation her, was durch keine andere Sinnesmodalität ersetzt werden kann. Zusammen mit dem Lippenablesen als wesentlichem Hilfsmittel sind die Patienten mit Implantaten in der Lage, im Durchschnitt je nach verwendeten Testkriterien zwischen 70 und 90 Prozent der gesprochenen freien Sprache zu verstehen. Einzelnen Patienten ist auch die Kommunikation über Telefon möglich. Professor Dr. med. H.-G. Boenninghaus, Dr. med. Thomas Lenarz, Voßstraße 5-7 6900 Heidelberg Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 24 vom 12. Juni 1985 (71) 1865