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Die Einsamkeit der Akteure Zur politischen Unterbestimmung der zeitgenössischen Bioethik «Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurtheilt, etc., so brauche ich mich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdriessliche Geschäft schon für mich übernehmen.» Immanuel Kant1
1. Die zwei Seiten der Autonomie Der Titel meines Vortrags enthält nicht nur eine Unterstellung, sondern stammt auch nur zur Hälfte von mir. Anfang der 1980er Jahre publizierte Norbert Elias seinen viel beachteten Essay Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, in dem er die gesellschaftliche Situation eines immer stärker professionalisierten Sterbens aus soziologischer Sicht analysierte. Zur gegenüberliegenden Phase des Lebens ist mir keine entsprechende Untersuchung bekannt, einmal abgesehen von der 2013 erschienenen Dissertation von Anja Karnein Zukünftige Personen, in der die Philosophin ausgehend von Lawrence Sterns Romanfigur Tristram Shandy eine – wie es im Untertitel heisst – Theorie der ungeborenen Lebens von der künstlichen Befruchtung bis zur genetischen Manipulation entwickelt. Die Frage hinter dem Vortragstitel, ob Autonomie einsam macht, klingt etwas ungewöhnlich. Sie ist zugegebenermassen auch theologisch kontaminiert, etwa mit Bezug auf das alte anthropologisch-theologische Problem von dem «cor curvum in se», dem in sich gekrümmten Herzen bei Martin Luther. Allerdings hat die reformatorische Einsicht auch eine politische Pointe. Und in diesem Zusammenhang ist ebenfalls von der Einsamkeit die Rede. Alexis de Tocqueville bemerkt in seiner 1835/1840 erschienenen kritischen Analyse über die amerikanische Demokratie: «So sorgt die Demokratie nicht nur dafür, dass jeder seine Ahnen vergisst, sondern sie verbirgt ihm auch die Nachfolger und entfremdet ihn auch seinen Zeitgenossen: ständig wirft sie ihn auf ihn selbst zurück und droht, ihn gänzlich in die Einsamkeit seines eigenen Herzens einzusperren.»2 Die Beobachtung des Grafen von dem ständig Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Werden nimmt die Ursachen bereits vorweg, deren Folgen Alain Ehrenberg in seiner bekannten Studie über Depressionserkrankungen zu der dramatisch klingenden These führt: «Sich befreien macht nervös, befreit sein depressiv. Die Angst, man selbst zu sein, versteckt sich hinter der Erschöpfung, man selbst zu sein.»3 Depression ist für den Soziologen
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Vortrag anlässlich der Tagung der SAMW und NEK im Veranstaltungszyklus ‹Autonomie in der Medizin›: ‹Autonomie und Verantwortung. Das Spannungsfeld zwischen privater Autonomie und gesellschaftlicher Solidarität, Bern 2. Juli 2015. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Ed. Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1983, A 482. Alexis von Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. von Jacob Peter Mayer, Stuttgart 1985, 240. Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt/M. 2004, 53.
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die Krankheit des auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen in der Verantwortungsgesellschaft. Und Charles Taylor fügt im Anschluss an Tocqueville hinzu: «[T]he dark side of individualism is a centring on the self, which both flattens and narrows our lives, makes them poorer in meaning, and less concerned with others or society.»4 Unabhängig davon, ob der sozialpsychologischen bzw. kommunitaristischen Wertung zugestimmt werden kann oder nicht, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass wir gerade in medizin- und bioethischen Zusammenhängen ständig «vor die Wahl gestellt» werden. Dass diese Wahlfreiheit in der Regel positiv konnotiert wird, hängt vor allem mit ihrer politischen Verpackung zusammen: Die Fülle der Optionen dient als eine Art Autonomieindikator: Je mehr Wahlmöglichkeiten desto grösser die Autonomie und desto wünschenswerter das Ergebnis. Die brisanten bio- resp. medizinethischen Themen der letzten Zeit – Suizidhilfe, Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik – begegnen nicht nur in Politik und Öffentlichkeit in Gestalt von Autonomiedebatten über das selbstbestimmte Sterben oder die reproduktive Autonomie, um nur zwei Schlagwörter zu nennen. So unbestritten Autonomie und Selbstbestimmung als neuzeitliche Signaturen anerkannt sind, so umstritten sind die politischen, epistemologischen und ethischen Konzepte und Konsequenzen dahinter. Für die einen ist Autonomie das Privileg neuzeitlicher Menschen und liberaler Gesellschaften, das gegen jede vermeintliche oder ernsthafte Beschränkung verteidigt werden muss. Für die anderen markiert der Begriff eine systematische Selbstüberforderung und belastende Bürde, die ohne soziale Einbettung und (verbindliche) normative Orientierung nicht bewältigt werden kann. Die Kontroversen sind so alt, wie das Nachdenken über den Menschen selbst. Eine jüngere Version, an die auch die aktuellen bioethischen Debatten anschliessen, wurde seit den 1970er Jahren prominent zwischen Liberalisten Rawlscher Prägung und Kommunitaristen, wie Michael Sandel, Alasdair McIntyre, Robert N. Bellah, Amitai Etzioni oder Michael Walzer ausgetragen. Die genannten Protagonisten weisen auf die, in der Bioethik häufig übersehene Herkunft des Autonomiethemas aus der politischen Philosophie und Ethik hin. Autonomieforderungen werden in einem ganz allgemeinen Sinne mit einem emanzipatorischen Anspruch erhoben und sind gegen die Übergriffe eines paternalistischen Gegenübers – in Gestalt des Staates, von Institutionen, Gruppen oder Personen – gerichtet. Den Ausgangspunkt jeder Autonomiedebatte bildet der berühmte Wahlspruch der Aufklärung von Immanuel Kant: «Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.»5 Unter diesem Vorzeichen taucht der Autonomiebegriff auch seit den 1970er Jahren in medizin- und bioethischen Zusammenhängen auf. Autonomie- und informed consent-Prinzip, der Ausbau von Patientinnenrechten und die Etablierung von Patientenverfügungen sollen die Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten gegen einen medizinischen und biotechnologischen Paternalismus schützen und stärken. Autonomie fungiert als Gegenbegriff zu einem Paternalismus, der die Person heteronomen Bedingungen und Zwängen aussetzt, die diese nicht will oder nicht wollen kann oder nicht wollen soll. Autonomie und Paternalismus bezeichnen Strukturmerkmale sozialer Verhältnisse. Eine Person ist autonom im Blick auf ihre Beziehung zu und gegenüber anderen (und – 4 5
Charles Taylor, The Ethics of Authenticity, Cambridge, London 1991, 4. Kant, a.a.O., A 482.
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in einem übertragenen Kantischen Sinne – auch gegenüber sich selbst im Sinne ihrer empirischen Natur, Neigungen und Erfahrungen). Autonomie bezeichnet ein soziales, politisches und rechtliches Verhältnis in dem sich eine Person zum Staat und zur Gesellschaft befindet, dessen Teil sie ist. Eine solche gesellschaftspolitische Verortung der Autonomie findet eine etymologische Entsprechung. Ursprünglich diente der Begriff der Selbst-Gesetzgebung (autos + nomos) den Griechen zur Bezeichnung des rechtlichen Status von Stadtstaaten, die ihre inneren Angelegenheiten unabhängig von einer anderen Macht selbst bestimmen konnten. Diese Form der Selbstorganisation galt nach innen und aussen: extern im Gegensatz zur Fremdherrschaft und intern als Abwesenheit der Tyrannei.6 Die Situierung der Autonomiedebatten im Spannungsfeld zwischen Individualität und Sozialität, zwischen dem Selbst und den Anderen ist dagegen eigentlich erst eine Erfindung des 17. Jahrhunderts. Wurde Autonomie in der Antike nur sporadisch auf Menschen bezogen, wird die ursprünglich institutionelle Selbstbestimmung in der Neuzeit ausgedehnt auf «die Möglichkeit des Menschen […], sich selbst als vernunftbegabtes Wesen zu verstehen und sich als solches selbst zu bestimmen».7 Die beiden Dimensionen von Autonomie bilden nach Isaiah Berlin die negative und positive Seite der Freiheit: negativ im Sinne der Freiheit oder Unabhängigkeit von Einschränkungen und Zwängen, positiv als Freiheit oder Befähigung, zum eigenen, selbst bestimmten Wollen und Handeln in ein Verhältnis zu treten.8 Von Autonomie in dem doppelten Sinne von Handlungs- und Willensfreiheit kann erst dann gesprochen werden, wenn oppositionelle Emanzipationsforderungen in Strukturen gesellschaftlicher Anerkennung materialisiert worden sind, wenn also die sozialen und politischen Voraussetzungen der «Freiheit von …» gegeben sind, damit Menschen ihre individuelle «Freiheit zu …» tatsächlich wahrnehmen können. Der politische Prozess von der emanzipatorischen Forderung nach Freiheit bis zu ihrer Durchsetzung kann politisch als komplexer Übergang vom Protest zur Gestaltung beschrieben werden. Grundsätzlich haftet beiden Dimensionen der Autonomie etwas Prekäres an, insofern sie nicht ein für alle Mal realisiert werden können, sondern immer wieder neu verteidigt oder errungen und etabliert werden müssen. So trivial die antipaternalistische Absicht von Autonomiebestrebungen ist, so undeutlich werden dabei häufig die Kontexte von Autonomie-Paternalismus-Konstellationen in der liberalen Gesellschaft. Wo begegnen Autonomie und Paternalismus als oppositionelle Strategien und in welcher Hinsicht stellen sie dort eine Alternative dar? Diese Fragen lenken den Blick auf die Fundamente bioethischer Diskurse. Im Folgenden fokussiere ich lediglich auf die Frage nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen ihrer sozialen und politischen Einbettung. Meine These, die ich knapp erläutern möchte lautet, dass bioethische Diskussionen zu einem halbierten, intrinsischen oder solipsistischen Autonomieverständnis neigen, das Selbstbestimmung auf ein Abwehrrecht reduziert und damit die soziale und politische Dimension von Autonomiestrukturen mehr oder weniger ausblendet. Kom-
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Vgl. Rosemarie Pohlmann, Autonomie: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel, Stuttgart 1971, 701–719 (701). Gabriela Brahier, Medizinische Prognosen im Horizont eigener Lebensführung. Zur Struktur ethischer Entscheidungsfindungsprozesse am Beispiel der pränatalen genetischen Diagnostik, Tübingen 2011, 38f. Vgl. Isaiah Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe: ders., Freiheit: Vier Versuche, Frankfurt/M. 1995, 197–256.
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plementär zu der Konzentration auf die Selbstbehauptungs- resp. Selbstbeschränkungsforderung findet eine Verschiebung der Frage nach der konkreten Wahrnehmung und Gestaltung von Autonomie in die Privatsphäre statt. Bioethische Debatten konzentrieren sich auf das «dass» der Entscheidungssituation unter Vernachlässigung der Frage nach dem «wie» der Entscheidung. Sollte Autonomie am Ende tatsächlich einsam machen, dann nicht aufgrund eines Konstruktionsfehlers des Autonomiekonzepts selbst, sondern aufgrund seiner unterkomplexen ethischen Profilierung und einseitigen handlungstheoretischen Umsetzung.
2. Der antipaternalistische Impuls des bioethischen Autonomieprinzips Die bioethische Geschichte des Autonomieprinzips beginnt mit dem im Rahmen der Urteile im Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 verkündeten Nürnberger Kodex. Dieser verlangt erstmals die bei bestehender Urteilsfähigkeit, freie und informierte Zustimmung von Probandinnen und Probanden zu medizinischen Versuchen.9 Der informed consent-Begriff begegnet erstmals 1957 im Rahmen eines medizinischen Kunstfehlerprozesses in den USA. Die Helsiniki-Erklärung des Weltärztebundes von 1964 und der Belmont-Report von 1979 haben die Forderung nach informierter Zustimmung aufgenommen und weiter konkretisiert. Daran schliessen 1979 Tom L. Beauchamp und James F. Childress – beide damals Mitarbeiter am Kennedy Institute of Ethics – mit der ersten Auflage ihrer Principles of Biomedical Ethics an. Erwähnenswert in dem Zusammenhang sind einige begriffliche Präzisierungen. War im Belmont-Report – der massgeblich von Childress verfasst wurde – noch allgemein vom Respekt für Personen die Rede und wird in der ersten Auflage der Principles vom Respekt für Personen gesprochen, lautet das Prinzip in den nachfolgenden Überarbeitungen Respekt vor der Autonomie von Personen.10 Bezeichnenderweise verstehen Beauchamp und Childress ihr Autonomieprinzip explizit in Analogie «to the way an independent government manages its territories and establishes its policies».11 Damit bestätigen sie nicht nur die politisch-rechtliche Herkunft des Begriffs sondern verbinden ihr Autonomieverständnis mit einer doppelten – analog zur politischen Sphäre konzipierten – Aufgabe: Erstens soll die autonome Person sich und ihre Angelegenheiten selbst an die Hand nehmen (manages its territories). Und zweitens soll sie sich dabei an Richtlinien orientieren, die sie selbst aufgestellt hat (establishes its policies). Eine Person ist autonom, wenn sie selbstbestimmt und nach selbst gesetzten Regeln bzw. eigenem Entwurf (self-chosen plan) handelt. 9
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Vgl. Der Nürnberger Kodex 1947, Art. 1, zit. n. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt/M. 1960, 272f.: «Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heisst, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, dass der Versuchsperson vor der Einholung ihrer Zustimmung das Wesen, die Länge und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die Methode und die Mittel, welche angewendet werden sollen, alle Unannehmlichkeiten und Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen für ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen.» Vgl. Brahier, Medizinische Prognosen, a.a.O., 42. Tom L. Beauchamp/James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, New York, Oxford 62009, 99.
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government
policies
eigene Regeln
Polis
Person
manages
territories
Subjekt
eigene Angelegenheiten
Diese allgemeine Definition entspricht der aus der Verantwortungsdiskussion bekannten dreistelligen Relation zwischen Verantwortungssubjekt, Verantwortungsobjekt resp. -gegenstand und Verantwortungsinstanz: Ein Verantwortungssubjekt trägt Verantwortung für eine Person oder Sache im Blick auf eine Verantwortungsinstanz. Die Ärztin ist verantwortlich für den Patienten im Blick auf ihre Kompetenzen nach state of the art und ihre standesethischen Verpflichtungen als Medizinerin. Instanz
Verantwortung Subjekt
Gegenstand
Diese Grundstruktur sagt noch nichts über die einzelnen Elemente und die Art und Weise ihrer Verknüpfung aus. Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass eine solche Verbindung besteht und dass sie analog zu der allgemeinen Struktur von Verantwortungsverhältnissen konstruiert werden kann. Die enge Verbindung zwischen beiden Begriffen bzw. Konzepten spiegelt sich wider in dem verbreiteten Verständnis von Autonomie als Selbstverantwortung. Die dreistellige Relation bildet sozusagen die Nebenwirkung des zunächst als Abwehrrecht installierten informed consent-Prinzips. Diese Beobachtung scheint mir wichtig, weil das medizinethische Autonomieprinzip – ungeachtet aller theoretischen Entwicklungen – diesen emanzipatorischen Grundimpuls bis heute beibehalten hat. In der ursprünglichen informed consent-Diskussion ging es noch nicht um die Gestaltung des Innenverhältnisses von Autonomie, sondern lediglich um die medizinische Zugriffsbeschränkung auf den eigenen Leib und das eigene Leben. Der behandlungsbedürftige Leib der Patientin oder des Patienten, auf den die Medizin traditionell einen teleologisch begründeten Zugriff besass, sofern dieser den Regeln medizinischer Kunst und ärztlichem Standesethos entsprach, wurde nun ganz in den Zuständigkeitsbereich der betroffenen Personen verschoben. Der kranke Leib bleibt – auch in medizinischen Zusammenhängen – vollständig im Entscheidungsbereich der Patientin und des Patienten. Dieses Verhältnis gilt unbedingt und ausnahmslos – Krankheit und Behandlungsbedürftigkeit ändern daran nichts. Das Autonomieprinzip bildet eine Art Schutzhülle, die sich um den Menschen legt, um alle Eingriffe von aussen abzuwehren. Diese Schutzhülle lässt sich sozusagen nur von innen durch die explizite Einwilligung der betroffenen Person öffnen. Eine Einwilligung setzt drei Fähigkeitsbedingungen der einwilligenden 5
Person voraus: 1. Sie muss über die nötigen kommunikativen Kompetenzen verfügen, um ihre Situation, die zur Diskussion stehenden medizinischen Massnahmen und ihre möglichen Folgen zu verstehen sowie ihre eigenen Überlegungen, Präferenzen, Zweifel und Wünsche zu äussern. 2. Sie braucht gewisse kognitive Kompetenzen, um Handlungsoptionen zu antizipieren, Alternativen abwägen und eine Entscheidung treffen zu können. 3. Sie benötigt entsprechende Selbstkompetenzen, um persönliche Wertungen vorzunehmen, den aktuellen Sachverhalt als Teil ihres Lebens reflektieren und – auch im Blick auf mögliche Konsequenzen – integrieren zu können, um schliesslich – gemäss der eigenen Grundüberzeugungen die Verantwortung gegenüber sich selbst und ihrem Lebensumfeld übernehmen zu können.12 Schliesslich kann die von Beauchamp und Childress genannte Bedingung der Abwesenheit der Einflussnahme durch Dritte13 nicht – im Gegensatz zur üblichen Lesart – allein von aussen festgestellt werden, sondern bedarf einer korrespondierenden Wahrnehmung und der Möglichkeit der kritischen Prüfung durch die betroffene Person selbst. Die Einwilligungskriterien bilden eine Art bioethisches Standardmodell von Selbstbestimmung, das «einen lokalen und prozeduralen Autonomiebegriff wählt, d.h. auf konkrete Handlungen blickt und keinerlei substanzielle Vorgaben macht – also Autonomie gänzlich unabhängig von den Inhalten der Entscheidung konzipiert».14 In den Einwilligungsbedingungen zeigt sich der iterative Charakter der dreistelligen Autonomierelation. Die einzelnen Kompetenzen die Einwilligungsfähigkeit der Patientenautonomie lassen sich nicht auf die einzelnen Autonomierelate verteilen. Vielmehr bilden sie analytisch unterschiedene Aspekte von Autonomie- und Verantwortungsverhältnissen gegenüber der eigenen Person und gegenüber anderen. Eine Schwierigkeit des einfachen Ausgangsmodells zeigt sich bereits hier, denn die soziale Welt kommt – zumindest erkennbar – darin nicht vor. Das ist kein Versehen, sondern der Forderung nach «prozeduraler Unabhängigkeit» (Gerald Dworkin) geschuldet, nach der rationale Entscheidungsprozesse von externen Kontaminierungen geschützt werden müssen. Tatsächlich drängt sich an dieser Stelle das Bild einer Welt auf, die von monadenähnlichen Wesen bevölkert wird.
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Vgl. Ralf J. Jox, Bewusstlos, aber autonom? Ethische Analyse stellvertretender Entscheidungen für einwilligungsunfähige Patienten: Ethik Med 16/2004, 401–414 (401f.). Vgl. Beauchamp/Childress, Principles, a.a.O., 127. Johann S. Ach/Bettina Schöne-Seifert, ‹Relationale Autonomie›. Eine kritische Analyse: Wiesemann/Simon (Hg.), Patientenautonomie, a.a.O., 42–60 (47).
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eigene Regeln
ich eigene Angelegenheiten
Subjekt
ich
Es stellt sich die Frage, welche Interaktionsverhältnisse zwischen verschiedenen autonomen Akteurinnen und Akteuren zustande kommen können. Wenn die Selbstbestimmung der Person durch die Integrität der dreistelligen Autonomierelation garantiert wird, hätte das Eindringen einer anderen Person an einer der drei Spitzen des Autonomiedreiecks unmittelbare Auswirkungen auf die anderen Relate. Genau das soll aber – vor allem im Blick auf die intrinsische Rationalität, also die Fähigkeit und das Vermögen, den eigenen Plänen im Handeln zu folgen – verhindert werden. An den eben vorgestellten Einwilligungsbedingungen des bioethischen Standardmodells lässt sich das Problem verdeutlichen: Um jede Einwirkung auf die Entscheidungen der Patientin oder des Patienten auszuschliessen, wird von einer ethischen Konsultation oder Beratung in Form einer ethischen Unterstützung bei der Urteilsbildung und Entscheidungsfindung dezidiert abgesehen. Das informed consent-Prinzip wird lediglich auf die beiden Autonomieaspekte auf der Horizontalen bezogen: auf das autonome Handlungssubjekt und die relevanten Angelegenheiten resp. das eigene Handeln. Aus der dreistelligen Relation wird – noch einmal im Bild gesprochen – faktisch eine zweistellige Relation. Das autonome Subjekt erscheint, wenn überhaupt nur noch als eine Art Black Box, über die nicht nur nichts gesagt werden kann, sondern auch nichts gesagt werden darf.
personale Autonomie Subjekt
eigene Angelegenheiten
Der ethische Reduktionismus begegnet auch auf rechtlicher Ebene etwa im Humanforschungsgesetz oder Fortpflanzungsmedizingesetz. Darin wird zwar eine obligatorische Patienten- resp. Probandinnen-Beratung vorgeschrieben, allerdings beschränkt sich diese auf die medizinisch-technischen, gesundheitlichen und rechtlichen Aspekte von Behandlungen bzw.
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Forschungsvorhaben.15 Die Fragwürdigkeit der ethischen Selbstbeschränkungsstrategien verstärkt sich noch vor dem Hintergrund einer widersprüchlich anmutenden Entwicklung. Parallel zu der sukzessiven Ausweitung der Entscheidungsbefugnisse von Patientinnen und Patienten wurden auch die Instrumente institutionalisierter Ethik weiter ausgebaut, aber bezeichnenderweise nicht für die Patientinnen und Patienten als Entscheidungssubjekte, sondern für das Medizinpersonal. Nun sollte daraus nicht geschlossen werden, dass der Gesetzgeber und die Gesellschaft den Ärztinnen weniger moralisches Urteilsvermögen und ethische Reflexionsfähigkeit zutrauen als deren Patienten. Die Gründe für die signifikant unterschiedliche Beurteilung des Status ethischer Kompetenzen für die Entscheidungsfindung müssen auf der Theorieebene gesucht werden. Bekanntlich sind die bioethischen Prinzipien von Beauchamp und Childress seit ihrem ersten Erscheinen kontinuierlich und kontrovers diskutiert worden, was die Autoren immer wieder zu Modifikationen veranlasst hat. Die Debatten sollen und können hier nicht nachgezeichnet werden. Immer wiederkehrende methodische Kritikpunkte betreffen 1. die individualistische Verkürzung des Autonomieprinzips – die auch dem Versuch einer Synthese von Kant und Mill geschuldet ist –; 2. die unrealistischen Rationalitätszumutungen; 3. die fehlende Differenzierung zwischen Willens-, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit; 4. das Ausblenden der konstitutiven sozialen Verhältnisse, in denen Menschen existieren, Autonomie praktisch und Identität herausgebildet wird und ethische Konflikte ausgetragen werden und 5. das Fehlen eines Verfahrens, um zwischen den vier grundsätzlich gleichrangigen Prinzipien abzuwägen. Diese kritisierten Punkte haben allerdings vor dem Hintergrund der historischen Entstehungsbedingungen der Prinzipien durchaus eine gewisse Plausibilität. Denn die Ausgangssituation entsprach nicht etwa der Rawlsschen Idee vom «Schleier des Nichtwissens», sondern war geprägt durch einen starken emanzipatorischen, antipaternalistischen Impuls. Das erklärt 1. die latente Vorordnung des Autonomieprinzips;16 2. die notorische Zurückhaltung bei Fragen bezüglich der ethischen Grundlagen (self-chosen plan) der konkreten moralischen Entscheidungsfindung; 3. die mangelnde Integration des Wohltuns- resp. Fürsorgeprinzips und 4. die fragwürdige Platzierung des die Systematik sprengenden Prinzips der Gerechtigkeit.
3. Relationale Autonomie – Ehrenrettung der Fürsorge? Von den eben genannten Einwänden möchte ich nur einen Punkt herausgreifen: das nicht geklärte Verhältnis zwischen dem Respekt vor der Autonomie der Person und der Fürsorge. Die von der SAMW in Auftrag gegebene, im letzten Jahr erschienene Interview-Studie Haltung der Ärzteschaft zur Suizidhilfe gibt sehr differenzierte Auskünfte über die Meinungen in der Ärzteschaft zum begleiteten Suizid, zeigt aber auch die Ambivalenzen zwischen einer grundsätzlichen Zustimmung und der Bereitschaft zur Beteiligung auf. Nur ein kurzes Zitat aus dem Auswertungsteil: «Als ethische Rechtfertigung für ärztliche Suizidhilfe wird in den qualitativen Interviews wie auch in der ethischen, juristischen und politischen Debatte neben der Leidenslinderung vor allem das Argument angeführt, die Patientenautonomie sei zu respektieren. Vor
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Vgl. Art. 16 HFG und Art. 6 FMedG. Die Autoren haben zwar explizit immer wieder die Gleichrangigkeit betont, vgl. etwa Tom L. Beauchamp, Principles and Other Emerging Paradigmas for bioethics: Indiana Law Journal 69/1994, 955–971.
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diesem Hintergrund mag es erstaunen, dass fast ein Drittel der an der Befragung teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte angeben, sie würden versuchen, die suizidwillige Person von ihrem Wunsch abzubringen. Jemanden von seinem Suizidwunsch abzubringen könnte als eine stärkere Intervention gedeutet werden, als es die in den SAMW-Richtlinien geforderte ‹Erläuterung von Alternativen zum Suizid› darstellt.»17 Ohne auf die Details einzugehen, handelt es sich offensichtlich um einen Fall von medizinischem Paternalismus, wenn die Ärztin oder der Arzt nicht nur nach den Gründen fragt und Alternativen präsentiert, sondern direktiv versucht, die Patientin oder den Patienten von ihren Überlegungen oder seinem Entschluss abzubringen. Damit bleibt völlig offen, ob der Arzt die Patientin von seinen eigenen – in diesem Fall kritischen – Ansichten über die Suizidhilfe überzeugen will oder ob er ihr persönlich beipflichtet, aber diese Zustimmung verschweigt, um keine wunschverstärkende Wirkung zu riskieren oder ob er es – unabhängig von seinen eigenen Überzeugungen – schlicht als seine ärztliche Pflicht erachtet, der Patientin Optionen für ein Weiterleben aufzuzeigen. Damit ist aber die Kollision noch nicht vom Tisch, die in der Studie klar benannt wird: der direktive Überzeugungsversuch versus der Respekt vor der Patientenautonomie. Der anspruchsvollste Fall für eine ethische Analyse bestünde wohl in dem Arzt mit EXITMitgliedsausweis, der den Suizidwunsch seiner Patientin nicht nur respektiert, sondern auch teilt und dennoch versucht, sie von ihrem Entschluss abzubringen. Diese Konstellation fordert das dreistellige Standardmodell der Autonomie unbequem heraus. Handelt der Arzt gemäss seiner eigenen Überzeugungen oder folgt er einer heteronomen Moral, in Form medizinischethischer Richtlinien, sozial normierter Erwartungs-Erwartungen oder rein strategischen Motiven? Um dieser Frage nachzugehen muss sozusagen die Autonomie-Black Box geknackt werden. Gefordert sind Gründe, die den Arzt dazu gebracht haben, entgegen seiner eigenen Überzeugungen – und die der Patientin – zu handeln. Und wenn ihm kein erzwungenes oder zwanghaftes Verhalten attestiert werden soll, muss unterstellt werden, dass er aus freiem Entschluss und autonom handelte. Für eine Begründung kann auf eine, in der Philosophie und Bioethik intensiv diskutierte Differenzierung zurückgegriffen werden. Je nach Diskurs wird unterschieden zwischen «Wahl» und «Wohl» (Amartya Sen), «Volitionen erster und zweiter Stufe» (Harry Frankfurt) oder zwischen «Präferenzen und Wünschen erster Ordnung» und einem «Reflexionsvermögen zweiter Ordnung» (Gerald Dworkin). Die Pointe der Modelle besteht darin, dass sie eine interne Reflexionsprozedur annehmen, bei der ein Subjekt seine handlungsleitenden Präferenzen im Blick auf höherstufige Wünsche, Werte und Normen nicht nur überprüft, sondern auch anpassen und verändern kann. Die Theorien sind auch gegen einen behavioristischen Kurzschluss gerichtet, der von empirisch beobachtbaren Präferenzentscheidungen auf das übergeordnete Wohl, das eine Person anstrebt folgert. Autonom ist eine Person nicht, wenn sie tut, was sie will, sondern wenn sie auch will, was sie wollen will, wenn sie sich also auf der übergeordneten Stufe frei zu ihren Wünschen und Handlungsabsichten verhalten kann. Dabei kommt es nicht auf kognitive Begründungsstrukturen an, sondern auf die Fähigkeit, in ein evaluatives, identitätsbildendes Selbstverhältnis zu treten. Ungeachtet der Kontroversen um solche Stufenmodelle, stellen sie eine Möglichkeit bereit, die Hermetik des bioethischen Standardmodells von 17
Susanne Brauer/Christian Bolliger/Jean-Daniel Strub, Haltung der Ärzteschaft zur Suizidhilfe. Im Auftrag der SAMW, Zürich 30. September 2014, 109.
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Autonomie von innen heraus aufzubrechen. So könnte der Arzt etwa argumentieren, dass er zwar selbst über sein Lebensende bestimmen will und sich Situationen vorstellen kann, in denen er von der Option der Suizidhilfe Gebrauch machen würde. Aber zugleich – und nicht im Widerspruch dazu – entspricht es seinem Selbstverständnis, seinem Lebensgefühl und seiner «Treue zu sich selbst»18 aus Respekt und Achtung vor dem Leben, dieses möglichst zu schützen. Das wäre eine plausible Erklärung für die ärztliche Überzeugungs-Verhaltens-Diskrepanz, die – jedenfalls auf der theoretischen Grundlage des Stufenmodells – weder fremdbestimmt noch widersprüchlich sein muss, sondern als autonome und kohärente Entscheidung begründet werden kann. Nach wie vor ungelöst bleibt aber das Paternalismusproblem in dem Versuch des Arztes, die Patientin von ihrem Entschluss abzubringen. Hierfür bietet auch das internalistische Stufenmodell keine Lösung, weil es vollständig auf Selbstreflexion und nicht auf Diskurs setzt. Der Hinweis etwa, bei der Patientin läge unter Umständen eine analoge Willensabstufung vor wie bei dem Arzt, ist zwar denkbar, aber keine Antwort. Denn im Blick auf die Patientin zählt ausschliesslich, was sie selbst will und wählt. Um den Paternalismuseinwand zu enkräften sind sehr komplexe, voraussetzungsvolle theoretische Weichenstellungen nötig. Im Zentrum steht die Umstellung von einem internalistischen auf ein externalistisches Autonomiekonzept, also um den theoretischen Versuch, die hermetisch geschlossene Standardform von Autonomie von aussen zu knacken. Aus empirischer und entwicklungspsychologischer Sicht erscheint das naheliegend, denn Identität, Autonomie, Authentizität, Gewohnheiten und normative Überzeugungen sind nicht hausgemacht, sondern werden in komplexen Entwicklungs- und Sozialisationsprozessen im Geflecht hoch ausdifferenzierter Sozialbeziehungen herausgebildet. Entsprechend könne auch die Frage der Autonomie nicht unter Absehung der sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Umwelt behandelt werden. Aus kommunitaristischer Perspektive bemerkt Walter Reese-Schäfer «Die Autonomie liegt nicht im Individuum selbst, sondern in seiner Umgebung.»19 Und Joel Anderson fordert aus der Sicht eines relationalen Autonomieverständnisses: «da das Selbst oder die Identität autonomer Handlungssubjekte unvermeidbarer- und angemessenerweise durch deren Beziehungen zu anderen konstituiert wird, muss eine Theorie der Autonomie Formen der Lebensführung zulassen, in denen das, was man als Individuum will, untrennbar mit dem verbunden ist, was man etwa als Teil einer Gemeinschaft oder Partnerschaft will.»20 Folgerichtig findet sich in diesen und ähnlichen Ansätzen die antithetische Gegenüberstellung der Standardform von Autonomie versus Heteronomie bzw. Autonomie contra Paternalismus nicht mehr. Stattdessen rückt die zuvor vernachlässigte Frage ins Blickfeld, wie Entscheidungen und Handlungen von autonomen Subjekten überhaupt zustande kommen. Etwas zugespitzt geht es relationalen Autonomiekonzepten weniger um die Verteidigung der Autonomie der Person, als um die Befähigung bzw. Unterstützung zu einer autonomen Lebensweise. Damit kehrt der Begriff der moralischen Autonomie auf die bioethische Bühne zurück, der von der
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Monika Betzler, Einleitung: Begriff, Konzeptionen und Kontexte der Autonomie: dies. (Hg.), Autonomie der Person, Münster 2013, 7–36 (13). Walter Reese-Schäfer, Autonomie und Gemeinschaft: List/Stelzer (Hg.), Grenzen, a.a.O., 55–70 (69). Joel Anderson, Relationale Autonomie 2.0: Wiesemann/Simon (Hg.), Patientenautonomie, a.a.O., 61–75 (63).
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an empirischen Kriterien orientierten personalen Autonomie weitgehend überdeckt worden war.21 Relationale Autonomiekonzepte machen darüber hinaus noch ein zweites Problem der Standardform sichtbar. Ihre atomistische Sicht auf das einzelne Subjekt führte – gewollt oder nicht – zu einer signifikanten Entpolitisierung der Bioethik. Nur so wird verständlich, warum sich weitgehend unbemerkt in Gesundheitspolitik und Public Health paternalistische Strukturen – in der Diskussion wird in diesem Zusammenhang von einer «Anschub-Autonomie» (nudge paternalism) gesprochen – in Form von Prämien für gewünschtes Gesundheitsverhalten, moralisch zweifelhaft aufgerüsteten saluto correctness-Kampagnen, vorgegebenen Versorgungspfaden, feinmaschigen Kontrollsystemen etc. etablieren konnten. Im Rahmen solcher gesundheitspolitischen Entmündigungskampagnen wirft bezeichnenderweise niemand die Paternalismusfrage auf, ein Beleg für die politische Naivität und Kritikvergessenheit der etablierten bioethischen Standarddiskurse. Ebenfalls erst eine politikwissenschaftliche Analyse fördert ein weiteres grundsätzliches Problem personaler Autonomie ans Tageslicht. Ausgehend von der breit diskutierten Beobachtung von der Irrationalität von Entscheidungen unter Komplexitäts- und Intransparenzbedingungen, die ein Einfallstor für paternalistische Strategien darstellen, diagnostiziert Joel Anderson im Anschluss an Axel Honneth eine «hinterherhinkende Autonomieentwicklung» bzw. systemimmanente «Autonomielücken».22 Beide Philosophen begreifen Autonomie prozedural als Autonomisierungsprozesse, die alle Vorgänge betreffen, «durch die Individuen dazu befähigt werden, mit vorgegebenen Handlungsalternativen auf eine reflektierte, selbstbewusste Weise umzugehen; solche Prozesse lassen sich angemessen überhaupt nur in dem Masse beschreiben, in dem gefragt wird, ob ein Subjekt die institutionelle Erweiterung von individuellen Handlungsspielräumen auch als Chance für die eigene Selbstbestimmung wahrnimmt und zu nutzen weiss».23 Angesichts der permanenten Komplexitätssteigerung von Entscheidungssituationen halte die Autonomisierung nicht mit den analog wachsenden Anforderungen an die persönliche Entscheidungsfähigkeit mit. So entstünde eine notorische Diskrepanz zwischen «der Fähigkeit zur Entscheidung, die von der Politik, den institutionellen Arrangements und den gesellschaftlichen Praktiken vorausgesetzt wird, und der Fähigkeit, die die Menschen tatsächlich haben oder ausbilden können.»24 Die Folge seien Autonomielücken, die als ein relationales Scheitern
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So fordert Monika Bobbert, Keine Autonomie ohne Kompetenz und Fürsorge. Plädoyer für die Reflexion innerer und äusserer Voraussetzungen: Frank Mathwig/Torsten Meireis/Rouven Porz/Markus Zimmermann (Hg.), Macht der Fürsorge?: Moral und Macht im Kontext von Medizin und Pflege, Zürich 2015, 69–91 (77), Autonomiekonzepte, «die angesichts potentiell hinderlicher oder defizitärer äusserer Rahmenbedingungen Anspruchsrechte beinhalten, d. h. moralische Rechte auf Unterstützung bzw. Fürsorge». Joel Anderson, Autonomielücken als soziale Pathologie. Ideologiekritik jenseits des Paternalismus: Rainer Forst et al. (Hg.), Sozialphilosophie als Kritik, Frankfurt/M. 2009, 433–453; vgl. ders., Regimes of Autonomy: Ethic Theory Moral Prac 17/2014, 355–368. Axel Honneth, Aspekte der Individualisierung: ders., Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose, Frankfurt/M. 1994, 20–28 (25). Anderson, Autonomielücken, a.a.O., 447. Der Philosoph unterscheidet dabei zwischen deliberativen Fähigkeiten, um die relativen Vor- und Nachteile möglicher Handlungsstrategien und deren Wahrscheinlichkeiten und Risiken einsehen und abwägen zu können und der Fähigkeit, etwas umzusetzen, «nämlich nicht nur der Versuchung zu widerstehen, kurzfristige Vorzüge übermässig in den Vordergrund zu stellen, sondern auch, sich überhaupt die Mühe zu machen, erst einmal aktiv Entscheidungen zu treffen» (ebd., 448).
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an komplexen Entscheidungen beschrieben werden können. Die Relationalität besteht zwischen den beiden parallel fortlaufenden Prozessen gesellschaftlicher Entscheidungszumutungen und persönlichen Entscheidungsfähigkeiten und das Scheitern zeigt sich in der ständigen Produktion irrationaler Entscheidungen.
Ereignis
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d
e
Entscheidungssituationen Entscheidungsanforderung Kompetenz h'
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b'
c'
d' e' Autonomielücke
4. Die politische Kontextualisierung der Bioethik als Einsamkeitstherapie Dem Paternalismusverdacht im Verhalten des Arztes gegenüber seiner suizidwilligen Patientin ist nicht so leicht beizukommen. Natürlich müsste die Frage viel grundsätzlicher angegangen werden, etwa in der Weise, auch die antipaternalistischen Affekte einer bioethischen Autonomierhetorik kritisch unter die Lupe zu nehmen oder im Blick auf die paternalistischen Strategien einer Gesundheitspolitik, in der die institutionelle Bioethik strukturell eingebunden ist. Unabhängig von solch unbequemen Fragen sollten die Bemerkungen aber – hoffentlich – dreierlei deutlich gemacht haben: 1. Wenn Respekt vor der Autonomie der Person nicht nur als formale Abwehrnorm konzipiert werden soll, um am Ende auch das Wohltuens- bzw. Fürsorgeprinzip in Schach zu halten, dann müssen solche Normenkonflikte als ethische Kollision zwischen gleichrangigen bioethischen Prinzipien behandelt werden. 2. Wenn wir anerkennen, dass es ausserhalb des engen Fokus der biomedizinischen Autonomieoptik Paternalismusprobleme gibt, dann muss die Forderung des Respekts vor der Autonomie der Person auch als gesellschaftspolitische Herausforderung ernstgenommen werden. 3. Wenn die beiden eben genannten Punkte auch als bioethische Desiderata erkannt werden, kommt deren Aufarbeitung nicht um Theorien des Guten als notwendige Ergänzungen zum Autonomieprinzip herum. Daneben wäre die Rückbesinnung auf die Frage nach dem Guten auch eine aussichtsreiche Therapie gegen mögliche Einsamkeitsgefühle als Nebenwirkungen der bioethischen Standardform des Autonomieprinzips.
___________________ Bern, 2. Juli 2015 Prof. Dr. Frank Mathwig
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