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Arbela Statovci
Passerelle 2011
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Die Schweiz in der Belastungsprobe von Kriegen und Krisen 1914-1948 Die Schweiz war 1914 auf einen Krieg von längerer Dauer nicht vorbereitet. Mobilmachung und Grenzbesetzung verliefen zwar erfolgreich und der militärische Schutz der Neutralität tat seine Wirkung; aber alle Massnahmen erfolgten unter der irrigen Annahme, der Krieg würde nach wenigen Monaten mit einem deutschen Sieg zu Ende gehen. Diese Einstellung belastet das Verhältnis zwischen Deutschschweiz und die Romandie. Infolge der rein militärisch interpretierten Neutralitätspolitik genossen regimekritische Emigranten großen Meinungsfreiheit (Lenin, Dada). Sondierungen von Bundesrat Hoffmann und Robert Grimm für einen deutsch-russischen Separatfrieden lösten eine schwere Krise aus, die durch den Rücktritt Hoffmanns und die Wahl eines Genfers in den Bundesrat überwunden wurde. Zu Beginn des Krieges fehlten wirtschaftspolitische Massnahmen wie Bereitstellung und Rationierung von Lebensmitteln sowie Einkommenssicherung für die Familien der Wehrmänner. Die oppositionelle Sozialdemokratie hatte sich im Zeichen des Burgfriedens gefügt; während der vier Kriegsjahre wuchs jedoch die Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft wie auch unter den festbesoldeten Angestellten. Im Sommer 1918 schien eine Sanierung der Verhältnisse aussichtslos: Einerseits herrschte Revolutionsfurcht sowie Mangel an Geldmitteln auf Seiten der Gewerkschaften un der Sozialdemokratie wo der Erfolg der russischen Oktoberrevolution den marxistisch-revolutionären Flügel stärkte. Bei Kriegsende kam es infolge der ungelösten sozialen Probleme zu einer Reihe von Proteststreiks; diese steigerten sich zu einem ursprünglich nicht geplanten Landes-Generalsstreik, weil der überraschende Zusammenbruch der Monarchie in Deutschland den revolutionär-marxistischen Flügel der Arbeiterschaft zur Hoffnung auf einen grenzüberschreitenden Erfolg der Arbeiter- und Soldatenräte verleitet hatte. Die Schweiz war jedoch keineswegs revolutionsreif und der vom Militär unterstützte geschlossene Widerstand der bäuerlichbürgerlichen Mehrheit in den Behörden bewirkte bereits nach zwei Tagen den Abbruch des Streiks. Die organisierte Arbeiterschaft war nun erst recht politisch isoliert. Die Berechtigung sozialpolitischer Forderungen wurde nicht grundsätzlich bestritten, aber im Bürgertum verstärkte sich eine konservative und undifferenziert antisozialistische Einstellung.
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Die Friedensordnung von 1919, speziell der Vertrag von Versailles mit seiner einseitigen Verurteilung und Belastung Deutschlands, stiess in der Schweiz auf wenig Sympathie. Beitritt zum Völkerbund wurde trotzdem von den Stimmbürgern gebilligt, weil der Neutralitätsvorbehalt ausdrücklich Anerkennung fand. Die Position der Schweiz verbesserte sich durch die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund kurzfristig, bis das Reich im Oktober 1933 unter Hitler wieder austrat. Frankreich beseitigte widerrechtlich die zollfreien Zonen um Genf; ein internationaler Schiedsspruch half der Schweiz, wenigstens die Form zu wahren. Das Fürstentum Lichtenstein fand nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches rasch den Weg zur Anlehnung an seinen westlichen Nachbarn, wogegen das Interesse der Vorarlberger an einem Beitritt zur Eidgenossenschaft sofort gedämpft wurde. Der Übergang von den Mehrheitswahl zum Verfahren der proportionalen Sitzzuteilung beendete 1919 die siebenjährige Vorherrschaft der Freisinnigen im Nationalrat. Ein Teil ihrer Wähler für die Liste der neu gegründeten Bauern- und Bürgerpartei ( heute SVP ). Die KatholischKonservativen hielten ihre Stellung, während die Sozialdemokraten erst jetzt überhaupt zu einer angemessenen Zahl von Sitzen gelangten. Entsprechend musste sich in der Folge die Zusammensetzung des Bundesrates verändern. Die Linke blieb dabei aber noch lange ausgeschlossen, obwohl sich ihre Basis gegen den revolutionären Extremismus ausgesprochen hatte. In der Sozialpolitik stimmte das Volk dem Verfassungsartikel für eine staatliche Altersversicherung zu, doch fand das Ausführungsgesetz noch keine Mehrheit. Die Gesetzgebung über die neuen Verkehrs- und Kommunikationsmittel erfolgte dagegen ohne Behinderung durch Referendumsabstimmungen. Die Weltwirtschaftskrise, die im Herbst 1929 durch den New Yorker Börsencrash ausgelöst wurde, führte in den meisten Ländern zu Kreditverknappung, Ausbleiben von Investitionen, Preiszerfall, Arbeitslosigkeit und Konkursen. Der Welthandel schrumpfte auf einen Bruchteil, u.a. auch infolge von Importbeschränkungen. Die Schweiz wurde dank guter Binnenkonjuktur mit Verzögerung getroffen, dafür zog sich hier die Krise in die Länge. Erst die Frankenabwertung und Rüstungsaufträge brachten im Herbst 1936 die Exportindustrie wieder in Schwung. Auch in der Schweiz fanden die autoritär-nationalistischen ideologien ( Faschismus, Nationalsozoalismus ) ihre Anhänger. Angeregt durch den Aufstieg Hitlers traten sie als ’’ Fronten ’’ hervor, doch hatten sie und die ihnen nahe stehenden Erneuerungsbewegungen trotz z. T. lärmiger Propaganda kaum Chancen auf Erfolg. Demokratie und Föderalismus
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waren zu stark in Traditionen verankert. Die nicht-sozialistische Opposition fand ein systemkonformes Sammelbecken im Landesring der Unabhängigen von Gottlieb Duttweiler. Im Gegenzug zum Auftreten der Fronten begann Mitte der Dreissiger Jahre mit der Ent-Radiklaisierung der Sozialdemokratie und dem Friedensabkommen der Sozialpartner in der Metallindustrie die Annäherung zwischen der demokratischen Arbeiterbewegung und dem Bürgertum im Zeichen des Widerstandes gegen die Diktaturen. Die erfolgreiche Landesausstellung vom 1939 in ZH war eine Manifestation dieses nationalen Zusammenschlusses und damit ein Akt der geistigen Landesverteilung. Die aggressive Aussenpolitik der benachbarten Diktaturen erhöhre für die Schweiz das Risiko eines Konflikts. Die beschränkten Mittel rieten zu Vorsicht, darum entzog sich die Schweiz den Sanktionsverpflichtungen des Völkerbundes. Gleichzeitig verstärkte sie die militärische Rüstung. Für eine künftige Kriegswirtschaft wurden Massnahmen zur Produktionssteigerung der Landwirtschaft sowie für eine Rationierung der Lebensmittel und die Einkommenssicherung der Familien von Wehrmännern vorbereitet. Bei Kriegsbeginn war bereits Henri Guisan zum General gewählt und der Zustand des Aktivdienstes erklärt. Die Schweiz zeigte sich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nach erfolgreicher Mobilmachung kriegsbereit aber die rasche Niederlage Frankreichs im Blitzkrieg führte zu tiefer Verunsicherung. General Henri Guisan vermittelte neue Zuversicht mit seinem Verteidigungsplan der Alpenfestung ( Reduit ) mit den Nord-Süd-Verbindungen als Fauspfand. Hitler selber war an der Schweiz weniger interessiert. Nach der Wende des Krieges und nach dem Sieg der Alliierten erwies sich die opportunistische Neutralität als Belastung. Der Bundesrat regierte relativ autoritär per Notrecht, d.h., seine Beschlüsse traten sofort in Kraft, aber das Parlament musste nachträglich zustimmen, damit sie in Kraft bleiben. Stärker als die Mitglieder des Bundesrates trat General Guisan in der Öffentlichkeit auf und wurde zu einer nationalen Symbolfigur des Durchhaltewillens. Die Massnahmen des Bundes enthielten Elemente der Anpassung an Deutschland wie auch Elemente des Widerstands. Nazifreundliche Organisationen von Schweizern wurden verboten, Landesverräter erschossen. Gegenüber deutschen Nazis in der Schweiz übte der Bundesrat jedoch eine Methode der kontrollierten Duldung. Eine Gesinnungsneutralität gab es nicht; fast die ganze Bevölkerung
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wünschte den Sieg der Alliierten. Um Hitler keinen Vorwand für eine Intervention zu liefern, wurden die Medien kontrolliert, die Presse jedoch ohne Vorzensur. Die Wahrung der Unabhängigkeit erforderte eine weitgehende Selbstversorgung mit Lebensmitteln, ferner so weit als möglich mit Rohstoffen und Energie. Der Plan Wahlen bewirkte den Mehranbau von Kartoffeln, Gemüse und Getreide. Für eine gerechte Verteilung sorgten das System der Rationierungsmarken sowie Preiskontrollen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland war die einzige Möglichkeit zur Beschaffung der für Industrie und Privathaushalte lebensnotwenigen Steinkohle. Die Einfuhr von Getreide aus Übersee war trotz Blockaden zeitweise möglich dank einem beschränkten Handelsverkehr auf eigenen Hochseeschiffen. Die Schweiz nahm schon bei Kriegsbeginn keine illegal einreisenden Flüchtlinge ( meistens Juden ) auf. Im Landesinneren aufgegriffene wurden interniert. Im August 1942 wurden die Grenzen völlig abgeriegelt, illegal Eingereiste trotz Gefährdung an Leib und Leben ausgeschafft. Diese im Lande selber heftig kritisierte Praxis erfolgte ohne Druck Hitlers, sondern weil der Bundesrat und ein Teil der Bevölkerung der Meinung war, das Boot sei voll. Nach 1945 war die Meinung verbreitet, die Schweiz sei nur wegen der Bereitschaft zum Widerstand vom Krieg verschont worden. Damit verband sich die Igel- Mentalität. Hitler wollte aber die Schweiz nicht erobern. Er brauchte die wirtschaftliche Zusammenarbeit und hatte darum ein Interesse daran, dass das Land unzerstört blieb. Die Bereitschaft zum Widerstand erzeugte das Risiko der Zerstörung, das Hitler vermeiden musste. Einzig im Juni 1940 bestand für kurze Zeit die Möglichkeit eines schnellen Überfalls. Die Zeit der Bedrohung und die sechs Jahre Kriegszeit brachten wichtige Veränderungen: Die Armee war erstmals seit dem Neuenburger Konflikt wieder im gesamten Volk akzeptiert. Die Altersversicherung war in Griffnähe ebenso der Schutz der Bauern. Die Frauen meldeten ihre Forderungen an. Die Zukunft der Wirtschaft war gesichert. Die fragwürdige Flüchtlingspolitik der ersten Kriegsjahre wurde hingegen verdrängt. Das Vollmachtenregime des Bundesrates, der Zustand des Aktivdienstes und das Kommando des Generals gingen im August 1945 zu Ende. Allzu
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eifrige deutsche Nationalsozialisten wurden ausgewiesen und schweizerische Hitler-Sympathisanten moralisch verurteilt. Die Schweiz hatte den Sieg der Alliierten gewünscht, aber dafür nichts bezahlt. Sie sah sich 1945 entsprechend isoliert. Am Bundesrat und seinen Diplomaten war es, die Rechnung zu begleichen; Im Washingtoner Abkommen von 1946 musste die Schweiz auf den grössten Teil der von Deutschen Reich geschuldeten Kredil-Milliarde verzichten. Die siegreiche Sowjetunion forderte Rücktritt von Bundesrat Pilet-Golaz als Vorbedingung für die Aufnahme von Beziehungen. Der neue Aussenminister Petitipierre band die Neutralität an die Solidarität. Der Beitritt zur Organisation der Vereinten Nationen unterblieb jedoch wegen unüberwindlicher Neutralitätsbedenken. Im Kalten Krieg ab 1947 nahm die öffentliche Meinung Partei für den Westen, mit dem die Schweiz ohnehin wirtschaftlich eng verflochten war. Die gegenüber dem Hitler-Reich aufgebaute Defensivhaltung liess sich als Kampf dem Totalitarismus gleich auf die stalinistische Sowjetunion übertragen. Unter dieser Konstellation litt freilich die Bereinigung von Verpflichtungen aus dem Krieg.