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KULTUR REGION
Südostschweiz | Freitag, 2. Dezember 2016
Die Singschule Chur ist auf dem Weg zum Matterhorn
Ein Abend im Zeichen der Barockmusik
Am kommenden Wochenende führt die Singschule Chur die Messe in h-Moll von Johann Sebastian Bach auf. Ein Probenbesuch zeigt, dass man sich bestens auf dieses grosse Werk der Musikgeschichte vorbereitet hat. von Sebastian Kirsch
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ohann Sebastian Bachs h-Moll-Messe gehört zu seinen grössten und ambitioniertesten Werken überhaupt. Sie hat den Komponisten über zwei Jahrzehnte beschäftigt: angefangen vom «Sanctus» (1724) über die «Missa» von 1733 bis zu den ergänzenden Ordinariumssätzen aus den letzten Lebensjahren. Damit bildet das Werk in seinem Formenreichtum an Arien, Duetten sowie konzertanten und fugierten Chören eine Essenz seines profunden Könnens und persönlichen Stils. Es sei das «grösste musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker» – so enthusiastisch äusserte sich im Jahre 1818 der erste Herausgeber Hans Georg Nägeli aus Zürich. Es ist aber zugleich eines der anspruchsvollsten chorsinfonischen Werke überhaupt und stellt nicht nur den Chor und die Instrumentalisten, sondern auch die fünf Solisten vor grosse Herausforderungen. Ganz abgesehen vom Dirigenten, der bei einem Werk dieser Grösse nicht nur den Taktstock bewegen darf, sondern mit seiner ganzen körperlichen Präsenz die Führung übernehmen muss. Jürg Kerle, der Leiter der Singschule Chur, wagt sich nun nach zweijähriger Vorbereitungszeit mit dem Cantus-Chor, dem Freien Chor sowie dem Jugendensemble II der Singschule, dieses Werk zu stemmen. Es sei, wie den Parnass oder das Matterhorn zu besteigen, so seine Aussagen noch vor Probenbeginn. Ein Vorhaben also, welches neben den körperlichen und musikalischen Voraussetzungen auch Mut, Zuversicht, Improvisationsvermögen, Ausdauer und Willenskraft voraussetzt. Vom Basislager… Ein Besuch der Hauptprobe am Mittwoch macht deutlich, dass man sich im Basislager sehr gut auf den bevorstehenden Aufstieg vorbereitet hat. Der Chor ist bestens eingestimmt und scheint regelrecht losstürmen zu wollen. Doch ein Stromausfall auf der Strecke Zürich–Chur sorgt dafür, dass zur angesetzten Probenzeit nur die Hälfte
Der letzte Schliff: Die Kammerphilharmonie Graubünden probt mit der Singschule Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe. der Orchestermitglieder auf ihren Plätzen ist. Doch auch das gehört zu einer guten Vorbereitung, dass man auf Unvorhergesehenes richtig reagieren kann: Die Kunst des Improvisierens wird Musikerinnen und Musikern von klein an gelehrt. …ins Höhenlager Allerdings wurde deutlich, dass man im Höhenlager mit neuen Herausforderungen zu kämpfen hat. Erstmals wurde in der St.Martinskirche gemeinsam geprobt und hier zeigte sich, dass sich die Akustik im Gotteshaus von der in den Proberäumen deutlich unterscheidet. Besonders der Hall und die damit einhergehenden Verzögerungen sorgen dafür, dass Chor und Orchester an manchen Stellen nicht zusammen sind. In aller Ruhe nimmt sich Kerle dieser Differenzen an, wiederholt einzelne Passagen, lässt das Orchester allein spielen, damit sich der Chor an die
Akustik gewöhnt. Schnell sind zwei Stunden Probezeit vorbei und der Weg zum Höhenlager II, zur Generalprobe vom heutigen Freitag, scheint noch weit. Doch auch das bringt den Expeditionsleiter nicht aus der Ruhe. Seine Erfahrung, seine umfassende Auseinandersetzung mit dem Werk und den gefährlichen Schlüsselstellen schränken zum jetzigen Zeitpunkt zwar seine Interpretationsmöglichkeiten ein, aber geben den Expeditions-
Schnell sind zwei Stunden Probezeit vorbei und der Weg zum Höhenlager II, zur Generalprobe vom heutigen Freitag, scheint noch weit.
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Bild Olivia Item
mitgliedern Sicherheit. Für heute ist der Weg das Ziel. Gefahrlose Expedition Mit der Kammerphilharmonie Graubünden hat Kerle ein Profiorchester engagiert, welches den notwendigen Halt gibt, auf welches auch bei stürmischen Verhältnissen Verlass ist. Bereitwillig stellen sich die Musiker auf die Gegebenheiten ein, versuchen den Chor mitzuziehen, ohne das Tempo zu forcieren. Und über all der Probenarbeit erwacht immer wieder die unglaubliche Kraft, die sich aus der Musik von Bach entfaltet. Morgen Samstag dürfte das Ziel erreicht werden. Das Publikum darf sich gefahrlos dieser aussergewöhnlichen Expedition anschliessen. Singschule Chur, Johann Sebastian Bach, h-Moll-Messe: Samstag, 3. Dezember, 19.30 Uhr, Sonntag, 4. Dezember, 17 Uhr. St. Martinskirche, Chur.
Das Orchester Le phénix konzertiert am Sonntag, 4. Dezember, um 17 Uhr zusammen mit den beiden niederländischen Trompetern Bruno Fernandes und Nicolas Isabelle in der Erlöserkirche in Chur. Die beiden in Amsterdam lebenden Trompeter und die Musiker des Orchesters Le phénix sind laut Mitteilung ein eingespieltes Team: In unzähligen gemeinsamen Konzerten haben sie grosse Werke aus Barock und Klassik aufgeführt. Nun stehen die beiden Blechbläser als Solisten mit einem glanzvollen Programm vor Kollegen und Publikum. Zu hören sind Trompetenkonzerte von Vivaldi, Franceschini und Telemann, aber auch Werke wie die Ouvertüre von Johann Bernhard Bach, einem Cousin Johann Sebastian Bachs. Von seinen Orchesterwerken sind leider nur seine vier Ouvertüren erhalten, die aber eine Entdeckung wert sind. Genauso Henry Purcells BonducaSuite, die englische Variante der barocken Tanzmusik. Als Gegenpol zu den barocken Klängen erklingt das «Konzert im alten Stil» des Bündner Komponisten Gion Antoni Derungs, das neue Klänge in barocker Form präsentiert. Reservation unter der Telefonnummer 076 506 36 18. (so)
Lenzerheide eröffnet mit Ska und Rock Die Saisoneröffnung in Lenzerheide/ Valbella wird mit zwei Konzertnächten im Zirkuszelt beim Parkplatz Fadail gefeiert. Das Programm hat der Churer Konzertveranstalter Mike Muzarelli zusammengestellt. Heute Freitag, 2.Dezember, treten um 20 Uhr die Schweizer Rock’n’Roll-Band Dögz und um 23Uhr die New Yorker Ska-Band The Toaster auf. Letztere wurde 1981 gegründet und gilt als dienstälteste und einflussreichste Ska-Formation der USA. Abgerundet wird der Abend von DJ John Doe. Morgen Samstag, 3.Dezember, wird eben dieser John Doe die Nacht um 20 Uhr eröffnen und später wieder beschliessen. Dazwischen treten die einheimischen Coverbands Sala und Audio Dogs auf, bevor dann die legendären Tite Stone die Bühne rocken. (so)
«Die Zeichnung ist die Grundlage von allem» Der Giacometti-Sammler Carlos Gross hat begleitend zu seiner permanenten Ausstellung in Sent eine Publikation herausgegeben. von Mathias Balzer Im vergangenen Sommer hat Carlos Gross als Hauptleihgeber eine einzigartige Ausstellung zu Alberto Giacometti in der Chesa Planta in Samedan ermöglicht. Der Sammler des druckgrafischen Werks Giacomettis stellte dort neben Zeichnungen und Lithografien auch seine Sammlung von Kunstbüchern mit Arbeiten Giacomettis vor. Der aus Basel stammende Gross hat sich 2012 einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Er wollte seine umfassende Sammlung des druckgrafischen Werks Giacomettis in einem Gasthaus oder Hotel der Öffentlichkeit zugänglich machen. Dazu suchte er vorzugsweise einen Ort nahe von Stampa, der Heimat der Giacomettis. Fündig wurde er im Hotel «Rezia» in Sent. Gross liess dieses vom Architekten Duri Vital umbauen und eröffnete zu Weihnachten 2012 das Haus
unter dem Namen «Pensiun Aldier» neu. Aldier ist übrigens eine Wortschöpfung aus den Namen Alberto und Diego (Giacometti) und Ernst (Scheidegger). Von Letzterem, dem bedeutenden Fotografen und Verleger, präsentiert Gross in seiner Pension eine stattliche Anzahl Bilder, die Scheidegger von Giacometti gemacht hat. Dies und weitere Details zur Entstehung der in Sent präsentierten, einzigartigen Sammlung sind nun in der Publikation «Alberto Giacometti – Druckgrafik. Die öffentliche Sammlung Gross in Sent» nachzulesen. Sammlung mit seltenen Blättern Das schön gestaltete Buch bietet dank des Sammlergeschicks von Gross erstmals Übersicht über einen wichtigen Teil von Giacomettis Schaffen. Rund 100 Exponate, Lithografien und Zeichnungen, darunter sehr seltene Blätter, sind darin versammelt. Zudem sind
Ausschnitte aus den Livres Illustrés, aus Portfolios, Zeitschriften und Büchern abgedruckt, inklusive eines Verzeichnisses. Ebenso veröffentlicht Gross ein Verzeichnis seiner Sammlung von Druckgrafiken Giacomettis. Das Herzstück des Werks Neben einem Text von Gross selbst ist ein Beitrag der Kunsthistorikerin Monique Meyer abgedruckt. Sie ordnet die Druckgrafik und die Zeichnungen in das Gesamtwerk von Giacometti ein. Laut Meyer kann das Zeichnen durchaus als Herzstück des Schaffens von Giacometti gesehen werden. «Giacomettis Arbeiten auf Papier sind vielleicht persönlicher, direkter und unmittelbarer als seine Skulpturen und Gemälde», schreibt sie. «Sie geben uns einen tieferen Einblick in das Wesen seines künstlerischen Kosmos.» In Sent: Carlos Gross’ Sammlung gibt es nun Dabei stützt sich Meyer unter andePressebild rem auf eine viel zitierte Aussage, die auch in Buchform.
Giacometti gegenüber dem Kunstpublizisten Reinhold Hohl gemacht hat: «Man muss sich allein und ausschliesslich an das Zeichnen halten. Wenn man das Zeichnen beherrschen würde, dann würde alles Übrige möglich. Die Zeichnung ist die Grundlage von allem.» In der berühmten Serie «Paris sans fin» unterwarf sich Giacometti den Bedingungen der Lithografie, die im Gegensatz zur Zeichnung keine Korrekturen zulässt. Sie forderte vom Künstler den spontanen, einmaligen Strich ohne Verbesserungsmöglichkeiten. Um sich dem zeichnerischen Kosmos Giacomettis annähern zu können, gibt es als Möglichkeit nun diese Publikation – oder es lockt die Reise nach Sent, um die Blätter im Original zu sehen. «Alberto Giacometti – Druckgrafik. Die öffentliche Sammlung Gross in Sent». Scheidegger & Spiess. 156 Seiten. 49 Franken.