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Die Zwangsstörung
Georg Juckel LWL-Universitätsklinik Bochum der Ruhr-Universität Psychiatrie – Psychotherapie – Psychosomatik Präventivmedizin
Eine Zwangsstörung liegt vor, wenn wiederholt Zwangsgedanken, Zwangsimpulse und/oder Zwangshandlungen auftreten. • Unter der Bezeichnung Zwangsgedanken werden Gedanken, Vorstellungen und Impulse verstanden, die sich dem Menschen gegen seinen Willen aufdrängen und gegen deren Auftreten er sich vergebens wehrt, bzw. oft selber als unsinnig erkennt. • Zwangshandlungen sind häufig ritualisierte, z.T. stereotyp anmutende Handlungen, deren Nichtausführung dem Betroffenen subjektiv oft wider besseren Wissens in der Regel nicht oder nur sehr schwer möglich ist. Kann eine Zwangshandlung nicht ausgeführt werden, führt dies zu einem Anstieg von Anspannung und Angst.
Zwangsgedanken („obsessions“) • Zwanghafter Zweifel • Zwanghaftes Denken • Zwangsbilder • Zwangsimpulse • Zwangsbefürchtungen
Beispiele: Ich habe mich auf der Toilette mit Kot beschmutzt oder mit AIDS angesteckt. Ich habe den Herd angelassen. Ich habe bestimmt einen Fehler gemacht.Wenn ich auf die Ecke eines Pflastersteins trete, wird jemand sterben. Ich werde mein Kind töten. Ich werde in der Öffentlichkeit masturbieren. Folge: Vermeidungsverhalten (Toiletten, gepflasterte Wege, etc.)
Zwangshandlungen („compulsions“) sind formal alle zwangsgerichteten Handlungen, die entweder eine Ausführung von Zwangsvorstellungen oder aber eine ritualisierte Kontrolle hiergegen beinhalten. Werden Zwangshandlungen unterdrückt, entsteht meist Angst als dominante Affektlage. Die häufigsten Zwangshandlungen sind Kontrollieren, Waschen, Zählen, Wiederholen, Ausrichten von Gegenständen und Horten.
Inhaltliche Dimension Inhärente Verbindung von Zwang zu einer als bedroht erlebten persönlichen, moralischen und sozialen Werteordnung (kontaminierendem Schmutz, unkalkulierbarer Gefahr, erschreckender Sexualität, moralische Standards, gesellschaftliche Normen und religiöse Gebote): Zusammenhang zu sozialisatorischen und kulturellen Einflüssen ? Gewissensinstanz, Elternidentifikation ?
Motorische Störungen Tics, Stereotypien, Grimassieren, etc.
Epidemiologie: 6-Monate-Prävalenz: 1-2% (Vierthäufigste psychiatrische Erkrankung hinter Phobien, Substanzabhängigkeit/-mißbrauch und Major Depression, doppelt so hohe Prävalenz wie Panikstörung und Schizophrenie) Geschlechterverteilung: weiblich = männlich
Die Komorbidität für fast alle psychischen Störungen ist erhöht, v.a. für affektive Störungen und Angststörungen, PS, aber auch Eßstörungen, dysmorphophobe Störungen usw.
Verlauf und Prognose I • Beginn meist im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter (seltener im Kindesalter), im Mittel ca. 25 Jahre (früher bei Männern)
• 1/3 hat eine Zwangsstörung bereits im Alter von 15 Jahren, 3/4 sind bis zum Alter von 30 Jahren erkrankt. • Erkrankungsbeginn meist langsam progredient über Jahre, oft ohne vorhergehende Belastung oder auslösendes Ereignis. • Der Schweregrad der Symptomatik nimmt im Laufe der Jahre meist zu. Bis zu Auffälligkeiten, die zur Behandlung führen, vergehen oft viele Jahre. („HEIMLICHE KRANKHEIT“) • Ohne wirksame Therapiemaßnahmen ca. 2/3 der Fälle chronischen, progredienten Verlauf (etwa 15% mit massiven Beeinträchtigungen) und etwa 1/3 einen fluktuierenden Verlauf mit Exazerbationen bei „Streß“
Verlauf und Prognose II • Unter medikamentöser und verhaltenstherapeutischer Behandlung
ist eine Besserung der Symptomatik und des Verlaufs in 50-70% der Fälle zu erwarten, häufig wird dabei aber keine vollständige Symptomfreiheit erreicht. • Mit einer schlechten Prognose sind verbunden: - früher Krankheitsbeginn - zusätzliche Persönlichkeitsstörung • Bei leichteren Formen der Störung können nahezu normale Sozialbeziehungen unterhalten werden, schwere Formen führen zur vollständigen Invalidität.
Psychosoziale Belastung der Zwangsstörung
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WHO-Study: Global Burden of Disease (Murray und Lewis 1997)
12000
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6000
4000
* *
2000
0
Murray und Lopez, 1997
Ätiopathogenese der Zwangsstörung
Multifaktoriell:
Genetische, psychologische und neurobiologische Erklärungsansätze
Zwangssymptome
nach Schädel-Hirn-Traumata (Kant et al., 1996) nach fokalen Hirnläsionen nach entzündliche Hirnerkrankungen (Economo Enzephalitis, Schilder 1938) nach entzündlich-immunologischen Hirnerkrankungen (Chorea minor Sydenham) (Osler, 1894; Swedo et al., 1998) bei genetischer Belastung ? (Rasmussen, 1994) nach Geburtskomplikationen ? (Douglas et al., 1995)
Genetik: Höhere Prävalenzraten bei Verwandten 1. Grades (bis zu 8 % bei Eltern und 7 % bei Geschwistern von Patienten mit Zwangsstörung) Höhere Konkordanz bei monozygoten Zwillingen (87 %) als bei dizygoten Zwillingen (47 %)
Insgesamt wird postuliert, daß eine Vulnerabilität für zwanghafte Persönlichkeitsmerkmale oder einen allgemeinen Neurotizismus vererbt wird, weniger daß die Zwangsstörung direkt vererbt wird.
Entzündlich-immunologische Pathogenese
Osler (1894): perseverierendes Verhalten bei Patienten mit Chorea Sydenham Basalganglien bei Chorea Sydenham betroffen (z.B. striataler Hypermetabolismus, Goldman et al., 1993; antineurale Antikörper, Swedo, 1994) Verlaufsstudien bei Kindern mit Chorea Sydenham: * Zwangssymptome während oder kurz vor Erkrankung bei 75% * episodischer Verlauf mit abruptem Beginn in Verbindung mit Streptokokken-Infektion Swedo et al. (1988): Bericht über 50 erkrankte Kinder mit deutlichen Hinweisen auf Zusammenhang zwischen Streptokokken-Infektion (positiver Rachenabstrich) und Symptom-Exazerbation
PANDAS (pediatric autoimmune neuropsychiatric disorder associated with streptococcal infection): Chorea Sydenham
pathogenes Agens
+
Immunantwort
Disposition (z.B. Genetik, Alter, Geschlecht)
oder
PANDAS
Pathogenese von Tic und Zwang bei Kindern (PANDAS): Post-Streptokokken Autoimmunprozeß
Tourette-Patienten: erhöhte Antiköper gegen Streptokokken-Antigen
Müller et al. 2000, 2001
Bei Zwangsstörung selbst ?
Neuroanatomisches Hypothese I Häufiges Vorkommen von Zwangssymptomen bei einer Vielzahl von neurologischen Erkrankungen v.a. der Basalganglien M. Parkinson, Enzephalitis lethargica, bilateraler Nekrose des Nc. Pallidum, Chorea Sydenham oder degenerativer Erkrankungen des Frontallappens mit sekundärer Atrophie der Nc. caudati legen einen Zusammenhang zwischen Zwangsstörung und Dysfunktion dieser Hirnstrukturen nahe.
Neuroanatomisches Hypothese II Dysfunktionalität des orbitofrontal-subkortikalen Schaltkreises (orbitofrontalen Kortex, Nc. caudatus, Globus pallidus und Thalamus): Verringerten Hemmung des Thalamus durch den Globus pallidus mit einer resultierenden verstärkten thalamokortikalen Erregung, Folge: Überaktivität v.a. im orbitofrontalen Kortex
Als primäre Ursache hierfür wird eine verringerte modulatorische Aktivität der Basalganglien diskutiert.
Sturm-Hypothese: Amygdala - N. accumbens
Stützende Befunde: Erhöhter Blutfluß (SPECT) oder Glukosemetabolismus (PET) im orbitofrontalen Kortex (90% der Studien, Hoehn-Saric und Benkelfat 1994, Saxena und Rauch 2000) Zunahme der orbitofrontalen Aktivität bei Symptomprovokation (Rauch et al. 1994, Cottraux et al. 1996); Abnahme der Aktivität nach erfolgreicher Pharmakotherapie (Micallef und Blin 2001) oder Verhaltenstherapie (Schwartz 1998) Dysfunktion (erhöhte oder erniedrigte Aktivität) im Bereich des Striatum und Pallidums (Baxter et al. 1992, Schwartz et al. 1996, Baxter 2003)
FDG-PET
SPECT
Saxena et al. 2002: Abnahme orbitofrontal nach Paroxetin
PET
Serotonin-Hypothese der Zwangsstörung
Serotonergic dys-/hypofunction in OCD • Effects of SSRI and clomipramine (strongest support, no
effect of noradrenergic or dopaminergic agents)
• Peripheral serotonergic markers (5-HIAA in CSF, 5-HT in blood) • Stimulation tests with fenfluramine and m-CPP
Conclusion: Inconsistent results of the studies
Tonisch modulierendes Homöostase-System des Organismus
SERT-Imaging Serotonintransporter
5HT-Autorezeptoren (somatodendritisch: 5HT1A)
Terminale Synapse
β-CIT 5HT-Neuron (Raphe-Kerne)
5HT-Rezeptoren (postsynaptisch: 5HT 1,2,3...)
Blockade of serotonin transporters by endogenous serotonin Radioligand
endogenes 5-HT high
Radioligand endogenes 5-HT low
[123I] -CIT-SPECT: OCD vs. Healthy Controls p 0.006
3,0
ß-CIT-brainstem-occ-ratio
2,8
2,6
2,4
2,2
2,0
1,8
1,6
1,4
OCD
HC
Pogarell, Juckel et al. 2003
Early vs. late onset OCD vs. Healthy Controls p <0.001 p 0.03
3,0
β-CIT-brainstem-occ-ratio
2,8
p 0.53 2,6
2,4
2,2
2,0
1,8
1,6
1,4
early
late
HC
Pogarell , Juckel et al., 2003
Neurocircuit associated with OCD OFC – Basal Ganglia - Thalamus „Läsion“ durch Streptokokken ? Enthemmung Zusammenhang mit dem serotonergen System (wenig Serotonin-wenig Hemmung/Filterung) ?
Therapie:
Therapie der Wahl ist eine Kombination von:
1. medikamentöser Behandlung mit v.a. serotoninagonistischen Substanzen 2. verhaltenstherapeutischen Verfahren (Flooding, Exposition in-vivo, systematische Desensibilisierung)
12-16 Wochen !