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Dissoziative Störungen im Kindesund Jugendalter
22.12.2015 Henning Ide-Schwarz (Dipl. Päd.)
Übersicht
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Fallbeispiel Definition und Symptomatik Dissoziation und Trauma? Therapeutische Ansätze Exkurse: Multiple Persönlichkeitsstörung, Selbstverletzungen
H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP
Fallbeispiel Dissoziative Störung
• Flüchtlingsfamilie, Tochter 15 J., 4 jüngere Geschwister • Nach Schullandheim plötzlich Lähmungserscheinungen an den Beinen, geht nur noch mit Gehhilfe, sitzt oft im Rollstuhl • Somatische Abklärung ohne jeden path. Befund • Familie kümmert sich rührend, alles dreht sich um die Tochter • Eltern bestürzt, Tochter auffallend gleichgültig („belle indifférence“)
H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP
Fallbeispiel Dissoziative Störung
• Neben der Sorge um die Tochter wird die Erwartung der Eltern spürbar, die Tochter möge rasch genesen, um Eltern unterstützen zu können. • Bereitschaft der Eltern für stat. Psychotherapie - wenn die Tochter nur wieder auf die Beine kommt. • Auch das Behandlungsteam nimmt plötzlich unterschwelligen Druck wahr: Die Eltern dürfen nicht enttäuscht werden, es muss schnell etwas passieren... H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP
Definition: Dissoziative Störung • Störung oder Unterbrechung der normalen Integration von Bewusstsein, Gedächtnis, Identität, Emotionen, Wahrnehmungen, Körperbild, Kontrolle motorischer Funktionen und Verhalten. • Die dissoziative Symptomatik wird erlebt als a) unerwünschte Störung des Bewusstsein und Verhaltens = Verlust der Kontinuität des subjektiven Erlebens und/oder b) Unfähigkeit, Informationen abzurufen oder psychische Funktionen zu kontrollieren, welche normalerweise leicht zugänglich sind (DSM-5, Falkai et al. 2015, S. 397)
H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP
Traumatische Vorerfahrungen bei dissoziativen Störungen? • Dissoziative Störungen – treten erfahrungsgemäß häufig in der Nachwirkung traumatischer Erlebnisse auf – grenzen phänomenologisch an die Symptome der akuten Belastungsreaktion (ICD 10: F43.0) und posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1)… – … was zu der irrigen Annahme führt, es müssten in der Vorgeschichte immer schwere traumatische Erlebnisse bestehen (wie z.B. sexueller Missbrauch, schwere Misshandlung o.ä.)
• Weitere mögliche Auslöser sind z.B. unlösbare oder unerträgliche Konflikte, gestörte Beziehungen
H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP
Traumatische Vorerfahrungen bei dissoziativen Störungen? • Phänomen zweigleisig verfolgen: – > Vorlesung „Trauma/Traumafolgestörungen“ – > heute Fokus auf dissoziativen Formenkreis ohne Anhaltspunkte für eine Traumatisierung i.e.S.
H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP
Was bedeutet „Dissoziation“?
• Der Gegenbegriff ist uns allen gut bekannt: „Assoziation“ • -> ganzheitliche Verknüpfung aller Aspekte des Erlebens. Zum Beispiel „Herbst“: – Rationaler Gedanke/Kognition: Jahreszeit, Datum, Spaziergang – Visuelle Eindrücke, Bilder: Neblige Landschaft, welke Blätter – Gerüche, sensitive Empfindungen: Wind, modriger Geruch, nasskalte Witterung, raschelndes Laub – Dazu passende Emotionen: Nachdenklichkeit, Bedauern über Abschied vom Sommer
• Bei der Dissoziation werden diese ganzheitlichen Aspekte voneinander getrennt, abgespalten.
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Spektrum dissoziativer Phänomene
Dissoziative Alltagsphänomene: • Extremsportler blenden in einer Art Trance Schmerzen aus • Computerspieler während des Spiels so tief versunken, dass er zeitweilig das Gefühl für die verstrichene Zeit verliert • Autofahrer ertappt sich bei abschweifenden Gedanken, hat aber sein Fahrzeug über Minuten unfallfrei gelenkt Dissoziative Störungen mit Krankheitswert: • Ein Mensch hat während eines traumatischen Ereignisses das Gefühl, sich in eine „agierende“ und „beobachtende“ Person zu spalten • Ein Vergewaltigungsopfer hat noch nach Jahren psychogene Schmerzen im Unterleib, obwohl das auslösende Ereignis aufgrund einer traumatisch bedingten Amnesie nicht erinnerbar ist H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP
Dissoziative Störungen nach ICD 10…
F44.0 F44.1 F44.2 F44.3 F44.4 F44.5 F44.6 F44.7 F44.8 F44.80 F44.81 F44.82
Dissoziative Amnesie Dissoziative Fugue Dissoziativer Stupor Trance- und Besessenheitszustände Dissoziative Bewegungsstörungen Dissoziative Krampfanfälle Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen Dissoziative Störungen gemischt Sonstige dissoziative Störungen Ganser-Syndrom Multiple Persönlichkeit(sstörung) Transitorische dissoziative Störungen in Kindheit und Jugend
H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP
… und nach DSM-5:
DSM-5
ICD 10
• •
Dissoziative Identitätsstörung Dissoziative Amnesie
F44.81 F44.0
•
Depersonalisations-/Derealisationsstörung
F48.1 („Andere neurotische Störungen“)
– Depersonalisation: Erfahrungen der Unwirklichkeit oder des Losgelöstseins oder des Sich-Erlebens als außenstehender Beobachter bezüglich eigener Gedanken und Gefühle – Derealisation: Erfahrungen der Unwirklichkeit oder des Losgelöstseins bezüglich der Umgebung (Personen/Gegenstände werden als unreal, wie im Nebel… erlebt)
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Prävalenz dissoziativer Störungen
• Heterogene Zahlen, die schlecht vergleichbar sind, daher nur Schlaglichter: z.B. … • Depersonalisations-/Derealisationsstörung: – Lebenszeitprävalenz von ca. 50% für eine vorrübergehende (ggf. geringgradige) Episode, aber… – Bei klinischer relevanter hartnäckiger Symptomatik ca. 2% (m/w 50:50)
• Dissoziative Bewegungsstörung (vgl. Fallbeispiel) und ähnliche Konversionsstörungen – Ca. 5 % der Einweisungen in neurologische Kliniken – Inzidenz: ca. 2-5 Erkrankungen auf 100.000/Jahr (DSM-5, Falkai et al. 2015, S. 415ff)
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Differenzialdiagnosen, Ausschlussdiagnostik… • Immer somatische Ausschlussdiagnostik bei dissoziativen Phänomenen -> aber meist schon vorausgegangen, da Odyssee durch die Somatik… • Aufgrund heterogener Phänomene kaum Verallgemeinerungen möglich, daher nur Schlaglichter: z.B. … • Bei dissoziativen Phänomenen wie Derealisation oder dissoz. Empfindungsstörung – > Abgrenzung vom psychotischen Formenkreis: Der dissoziative Patient hat oft noch krit. Distanz zur Störung/Irritation („das fühlt sich an, als ob Ameisen über meinen Arm krabbeln“), der psychot. Patient lebt im Wahn („da krabbeln Ameisen über meinen Arm“)
• Bei dissoz. Bewegungsstörungen oder psychogenen Anfällen – Keine Bewusstlosigkeit, sondern Trance oder Stupor – Belle indiffèrence H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP
Exkurs: Dissoziative Identitätsstörung (auch: „multiple Persönlichkeitsstörung“) • Betroffene zeigen unterschiedliche Persönlichkeiten, die abwechselnd die Kontrolle über ihr Verhalten übernehmen. An das Handeln der jeweils ‚anderen‘ Personen kaum/keine Erinnerung. • Starke Faszination des Störungsbildes, hohe Verbreitung in Selbsthilfeszene Anfang/Mitte 90er Jahre • Fehlentwicklungen unter der Ägide charismatischer Therapeuten: „Entdecken“ immer mehr Teilpersönlichkeiten… • Auffällig oft wurde „ritueller sex. Missbrauch durch Sekten“ beklagt (vgl. auch Epoche der „Entführung durch Alien“ in den USA)
Dissoziative Störung historisch betrachtet… Alte Begrifflichkeit: „Konversionsstörungen“, „Hysterie“ Ein belastendes Ereignis oder ein belastender Beziehungskonflikt kann in ein körperliches Symptom umgewandelt werden (= „konvertiert“). Das Symptom ist als Lösung eines unbewussten Konfliktes zu verstehen. Es reduziert Angst, indem der eigentliche Konflikt außerhalb des Bewusstseins gehalten wird. J.-M. Charcot an der Salpetrière/Paris
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Zurück zum Fallbeispiel…
• Tochter schildert Schullandheim in den glühendsten Farben. Sehnsucht nach unbeschwertem Leben, Freiheitsdrang… • Arbeitshypothese: Autonomie der Tochter wurde für die Familie bedrohlich, „Lähmung“ bremst die Tochter.
• Solche Wechselwirkungen sind… – funktional mit Blick auf innerfamiliäre Abläufe – dysfunktional mit Blick auf Autonomie und gesellschaftliche Integration der betreffenden Person
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Therapie der dissoziativen Störungen
• Eingefahrene Beziehungsmuster überwinden –> Oft stationäre Psychotherapie empfohlen: bietet neutralen Erlebens- und Erprobungsraum • Distanzierung zur Herkunftsfamilie wegen häufig überenger Bindungen • Unterstützung bei der Aufgabe eines Symptoms unter Wahrung des Gesichts des Patienten (z.B. mittels schrittweise auszuschleichender Physiotherapie) • „Einschleichende“ Deutungsangebote • Entlastung von Überforderungen (Fehlbeschulung?!) • Training alltagspraktischer und sozialer Fertigkeiten
Therapie der dissoziativen Störungen
• Elternberatung, Elterntraining und Familientherapie: – Aufklärung – Nutzung familiärer erzieherischer Ressourcen – Schulung in der Zuwendung symptominkompatibler Reaktionsweisen – Vermeidung des „sekundären Krankheitsgewinns“ – Ignorieren appellativ dargebotener Symptome • CAVE: Ausschluss weiterhin wirksamer Traumatisierungsrisiken!
Exkurs: Dissoziative Störungen und Selbstverletzungstendenzen
Exkurs: Dissoziative Störungen und Selbstverletzungstendenzen • Häufig nichtsuizidale Selbstverletzungstendenzen (NSSV) bei dissoziativen Zuständen (Plener et al. 2012) • Schmerzreiz als signifikante Wahrnehmung, um Kontrolle und Steuerung dissoziativ getrübter Bewusstseinszustände wiederzuerlangen • Beeinträchtigte Selbstwahrnehmung, bei der die eigene Anspannung erst sehr spät wahrgenommen wird und „normale“ Entspannungsmethoden nicht mehr greifen
Fazit
• Akzeptanz der dissoziativen Symptomatik = kreativer Lösungsversuch des Patienten • Erst auf dieser Vertrauensbasis können bessere Alternativen zugelassen werden • … im Fallbeispiel: „wieder auf die Beine zu kommen“
H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Literatur
Dt.Ges.f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.): Dissoziative Störungen, Konversionsstörungen (F44) - Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindesund Jugendalter. Deutscher Ärzte Verlag, 2. überarbeitete Auflage 2003 Falkai et al. (Hrsg.): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5, Göttingen 2015, S. 397-419 https://de.wikipedia.org/wiki/Rituelle_Gewalt, Zugriff vom 21.12.2015 http://www.neurologienetz.de/front_content.php?idart=156, Zugriff vom 21.12.2015 Plener et al.: Nicht-suizidale Selbstverletzung als eigene Diagnose, in: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 40. Jg., 2012, S. 113-120
H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP