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Abiturprüfung Niedersachsen 2015 – Politik-Wirtschaft Erhöhtes Anforderungsniveau – Aufgabe 1
Thema: Volkssouveränität und Demokratie Themen und Inhalte 11 / 1: Demokratie und sozialer fgtaat Aufgabenstellung 1. Fassen Sie die Aussagen des Autors zur repräsentativen Demokratie und zu plebiszitären Elementen in der Demokratie zusammen. 2. Erläutern Sie, ausgehend von Text und Grundgesetz, Möglichkeiten der Partizipation in der repräsentativen Demokratie. 3. Erklären Sie, ausgehend vom Text, Rolle und Funktionen der Medien in der Demokratie in Deutschland. 4. Erörtern Sie an einem Beispiel, ob Volksabstimmungen ein geeignetes Instrument bei Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr sind. M 1: Hubert Kleinert: Krise der repräsentativen Demokratie?
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Seit einiger Zeit schon ist die Demokratie tüchtig ins Gerede gekommen. Allerhand Krisendiagnosen machen die Runde. […] Nicht nur, aber auch in Deutschland sind die Beziehungen zwischen politischen Eliten und der Bürgerschaft nachhaltig gestört, haben die klassischen Volks- und Großparteien Bindungskraft in die Gesellschaft verloren, sind Wahlbeteiligungsraten rückläufig und ist das Vertrauen in die Regelungskraft aller „etablierter“ Politik zurückgegangen. Während viele Institutionen der repräsentativen Systeme an Bedeutung und Legitimationskraft verlieren, findet die Forderung nach „plebiszitären“ Elementen eine wachsende Anhängerschaft. Anlassbezogene Bürger- und Protestbewegungen vor allem gegen Großprojekte (wie „Stuttgart 21“ oder den Ausbau von Flughäfen) sind zum selbstverständlichen Teil einer politischen Kultur des Protests geworden, in der inzwischen auch die bürgerliche Mitte der Gesellschaft stark vertreten ist. Anzeichen von politischer Abstinenz und Apathie stehen neben einer wachen Bereitschaft zum Protest. […] Dabei ist der Bedeutungs- und Legitimationsschwund der Kerninstitutionen des repräsentativen Systems – Wahlen, Parteien, Parlamente und Regierungen – kaum vorrangig eine Folge des Mangels an Beteiligungsformen. Erstens haben sich längst andere Formen von Beteiligung und Kontrolle jenseits der bloßen Wahlhandlung eta-
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bliert, sodass es viel zu kurz greifen würde, unter dem Begriff der „direkten Demokratie“ allein die Einführung von Volksabstimmungen zu verstehen. Andererseits ist nicht davon auszugehen, dass die Übernahme der entsprechenden Forderungen die Überzeugungs- und Regelungskraft der repräsentativen Institutionen einfach zurückbrächte. […] Während die konstitutionelle Sphäre der Demokratie, die zwischen den 1950erund 1970er-Jahren ihren eigentlichen Kern ausmachte, deutlich geschwächt ist, hat die außerkonstitutionelle Sphäre der Demokratie an Gewicht gewonnen. Das Verlangen nach mehr „direkter Demokratie“ in Form von Volksbefragungen ist dabei nur eine Ausdrucksform. […] Dieser Prozess hält an und hat sich mit den medialen und digitalen Revolutionen zugespitzt. Während die mediale Politikpräsentation mehr hysterische Aufregungskonjunkturen hervorbringt als Maßstäbe zur Beurteilung komplexer Sachverhalte, hat der Siegeszug des Internets die Fundamente des demokratischen Systems in zwiespältiger Weise beeinflusst: Wo einerseits neue Chancen und Foren von politischer Information und Beteiligung geöffnet und auch genutzt werden, finden sich andererseits auch wachsende Erscheinungen von Flüchtigkeit und Maßstablosigkeit. Auch treten Bedürfnisse nach Unterhaltung und Konsum stärker in den Vordergrund. Besonders die „zweite digitale Revolution“ hat mit dem interaktiven Potenzial des Web 2.0 die Möglichkeiten für netzgestützte Diskussionsforen geschaffen, auf die politische Repräsentanten zur Mobilisierung ihrer Anhänger ebenso zugreifen wie die einfachen Internetnutzer auf der Suche nach Gleichgesinnten. Nicht wenige sehen mit der politischen Vernetzung im virtuellen Raum neue Beteiligungschancen verbunden. Von ganz neuen Varianten der Basisdemokratie wird geschwärmt. […] Plebiszite verschieben die Balance zwischen Volk, Parlament und Regierung. Bereits ihre Möglichkeit kann das Handeln von Parlamenten beeinflussen und die Spielregeln des parteipolitischen Wettbewerbs verändern. Je nachdem, wie stark sie genutzt werden, können sie eine Monopolstellung der Parteien im politischen Wettbewerb erschüttern. Eine Monopolstellung allerdings, die sie schon heute kaum noch besitzen, sondern an Medien und andere zivilgesellschaftliche Akteure abgegeben haben, welche die politische Agenda bestimmen. […] Bleiben Plebiszite die große Ausnahme, beschränkt auf wenige grundsätzliche Fragen […], würde sich an der Funktionsweise des parlamentarischen Repräsentativsystems nicht viel ändern. Kann ein solches Instrument aber kräftig genutzt werden, so würden sich die Rollen von Parteien und Parlamenten weiter verschieben. Damit aber würden Plebiszite nur institutionell verlängern, was längst geschieht: die Begrenzung der Macht von Parlamenten und Parteien durch allumfassende Transparenz und mediales agenda setting. Es wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg in eine „nachklassische“ Demokratie, in dem die außerkonstitutionellen Elemente stärker und die konstitutionellen Elemente schwächer werden. Wohin das führen wird, scheint ungewiss. Es ist aber wahrscheinlich, dass dem Gewinn an Transparenz und Partizipationschancen ein weiterer Verlust an politischer Legitimation und Steuerungskompetenz gegenüberstehen wird. Fraglich ist, ob das
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im Zeitalter globalisierter Finanzmärkte der Demokratie gut tun würde. Unübersichtlichkeit und Fragmentierung werden zunehmen. Ob das im Ergebnis die Demokratie als Selbstregierung des Volkes wirklich stärken wird, kann durchaus bezweifelt werden. Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte 38 – 39 /2012, S. 18 ff.
Hilfsmittel: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Niedersächsische Verfassung ohne ergänzende Kommentare Gewichtung der Teilaufgaben: 20 % : 25 % : 25 % : 30 %
Lösungsvorschläge r 1. r r r
Der Operator „zusammenfassen“ verlangt hier von Ihnen, dass Sie die wesentlichen Aussagen Kleinerts zur repräsentativen Demokratie und zu plebiszitären Elementen in der Demokratie in Deutschland auf zentrale Aspekte reduziert, sprachlich distanziert, strukturiert und unkommentiert wiedergeben. (AFB I) In dem Aufsatz „Krise der repräsentativen Demokratie?“, veröffentlicht in „Aus Politik und Zeitgeschichte 38 – 39 /2012“, geht Hubert Kleinert auf die repräsentative Demokratie und auf Forderungen nach mehr „plebiszitären Elementen“ ein. Dabei stellt er fest, dass die Bürger aufgrund von Veränderungen im medialen und digitalen Bereich bereits im Rahmen der repräsentativen Demokratie mehr Möglichkeiten zur Partizipation hätten. Insgesamt kommt er zu einer skeptischen Einschätzung hinsichtlich einer Ausdehnung direktdemokratischer Elemente. Laut Kleinert befinden sich die Kerninstitutionen der repräsentativen Demokratie in Deutschland in einer Bedeutungs- und Legitimationskrise (vgl. Z. 8 f.). Diese äußere sich in einer gestörten Beziehung zwischen der Bürgerschaft und der politischen Elite, der abnehmenden Bindungskraft von klassischen Volks- und Großparteien, einer sinkenden Wahlbeteiligung sowie dem rückläufigen Vertrauen der Bürger in die Regelungskraft der „etablierten“ Politik (vgl. Z. 3 ff.). Der Verfasser stellt fest, dass „die konstitutionelle Sphäre der Demokratie“ (Z. 25) gegenüber der außerkonstitutionellen an Gewicht verloren habe. Dies sei durch die „medialen und digitalen Revolutionen“ (Z. 30) noch verstärkt worden. Besonders die Veränderungen im Bereich des Internets ermöglichten es den Bürgern, sich breiter über Politik zu informieren und sich durch das „interaktive[] Potenzial des Web 2.0“ (Z. 38 f.) an der Diskussion über politische Entscheidungen u. a. mit politiEA 2015-3
Einleitung Quelle, Thematik
Argumentation des Autors Legitimationskrise der repräsentativen Institutionen
mediale Revolution