Transcript
Dr. Florian Berchtold
Geometrie fu ¨ r Lehramtskandidaten
Vorlesung an der Universit¨at Konstanz
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1
Abbildungsverzeichnis
5
1 Einleitung
7
I
8
Ebene Geometrie
2 Axiomatik
9
2.1
Das Axiomensystems Euklids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
2.2
Hilberts Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.2.1
Axiome der Verkn¨ upfung (Inzidenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.2.2
Axiome der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.2.3
Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.2.4
Parallelit¨at . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2.5
Vollst¨andigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3 Klassische euklidische Geometrie
20
3.1
Ein Modell der euklidischen Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
3.2
Grundlegende Aussagen der Mittelstufengeometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.3
Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
3.4
S¨atze u ¨ber Polygone am Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2
INHALTSVERZEICHNIS
3.5
Besondere Punkte im Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.6
Weitere S¨atze am Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
4 Nicht-Euklidische Geometrien 4.1
Grundlagen der sph¨arischen Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
4.2
Dreiecke in der sph¨arischen Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
4.3
Geometrie in der komplexen Zahlenebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
4.4
Der hyperbolische Abstandsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
4.5
Das Halbebenenmodell der hyperbolischen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
4.6
Hyperbolische Trigonometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4.7
Hyperbolische Parallelen und Abst¨ande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
4.8
Alternative Modelle f¨ ur hyperbolische Geometrien . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
5 Konstruierbarkeit
II
46
86
5.1
Konstruierbare Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
5.2
Quadratwurzelt¨ urme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Geometrie in h¨ oheren Dimensionen
6 Polytope
90 91
6.1
Konvexit¨at . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
6.2
Polytope . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
6.3
Graphen von Polytopen und die Eulersche Polyederformel
6.4
Erg¨anzungen zur Graphentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
7 Bilinearformen und Kegelschnitte
. . . . . . . . . . . . 102
111
7.1
Bilinearformen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
7.2
Kegelschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
3
8 Geometrische Topologie und Transformationsgruppen
121
8.1
Topologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
8.2
Gruppenoperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
8.3
Mannigfaltigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
8.4
Gruppenoperationen auf dem Rn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
8.5
Symmetriegruppen von Polytopen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
8.6
Untergruppen der speziellen linearen Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Abbildungsverzeichnis
2.1
Eine Tisch-Stuhl-Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.2
Zum Beweis des Streckensatzes 2.2.8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.3
Zum Beweis des Nebenwinkelsatzes 2.2.22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.4
Existenz von Parallelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
3.1
Der Strahlensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
3.2
Zum Beweis des Winkelsummensatzes 3.2.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.3
Der Peripherie-Winkel-Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.4
Der Sehnensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.5
Satz von Ptolemaios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
3.6
Satz von Menelaos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
3.7
Satz von Ceva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3.8
Die Mittelpunkte“ eines Dreiecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 ”
3.9
Die Eulersche Gerade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
3.10 Der Neunpunktekreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.11 Satz des Euklid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4.1
Kugelkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
4.2
Ein Eulersches Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
4.3
Das Poldreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
4.4
Die Riemannsche Zahlenkugel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
5
4.5
Zur Doppelverh¨altnisformel 4.4.15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.6
Ein hyperbolisches Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
4.7
Ein Dreieck in kanonischer Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
4.8
Zwei verbindbare Geraden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
4.9
Randparallelen zu g durch P mit weiteren Parallelen . . . . . . . . . . . . . . . 79
4.10 Ein hyperbolisches Dreieck ohne Umkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.11 Ein Saccherisches Viereck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 6.1
Ein Graph mit mindestens vier Farben samt Landkarte . . . . . . . . . . . . . . 108
7.1
Zum Beweis von 7.2.8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
7.2
Zum Beweis von 7.2.10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
Kapitel 1 Einleitung Das vorliegende Skript entstand aus den Notizen zu einer Vorlesung zur Einf¨ uhrungen in die Geometrie f¨ ur angehende Lehrer, die ich an der Universit¨at Konstanz gehalten habe. Ziel war es, angehenden Lehrern fachwissenschaftliche Grundlagen speziell f¨ ur den Geometrieunterricht zu geben. Einerseits sollte dabei der Zielsetzung, angehende Lehrer direkt auf den Unterricht vorzubereiten, Rechnung getragen werden, andererseits sollte der geradezu sprichw¨ortliche Blick ” u ¨ber den Tellerrand“ auch nicht vernachl¨assigt werden. Dabei steht in diesem Skript die ebene Geometrie im Fokus des Interesses. Gerade die Geometrie mit ihrer mehrtausendj¨ahrigen Geschichte eignet sich besonders dazu, Wissenschaftsentstehung und die Problematik einer korrekten Grundlagenlegung eingehend zu studieren. In diesem Skript gehen wir daher von dem Axiomensystems Euklids aus, welches u ¨ber Jahrhunderte die Vorstellung von Geometrie gepr¨agt hat. Anschließend betrachten wir das modernere System D. Hilberts, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht hat, die Geometrie auf eine neue solide Grundlage zu stellen. Um aber einer praktischen Umsetzung im Schulunterricht nicht im Wege zu stehen, wird die klassische Geometrie im euklidischen Modell des R2 zusammen mit dem Skalarprodukt als Messinstrument“ entwickelt. Dabei werden auch ” einige Ergebnisse der Euklidischen Geometrie besprochen, die so leider nicht mehr im aktuellen Lehrplan verankert sind, dennoch aber f¨ ur ein tieferes Verst¨andnis der Schulgeometrie ¨außerst n¨ utzlich sind. Schließlich gehen wir auch noch auf die so genannten nicht-euklidischen Geometrien ein, in denen das Parallelenaxiom nicht erf¨ ult ist. Wegen ihrer vielf¨altigen Anwendung in Luft- und Schifffahrt streifen wir dabei kurz die sph¨arische Geometrie, auch wenn sie nicht ganz mit der Hilbertschen Axiomatik zusammenpasst. Etwas ausf¨ uhrlicher studieren wir die hyperbolische Geometrie auf der Grundlage des Halbebenenmodells nach Poincar`e. Dank m¨ochte ich sagen allen Studierenden, die mit diesem Skript gearbeitet und mich auf zahlreiche Fehler und Ungenauigkeiten hingewiesen haben. Besonderer Dank geht an Herrn ¨ Christoph Klockewitz, der mich bei den Ubungen zu dieser Vorlesung unterst¨ utzt hat. Weiter m¨ochte ich Herrn Michael Arendt danken, der einige Ideen insbesondere zur M¨oglichkeit, hyperbolische Geometrie im Unterricht einzusetzen, beigesteuert hat.
Teil I Ebene Geometrie
Kapitel 2 Axiomatik Geometrische Fragestellungen lassen sich in der Geschichte der Mathematik bis weit in die fr¨ uhesten menschlichen Kultur¨ uberlieferungen zur¨ uckverfolgen. Bereits in alten ¨agyptischen Aufzeichnungen (Papyrus Rhind, ca. 1600 vor Christus, wahrscheinlich eine Abschrift eines zweihundert Jahre ¨alteren Papyrus) werden Fragen zu Dreiecken und Kreisen behandelt. Mit dem Einsetzen der griechischen Mathematik findet sich eine entscheidende Z¨asur: Im Vordergrund steht nicht mehr die Frage, wie etwas geht, sondern warum und welche Grundlagen man voraussetzen kann. Es wurde das erste Axiomensystem f¨ ur Geometrie geschaffen. Wir werden uns in diesem Kapitel mit der Axiomatik der Geometrie auseinandersetzen und betrachten dazu zun¨achst dieses erste Axiomensystem der Antike, bevor wir dann auf das seit gut hundert Jahren verwendete moderne Axiomensystem David Hilberts eingehen.
2.1
Das Axiomensystems Euklids
Etwa 300 vor Christus fasste der in Alexandria lebende griechische Mathematiker Euklid die damals bekannte Mathematik in 13 B¨ uchern zusammen, denen er den Namen Die Elemente“ ” (τ α στ oιχε´ια) gab. In diesen B¨ uchern versuchte er, die gesamte Geometrie aus einigen anschaulich evidenten Grundaussagen — den Axiomen — zu entwickeln. Im Folgenden stellen wir diese Grundaussagen Euklids zusammen. Wir formulieren zun¨achst seine Definitionen, die wir [19] entnehmen: Definitionen 1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat; 2. eine Linie breitenlose L¨ange. 3. Die Enden einer Linie sind Punkte. 4. Eine gerade Linie ist eine solche, die zu den Punkten auf ihr gleichm¨aßig liegt.
10
Axiomatik
5. Eine Fl¨ache ist, was nur L¨ange und Breite hat. 6. Die Ende einer Fl¨ache sind Linien. 7. Eine ebene Fl¨ache ist eine solche, die zu den geraden Linien auf ihr gleichm¨aßig liegt. 8. Ein ebener Winkel ist die Neigung zweier Linien in einer Ebene gegeneinander, die einander treffen, ohne einander gerade fortzusetzen. 9. Wenn die einen Winkel umfassenden Linien gerade sind, so heißt der Winkel geradlinig. 10. Wenn eine gerade Linie, auf eine gerade Linie gestellt, einander gleiche Nebenwinkel bildet, dann ist jeder der beiden gleichen Winkel ein Rechter; und die stehende gerade Linie heißt senkrecht zu der, auf der sie steht. 11. Stumpf ist ein Winkel, wenn er gr¨oßer als ein Rechter ist, 12. spitz, falls er kleiner als ein Rechter ist. 13. Eine Grenze ist etwas, worin etwas endigt. 14. Eine Figur ist, was von einer oder mehreren Grenzen umfaßt wird. Wir brechen hier ab: Euklid defininiert dann noch Kreise, Dreiecke und Vierecke als spezielle Figuren und nennt abschließend zwei in derselben Ebene liegende gerade Linien als parallel, falls sie, wenn man sie nach beiden Seiten unendlich verl¨angert, auf keiner einander treffen. Im n¨achsten Schritt werden Postulate, also Forderungen formuliert: Postulate Gefordert soll sein, 1. dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen kann, 2. dass man eine begrenzte gerade Linie zusammenh¨angend gerade verl¨angern kann, 3. dass man mit jedem Mittelpunkt und Abstand den Kreis zeichnen kann, 4. dass alle rechten Winkel einander gleich sind, 5. Und dass, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verl¨angerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind. Axiome 1. Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich.
2.2 Hilberts Axiome
11
2. Wenn Gleichem Gleiches hinzugef¨ ugt wird, sind die Ganzen gleich. 3. Wenn von Gleichem Gleiches weggenommen wird, sind die Reste gleich. 4. Wenn Ungleichem Gleiches hinzugef¨ ugt wird, sind die Ganzen ungleich. 5. Die Doppelten von demselben sind einander gleich. 6. Die Halben von demselben sind einander gleich. 7. Was einander deckt, ist einander gleich. 8. Das Ganze ist gr¨oßer als der Teil. 9. Zwei Strecken umfassen keinen Fl¨achenraum. Die Elemente Euklids und damit sein Axiomensystem haben u ¨ber 2000 Jahren das geometri¨ sche Denken entscheidend gepr¨agt, obwohl an vielen Stellen Kritik ge¨ ubt wurde. Ublicherweise erwartet man von einem Axiomensystem, dass es in sich widerspruchsfrei und die einzelnen Axiome unabh¨angig voneinander sind. 2.1.1 Aufgabe Man untersuche die Axiome Euklids auf Unabh¨angigkeit. Besondere Kritikpunkte waren zum Einen, dass die Formulierungen keiner heutigen Strenge gen¨ ugen. So werden Begriffe durch andere unbekannte Begriffe definiert oder vage sprachliche Aussagen gemacht, die keine pr¨azise Bedeutung haben. Zum Anderen entz¨ undete sich die meiste Kritik an wohl Euklids gr¨oßter Leistung, dem Postulat 5 (in anderen Quellen Axiom 11): Generationen von Mathematikern versuchten, dieses Axiom aus den anderen zu folgern und damit zu zeigen, dass es nicht unabh¨angig ist. Erst im 19. Jahrhundert gelang es N. Lobatschewski und J. Bolyai unabh¨angig voneinander mit der Entdeckung der so genannten nicht-euklidischen Geometrien nachzuweisen, dass das Parallelenaxiom in der Tat unabh¨angig von den anderen Axiomen ist. In einer modernen Form kann man man das Parallelenaxiom auch einfacher formulieren: 2.1.2 Axiom Zu einem Punkt ausserhalb einer Gerade gibt es genau eine Gerade durch diesen Punkt, die die gegebene Gerade nicht schneidet.
2.2
Hilberts Axiome
Die Unzufriedenheit mit den Euklidischen Axiomen f¨ uhrte zu vielen Versuchen, eine neue befriedigerende Axiomatik f¨ ur die Geometrie aufzustellen. Hilbert hatte schließlich die grundlegende Idee, die Axiome losgel¨ost von realen Objekten zu formulieren, sondern vielmehr die Beziehungen zwischen den Objekten ins Zentrum der Betrachtung zu stellen. Die Art der Objekte spielte also keine Rolle mehr, sondern nur ihr Verh¨altnis zueinander. Hilbert selbst soll das so formuliert haben: Man m¨ usse statt Punkte, Geraden und Ebenen“ jederzeit auch Tische, ” ” St¨ uhle und Bierseidel“ sagen k¨onnen; es komme nur darauf an, dass die Axiome erf¨ ullt sind (vgl. [12]).
12
Axiomatik
2.2.1
Axiome der Verknu ¨ pfung (Inzidenz)
Wir werden im Folgenden die Axiome Hilberts vorstellen und an einigen Stellen bereits einige Folgerungen aus den Axiomen ziehen. Dazu betrachten wir zwei Mengen P (Punkte) und G (Geraden) und eine Relation R zwischen diesen (streng genommen ist R also eine Teilmenge R ⊂ P×G). Diese Beziehung braucht keine mengentheoretische Enthaltensbeziehung zu sein. In der klassischen Schulsituation ist nat¨ urlich diese Beziehung genau die Tatsache, dass ein Punkt auf einer Geraden liegt. Wir schreiben daher auch einfach P ∈ g, falls (P, g) ∈ R ⊂ P × G gilt. F¨ ur diese Situation fordern wir 2.2.1 Axiom 1. Zu zwei verschiedenen Punkten A, B ∈ P gibt es genau eine Gerade g ∈ G, so dass A und B zu g geh¨oren: A, B ∈ g. F¨ ur diese Gerade schreiben wir oft kurz g = AB. 2. Zu jeder Gerade geh¨oren mindestens zwei Punkte. 3. Es gibt drei Punkte, die nicht zu einer Gerade geh¨oren, d.h. es gibt drei Punkte und eine Gerade, die nicht alle diese Punkte enth¨alt. Ein Paar (P, G) zusammen mit einer Inzidenzrelation, sodass diese drei Eigenschaften erf¨ ullt sind, nennen wir auch einen linearen Raum. 2.2.2 Aufgabe Es sei (P, G) ein linearer Raum. Man zeige: 1. Ist g ∈ G eine Gerade, so gibt es einen Punkt P ∈ P, der nicht zu g geh¨ort. 2. Zu jedem P ∈ P gibt es mindestens zwei Geraden g1 6= g2 , zu denen P geh¨ort. Das dritte Verkn¨ upfungsaxiom besagt anschaulich, dass die geforderte Geometrie mindestens zweidimensional ist. 2.2.3 Beispiel Wir betrachten einen Raum mit drei Tischen und drei St¨ uhlen, der wie der Abbildung 2.1 bestuhlt sei. Dann geh¨ore ein Stuhl zu einem Tisch, wenn er an einer Seite des Tisches angrenzt. Beispielsweise geh¨ort der Stuhl unten in der Mitte zu den beidenn seitlichen Tischen. Dann sind die Axiome aus 2.2.1 erf¨ ullt. 2.2.4 Aufgabe Man zeige das Beispiel 2.2.3. Ist im Fall eines linearen Raumes (P, G) die Menge P endlich, so nennt man den Raum einen endlichen linearen Raum. Zu welchen Mengen P und G derartige R¨aume existieren, ist ein aktuelles Forschungsthema. F¨ ur mehr Informationen zu dieser Fragestellung verweisen wir den Leser auf [5].
2.2.2
Axiome der Anordnung
Die zweite Axiomengruppe befasst sich mit den Anordnungsaxiomen. Dazu sei Z ⊂ P × P × P eine weitere Relation zwischen“. Man sagt dann, dass P zwischen A und B liegt, falls ” (A, P, B) ∈ Z gilt. Daf¨ ur schreibt man oft einfach auch P ∈ AB und definiert:
2.2 Hilberts Axiome
13
Abbildung 2.1: Eine Tisch-Stuhl-Situation 2.2.5 Definition Sind A, B ∈ P, so versteht man unter der Strecke AB alle Punkte, die zwischen A und B liegen. Man fordert nun 2.2.6 Axiom 1. Liegt C zwischen A und B (C ∈ AB), so sind A, B und C drei verschiedene Punkte einer Geraden und C liegt dann auch zwischen B und A (C ∈ BA). 2. Zu zwei verschiedenen Punkten A und C gibt es einen Punkt B auf der Geraden AC, sodass C zwischen A und B liegt. 3. Sind drei Punkte einer Geraden gegeben, so liegt h¨ochstens einer davon zwischen den beiden anderen. Man beachte, dass nach 2.2.6 1. die Strecken AB und BA u ¨bereinstimmen; weiter liegen alle Punkte der Strecke AB auf der Geraden AB. Das erste etwas kompliziertere Axiom ist das Axiom von Pasch, welches im wesentlichen besagt, dass die betrachtete Geometrie nicht mehr als zwei Dimensionen besitzt, also eine ebene Geometrie ist. 2.2.7 Axiom Es seien A, B und C drei Punkte, die nicht zu einer Gerade geh¨oren und g eine Gerade, zu der keiner der drei Punkte A, B und C geh¨ort und die durch einen Punkt der Strecke AB geht. Dann geht g entweder durch einen Punkt der Strecke AC oder durch einen Punkt der Strecke BC. Man mache sich klar, dass dieses Axiom in einer r¨aumlichen Geometrie nicht erf¨ ullt ist. Anschaulich besagt dieses Axiom, dass eine Gerade, die ein Dreieck betritt, dieses auch wieder verlassen muss. Wir fordern hier (wie Hilbert in seiner Urfassung, vgl. [26] und demgegen¨ uber die Version in [27], jeweils §3, II.4) explizit, dass die Gerade g nur (also genau) eine der beiden verbliebenen Dreiecksseiten schneidet. Diese Forderung kann man dahingehend abschw¨achen,
14
Axiomatik
B
A Q P C Abbildung 2.2: Zum Beweis des Streckensatzes 2.2.8 dass sie mindestens eine schneidet. Man kann dann zeigen, dass sie die andere nicht schneiden kann (f¨ ur Details vgl. [27], Supplement I). Mit Hilfe dieser Axiome k¨onnen nun einige Folgerungen u ¨ber die Beziehungen zwischen Punkten und Geraden abgeleitet werden. Exemplarisch zeigen wir, dass Strecken nie leer sind, oder, anders ausgedr¨ uckt, dass zwischen zwei Punkten einer Geraden immer ein dritter liegt. 2.2.8 Satz Es seien P, Q ∈ P. Dann gibt es ein S ∈ P, welches zwischen P und Q liegt. Beweis Es sei A ein Punkt, der nicht auf der Geraden P Q liegt. Nach 2.2.6 2. gibt es einen Punkt B, sodass A zwischen P und B liegt. Zu B und Q gibt es ebenso einen Punkt C, sodass Q zwischen B und C liegt. Wir betrachten nun die Gerade AC. Diese kann B nicht enthalten, da sie sonst auch P und Q enthalten w¨ urde und dann A auf P Q l¨age, was nicht sein kann. Ebenso sieht man, dass AC weder P noch Q enth¨alt. Also erf¨ ullt die Konfiguration P, Q, B und die Gerade AC die Voraussetzung des Axioms von Pasch. Daher schneidet sie entweder BQ oder P Q. Angenommen, sie schneidet BQ in X. Gilt nun X 6= C, so folgt AC = XC = QB, was aber wie oben gesehen nicht sein kann. Im Fall X = C liegt aber X einerseits zwischen Q und B und andererseits Q zwischen X = C und B, was einen Widerspruch liefert. Also schneidet AC die Seite P Q in einem Punkt S zwischen P und Q. 2.2.9 Aufgabe Man zeige: Sind A, B und C drei Punkte einer Geraden g, so liegt einer der Punkte zwischen den beiden anderen.
2.2.3
Kongruenz
Um Kongruenz zu definieren, ben¨otigen wir noch den Begriff der gleichen Seite“. ” 2.2.10 Definition Es seien A, O und B drei Punkte einer Geraden. Wir sagen, dass A und B auf derselben Seite von O liegen, falls O nicht zwischen A und B liegt. Unter dem Halbstrahl OA −→ verstehen wir die Menge aller Punkte auf g, die auf der gleichen Seite von O wie A liegen.
2.2 Hilberts Axiome
15
2.2.11 Lemma Es seien O ein Punkt einer Geraden g und g \ O die Menge der Punkte, die zu g geh¨oren, mit Ausnahme von O. Dann definiert die Relation A liegt auf der gleichen Seite ” ¨ wie B“ eine Aquivalenzrelation auf g \ O. Beweis Reflexivit¨at: Es sei A ∈ g. Offenbar liegt O nicht zwischen A und A, also liegt A auf derselben Seite von O wie A. Symmetrie: Es liege A auf derselben Seite wie B, d.h. O liegt nicht zwischen A und B. Dann liegt wegen 2.2.6 1. O auch nicht zwischen B und A, d.h. B liegt auf derselben Seite wie A. Transitivit¨at: Es liege A auf derselben Seite wie B und B auf derselben Seite wie C, d.h. O liegt nicht zwischen A und B und O liegt nicht zwischen B und C. Wir w¨ahlen einen Punkt D außerhalb von g. Dann gibt es einen Punkt E, sodass D zwischen E und C liegt. Betrachte die Gerade OD. Offenbar enth¨alt diese keinen der Punkte A, B oder C, da sie sonst mit g u urde, im Widerspruch dazu, dass D nicht auf g liegt. Wir betrachten nun ¨bereinstimmen w¨ die Konfiguration B, C, E und OD. Da nach Voraussetzung O nicht zwischen B und C liegt, schneidet OD nach dem Axiom von Pasch die Strecke BE. Wendet man nun das Axiom von Pasch auf die Konfiguration A, B, E und OD an, so erh¨alt man, dass OD entweder AB oder AE schneidet. Da O nicht zwischen A und B liegt, liegt der zweite Fall vor. Also schneidet die Gerade OD in der Konfiguration A, C, E die Strecken EC und AE. Aufgrund der Eindeutigkeitsaussage des Axioms von Pasch schneidet OD daher die Strecke AC nicht, also liegt O nicht zwischen A und C. ¨ Man kann sogar zeigen, dass die in 2.2.10 definierte Aquivalenzrelation die Menge g \O in genau ¨ zwei Aquivalenzklassen unterteilt (vgl. [27], §4, Satz 5.). Auf der Menge aller Strecken m¨oge es eine weitere Relation ≡ ( Kongruenz“) mit folgenden ” Eigenschaften geben. 2.2.12 Axiom 1. Sind A, B zwei Punkte einer Geraden g und A0 ein Punkt einer weiteren (nicht notwendig verschiedenen) Geraden g 0 , so gibt es auf einer gegebenen Seite der Geraden g 0 von A0 einen Punkt B 0 , sodass die Strecke AB kongruent zur Strecke A0 B 0 ist. 2. Die Kongruenzrelation ist transitiv, genauer gilt, sind zwei Strecken zu einer dritten kongruent, so sind sie selbst kongruent. 3. Geh¨oren die Punkte A, B, C zu einer Geraden g, die Punkte A0 , B 0 , C 0 zu einer Geraden g 0 , wobei AB und BC bzw. A0 B 0 und B 0 C 0 keine gemeinsamen Punkte haben, und gilt weiter AB ≡ A0 B 0 sowie BC ≡ B 0 C 0 , so gilt auch AC ≡ A0 C 0 . ¨ 2.2.13 Aufgabe Man zeige, dass die Kongruenz von Strecken eine Aquivalenzrelation ist (es macht also Sinn, von kongruenten Strecken zu sprechen). Die zweite Kongruenzgruppe befasst sich mit Winkeln. Dazu brauchen wir noch den Begriff der Halbebene: 2.2.14 Definition Es sei g eine Gerade und P ein Punkt nicht auf g. Ein Punkt Q liegt auf der gleichen Seite von g wie P , falls die Strecke P Q die Gerade g nicht schneidet.
16
Axiomatik
¨ Unter einer durch g definierten Halbebene verstehen wir eine Aquivalenzklasse von Punkten, die auf der gleichen Seite von g liegen. 2.2.15 Aufgabe Es sei g eine Gerade. Man zeige, dass die Relation liegt auf der gleichen ” ¨ Seite wie“ eine Aquivalenzrelation ist, die die Menge aller Punkte außerhalb von g in genau ¨ zwei Aquivalenzklassen unterteilt. 2.2.16 Definition Unter einem Winkel versteht man ein System bestehend aus zwei Halbstrahlen h und k, die von einem gemeinsamen Punkt O aus starten. Der Punkt O heißt auch Scheitel und h, k heißen die Schenkel des Winkels. F¨ ur einen Winkel schreiben wir ∠(h, k). ¨ Ahnlich wie bei Strecken wird nun ein Abtragungsaxiom gefordert: 2.2.17 Axiom 1. Es seien ∠(h, k) ein Winkel sowie g 0 eine Gerade mit einem Punkt O0 und einem von O0 ausgehenden Halbstrahl h0 . Dann gibt es auf einer festgelegten Seite von g 0 genau einen von O0 ausgehenden Halbstrahl k 0 , sodass der Winkel ∠(h, k) kongruent zum Winkel ∠(h0 , k 0 ) ist. 2. Die Kongruenzrelation f¨ ur Winkel ist reflexiv: Jeder Winkel ist zu sich selbst kongruent. Das folgende letzte Kongruenzaxiom ist f¨ ur den Schulunterrricht besonders interessant: Im Unterricht der Mittelstufe spielen die Kongruenzs¨atze f¨ ur Dreiecke eine besondere Rolle. Hilbert hat festgestellt, dass sich diese nicht aus den Axiomen Euklids herleiten lassen. Man muss also mindestens einen Kongruenzsatz fordern; dieses ist der Satz sws“. Wir definieren zun¨achst den ” Begriff des Dreiecks. 2.2.18 Definition Es seien A, B, C drei Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen. Dann definieren diese drei Punkte ein Dreieck ∆ABC mit den Seiten AB, BC und AC und den Innenwinkeln ∠BAC := ∠(AB AC BC BC −→, − →), ∠CBA := ∠(BA −→, − −→) und ∠ACB := ∠(AC −→, − −→). In manchen Situationen betrachtet man auch Dreiecke, bei denen die Ecken“ A, B und C auf ” einer Gerade liegen und spricht dann von entarteten Dreiecken“. Wir werden, wenn es nicht ” explizit vermerkt ist, immer unsere Definition verwenden. 2.2.19 Axiom Gelten f¨ ur zwei Dreiecke ∆ABC und ∆A0 B 0 C 0 die Kongruenzen AB ≡ A0 B 0 , AC ≡ A0 C 0 und ∠BAC ≡ ∠B 0 A0 C 0 , so gilt auch ∠CBA ≡ ∠C 0 B 0 A0 . 2.2.20 Aufgabe Man zeige, dass in der Situation von 2.2.19 auch ∠ACB ≡ ∠A0 C 0 B 0 sowie BC ≡ B 0 C 0 gilt. ¨ ¨ Ahnlich wie bei Strecken kann man zeigen, dass die Kongruenz von Winkeln eine Aquivalenzrelation ist. Daher macht es Sinn, von kongruenten Winkeln zu sprechen.
2.2 Hilberts Axiome
17
Mit Hilfe der bisherigen Axiome lassen sich die aus der Schule vertrauten Aussagen wie die Kongruenz von Neben- und Gegenwinkeln (Scheitelwinkeln) beweisen. Diese werden im Schulunterricht u ¨blicherweise als anschaulich evidente Aussagen formuliert. Hier k¨onnen wir sie aber als Folgerungen aus unseren Axiomen formulieren. 2.2.21 Definition Es seien A und B Punkte auf einer Geraden g sowie C ein Punkt außerhalb von g. Weiter seien D ein Punkt auf g auf der anderen Seite von A sowie E ein Punkt auf h := AC auf der anderen Seite von A. Dann heißen die Winkel ∠(AC AD AE −→, − −→) und ∠(AD −−→, − →) Nebenwinkel bzw. Gegenwinkel des Winkels ∠(AB AC −→, − →). 2.2.22 Satz Nebenwinkel kongruenter Winkel sind kongruent. Beweis Es seien A, B und D drei Punkte auf einer Geraden, sodass A zwischen B und D liegt, und C ein Punkt außerhalb von AB. Ebenso seien A0 , B 0 und D0 drei Punkte auf einer Geraden, sodass A0 zwischen B 0 und C 0 liege. Weiter sei C 0 außerhalb von A0 B 0 , sodass 0 0 0 0 die Winkel ∠(AB AC B ,− A− C −→, − →) und ∠(A − − → →) kongruent sind. Dann ist zu zeigen, dass auch die 0 0 0 0 Winkel ∠(AC AD A−D −→, − −→) und ∠(A −−C →, − →) kongruent sind.
Abbildung 2.3: Zum Beweis des Nebenwinkelsatzes 2.2.22 Aufgrund der M¨oglichkeit, auf einem gegebenen Halbstrahl Strecken abtragen zu k¨onnen, k¨onnen wir annehmen, dass folgende Streckenkongruenzen erf¨ ullt sind: AB ≡ A0 B 0 , AC ≡ A0 C 0 , AD ≡ A0 D0 . Wendet man nun die Aufgabe 2.2.20 auf die Dreiecke ABC und A0 B 0 C 0 , so erh¨alt man die Kongruenzen BC ≡ B 0 C 0 und ∠ABC ≡ ∠A0 B 0 C 0 . Weiter sind aufgrund von 2.2.12 3. die Strecken DB und D0 B 0 kongruent. Eine erneute Anwendung der Aufgabe 2.2.20 auf die beiden Dreiecke DBC und D0 B 0 C 0 liefert die Kongruenzen ∠CDA ≡ ∠C 0 D0 A0
und DC ≡ D0 C 0 .
Schließlich folgt nun mit Hilfe des Axioms 2.2.19 angewendet auf die Dreiecke DAC und D0 A0 C 0 die behauptete Kongruenz der Nebenwinkel. 2.2.23 Korollar (Gegenwinkelsatz oder Scheitelwinkelsatz) Gegenwinkel sind kongruent. Beweis Dies folgt direkt aus dem Satz 2.2.22, da Gegenwinkel Nebenwinkel des gleichen Winkels sind.
18
2.2.4
Axiomatik
Parallelit¨ at
Wie erw¨ahnt, war das umstrittenste euklidische Axiom das Parallelenaxiom von Euklid. Bevor das Hilbertsche Analogon formulieren, beweisen wir die Existenz von Parallelen im Hilbertschen System. Dazu definieren wir zun¨achst den Begriff der Parallelit¨at. 2.2.24 Definition Zwei Geraden heißen parallel, falls sie keinen gemeinsamen Punkt haben. 2.2.25 Satz Es sei g eine Gerade sowie P ein Punkt, der nicht zu g geh¨ort. Dann gibt es eine Gerade h, die P enth¨alt und parallel zu g ist.
Abbildung 2.4: Existenz von Parallelen Beweis Es seien Q, R zwei verschiedene Punkte von g sowie ` die Gerade durch P und Q. Dann l¨aßt sich der Winkel ∠P QR auf der Geraden ` in P abtragen: Es gibt also einen Punkt U auf ` sowie einen Punkt T , sodass der Winkel ∠P QR kongruent zum Winkel ∠U P T ist. Wir behaupten, dass die Gerade h := P T parallel zu g ist. Angenommen, g und h schneiden sich in einem Punkt S. Dann tragen wir die Strecke SQ ausgehend von P auf h ab, aber nicht auf der selben Seite wie S. Es gibt also einen Punkt W auf h mit SQ ≡ P W und P liegt zwischen S und W . Aufgrund der Kongruenz der Gegenwinkel 2.2.23 sind die Winkel ∠SQP und ∠W P Q kongruent. Wendet man das Kongruenzaxiom 2.2.19 auf die Dreiecke ∆SQP und ∆QW P an, so folgt ∠QP S ≡ ∠P QW . Wegen der Kongruenz der Nebenwinkel 2.2.22 ist daher ∠W QP zum Nebenwinkel von ∠P QS kongruent. Die Eindeutigkeit der Winkelabtragung impliziert nun, dass W zu g geh¨ort, was offenbar unm¨oglich ist. Es gibt somit im Hilbertschen Axiomensystem immer Parallelen. Um nun die euklidische Geometrie zu erhalten, muss man fordern, dass es maximal eine solche gibt: 2.2.26 Axiom Es sei P ein Punkt außerhalb einer Geraden g. Dann gibt es maximal eine parallele Gerade zu g durch P .
2.2 Hilberts Axiome
2.2.5
19
Vollst¨ andigkeit
Die letzten beiden Axiome erlauben, die euklidische Geometrie eindeutig festzulegen. Das erste beschreibt dabei die in gewissem Sinne beliebige Verl¨angerbarkeit von Strecken und entspricht im Prinzip dem archimedischen Axiom der reellen Zahlen: urliche Zahl n ∈ N so, dass 2.2.27 Axiom Sind AB und CD zwei Strecken, so gibt es eine nat¨ das n-malige Abtragen von CD vom Punkt A aus, die Strecke AB enth¨alt. Zum Abschluss fordert man nun noch, dass die euklidische Geometrie vollst¨andig ist, d.h. es gibt keine echte Erweiterung des bisher konstruierten Systems. 2.2.28 Axiom Es sei P0 und G0 ein System von Punkten mit P ⊂ P0 und G ⊂ G0 zusammen mit Inzidenz-, Anordnungs- und Kongruenzrelationen, die die die Inzidenz-, Anordnungs- und Kongruenzrelationen auf P und G fortsetzen. Dann gilt P = P0 und G = G0 . Man sagt auch, dass das urspr¨ ungliche System maximal ist. Man kann zeigen, dass es bis auf Isomorphie genau ein System von Punkten, Geraden zusammen mit den zugeh¨origen Relationen gibt, welches alle aufgef¨ uhrten Hilbertschen Axiome erf¨ ullt. Man kann damit die gesamte Geometrie nun anhand der Axiome aufbauen. Da dies aber sehr m¨ uhsam ist, gehen wir einen einfacheren Weg und definieren ein Modell der euklidischen Geometrie, welches die Axiome erf¨ ullt und arbeiten dann damit. In der so genannten absoluten Geometrie arbeitet man lediglich mit den Axiomen der Verkn¨ upfung 2.2.1, den Axiomen der Anordnung 2.2.6, 2.2.7 und den Axiomen der Vollst¨andigkeit. Die Axiome der Kongruenz werden durch etwas schw¨achere Axiome (der Bewegung) ersetzt (vgl. [30]). Dadurch wird erreicht, dass es absolute Geometrien gibt, in denen keine Parallelen existieren (im Gegensatz zu Satz 2.2.25). Auf das Parallelenaxiom wird in der absoluten Geometrie vollst¨andig verzichtet. Ersetzt man dieses durch die Forderung, dass es keine Parallelen gibt, so erh¨alt man die elliptischen Geometrien; fordert man die Existenz mindestens zweier Parallelen, so erh¨alt man eine hyperbolische Geometrie.
Kapitel 3 Klassische euklidische Geometrie Die klassischen Ergebnisse der Euklidischen Geometrie sind das zentrale Thema des Geometrieunterrichts in der Unter- und Mittelstufe des allgemeinbildenden Gymnasiums. Naturgem¨aß sind Sch¨ uler dieser Altersstufe nicht in der Lage, einen deduktiven Theorieaufbau verstehen zu k¨onnen. Vielmehr muss man an Alltagserfahrungen sowie -anschauungen ankn¨ upfen und ausgehend von (mehr oder weniger) evidenten Sachverhalten die Geometrie entwickeln. Wir wollen hier einerseits keine Larifari“-Mathematik betreiben, andererseits aber auch nicht zu viel Zeit ” auf eine theoretische Fundierung verschwenden. Daher stellen wir ein auf Grundlage analytischer Vorkenntnisse gewonnenes Modell der euklidischen Geometrie vor, auf dessen Basis wir dann die Elementargeometrie entlang den in der Schule u ¨blichen und m¨oglichen Wegen entwickeln werden.
3.1
Ein Modell der euklidischen Geometrie
In diesem Abschnitt definieren wir Punkte und Geraden und zeigen die grundlegenden Aussagen, die man in der Schule als anschaulich gegeben voraussetzt. 3.1.1 Definition Unter der Euklidischen Ebene E := (R2 , h·, ·i) verstehen wir den reellen Vektorraum R2 ausgestattet mit dem Standardskalarprodukt (als Messinstrument). Die Punkte dieser Geometrie sind die Elemente von R2 . Wir schreiben f¨ ur einen Punkt A von E oft einfach A ∈ E. Weiter ist f¨ ur A ∈ E und v ∈ R2 \ {0} die Menge Γ := A + Rv := {a + t · v; t ∈ R} eine Gerade in E. Ein Punkt P geh¨ort zu Γ, falls P ∈ Γ gilt. Im folgenden Teil dieses Abschnitts u ufen wir, dass unser Modell das Axiomensystem von ¨berpr¨ Hilbert erf¨ ullt. Bei einigen Axiomen ist dies mehr oder weniger offensichtlich; wir werden daher den Nachweis lediglich an einigen ausgew¨ahlten Axiomen explizit durchf¨ uhren. Um einen ersten Eindruck zu gewinnen, zeigen wir exemplarisch das erste Inzidenzaxiom:
3.1 Ein Modell der euklidischen Geometrie
21
3.1.2 Lemma Es seien A, B ∈ E mit A 6= B. Dann gibt es genau eine Gerade AB, zu der A und B geh¨oren. Beweis
Existenz: Mit v := B − A gilt f¨ ur Γ := A + Rv offenbar A, B ∈ Γ.
Eindeutigkeit: Es sei K := C + Ru eine weitere Gerade mit A, B ∈ K. Dann gibt es s, t ∈ R mit C + su = A und C + tu = B, d.h. (t − s)u = B − A. Es sei nun X ∈ Γ. Dann gilt X = A + r(B − A) f¨ ur ein r. Daraus folgt X = C + su + r(t − s)u = C + (s + rt − rs)u ∈ K, also Γ ⊂ K. Analog zeigt man K ⊂ Γ, also die Eindeutigkeit.
¨ Als Ubung empfehlen wir, auch die anderen Inzidenzaxiome nachzuweisen. Wir k¨onnen auch eine Zwischenbeziehung definieren: 3.1.3 Definition Es seien A 6= B ∈ E und Γ := A + R(B − A) sei die eindeutig bestimmte Gerade durch A und B. Ist nun C ∈ Γ, dann gibt es genau ein t ∈ R mit C = A + t(B − A). Dann liegt C zwischen A und B, falls 0 < t < 1 gilt und die Strecke AB ist definiert durch AB := {A + t(B − A), t ∈]0, 1[} Die Anordnungsaxiome aus 2.2.6 sind mit dieser Definition relativ einfach nachzuweisen. Mehr Probleme bereitet das Axiom von Pasch 2.2.7, f¨ ur dessen Nachweis wir eine einfache Charakterisierung daf¨ ur einf¨ uhren, dass zwei Punkte auf verschiedenen Seiten einer Geraden liegen. 3.1.4 Definition Es sei Γ := A+Rv eine Gerade. Ein Vektor n ∈ R2 \{0} heißt Normalenvektor von Γ, falls hv, ni = 0 gilt. Dabei bezeichnet h , i wie erw¨ahnt das Standardskalarprodukt im R2 . 3.1.5 Aufgabe Es sei Γ := A + Rv eine Gerade und n ein Normalenvektor von Γ. Man zeige Γ = {P ∈ R2 ; hP − A, ni = 0}. 3.1.6 Lemma Es sei Γ eine Gerade mit A ∈ Γ und Normalenvektor n. Dann liegen P, Q ∈ E\Γ genau dann auf der gleichen Seite von Γ, wenn hP −A, ni und hQ−A, ni0 das gleiche Vorzeichen haben. ur X ∈ P Q Beweis Es gilt P Q = {P + t(Q − P ); t ∈]0, 1[} = {tQ + (1 − t)P ; t ∈]0, 1[}. F¨ hat man also hX − A, ni = thQ − A, ni + (1 − t)hP − A, ni =: µt + ν(1 − t) =: f (t). Offenbar ist f eine lineare Funktion, und es gilt f (0) = ν und f (1) = µ. Daher hat f genau dann eine Nullstelle in ]0, 1[, wenn ν und µ verschiedenes Vorzeichen haben, woraus die Behauptung folgt. Damit k¨onnen wir nun das Axiom von Pasch 2.2.7 beweisen:
22
Klassische euklidische Geometrie
3.1.7 Satz Es seien A, B, C ∈ E drei Punkte, die nicht auf einer gemeinsamen Gerade liegen. Weiter sei Γ eine Gerade, die keinen der drei Punkte A, B, C enthalte sowie die Strecke AB schneide. Dann schneidet Γ auch BC oder AC. Beweis Es sei S der Schnittpunkt von Γ mit AB sowie n ein Normalenvektor von Γ. Gem¨aß 3.1.6 k¨onnen wir (sonst ersetze man n duch −n) annehmen, dass hA−S, ni < 0 und hB −S, ni > 0 gilt. Weiter gilt nach Voraussetzung hC − S, ni = 6 0. Im ersten Fall sei hC − S, ni > 0. Wieder aufgrund von 3.1.6 liegen dann C und A auf verschiedenen Seiten von Γ, d.h. Γ schneidet AC. Der andere Fall geht analog. Der Begriff des Halbstrahls u ¨bersetzt sich folgendermaßen: 3.1.8 Definition Es seien A, B ∈ E mit A 6= B. Dann heißt AB −→ := {A + t(B − A), t ≥ 0} der Halbstrahl von A in Richtung B. 3.1.9 Aufgabe Man zeige: Sind A, B, C ∈ E mit B, C 6= A, so sind folgende Aussagen ¨aquivalent: 1. AB −→ = AC −→, 2. es gibt ein s ∈ R>0 mit C − A = s(B − A), 3. B und C liegen auf der gleichen Seite von A. Um die metrischen Gr¨oßen in E, n¨amlich Streckenl¨ange und Winkel, einf¨ uhren zu k¨onnen, ben¨otigen wir das Skalarprodukt als Messinstrument. Dazu bezeichnen wir wie u ¨blich mit h·, ·i n das Standardskalarprodukt im R und mit arccos den Hauptwert des Arkuskosinus. 3.1.10 Definition
1. Es seien A, B ∈ E. Die L¨ange der Strecke AB ist definiert durch p |AB| := hB − A, B − Ai.
2. Zwei Strecken AB und CD sind kongruent, falls |AB| = |CD| gilt. ¨ Es ist eine einfache Ubung nachzurechnen, dass mit dieser Definition die Kongruenzaxiome f¨ ur Strecken 2.2.12 erf¨ ullt sind. Ebenso lassen sich Winkel mit Hilfe des Skalarprodukts definieren: 3.1.11 Definition 1. Sind AB −→ sowie AC −→ zwei Halbstrahlen, so ist der Winkelwert zwischen diesen Halbstrahlen AB −→ und AC −→ definiert durch ^BAC := ^(AB AC −→, − →) := arccos
hB − A, C − Ai |AB| · |AC|
.
3.1 Ein Modell der euklidischen Geometrie
23
0 0 0 0 2. Zwei Winkel ∠(AB AC A− C −→, − →) und ∠(A −−B →, − →) sind kongruent, wenn 0 0 0 0 A− C ^(AB AC →) −−B →, − −→, − →) = ^(A
gilt. 3.1.12 Aufgabe Man zeige, dass die Definition des Winkelwerts wohldefiniert ist, also nicht von der Wahl der Punkte B und C auf den Halbstrahlen abh¨angt. Mit Hilfe von etwas Analysis k¨onnen wir zeigen, dass die Definition des Winkelwerts mit unserer intuitiven Vorstellung u ¨bereinstimmt: 3.1.13 Lemma (Zirkellemma) Es sei γ : R → E, t 7→ (cos(t), sin(t)), die u ¨bliche Parametrisierung des Einheitskreises, sowie t1 , t2 ∈ R mit 0 ≤ t2 − t1 ≤ π. Weiter seien V := γ(t1 ), W := γ(t2 ) und O := (0; 0) der Mittelpunkt des Kreises. Dann gilt
Zt2
kγ 0 (t)k dt = ^V OW
t1
Beweis
Offenbar gilt Zt2 t1
Zt2 q kγ (t)k dt = sin2 (t) + cos2 (t) dt = t2 − t1 . 0
t1
Wegen |OV | = |OW | = 1 liefert das Additionstheorem des Kosinus nun die Behauptung, wenn man zudem beachtet, dass 0 ≤ t2 − t1 ≤ π gilt. Anschaulich zeigt dieses Lemma, dass der Winkelwert des durch den Kreismittelpunkt und die Punkte V und W bestimmten Winkel genau der L¨ange des zugeh¨origen Kreisbogens auf dem Einheitskreis entspricht. Desweiteren folgt daraus offenbar die Additivit¨at nebeneinanderliegender Winkel. Mit Hilfe dieser Charakterisierung ist es nun nicht schwierig, die Axiome 2.2.17 nachzuweisen. 3.1.14 Aufgabe Es sei X ∈ E ein Punkt mit kXk = 1. Man zeige, dass es dann genau ein t ∈ [0; 2π[ gibt mit (cos(t), sin(t)) = X. 3.1.15 Aufgabe Man zeige, dass sich im kartesischen Modell Winkel im Sinn von Axiom 2.2.17 eindeutig abtragen lassen.
24
Klassische euklidische Geometrie
Interessanter wird es mit der Kongruenzsatz sws“ 2.2.19, f¨ ur den wir nun in unserem Modell ” einen Beweis geben: 3.1.16 Satz Es seien ∆ABC sowie ∆A0 B 0 C 0 Dreiecke mit |AB| = |A0 B 0 |, |AC| = |A0 C 0 | und ^BAC = ^B 0 A0 C 0 . Dann gilt auch ^CBA = ^C 0 B 0 A0 . Beweis
Zun¨achst sieht man
hC−A, A−Bi = − cos(^BAC)·|AC|·|AB| = − cos(^B 0 A0 C 0 )·|A0 C 0 |·|A0 B 0 | = hC 0 −A0 , A0 −B 0 i. Daher hat man auch |BC| = |C − A + A − B| =
p |AC|2 + 2hC − A, A − Bi + |AB|2 = |B 0 C 0 |.
Somit folgt nun cos ^CBA =
hC − B, A − Bi hC − A, A − Bi |AB| = + = cos ^C 0 B 0 A0 |BC| · |AB| |BC| · |AB| |BC|
und daraus die Behauptung.
Die Axiomengruppe Parallelit¨at besteht lediglich aus einem einzigen Axiom, n¨amlich dem Parallelenaxiom, dessen Nachweis im kartesischen Modell nicht allzuschwierig ist. Wir erweitern die ¨ Definition einer Parallelen geringf¨ ugig, um Parallelit¨at zu einer Aquivalenzrelation zu machen: 3.1.17 Definition Zwei Geraden g und h sind parallel, falls sie keinen Schnittpunkt haben oder g = h gilt. 3.1.18 Aufgabe 1. Es seien Γ = A + Rv und K = B + Ru zwei Geraden. Man zeige, dass Γ und K genau dann parallel sind, wenn v = tu f¨ ur ein geeignetes t ∈ R gilt. 2. Man zeige das Parallelenaxiom 2.2.26: Ist Γ eine Gerade und P ∈ E ein Punkt, so gibt es maximal eine zu Γ parallele Gerade durch P . Eine weitere Anwendung der in Aufgabe 3.1.18 gegebenen Charakterisierung von Parallelit¨at ist der Strahlensatz: 3.1.19 Satz (Strahlensatz) Es seien g, h zwei unterschiedliche Halbstrahlen, die von einem gemeinsamen Punkt S ausgehen, aber nicht auf der gleichen Gerade liegen und von zwei verschiedenenen parallelen Geraden (nicht durch S) in A und B bzw. C und D geschnitten werden (d.h. AB k CD). Dann gilt |DC| |SC| |SD| = = . |AB| |SA| |SB|
Beweis Nach Voraussetzung und Aufgabe 3.1.9 gelten (C −S) = α(A−S), D−S = β(B −S) und wegen der Parallelit¨at D − C = γ(B − A). Andererseits gilt γ(B − S + S − A) = γ(B − A) = D − C = D − S + S − C = β(B − S) − α(A − S).
3.1 Ein Modell der euklidischen Geometrie
25
Abbildung 3.1: Der Strahlensatz Daraus erh¨alt man (β − γ)(B − S) + (γ − α)(A − S) = 0. Da g und h verschiedene Strahlen sind, sind B − S und A − S linear unabh¨angige Vektoren, also folgen α = γ = β und damit die Behauptung. 3.1.20 Aufgabe Man zeige die Umkehrung des Strahlensatzes: Werden zwei Strahlen, die von einem gemeinsamen Punkt S ausgehen, von zwei parallelen Geraden in A und B bzw. C und D (mit A 6= B und C 6= D) geschnitten, sodass |SD| |SC| = |SA| |SB| gilt, dann sind AB und CD parallel. Das Axiom von Archimedes 2.2.27 nachzuweisen, ist ebenfalls nicht weiter schwierig und bleibt ¨ dem Leser zur Ubung u ¨berlassen. Etwas aufw¨andiger ist der Nachweis des Vollst¨andigkeitsaxiom 2.2.28. 3.1.21 Satz Es seien P0 Punkte und G0 Geraden eines Systems, welches die Axiome einer ebenen euklidischen Geometrie erf¨ ullt mit P := R2 ⊂ P0 und G := {AB; A, B ∈ E} ⊂ G0 . 0 0 Dann gilt P = P und G = G . Beweis Wir zeigen dies in drei Schritten: Zun¨achst sei P ∈ P0 ein Punkt, der zu der Geraden AB ∈ G geh¨ort. Dann legen wir gem¨aß dem Archimedischen Axiom die Strecke AB so oft an A in Richtung P an bis die Strecke nAB den Punkt P enth¨alt. Den Endpunkt der Strecke nAB bezeichnen wir mit C. Offenbar gilt C ∈ P. Daher l¨aßt sich AB in der Form A + R(C − A) schreiben, und es gilt C = A + 1(C − A). Es sei nun T := {t ∈ R; A + t(C − A) liegt auf der gleichen Seite von P wie A}. Dann gilt T 6= ∅, da 0 ∈ T . Weiter gilt offenbar T < 1, also ist T beschr¨ankt. Es sei nun s = sup T und Q := A + s(C − A). Liegt nun Q auf der gleichen Seite wie A von P , so gibt es wie oben ein k, sodass das k-fache und Abtragen der Strecke QP von Q aus den Punkt C enth¨alt. Wir setzen nun s0 := s + 1−s k
26
Klassische euklidische Geometrie
Q0 := A + s0 (C − A). Tr¨agt man nun die Strecke QQ0 genau k-mal von Q aus ab, so erh¨alt man die Strecke QC. Insbesondere gilt s0 > s. Weil die Strecke QC aber in der k-mal abgetragen Strecke QP enthalten ist, ist auch die Strecke QQ0 in QP enthalten. Daher liegt Q0 auf der gleichen Seite von P wie Q, was der Wahl von s als Supremum von T widerspricht. Analog zeigt man, dass Q auch nicht auf der anderen Seite von P liegen kann, was schließlich impliziert, dass P = Q ∈ P gilt. Es sein nun P ∈ P0 ein beliebiger Punkt. Dann w¨ahlen wir einen Punkt S ∈ P und betrachten die Gerade SP . Weiter w¨ahlen wir drei Punkte A, B, C ∈ P, sodass A, S, B auf einer Geraden liegen, S zwischen A und B liegt und C ∈ / AB liegt. Nach dem Axiom von Pasch 2.2.7 schneidet dann SP entweder AC oder AB in X. Nach dem ersten Teil des Beweises ist X ∈ P und die Gerade SP stimmt mit SX u ¨berein. Wieder nach dem ersten Teil gilt dann auch P ∈ P. Der Abschluss des Beweises ist nun einfach: Es sei Γ ∈ G0 eine Gerade. Diese enth¨alt zwei Punkte P, Q ∈ P0 = P. Daher gilt Γ = P Q ∈ G.
3.2
Grundlegende Aussagen der Mittelstufengeometrie
In diesem Abschnitt wiederholen wir die grundlegenden Aussagen der klassischen euklidischen Geometrie, wie sie so auch u ¨blicherweise in der Schulmathematik besprochen werden. Wir werden daher auch nicht von h¨oherer Warte“ aus diese Grundaussagen betrachten, sondern ” vielmehr dem klassischen Schulweg folgen. Die Aussagen jedoch, die in der Schule u ¨blicherweise aus der unmittelbaren Anschauung gewonnen werden, weisen wir mit unserern Methoden nach und legen diese dann f¨ ur die weitere Entwicklung zugrunde. Exemplarisch zeigen wir, wie man den in Abschnitt 2.2.3 aus den Axiomen abgeleiteten Nebenwinkelsatz 2.2.22 alternativ mit analytischen Methoden in unserem Modell erhalten kann. 3.2.1 Satz (Nebenwinkelsatz) Es seien A, B, D ∈ E drei Punkte auf einer Geraden Γ mit A zwischen B und D. Weiter sei C ∈ E ein Punkt nicht auf Γ. Dann gilt ^CAD = π − ^BAC. Beweis Da A zwischen B und D liegt, gilt A = B + t(D − B) f¨ ur ein t ∈]0, 1[. Dies impliziert t(D − A) = (t − 1)(B − A), also D − A = s(B − A) f¨ ur ein s < 0. Daher gilt shB − A, C − Ai hB − A, C − Ai hD − A, C − Ai = =− . |AD| · |AC| |s||AB| · |AC| |AB| · |AC| F¨ ur x ∈ [0, π] gilt − cos(x) = cos(π − x), woraus die Behauptung folgt.
Wir verwenden bereits im n¨achsten Satz das Parallelenaxiom. Im Kapitel 4 werden wir uns mit Geometrien auseinandersetzen, in denen das Parallelenaxiom nicht erf¨ ullt ist. 3.2.2 Satz (Stufenwinkelsatz bzw. Wechselwinkelsatz) Es seien g, g 0 ein Paar verschiedener paralleler Geraden sowie h eine Gerade, die g und g 0 in S und S 0 schneide. Es seien A und A0
3.2 Grundlegende Aussagen der Mittelstufengeometrie
27
Punkte auf g und g 0 , die auf den entsprechenden Seiten von S bzw. S 0 liegen. Weiter sei B ein Punkt auf h, sodass S und S 0 auf der gleichen Seite von B liegen. Dann gilt ^ASB = ^A0 SB. ¨ ¨ Den Beweis dieses Satzes u (dieser folgt im Ubrigen auch ¨berlassen wir dem Leser zur Ubung aus dem Beweis des Satzes 2.2.25 zusammen mit dem Parallelenaxiom 2.2.26). Eine erste etwas interessantere Folgerung ist der Satz u ¨ber die Winkelsumme im Dreieck. 3.2.3 Satz (Winkelsummensatz) Es sei ∆ABC ein Dreieck. Dann gilt ^BAC + ^CBA + ^ACB = π. Beweis
Es sei g eine (die) Paralle zu AB durch C sowie A0 und B 0 Punkte auf AB mit C
Abbildung 3.2: Zum Beweis des Winkelsummensatzes 3.2.3 zwischen A0 und C 0 . Dann gilt aufgrund des Stufenwinkelsatzes 3.2.2 ^BAC + ^CBA + ^ACB = ^B 0 CA0 = π. Eine unmittelbare Folgerung des Winkelsummensatz ist der Satz vom Außenwinkel: 3.2.4 Definition In einem Dreieck heißen die Nebenwinkel der Innenwinkel die Außenwinkel des Dreiecks. 3.2.5 Korollar (Satz vom Außenwinkel) In einem Dreieck entspricht der Wert eines jeden Außenwinkels der Summe der Winkelwerte der beiden nicht anliegenden Innenwinkel; insbesondere ist jeder Außenwinkel gr¨oßer als die beiden nicht anliegenden Innenwinkel. Einer der grundlegendensten S¨atze der klassischen Schulgeometrie ist der Basiswinkelsatz: 3.2.6 Satz Es sei ABC ein gleichschenkliges Dreieck mit |AC| = |BC|. Dann gilt ^BAC = ^CBA.
28
Klassische euklidische Geometrie
Beweis Dies ist eine direkte Anwendung des Axioms 2.2.19 bzw. des Kongruenzsatzes sws 3.1.16 auf die Dreiecke ABC und BAC. 3.2.7 Korollar In jedem Dreieck liegt der gr¨oßere Winkel der gr¨oßeren Seite gegen¨ uber: In einem Dreieck ABC gilt genau dann die Ungleichung ^BAC < ^CBA, wenn |BC| < |AC| gilt. Beweis F¨ ur ⇐ “ zeigen wir die Negierung der Aussage, d.h. wir gehen von der Ungleichung ” |BC| ≥ |AC| aus. Dann gibt es einen Punkt A0 auf CB mit |A0 C| = |AC|. Dann gilt nach dem Außenwinkelsatz 3.2.5 ^CA0 A ≥ ^CBA. Mit dem Basiswinkelsatz folgt schließlich ^BAC ≥ ^A0 AC = ^CA0 A ≥ ^CBA. Die umgekehrte Richtung geht analog.
Eine unmittelbare Folgerung ist die Umkehrung des Basiswinkelsatzes 3.2.8 Korollar Es sei ABC ein Dreieck mit gleichen Basiswinkeln, etwa ^BAC = ^CBA. Dann gilt |AC| = |CB|. In vielen Anwendungen spielt der so genannte rechte Winkel eine fundamentale Rolle: 3.2.9 Definition Ein Winkel mit dem Winkelwert
π heißt rechter (oder orthogonaler) Winkel. 2
3.2.10 Satz Es sei g eine Gerade mit drei Punkten A, O, B, sodass O zwischen A und B liegt, sowie C ein Punkt nicht auf g. Dann sind ¨aquivalent: 1. ∠AOC ist ein rechter Winkel; 2. ∠BOC ist ein rechter Winkel; 3. hOA, OCi = 0; 4. hOB, OCi = 0. ¨ Beweis Die Aquivalenz von 1. und 2. ist eine direkte Folgerung aus dem analytischen Neben¨ winkelsatz 3.2.1; die Aquivalenzen von 1. und 3. bzw. 2. und 4. folgen sofort aus der Definition 3.1.11 des Winkelwerts. Im Folgenden beweisen wir noch die Kongruenzs¨atze. 3.2.11 Definition Zwei Dreiecke heißen kongruent, falls es eine Eckenbenennung ABC bzw. A0 B 0 C 0 gibt mit |AB| = |A0 B 0 |, |AC| = |A0 C 0 |, |BC| = |B 0 C 0 | sowie ^BAC = ^B 0 A0 C, ^CBA = ^C 0 B 0 A0 und ^ACB = ^A0 C 0 B 0 gelten.
3.3 Abbildungen
29
3.2.12 Satz (wsw) Es seien ABC und A0 B 0 C 0 Dreiecke mit |AB| = |A0 B 0 |, ^CBA = ^C 0 B 0 A0 und ^BAC = ^B 0 A0 C 0 . Dann sind ABC und A0 B 0 C 0 kongruent. Beweis Ohne Einschr¨ankung k¨onnen wir annehmen, dass |BC| ≤ |B 0 C 0 | ist. Tr¨agt man nun die Strecke |BC| von B 0 ausgehend auf B 0 C 0 ab, so sei C 00 der Endpunkt dieser Strecke: Dann sind die Dreiecke ABC und A0 B 0 C 00 nach dem Kongruenzsatz 3.1.16 kongruent. Daher gilt ^B 0 A0 C 00 = ^BAC = ^B 0 A0 C 0 . Dies impliziert aber C 00 = C 0 und damit die Behauptung.
3.2.13 Satz (sss) Es seien ABC und A0 B 0 C 0 Dreiecke mit |AB| = |A0 B 0 |, |AC| = |A0 C 0 | und |BC| = |B 0 C 0 |. Dann sind ABC und A0 B 0 C 0 kongruent. Beweis
F¨ ur v, w ∈ E gilt die Identit¨at
1 |v|2 + |w|2 − |v − w|2 . (3.1) 2 Dies impliziert, dass die Winkelwerte ^BAC und ^B 0 A0 C 0 u ¨bereinstimmen. Dann folgt die Behauptung wieder aus 3.1.16. hv, wi =
3.2.14 Satz (ssW, oft auch Ssw) Es seien ABC und A0 B 0 C 0 Dreiecke mit |AB| = |A0 B 0 | ≥ |AC| = |A0 C 0 | und ^ACB = ^A0 C 0 B 0 . Dann sind ABC und A0 B 0 C 0 kongruent. Beweis Es gen¨ ugt zu zeigen, dass |CB| = |C 0 B 0 | ist. Andernfalls k¨onnen wir |CB| > |C 0 B 0 | annehmen. Dann gibt es einen Punkt B 00 auf der Strecke C 0 B 0 , sodass |C 0 B 00 | = |CB| gilt. Somit sind die Dreiecke ABC und A0 B 00 C 0 kongruent. Insbesondere gilt ^CBA = ^C 0 B 00 A0 und |B 00 A| = |AB| = |A0 B 0 |. Nachdem Basiswinkelsatz gilt daher ^A0 B 0 B 00 = ^A0 B 00 B 0 . Daher ist ∠C 0 B 00 A0 zum Außenwinkel von ∠A0 B 0 C 0 = ∠A0 B 0 B 00 kongruent. Daher hat man ^CBA = ^C 0 B 00 A0 > ^A0 C 0 B 00 = ^ACB. . Nach Korollar 3.2.7 folgt daraus aber |AC| > |AB| im Widerspruch zur Annahme.
3.2.15 Aufgabe Man zeige, dass im Satz 3.2.14 (mit der dort verwendeten Notation) die Voraussetzung |AB| ≥ |AC| notwendig ist.
3.3
Abbildungen
Wie in den meisten mathematischen Disziplinen spielen Abbildungen auch in der Geometrie eine entscheidende Rolle. Beispielsweise wird in der Schule die Kongruenz von Dreiecken oftmals u uhrt. Dabei versteht man unter einer Kongruenzabbildung ¨ber Kongruenzabbildungen eingef¨ eine aus Translationen (Verschiebungen), Rotationen (Drehungen) und Spiegelungen zusammengesetze Abbildung. Wir werden in diesem Abschnitt diese und allgemeinere Abbildungen untersuchen.
30
Klassische euklidische Geometrie
¨ 3.3.1 Definition Eine bijektive Abbildung f : E → E heißt eine Ahnlichkeitstransformation, wenn f geraden- und verh¨altnistreu ist, d.h. f¨ ur alle A, B, C, D ∈ E und jede Gerade g ∈ G gilt (i) f (g) ∈ G (Geradentreue), (ii) |f (A)f (B)| · |CD| = |f (C)f (D)| · |AB| (Verh¨altnistreue). Offenbar ist eine Abbildung genau dann verh¨altnistreu, wenn es eine positive Zahl λ ∈ R gibt mit |f (A)f (B)| = λ|AB| f¨ ur alle A, B ∈ E. Man nennt dieses λ auch den Streckfaktor von f . ¨ 3.3.2 Aufgabe 1. Man zeige, dass die Menge aller Ahnlichkeitstransformationen zusammen mit der u ¨ blichen Verkettung von Abbildungen eine Gruppe ist. 2. Es seien Z ∈ E und λ ∈ R \ {0}. Eine Abbildung f : E → E der Form X 7→ λ(X − Z) + Z heißt zentrische Streckung mit Zentrum Z und Streckfaktor λ. Man zeige, dass zentrische ¨ ¨ Streckungen Ahnlichkeitsabbildungen sind. Gibt es weitere Ahnlichkeitsabbildungen? 3.3.3 Bemerkung Im folgenden verwenden wir eine einfache Charakterisierung der Zwischenbeziehung mit Hilfe des Begriffs der Streckenl¨ange: Liegen drei Punkte A, B, C auf einer Geraden, so liegt B genau dann zwischen A und C, wenn |AB| < |AC| und |BC| < |AC| gelten. ¨ 3.3.4 Lemma Es sei f : E → E eine Ahnlichkeitstransformation und A.B, C ∈ E drei Punkte auf einer Geraden mit B zwischen A und C. Dann liegt auch f (B) zwischen f (A) und f (C). Beweis Angenommen f (B) liegt nicht zwischen f (A) und f (C). Dann kann man ohne Einschr¨ankung annehmen, dass f (A) zwischen f (B) und f (C) liegt. Mit Hilfe von 3.3.3 erh¨alt man |BC| |f (B)f (C)| = < 1, 1< |f (A)f (C)| |AC| was einen Widerspruch darstellt.
¨ 3.3.5 Satz Jede Ahnlichkeitsabbildung f : E → E mit f (0) = 0 ist eine lineare Abbildung des 2 R = E. Beweis Es seien U ∈ R2 sowie α ∈ R. Dann liegen die Punkte 0, U und αU auf einer Geraden. Wir betrachten nur den Fall α > 1 (die anderen F¨alle gehen analog), d.h. U liegt zwischen 0 und αU . Da |0(αU )| = α|0U | gilt, liefert die Verh¨altnistreue sofort |0f (αU )| = α|0f (U )|. Weil f geradentreu ist, liegen 0, f (U ) und f (αU ) auch auf einer Geraden und aufgrund des letzten Lemmas liegt f (U ) zwischen 0 und f (αU ). Insgesamt folgt f (αU ) = αf (U ). Es sei nun auch W ∈ R2 . Dann liegen U , W und V := 21 (U + W ) auf einer Geraden, und es gilt |U V | = |W V |. Die Verh¨altnistreue und die Geradentreue liefert einerseits |f (U )f (V )| = |f (W )f (V )| und andererseits, dass f (U ), f (W ) und f (V ) auf einer Geraden mit f (V ) zwischen f (U ) und f (W ) liegen. Dies impliziert 1 1 1 (f (U ) + f (W )) = f (V ) = f (U + W ) = f (U + W ), 2 2 2
3.3 Abbildungen
31
wobei die letzte Umformung aus dem ersten Teil des Beweises folgt. Dies impliziert unmittelbar f (U + W ) = f (U ) + f (W ). ¨ 3.3.6 Korollar Jede Ahnlichkeitsabbildung f : E → E l¨aßt sich in der Form f (x) = Ax + b mit b ∈ E und einer quadratischen Matrix A ∈ R2×2 darstellen. Beweis Die Abbildung g : E → E, x 7→ f (x) − f (0), erf¨ ullt die Voraussetzung von 3.3.5, 2×2 d.h. g(x) = Ax f¨ ur eine geeignete Matrix A ∈ R . Setzt man b := f (0), so erh¨alt man f (x) = Ax + b. ¨ 3.3.7 Aufgabe Man zeige, dass Ahnlichkeitsabbildungen winkeltreu sind, d.h. sind f : E → E ¨ eine Ahnlichkeitsabbildung und A, B, C ∈ E, so gilt ^f (B)f (A)f (C) = ^BAC. ¨ Ahnlichkeitsabbildungen sind, wie erw¨ahnt, dadurch charakterisiert, dass |f (A)f (B)| = λ|AB| mit einem geeigneten λ > 0 gilt. Ein Spezialfall liegt vor, falls gerade λ = 1 ist. ¨ 3.3.8 Definition Eine Ahnlichkeitsabbildung f : E → E heißt eine Kongruenzabbildung, falls f l¨angentreu ist, d.h. |f (A)f (B)| = |AB| gilt. ¨ 3.3.9 Bemerkung Ist f : E → E eine Ahnlichkeitsabbildung mit Streckfaktor λ, so ist λ1 f eine Kongruenzabbildung. 3.3.10 Lemma Ist f : E → E eine Kongruenzabbildung mit f (0) = 0, so ist die zu f gem¨aß 3.3.5 geh¨orende Matrix A orthogonal, d.h. A ∈ O2 (R) (es gilt A−1 = A> ). Beweis
Dies ist eine direkte Folgerung aus Satz 3.3.5 und der Gleichung (3.1).
3.3.11 Korollar 1. Jede Kongruenzabbildung f ist von der Form f (x) = Ax + b mit einer orthogonalen Matrix A ∈ O2 (R). ¨ 2. Jede Ahnlichkeitsabbildung f ist von der Form f (x) = λAx + b mit einer orthogonalen Matrix A ∈ O2 (R) und einem λ ∈ R. Jede Kongruenzabbildung ist aus Drehungen, Spiegelungen und Translationen zusammengesetzt. 3.3.12 Satz Jede Kongruenzabbildung mit f (0) = 0 ist entweder eine Spiegelung an einer Ursprungsgerade oder eine Drehung um den Ursprung.
32
Beweis
Klassische euklidische Geometrie
Nach Lemma 3.3.5 a orthogonalen Matrix A = c gilt bekanntlich a b
ist f von der Form f (x) = Ax mit einer nach Lemma 3.3.10 b ∈ O2 (R). Insbesondere bedeutet das det(A) = ±1. Weiter d c d −b > −1 = A = A = ±1 . d −c a
Im Fall von det(A) = 1 impliziert das a −b A= b a
mit det(A) = a2 + b2 = 1.
Daher gibt es dann α ∈ [0; 2π[ mit a = cos(α) und b = sin(α) und A ist die Drehmatrix zum Winkel α cos(α) − sin(α) A = D(α) = . sin(α) cos(α) Im Fall det(A) = −1 erh¨alt man a b A= b −a
mit − det(A) = a2 + b2 = 1.
Man rechnet dann schnell nach, dass A genau die zwei Eigenwerte 1 und −1 besitzt und v := (b, 1 − a) und w := (a − 1, b) zugeh¨orige orthogonale Eigenvektoren sind. Also ist A Spiegelungsmatrix zur Spiegelung an Γ := Rv. 3.3.13 Aufgabe Man zeige, dass sich jede Drehung um den Ursprung als Komposition von Spiegelungen an Ursprungsgeraden schreiben l¨asst. 3.3.14 Satz Zwei (nicht entartete) Dreiecke ABC und A0 B 0 C 0 sind genau dann kongruent (in dieser Bezeichnung), wenn es eine Kongruenzabbildung f : E → E gibt mit f (A) = A0 , f (B) = B 0 und f (C) = C 0 . Beweis ⇐“ Dies ist eine unmittelbare Folgerung aus der Definition einer Kongruenzabbil” dung und z.B. dem Kongruenzsatz 3.2.13 oder der Aufgabe 3.3.7. ⇒“ Weil das Dreieck ABC nicht entartet ist, sind die Vektoren v := B − A und w := C − A ” linear unabh¨angig, also eine Basis des R2 . Es sei nun die lineare Abbildung h : R2 → R2 definiert durch h(v) := v 0 := B 0 − A0 und h(w) := w0 := C 0 − A0 . Es sei nun u ∈ R2 ein beliebiger Vektor. Dieser besitzt eine Darstellung u = αv + βw. kuk2 = hu, ui = α2 ||v||2 + β 2 ||w||2 + 2αβhv, wi. Auf der anderen Seite gilt h(u) = αv 0 + βw0 und damit kh(u)k = hh(u), h(u)i2 = α2 ||v 0 ||2 + β 2 ||w0 ||2 + 2αβhv 0 , w0 i. Die Kongruenz der Dreiecke ABC und A0 B 0 C 0 impliziert aber ||v|| = ||v 0 ||, ||w|| = kw0 k sowie hv, wi = hv 0 , w0 i. Ein Vergleich der beiden obigen Gleichungen f¨ ur die Skalarprodukte zeigt nun ||u|| = ||h(u)||; somit ist h l¨angentreu. Setzt man nun f : E → E, x 7→ h(x − A) + A0 ,
3.4 S¨atze u ¨ ber Polygone am Kreis
33
so ist f eine Kongruenzabbildung und erf¨ ullt f (A) = A0 , f (B) = B 0 sowie f (C) = C 0 .
¨ 3.3.15 Aufgabe Man nennt zwei Dreiecke ¨ahnlich, wenn es eine Ahnlichkeitstransformation gibt, die die beiden Dreiecke ineinander u uhrt. Man zeige, dass zwei Dreiecke genau dann ¨ berf¨ ¨ahnlich sind, wenn sie in entsprechenden Winkeln u ¨ bereinstimmen. Trifft dies auch auf Vierecke zu?
3.4
S¨ atze u ¨ ber Polygone am Kreis
In diesem Abschnitt besprechen wir einige S¨atze, die (derzeit leider) nicht mehr verbindlich im Lehrplan der Mittelstufe verankert sind. Wir beginnen mit dem Satz des Thales: 3.4.1 Definition Es sei M ∈ E ein Punkt und r > 0. Dann ist K(M ; r) := {X ∈ E; |XM | = r} der Kreis um M mit Radius r. 3.4.2 Bemerkung Bekanntlich ist K(M ; r) das Bild der Abbildung γ : R → E; t 7→ M + r(cos(t); sin(t)). Wir f¨ uhren noch folgende Redensart ein: F¨ ur t, t0 ∈ R mit t0 −t ≤ π sagen wir, dass X ∈ K(M ; r) zwischen γ(t) und γ(t0 ) liegt, falls es ein s ∈ R mit t < s < t0 gibt, so dass X = γ(s) gilt. (Man beachte, dass dadurch im Fall t0 − t = π beide Halbkreise zwischen γ(t) und γ(t0 ) liegen, was ¨ anschaulich vielleicht etwas verwirrend sein mag, aber f¨ ur die weiteren Uberlegungen oftmals ganz praktisch, beispielsweise im folgenden Satz!) 3.4.3 Satz (Peripherie-Winkel-Satz) Es sei K := K(M ; r) ein Kreis sowie A, B, C, C 0 ∈ K, wobei genau C zwischen A und B liege. Dann gilt ^BCA = π −
^AM B ^AM B bzw. ^AC 0 B = . 2 2
Beweis Wir beweisen nur die erste Aussage und u ¨berlassen die zweite dem Leser. Dazu setze man α := ^AM C und β := ^CM B. Weil die Dreiecke M AC und M CB gleichschenklig sind, gelten aufgrund Basiswinkel- 3.2.6 und Winkelsummensatz 3.2.3 1 1 ^M CA = (π − α) und ^BCM = (π − β). 2 2 Addition liefert die Behauptung. Ein Spezialfall ist der ber¨ uhmte Satz des Thales:
34
Klassische euklidische Geometrie
Abbildung 3.3: Der Peripherie-Winkel-Satz 3.4.4 Korollar (Satz des Thales) Sind A, B ∈ K(M ; r), sodass M ∈ AB gilt (d.h. AB) ist ein Kreisdurchmesser, und gilt C ∈ K(M ; r), so gilt ^BCA = π2 . 3.4.5 Aufgabe Man zeige die Umkehrung des Peripherie-Winkel-Satzes: Ist ABC ein Dreieck A und K(M ; r) ein Kreis mit A, B ∈ K(M ; r), sodass ^ACB = π − ^BM gilt, dann gilt C ∈ 2 K(M ; r). Es gibt eine Vielzahl weiterer Aussagen u ¨ber Punkte auf einem Kreis, die sich aus dem (oder ¨ahnlich wie der) Peripheriewinkelsatz ableiten lassen. Wir stellen beispielhaft eine weitere davon vor und animieren den Leser dazu, sich weitere Aussagen selbst zu u ¨berlegen oder in der Literatur nachzulesen (vgl. [4], Abschnitt 2.3). 3.4.6 Satz (Sehnensatz) Es seien K(M ; r) ein Kreis und A, B, C, D ∈ K(M ; r) paarweise verschieden mit S = AC ∩ BD. Dann gilt |AS| · |CS| = |BS| · |DS|.
Abbildung 3.4: Der Sehnensatz
3.4 S¨atze u ¨ ber Polygone am Kreis
35
Beweis Nach dem Peripheriewinkelsatz 3.4.3 hat man ^ABD = ^ACD. Ferner gilt aufgrunde des Scheitelwinkelsatzes 2.2.23 ^ASB = ^CSD. Somit sind aufgrund Aufgabe 3.3.15 die Dreiecke ABS und DSC ¨ahnlich, woraus unmittelbar die Behauptung folgt. F¨ ur Dreiecke, die den Satz des Thales erf¨ ullen, folgt, dass alle Eckpunkte des Dreiecks auf einem Kreis liegen. Diese Aussage gilt jedoch in der Euklidischen Geometrie immer. 3.4.7 Definition Es sei AB eine Strecke mit Mittelpunkt M . Eine Gerade m mit M ∈ m, die orthogonal zu AB ist, heißt Mittelsenkrechte von AB. 3.4.8 Lemma Es sei m Mittelsenkrechte von AB und P ∈ m. Dann gilt |AP | = |BP |. Beweis Die Dreiecke AM P und P M B sind nach dem Kongruenzsatz 3.1.16 kongruent, woraus die Behauptung folgt. Als unmittelbare Folgerung erh¨alt man 3.4.9 Satz-Definition Die Mittelsenkrechten des Dreiecks schneiden sich in einem Punkt, der von allen Eckpunkten den gleichen Abstand hat. Dieser heißt Umkreismittelpunkt des Dreiecks. Beweis Der Beweis ist eine direkte Folgerung aus der Transitivit¨at der Gleichheitsrelation und dem Lemma 3.4.8. Die Tatsache, dass sich je zwei Mittelsenkrechten immer schneiden, folgt aus dem Parallelenaxiom und bleibt dem Leser u ¨berlassen. Der Peripheriewinkelsatz hilft bei der Frage, wann ein Viereck einen Umkreis besitzt. In unserer Notation ist ein Viereck ABCD ein konvexes n-Eck mit vier Eckpunkten A, B, C und D, sodass die Strecken (Seiten) AB, BC, CD und DA sich nicht schneiden, die Diagonalen AC und BD dagegen einen gemeinsamen Punkt besitzen. Vierecke, die einen Umkreis besitzen, nennen wir Sehnenvierecke. Wir werden die Ecken eines Vierecks immer positiv orientiert bezeichnen: F¨ ur ein Sehnenviereck heißt das, dass es vier Zahlen t1 < t2 < t3 < t4 mit t4 − t1 < 2π gibt, sodass A = γ(t1 ), B = γ(t2 ), C = γ(t3 ) und D = γ(t4 ) gelten, wobei γ die Abbildung aus 3.4.2 ist. 3.4.10 Satz Ein Viereck ist genau dann ein Sehnenviereck, wenn sich gegen¨ uberliegende Winkel zu π erg¨anzen. Beweis Die Richtung ⇒“ ist eine unmittelbare Folgerung aus dem Satz 3.4.3. Die umge” ¨ kehrte Richtung u ¨berlassen wir dem Leser als Ubung. F¨ ur Sehnenvierecke ergibt sich eine interessanter Zusammenhang zwischen den Seitenl¨angen und den Diagonalenl¨angen eines solchen Vierecks. 3.4.11 Satz (Satz von Ptolemaios) Ist ABCD ein Sehnenviereck in positiver Orientierung, so gilt |AB| · |CD| + |BC| · |AD| = |AC| · |BD|.
36
Klassische euklidische Geometrie
Abbildung 3.5: Satz von Ptolemaios Beweis Wir w¨ahlen einen Punkt E ∈ |BD|, sodass ^EAD = ^BAC gilt (dies geht wegen der M¨oglichkeit, Winkel abzutragen). Wir beschr¨anken uns nun auf den in Abbildung 3.5 dargestellten Fall, dass 2 · ^BAC < ^BAD gilt und u ¨berlassen die (analog zu behandelnden) anderen F¨alle dem Leser. Wegen des Peripheriwinkelsatzes 3.4.3 gilt dann ^ADE = ^ACB, weil beides Winkel u ¨ber der Sehne AB sind. Da die beiden Dreiecke ABC und AED nach Konstruktion zudem in den Winkel bei A u ¨bereinstimmen, sind sie nach 3.3.15 ¨ahnlich. Daher gilt |AC| |BC| = , also |BC| · |AD| = |AC| · |DE|. |DE| |AD| Weiter gelten ^BAE = ^CAD sowie ^DCA = ^EBA (ersteres nach Wahl von E, letzeres wieder nach 3.4.3). Somit sind auch die Dreiecke ABE und ACD ¨ahnlich, d.h. |AC| |CD| = , also |AB| · |CD| = |AC| · |BE|. |BE| |AB| Addition der beiden Gleichungen liefert die Behauptung.
Im Folgenden betrachten wir noch Kreistangenten. 3.4.12 Definition Eine Gerade g heißt Tangente an den Kreis K(M ; r), wenn die Menge g ∩ K(M ; r) aus genau einem Punkt besteht. 3.4.13 Bemerkung Es sei g eine Gerade g, K(M ; r) ein Kreis sowie B ∈ K(M ; r) ∩ g. Dann ist g genau dann Tangente an K(M ; r), falls g⊥M B gilt. Beweis Man kann g in der Form g = B + Rv mit v 6= 0 schreiben; insbesondere hat man |BM | = r. Im Folgenden wenden wir 3.2.10 an: =⇒:“ Ist hv, B − M i = 6 0, so hat man auch ” s := −
2hB − M, vi 6= 0. hv, vi
3.5 Besondere Punkte im Dreieck
37
Nachrechnen zeigt, dass f¨ ur B 0 := B + sv ∈ g ebenfalls |B 0 M | = r gilt. Nun gilt offenbar dann 0 B 6= B, somit besitzt K(M ; r) ∩ g mindestens zwei Elemente, also ist g dann keine Tangente. ⇐=:“ Im Fall hv, B − M i = 0 gilt f¨ ur jedes t 6= 0 offenbar ” |B + tv − M |2 = |B − M |2 + t2 |v|2 > r2 , somit haben g und K(M ; r) dann außer B keine weiteren gemeinsamen Punkte, also ist g dann Tangente an K(M ; r). 3.4.14 Definition Ein Viereck ABCD heißt ein Tangentenviereck, wenn es einen Kreis K gibt, sodass alle Seiten AB, BC, CD und AD Tangenten an K sind. 3.4.15 Aufgabe Man zeige, dass ein Viereck ABCD genau dann ein Tangentenviereck ist, wenn |AB| + |CD| = |AD| + |BC| gilt. 3.4.16 Aufgabe Es seien K(M ; r) ein Kreis und E1 , . . . , En Punkte auf dem Kreisrand. ur 1 ≤ i < j ≤ n gibt. a) Man zeige, dass es genau n2 Verbindungslinien Ei Ej f¨ _
_
b) Die Kreisb¨ogen Ei Ei+1 , E1 En und die Verbindungslinien Ei Ej unterteilen den Kreis in gn Gebiete. Man untersuche, wie groß gn maximal werden kann.
3.5
Besondere Punkte im Dreieck
In Dreiecken gibt es einige besonders ausgezeichnete Punkte, denen wir uns in diesem Abschnitt zuwenden wollen. Zun¨achst gehen wir auf zwei S¨atze ein, die besondere Lagen in einem Dreieck kennzeichnen. 3.5.1 Definition Es sei P ∈ AB \ {A, B} ein Punkt auf der Geraden AB. Dann heißt die Zahl τ mit P = (1 − τ )A + τ B das Teilverh¨altnis von P bzgl. des (geordneten) Paares (A, B). 3.5.2 Bemerkung 1. Ist τ das Teilverh¨altnis von P bzgl. (A, B), so ist 1 − τ das Teilverh¨altnis von P bzgl (B, A). 2. Ist τ das Teilverh¨altnis von P bzgl. (A, B), so gelten |AP | = |τ | und |AB|
|BP | = |1 − τ |. |AB|
3.5.3 Satz (Satz von Menelaos) Es seien ABC ein Dreieck, sowie A0 ∈ BC \ {B, C}, B 0 ∈ CA \ {C, A} und C 0 ∈ AB \ {A, B}, und α, β und γ die zugeh¨origen Teilverh¨altnisse, also A0 = αB + (1 − α)C,
B 0 = βC + (1 − β)A und C 0 = γA + (1 − γ)B.
Dann liegen die Punkte A0 , B 0 und C 0 genau dann auf einer Geraden, wenn 1−α 1−β 1−γ · · = −1 α β γ gilt.
38
Klassische euklidische Geometrie
Abbildung 3.6: Satz von Menelaos Beweis
Es gelten A0 − B 0 = (1 − β)(C − A) + α(B − C) = (1 − β − α)(C − A) + α(B − A)
und A0 − C 0 = (1 − α)(C − B) + γ(B − A) = (1 − α)(C − A) + (α + γ − 1)(B − A). Die Punkte A0 , B 0 und C 0 liegen genau dann auf einer Geraden, wenn A0 − B 0 und A0 − C 0 linear 2 abh¨angig sind. Da die Vektoren C− A und B − A eine Basis des R bilden, ist dies genau dann 1−β−α α der Fall, wenn die Matrix M := singul¨ar ist, also 1−α α+γ−1 0 = det(M ) = (1 − β − α)(α + γ − 1) − α(1 − α) = −1 + α + β + γ − αβ − βγ − αγ gilt. Addition von αβγ und Division durch −αβγ liefert die Behauptung.
3.5.4 Satz (Satz von Ceva) Es seien ABC ein Dreieck, sowie A0 ∈ BC \ {B, C}, B 0 ∈ CA \ {C, A} und C 0 ∈ AB \ {A, B}, mit A0 = αB + (1 − α)C,
B 0 = βC + (1 − β)A und C 0 = γA + (1 − γ)B.
Dann schneiden sich die Geraden AA0 , BB 0 und CC 0 genau dann in einem Punkt S, wenn 1−α 1−β 1−γ · · =1 α β γ gilt. Beweis Wir zeigen nur ⇒“ und u ¨berlassen die andere Richtung dem Leser. Es sei S = ” σA0 + (1 − σ)A. Aus A0 = αB + (1 − α)C erh¨alt man C=
−α 1 B+ A0 1−α 1−α
und
B=
1 0 α−1 A + .C α α
3.5 Besondere Punkte im Dreieck
39
Abbildung 3.7: Satz von Ceva Wendet man nun den Satz von Menelaos 3.5.3 einmal auf das Dreieck ABA0 und die Gerade CC 0 und ein weiteres Mal auf das Dreieck A0 CA und die Gerade CC 0 an, so erh¨alt man 1−γ · γ
1 1−α −α 1−α
σ 1−σ = −1 und · · σ 1−σ
a−1 α 1 α
Multiplikation der zwei Gleichungen liefert die Behauptung.
·
1−β = −1. β
3.5.5 Definition Es sei ABC ein (nicht entartetes) Dreieck. 1. Die Gerade, die den Winkel ^BAC halbiert, heißt Winkelhalbierende von ^BAC. Die Gerade durch A und den Mittelpunkt von BC heißt Seitenhalbierende von BC. Die zu BC orthogonale Gerade durch A heißt H¨ohe von BC 2. Der Schnittpunkt U der Mittelsenkrechten heißt Umkreismittelpunkt, der Schnittpunkt I der Winkelhalbierenden Inkreismittelpunkt, der Schnittpunkt H der H¨ohen H¨ohenschnittpunkt und der Schnittpunkt S der Seitenhalbierenden Schwerpunkt des Dreiecks ABC. 3.5.6 Aufgabe Es sei ABC ein (nicht entartetes) Dreieck. 1. Man zeige, dass die obige Definition 3.5.5 wohldefiniert ist, d.h. die entsprechenden Geraden schneiden sich jeweils in einem Punkt. 2. Man zeige, dass es einen Kreis mit Mittelpunkt I gibt, sodass AB, BC sowie AC Tangenten an diesen Kreis sind. Im Allgemeinen sind alle diese vier Punkte paarweise verschieden; in einem regelm¨aßigen Dreieck (mit drei gleich langen Seiten) fallen alle vier zusammen. Je nach Blickwinkel k¨onnte man jeden als eine Art Mittelpunkt betrachten, wobei dabei Vorsicht angesagt ist: Der H¨ohenschnittpunkt etwa braucht im Allgemeinen nicht im Innern des Dreiecks zu liegen!
40
Klassische euklidische Geometrie
Abbildung 3.8: Die Mittelpunkte“ eines Dreiecks ” 3.5.7 Satz (Eulersche Gerade) In jedem Dreieck liegen der Umkreismittelpunkt U , der H¨ohenschnittpunkt H und der Schwerpunkt S auf einer Geraden. Weiter gilt |SH| = 2|SU | Beweis
Es seien A0 , B 0 , C 0 die Seitenmitten der Seiten a, b, c und A0 B 0 C 0 das resultierende
Abbildung 3.9: Die Eulersche Gerade Mittendreieck des Dreiecks ABC. Offenbar stimmen die beiden Dreiecke ABC und A0 B 0 C 0 in ihren Winkeln u ¨berein, sie sind also ¨ahnlich. Gem¨aß Aufgabe 3.3.15 gehen sie also durch eine ¨ Ahnlichkeitstransformation auseinander vor. Weil A und A0 sowie B und B 0 und auch C und C 0 auf Geraden durch S liegen, entsteht A0 B 0 C 0 offenbar aus ABC durch eine zentrische Streckung mit Streckfaktor λ = − 12 und Zentrum S. Dabei wird die H¨ohe hC auf die H¨ohe hC 0 abgebildet, d.h. auf die Mittelsenkrechte von c. Analoge Aussagen gelten ebenso f¨ ur die anderen H¨ohen.
3.5 Besondere Punkte im Dreieck
41
Dies impliziert, dass U das Bild von H unter dieser zentrischen Streckung ist, also liegen U , S und H auf einer Geraden, und es gilt |SH| = 2|SU |. 3.5.8 Satz (Neunpunktekreis) In jedem Dreieck ABC liegen die Seitenmitten, die H¨ohenfußpunkte und die H¨ohenabschnittsmitten auf einem Kreis. Die H¨ohenabschnittsmitte der H¨ohe zu BC ist dabei der Mittelpunkt der Strecke AH. Beweis
Wir bezeichnen die Seitenmitten wieder mit A0 , B 0 und C 0 , die H¨ohenfußpunkte
Abbildung 3.10: Der Neunpunktekreis mit HA , HB und HC sowie die H¨ohenabschnittsmitten mit D, E und F . Die Dreiecke B 0 A0 C, A0 B 0 C 0 sowie A0 B 0 HC sind jeweils paarweise kongruent, damit folgt ^A0 HC B 0 = ^B 0 CA0 . Damit liegen nach der Umkehrung des Peripherie-Winkel-Satz 3.4.5 die Punkte HC , A0 , B 0 und C 0 auf einem Kreis, der zwangsl¨aufig der Umkreis des Dreiecks A0 , B 0 , C 0 sein muss. Analog sieht man, dass auch HA und HB auf diesem Kreis liegen. Die Punkte HA , HB und HC k¨onnen auch als H¨ohenfußpunkte des Dreiecks ABH angesehen. Sie liegen also auch auf dem Umkreis des Seitenmittendreiecks des Dreiecks ABH. Da Kreise durch drei Punkte eindeutig festgelegt sind, stimmt dieser somit mit dem Umkreis des Dreiecks A0 B 0 C 0 u ¨berein. Somit liegen auch die Seitenmitten des Dreiecks ABH auf diesem Kreis, also speziell die Punkte D und E. Analog zeigt man schließlich, dass auch F darauf liegt. 3.5.9 Aufgabe Man zeige, dass der Mittelpunkt des Neunpunktekreises auf der Eulergerade liegt und (in den Bezeichnungen von 3.5.5) mit dem Mittelpunkt der Strecke U H u ¨ bereinstimmt.
42
3.6
Klassische euklidische Geometrie
Weitere S¨ atze am Dreieck
In diesem Abschnitt erg¨anzen wir einige weitere Ergebnisse u ¨ber Dreiecke, unter Anderem den wohl ber¨ uhmtesten mathematischen Satz, den Satz des Pythagoras, von dem wir mehrere Beweisvarianten vorstellen wollen. Wir beginnen mit einer Verallgemeinerung des Satzes des Pythagoras, dem Kosinussatz, der sich praktisch direkt aus unserer Definition des Winkelwertes ergibt. 3.6.1 Satz (Kosinussatz) Es sei ABC ein Dreieck mit Seitenl¨angen a = |BC|, b = |AC| und c = |AB| sowie Innenwinkelwerten α = ^BAC, β = ^CBA und γ = ^ACB. Dann gilt 2ab cos(γ) = a2 + b2 − c2 . Beweis
Sind v = B − C und w = A − C, so gilt 1 (kvk2 + kwk2 − kv − wk2 ) a2 + b 2 − c 2 hv, wi = 2 = , cos(γ) = kvk · kwk kvk · kwk 2ab
woraus die Behauptung folgt.
3.6.2 Korollar (Satz des Pythagoras) Ist ABC ein Dreieck mit rechtem Winkel bei C und Seitenl¨angen a, b, c = |AB|, so gilt a2 + b2 = c2 . 3.6.3 Satz (Sinussatz) Ist ABC ein Dreieck wie in 3.6.1, so gilt sin(β) sin(γ) sin(α) = = . a b c Beweis
Quadriert man die Gleichung des Kosinussatzes, so erh¨alt man 4a2 b2 cos2 (γ) = a4 + b4 + c4 + 2a2 b2 − 2b2 c2 − 2a2 c2 .
Beachtet man cos2 (γ) = 1 − sin2 (γ), erh¨alt man damit −4a2 b2 sin2 (γ) = a4 + b4 + c4 − 2a2 b2 − 2a2 c2 − 2b2 c2 . In dieser Gleichung ist die rechte Seite invariant unter Permutationen von a, b und c, es gilt also −4a2 b2 sin2 (γ) = −4c2 a2 sin2 (β) = 4b2 c2 sin2 (α). Offenbar impliziert dies sin2 (α) sin2 (β) sin2 (γ) = = ; a2 b2 c2 da in einem Dreieck alle Sinuswerte der Winkel und alle Seitenl¨angen positiv sind, ergibt sich die Behauptung. Wie versprochen, geben wir im Folgenden einige Beweisvarianten f¨ ur den Satz des Pythagoras. Wir verwenden dabei naiv den Begriff des Fl¨acheninhalts und benutzen ebenso ohne Beweis,
3.6 Weitere S¨atze am Dreieck
43
dass zerlegungsgleiche Figuren den gleichen Fl¨acheninhalt besitzen. Insbesondere verwenden wir, dass ein Rechteck mit Seitenl¨angen a und b den Inhalt ab besitzt. Beweis (Variante 1) Dieser Beweis findet sich bereits in Werken der indischen und chinesischen Mathematik und wird dort oftmals nur als Zeichnung angegeben!
Der wohl a¨lteste bekannte Beweis geht auf Euklid zur¨ uck und zeigt eine exakte Fl¨achenzerlegung. Beweis (Variante 2) Man errichte u ¨ber den Seiten des Dreiecks ABC jeweils die Quadrate und benenne die Eckpunkte des Quadrats u ¨ber der Seite CB mit J und H. Weiter seien L und N die Eckpunkte des Quadrats u ¨ber AB. Es sei h eine zu AB senkrechte Gerade durch C, welche AB in P und LN in Q schneide. Die Gerade g sei parallel zu AB und enthalte J. Der Schnittpunkt von CH mit g sei R. Zur Veranschaulichung betrachte man die Abbildung 3.11. Dann gilt: Das Dreieck ABC und das Dreieck RHJ sind nach dem Kongruenzsatz 3.2.14 kongruent, also sind das Quadrat CBIH und das Parallelogramm ABJR fl¨achengleich. Es sei f : R2 → R2 die Drehung um B mit Drehwinkel ϕ = π2 . Dann gilt f (J) = C, f (R) = R0 , f (A) = N und f (B) = B, insbesondere sind auch BJHC und BCR0 N fl¨achengleich. Die Dreiecke N R0 Q und BCP sind nach dem Kongruenzsatz 3.1.16 kongruent, da |R0 C| = |QP | gilt. Somit sind BJHC und QN BP fl¨achengleich. Analog zeigt man die Fl¨achengleichheit des Quadrats u ¨ber AC mit dem Viereck LQP A, woraus man die Behauptung erh¨alt. Aus dem Beweis von Euklid folgt unmittelbar der Satz des Euklids (auch Kathetensatz) genannt. 3.6.4 Korollar In den Bezeichnungen des letzten Beweises gelten |BC|2 = |BP | · |AB| und |AC|2 = |AP | · |AB|. 3.6.5 Aufgabe Man zeige den H¨ohensatz: In obiger Situation gilt |P C|2 = |AP | · |BP |. ¨ Wir geben noch eine sehr einfache Beweisvariante, die auf die Ahnlichkeit der Dreiecke in der Figur 3.11 zur¨ uckgeht.
44
Klassische euklidische Geometrie
Abbildung 3.11: Satz des Euklid Beweis (Variante 3) Wir verwenden die Bezeichnungen der Figur 3.11. Das Dreieck BCP und das Dreieck ABC sind ¨ahnlich (vgl. 3.3.15), daher gilt |BP | |BC| = , |AB| |BC| also |BC|2 = |BP | · |AB|, also genau die Aussage des Satzes des Euklid. Wie im Euklidschen Beweis des Satzes des Pythagoras folgt daraus die Behauptung. Abschließend geben wir noch eine etwas ausgefallenere Variante, die den Satz des Ptolemaios 3.4.11 verwendet:
Beweis (Variante 4) Es sei K := K(M, r) der Umkreis des Dreiecks ABC sowie C 0 der zweite Schnittpunkt von CM mit K. Nach der Umkehrung 3.4.5 des Satz des Thales gilt M ∈ AB. Weiter ist das Viereck AC 0 BC nach dem Satz des Thales 3.4.4 ein Rechteck. Insbesondere gelten c = |AB| = |CC 0 |, a = |BC| = |AC 0 | und b = |AC| = |BC 0 |. Der Satz des Ptolemaios 3.4.11 liefert nun c2 = |AB| · |CC 0 | = |AC 0 | · |BC| + |BC 0 | · |AC| = a2 + b2 ,
3.6 Weitere S¨atze am Dreieck
45
also die Behauptung.
Bereits in der Antike wurde auch die Umkehrung des Satzes des Pythagoras verwendet, die sich offenbar ebenfalls unmittelbar aus 3.6.1 ergibt: Gilt in einem Dreieck mit den Seitenl¨angen a, b und c die Beziehung a2 + b2 = c2 , so ist das Dreieck rechtwinklig. Man kann sich fragen, wann in dieser Gleichung die Gr¨oßen a, b und c ganzzahlig sind. 3.6.6 Definition Ein ganzzahliges Tripel (a; b; c) ∈ Z3 heißt primitives pythagor¨aisches Tripel, wenn a2 + b2 = c2 gilt und a, b, c nur die gemeinsamen Teiler −1 und 1 besitzt. 3.6.7 Lemma Ist (a; b; c) ein primitives pythagor¨aisches Tripel, so ist genau eine der Zahlen a und b gerade, und c ist ungerade. Beweis Angenommen, c ist gerade. Dann ist c2 durch 4 teilbar. Reduziert man die Gleichung a2 + b2 = c2 modulo 4, so erh¨alt man a2 + b2 ≡4 0. Da nicht sowohl a als auch b gerade sein k¨onnen (sonst w¨are 2 gemeinsamer Teiler von a, b, c), kann man ohne Einschr¨ankung a2 ≡4 1 annehmen. Daraus folgt der Widerspruch b2 ≡4 3. Daher ist c ungerade und damit zwangsl¨aufig genau einer der Zahlen a und b gerade. 3.6.8 Satz Ein Tripel (a; b; c) ist genau dann ein primitives pythagor¨aisches Tripel mit geradem b, wenn es teilerfremde Zahlen n, m ∈ Z gibt, von denen genau eine gerade ist, mit n2 − m2 = a, 2nm = b und c = n2 + m2 . Beweis Die Richtung ⇐“ ist offenbar richtig. Es bleibt zu zeigen, dass jedes primitive ” pythagor¨aische Tripel in der angegebenen Form dargestellt werden kann. Weil a und c nach Lemma 3.6.7 beide ungerade sind, sind beide Zahlen c + a und c − a durch 2 teilbar. Damit erh¨alt man 2 b2 c 2 − a2 c+a c−a b = = = . 2 4 4 2 } | {z 2 } | {z =:r
=:s
Es sei nun p eine Primzahl, die r teilt. Dann teilt p auch 2b , also teilt eine gerade Potenz von p die linke und damit auch die rechte Seite der Gleichung. W¨ urde p auch s teilen, dann w¨ urde p|c =
c+a c−a c+a c−a + und p|a = − 2 2 2 2
folgen, was ein Widerspruch zur Primitivit¨at des Tripels ist. Somit sind c+a und analog c−a 2 2 selbst Quadratzahlen. Es gilt also etwa c + a = 2n2 und c − a = 2m2 . Daraus folgt direkt c = n2 + m2 , a = n2 − m2 und b = ±2nm und es folgt (ggfs. durch Ersetzen von n durch −n) die Behauptung. Die Aussagen u ¨ber die Teilbarkeitsbeziehungen zwischen n und m bleiben dem Leser u ¨berlassen.
Kapitel 4 Nicht-Euklidische Geometrien In diesem Abschnitt diskutieren wir Geometrien, in denen das Parallelenaxiom 2.1.2 nicht erf¨ ullt ist. Als Beispiel einer Geometrie, in der es u ¨berhaupt keine Parallelen gibt, betrachten wir in den Abschnitten 4.1 und 4.2 die sph¨arische oder Kugelgeometrie; ein Beispiel einer Geometrie, in der es mehrere Parallelen zu einer gegebenen Geraden durch einen Punkt außerhalb dieser Geraden gibt, ist die hyperbolische Geometrie, die wir in den Abschnitten 4.4 bis 4.7 ausf¨ uhrlicher betrachten werden.
4.1
Grundlagen der sph¨ arischen Geometrie
Die sph¨arische Geometrie ist aus einem konkreten Anwendungsbezug entstanden: Sie beschreibt die Geometrie der Erdoberfl¨ache, also die Geometrie der Kugeloberfl¨ache. F¨ ur See- und Luftfahrt war die sph¨arische Geometrie das Grundwerkzeug, um Positionen, Entfernungen und Winkel auf der Erdoberfl¨ache bestimmen zu k¨onnen. In diesem Abschnitt werden wir die wesentlichen Aussagen dieser Geometrie und ihre Verbindungen zur elliptischen und projektiven Geometrie kennenlernen. 4.1.1 Definition Es sei h·, ·i das Standardskalarprodukt auf dem R3 sowie k · k die zugeh¨orige Norm. Mit S 2 := {x ∈ R3 ; kxk = 1} bezeichnen wir die Oberfl¨ache der Einheitskugel im R3 . 1. Die Punkte der sph¨arischen Geometrie sind die Elemente von S 2 . 2. Unter Geraden in der sph¨arischen Geometrie verstehen wir Großkreise auf S 2 , also den Schnitt von S 2 mit einer Ebene durch den Ursprung. Zur konkreten Rechnung werden wir den R3 mit der Standardbasis e1 , e2 , e3 ausstatten und die Koordinaten von Punkten auf S 2 immer in Bezug auf diese Basis angeben. 4.1.2 Bemerkung Ist K ein Großkreis, so wird K durch genau eine Ursprungsebene definiert. Es gibt dann also einen Vektor u ∈ R3 \ {0} mit E := E(u) := {x ∈ R3 ; hu, xi = 0}
und K = E ∩ S 2 .
4.1 Grundlagen der sph¨arischen Geometrie
47
Dabei ist der Vektor u bis auf skalare Vielfache (ungleich Null) eindeutig bestimmt. Er wird daher oft auch als ein Normalenvektor von E bezeichnet. Oftmals ist es f¨ ur das konkrete Arbeiten n¨ utzlicher, wenn man mit Kugelkoordinaten“ arbei” tet: 4.1.3 Lemma Die Abbildung i π πh → S 2 \ {±e3 }, (ϕ, ϑ) 7→ (cos(ϕ) cos(ϑ), sin(ϕ) cos(ϑ), sin(ϑ)) Ψ : ] − π, π] × − , 2 2 ist bijektiv. ¨ Den Beweis dieses Lemmas bleibt dem Leser zur Ubung u ¨berlassen. 4.1.4 Definition Die Kugelkoordinaten des Punktes x ∈ S 2 \ {±e3 } ist das gem¨aß Lemma 4.1.3 eindeutig bestimmte Paar (ϕ, ϑ) ∈] − π, π] × [− π2 mit Ψ(ϕ, ϑ) = x.
Abbildung 4.1: Kugelkoordinaten ur die obige Definition entschieIn der Literatur wird statt ϑ oft π2 − ϑ gew¨ahlt. Wir haben uns f¨ den, um die Analogie zu den Breitenkreisen der Erdkugel passender zu machen. Im folgenden schreiben wir f¨ ur x ∈ S 2 \ {±e3 } oft ϕx und ϑx , wenn Ψ(ϕx , ϑx ) = x. 4.1.5 Definition Die Abbildung d : S 2 × S 2 → R≥0 , (x, y) 7→ arccos(hx, yi) heißt Sph¨arenmetrik. 4.1.6 Lemma Die Sph¨arenmetrik d ist eine Metrik.
48
Nicht-Euklidische Geometrien
Beweis Offenbar gilt f¨ ur x, y ∈ S 2 die Ungleichung d(x, y) ≥ 0. Weiter hat man d(x, y) = 0 wegen der Ungleichung von Cauchy-Schwartz genau dann, wenn x = λy ist. Aufgrund von kxk = kyk = 1 folgt λ = ±1. Im Falle λ = −1 gilt aber x = −y und daher d(x, y) = π 6= 0. Die Symmetrie ist offensichtlich. Es bleibt die Dreiecksungleichung zu zeigen. Dazu w¨ahlen wir x, y, z ∈ S 2 und drehen die Kugel (Anwenden einer orthogonalen Transformation) so, dass x = (1, 0, 0), y = (cos(ϕ), sin(ϕ), 0) und schließlich z = (cos(α) cos(ϑ), sin(α) cos(ϑ), sin(ϑ)) (gem¨aß 4.1.3) gelten. Offenbar ist dies immer m¨oglich. Da der Arkuskosinus monoton fallend ist, gelten d(x, y) = ϕ, und d(x, z) = arccos(cos(α) cos(ϑ)) ≥ arccos(cos(α)) = α. Ist also α ≥ ϕ, ergibt sich hieraus bereits die Behauptung. Im anderen Fall (α < ϕ), hat man d(z, y) = arccos(cos(ϕ) cos(α) cos(ϑ) + sin(ϕ) sin(α) cos(ϑ)) ≥ arccos(cos(ϕ) cos(α) + sin(ϕ) sin(α)) = ϕ − α, Damit erh¨alt man schließlich d(x, y) = α + ϕ − α ≤ d(x, z) + d(z, y). 4.1.7 Aufgabe Man zeige: sin
d(x, y) 2
=
||x − y|| . 2
4.1.8 Satz Ist γ : [0, 1] → S 2 ein stetig differenzierbarer Weg mit γ(0) = x und γ(1) = y, so gilt Z1 kγ 0 (t)|k dt ≥ d(x, y). 0
Beweis Ohne Einschr¨ankung k¨onnen wir durch Drehung der Kugel annehmen, dass ϕx = ϕy gilt, d.h. x und y liegen anschaulich auf dem gleichen Großkreis durch (0, 0, 1) (L¨angengrad). Dann gilt offenbar d(x, y) = |ϑx − ϑy |. Wir schreiben γ in der Form cos(ϕ(t)) cos(ϑ(t)) γ(t) = sin(ϕ(t)) cos(ϑ(t)) . sin(ϑ(t)) Es ist leicht einzusehen, dass sowohl ϕ als auch ϑ st¨ uckweise stetig differenzierbar sind. Dann gilt − sin(ϕ(t)) − cos(ϕ(t)) sin(ϑ(t) γ 0 (t) = ϕ0 (t) cos(ϑ(t)) cos(ϕ(t)) + ϑ0 (t) − sin(ϕ(t)) sin(ϑ(t)) . 0 cos(ϑ(t)) Daraus folgt kγ 0 (t)k2 = (ϕ0 (t))2 cos2 (ϑ(t)) + (ϑ0 (t))2 ≥ (ϑ0 (t))2
4.1 Grundlagen der sph¨arischen Geometrie
und daher Z1 0
kγ 0 (t)k dt ≥
Zb a
49
1 Z 0 0 |ϑ (t)| dt ≥ ϑ (t) dt = d(x, y). 0
4.1.9 Aufgabe Man zeige, dass in Satz 4.1.8 genau dann Gleichheit gilt, wenn γ l¨angs des k¨ urzeren Großkreisbogens von x nach y verl¨auft. Man sieht damit, dass die k¨ urzeste Verbindung zweier Punkte genau durch einen Großkreis gegeben ist, was exakt die Idee der Gerade wiedergibt. Wir geben noch an, wie man den Abstand mit Hilfe von Kugelkoordinaten angeben kann. 4.1.10 Bemerkung Es seien x, y ∈ S 2 mit x = (cos(ϕ1 ) cos(ϑ1 ), sin(ϕ1 ) cos(ϑ1 ), sin(ϑ1 )) und y = (cos(ϕ2 ) cos(ϑ2 ), sin(ϕ2 ) cos(ϑ2 ), sin(ϑ2 )). Dann gilt cos(d(x, y)) = cos(ϕ1 − ϕ2 ) cos(ϑ1 ) cos(ϑ2 ) + sin(ϑ1 ) sin(ϑ2 ). Mit dieser Formel lassen sich bequem Entfernungen zweier Punkte auf der Erde basierend auf deren geographischen Koordinaten bestimmen. Als n¨achste metrische Gr¨oße f¨ uhren wir Winkel ein. Dazu ist zu beachten, dass eine einfache Definition einer Zwischenbeziehung in der sp¨ahrischen Geometrie und daher auch die Definition eines Halbstrahls nicht ganz so offensichtlich ist. Wir definieren daher zun¨achst etwas spezieller, den Winkel zwischen zwei Geraden, also zwei Großkreisen. 4.1.11 Definition Es seien K1 und K2 zwei Großkreise. 1. Sind K1 und K2 durch Schnitt von S 2 mit den Ursprungsebenen E1 und E2 entstanden, so heißt |hn , n i| E1 E2 ^(K1 , K2 ) := arccos knE1 k · knE2 k der Winkelwert zwischen K1 und K2 , wobei nE1 und nE2 die gem¨aß 4.1.2 zu E1 bzw. E2 geh¨orenden Normalenvektoren sind. 2. Zwei Großkreise heißen orthogonal, wenn f¨ ur ihren Winkelwert ^(K1 , K2 ) =
π 2
gilt.
4.1.12 Satz-Definition Es sei K ein Großkreis. Dann schneiden sich alle zu K orthogonalen Großkreise in einem Antipodenpaar, welches als das Polpaar (oder Pole) von K bezeichnet wird. Beweis Es sei E die durch K definierte Ebene mit Normalenvektor n. Ohne Einschr¨ankung k¨onnen wir |n| = 1 annehmen. Ist nun K 0 ein zu K orthogonaler Großkreis mit Normalenvektor n0 , so gilt hn0 , ni = 0, daher folgt {n, −n} ⊂ K 0 ∩ S 2 . Offenbar schneiden sich je zwei Großkreise genau in zwei gegen¨ uberliegenden Punkten, woraus man die Behauptung erh¨alt.
50
4.2
Nicht-Euklidische Geometrien
Dreiecke in der sph¨ arischen Geometrie
Wir wenden uns in diesem Abschnitt noch Polygonen in der sph¨arischen Geometrie zu, beschr¨anken uns dabei allerdings auf Zwei- und Dreiecke, wobei wir Dreiecke ausf¨ uhrlicher diskutieren werden. Abschließend gehen wir noch kurz auf den Zusammenhang der sph¨arischen Geometrie mit der projektiven Geometrie ein. 4.2.1 Definition Ein (Kugel-)Zweieck ist ein durch zwei Großkreise K und K 0 begrenztes Gebiet Z. Man nennt ^(Z) := ^(K, K 0 ) den Winkel des Zweiecks. Man beachte, dass nach Definition der Winkel eines Zweiecks maximal den Wert kann.
π 2
annehmen
4.2.2 Bemerkung Zwei verschiedene Großkreise begrenzen immer vier Gebiete, von denen jeweils zwei den gleichen Inhalt haben. F¨ ur den Inhalt der kleineren dieser Gebiete gilt dabei F1 (Z) = 2^(Z), die gr¨oßeren haben den Inhalt F2 (Z) = 2(π − ^(Z)). W¨ahlt man drei (nicht antipodale) Punkte auf S 2 , so definieren je zwei davon einen Großkreis. Fordert man, dass die drei Punkte nicht auf einem gemeinsamen Großkreis liegen, so erh¨alt man insgesamt drei Großkreise, die S 2 in acht Gebiete unterteilen. Ein derartiges Gebiet nennt ¨ man ein sph¨arisches Dreieck. Ublicherweise interessiert man sich dabei nur f¨ ur die Dreiecke, bei denen die Seitenl¨angen kleiner als π sind, bei denen also Punkte und Seiten vollst¨andig auf einer offenen Halbkugel liegen. 4.2.3 Definition Ein Dreieck ABC heißt Eulersches Dreieck, falls det(A, B, C) 6= 0 gilt. Im Folgenden verwenden wir immer folgende Konvention: Ein Eulersches Dreieck ABC m¨oge so orientiert sein, dass det(A, B, C) > 0 gilt. Weiter bezeichne BC die A , AC die B sowie AB urzere der beiden Abschnitte die C gegen¨ uberliegende Seiten: Anschaulich ist etwa BC der k¨ des Großkreises durch B und C, in die B und C diesen Großkreis teilen. F¨ ur die Seitenl¨angen gilt dann offenbar: 4.2.4 Bemerkung Es seien A, B, C ∈ S 2 die Ecken eines Eulerschen Dreiecks und a, b sowie c die L¨angen der A, B bzw. C gegen¨ uberliegenden Seite. Dann gelten a = d(B, C) = arccos(hB, Ci), b = d(A, C) = arccos(hA, Ci) und c = d(A, B) = arccos(hA, Bi). Die Winkel eines Eulerschen Dreiecks definieren wir folgendermaßen: 4.2.5 Definition Es sei ABC ein Eulersches Dreieck. Dann sind die Werte α, β, γ der Innenwinkel bei A, B bzw. C definiert durch hA × B, A × Ci hB × C, B × Ai α := arccos , β := arccos , kA × Bk · kA × Ck kB × Ck · kB × Ak hC × B, C × Ai γ := arccos kC × B| · kC × Ak
4.2 Dreiecke in der sph¨arischen Geometrie
51
Die anschauliche Idee dabei ist, dass die Innenwinkel gerade die Winkel zwischen den Tangentialvektoren an die Kugel an der entsprechende Ecke in Richtung der anderen Ecken sind, wie die folgende Aufgabe 4.2.6 zeigt: 4.2.6 Aufgabe Es seien A, B, C ∈ S 2 . a) Man zeige: (A × B) × A = B − hA, BiA. b) Man erl¨autere die Aussage: (A × B) × A ist der Tangentialvektor an die Einheitskugel, ” welcher von A in Richtung B zeigt.“ c) Man zeige: h(A × B) × A, (A × C) × Ai hA × B, A × Ci = . kA × Bk · kA × Ck k(A × B) × Ak · k(A × C) × Ak
Abbildung 4.2: Ein Eulersches Dreieck Um manche Rechnung u ¨bersichtlicher zu gestalten, ben¨otigen wir einige wohl bekannte Aussagen u ber das Vektorprodukt. ¨ 4.2.7 Lemma F¨ ur alle X, Y, Z ∈ S 2 gelten 1. kX × Y k = sin(d(X, Y )), 2. hX × Y, Zi = det(X, Y, Z), 3. hX × Y, X × Zi = hY, Zi − hX, Y i · hX, Zi, 4. (X × Y ) × (X × Z) = det(X, Y, Z) · X. Beweis F¨ ur die Aussagen 1. und 2. vgl. etwa [20], Bemerkung 5.2.2, f¨ ur 3. und 4. vgl. die ¨ Ubungsaufgabe 2 zu 5.2. in [20].
52
Nicht-Euklidische Geometrien
Als erste Aussage u ¨ber sph¨arische Dreiecke zeigen wir den Seitenkosinussatz, mit dessen Hilfe man aus den Seitenl¨angen eines Eulerschen Dreiecks die Winkelwerte berechnen kann. 4.2.8 Satz (Seitenkosinussatz) Es sei ABC ein Eulersches Dreieck mit Seitenl¨angen a, b und c sowie Innenwinkeln α, β und γ. Dann gilt cos(a) = cos(b) cos(c) + sin(b) sin(c) cos(α). Beweis
Wegen Bemerkung 4.2.4 und Lemma 4.2.7 3. hat man
cos(α) =
hB, Ci − hA, Bi · hA, Ci cos(a) − cos(c) cos(b) hA × B, A × Ci = = , kA × Bk · kA × Ck sin(d(A, B)) sin(d(A, C)) sin(c) sin(b)
woraus man die Behauptung erh¨alt.
4.2.9 Korollar Im rechtwinkligen sph¨arischen Dreieck gilt in der Notation von 4.2.8 im Falle von α = π2 der sph¨arische Pythagoras cos(a) = cos(b) cos(c). 4.2.10 Lemma Es seien ABC ein Eulersches Dreieck und α der Wert des Winkels bei A sowie b = d(A, C) und c = d(A, B). Dann gilt sin(b) sin(c) sin(α) = det(A, B, C). Beweis
Bekanntlich gilt (vgl. wieder [20], Bemerkung 5.2.2) k(A × B) × (A × C)k = sin(α)kA × Bk · kA × Ck.
Damit folgt die Behauptung aus Lemma 4.2.7 4.
Mit Hilfe der bisherigen Ergebnisse folgt nun die n¨achste Aussage, der Sinussatz der sph¨arischen Geometrie: 4.2.11 Satz (Sph¨arischer Sinussatz) Es sei ABC ein Eulersches Dreieck mit Seitenl¨angen a, b und c sowie Innenwinkeln α, β und γ. Dann gilt sin(α) sin(β) sin(γ) = = . sin(a) sin(b) sin(c) Beweis
Aus Lemma 4.2.10 folgt sin(α) det(A, B, C) = . sin(a) sin(a) sin(b) sin(c)
Da die rechte Seite dieser Gleichung nicht vom betrachteten Eckpunkt abh¨angt, muss das auch auf die linke Seite zutreffen. Daher ergeben alle Quotienten den gleichen Wert.
4.2 Dreiecke in der sph¨arischen Geometrie
53
4.2.12 Aufgabe Man untersuche, ob f¨ ur Eulersche Dreiecke Kongruenzs¨atze der Form ssw oder wws gelten. 4.2.13 Definition Ist ABC ein Dreieck ein Eulersches Dreieck, so heißt das durch die Punkte PA :=
1 1 1 B × C, PB := C × A und PC := A×B kB × Ck kC × Ak kA × Bk
definierte Dreieck PA PB PC das Poldreieck zu ABC. Man beachte, dass etwa PA gerade einer der beiden in 4.1.12 definierten Pole des durch B und C definierten Großkreises ist; anschaulich liegt er, wenn man diesen Kreis von B in Richtung C durchl¨auft, auf der linken Seite.
Abbildung 4.3: Das Poldreieck
4.2.14 Bemerkung Das Poldreieck PA PB PC eines Eulerschen Dreiecks ABC ist wieder ein Eulersches Dreieck, genauer gilt det(PA , PB , PC ) > 0. Beweis Offenbar haben die Determinanten det(PA , PB , PC ) und det(B × C, C × A, A × B) das gleiche Vorzeichen. F¨ ur dieses gilt aber unter Ausnutzung des Lemmas 4.2.7 (die Nummern geben die entsprechende Aussage an) 2.
det(B × C, C × A, A × B) = − det(C × B, C × A, A × B) = −h(C × B) × (C × A), A × Bi 4.
= −hdet(C, B, A)C, A × Bi = det(A, B, C)hA × B, Ci 2.
= (det(A, B, C))2 > 0. 4.2.15 Lemma Es sei ABC ein Eulersches Dreieck. Dann gilt PA × PB = sin(γ)C.
54
Nicht-Euklidische Geometrien
Beweis
Nach 4.2.7 1. und 4. gilt PA × PB =
det(C, B, A) 1 (B × C) × (C × A) = − C. sin(a) sin(b) sin(a) sin(b)
Mit 4.2.10 folgt die Behauptung.
4.2.16 Lemma Es sei ABC ein Eulersches Dreieck mit Seitenl¨angen a, b und c sowie Innenwinkeln α, β und γ. Ferner sei PA PB PC das Poldreieck von ABC. 1. Das Poldreieck von PA PB PC ist das Dreieck ABC. 2. Sind aP , bP und cP die Seitenl¨angen sowie αP , βP und γP die Innenwinkel von PA PB PC , so gelten aP = π − α, bP = π − β, cP = π − γ, αP = π − a, βP = π − b und γP = π − c. Beweis 1. Dies folgt aus 4.2.15, da der Sinus im Intervall [0, π] nichtnegativ ist. 2. Aufgrund von Bemerkung 4.2.4 hat man cos(aP ) = hPB , PC i =
1 1 · · hC × A, A × Bi = − cos(α), kC × Ak kA × Bk
also die erste Aussage. Die anderen Aussagen ergeben sich a¨hnlich. Man kann oftmals durch Polarisieren nun weitere Formeln u ¨ber sph¨arische Dreiecke erhalten. Als Beispiel zeigen wir die folgende Aussage, welche besonders interessant ist, weil sie zeigt, dass in der sph¨arischen Geometrie ein Eulersches Dreieck bereits durch die Winkel vollst¨andig bestimmt ist! 4.2.17 Satz (Winkelkosinussatz) Es sei ABC ein Eulersches Dreieck mit Seitenl¨angen a, b und c sowie Innenwinkeln α, β und γ. Dann gilt cos(α) = − cos(β) cos(γ) + sin(β) sin(γ) cos(a). Beweis Die Behauptung folgt durch Anwendung des Seitenkosinussatzes 4.2.8 auf das Poldreieck des Dreiecks ABC zusammen mit dem Lemma 4.2.16. 4.2.18 Aufgabe F¨ ur ein Eulersches Dreieck ABC (mit u ¨ blichen Bezeichnungen) zeige man: a) ABC hat genau dann zwei gleichlange Seiten, wenn die gegen¨ uberliegenden Winkel gleich groß sind. b) Es sei S ein Punkt der Seite AB und p := d(A, S), q := d(S, B) sowie s := d(C, S). Dann gilt: sin(c) cos(s) = sin(p) cos(a) + sin(q) cos(b).
4.2 Dreiecke in der sph¨arischen Geometrie
55
4.2.19 Aufgabe Es sei ABC ein Eulersches Dreieck mit Innenwinkeln α, β und γ sowie PA PB PC das zugeh¨orige Poldreieck. Man zeige, dass die folgenden Aussagen ¨aquivalent sind: i) (PA , PB , PC ) = (A, B, C), ii) d(A; C) = d(B; C) = d(A; B) = iii) α = β = γ =
π , 2
π . 2
Im folgenden untersuchen wir noch die Mittelsenkrechten und Winkelhalbierenden eines Eulerschen Dreiecks. 4.2.20 Definition Es seien A, B ∈ S 2 . Dann ist die Mittelsenkrechte mAB := E(n) ∩ S 2 der Strecke AB durch die Ursprungsebene E(n) mit n := B − A definiert. Diese Definition macht anschaulich Sinn: Wegen hB − A, B + Ai = 0 liegt der Mittelpunkt von AB in E(B − A); desweiteren gilt hB − A, A × Bi = 0, also sind die Geraden AB und mAB orthogonal. Zudem gilt: 4.2.21 Lemma F¨ ur x ∈ S 2 gilt genau dann d(x, A) = d(x, B), wenn x ∈ mAB gilt. Beweis
Es gilt d(x, A) = d(x, B) ⇐⇒ hx, Ai = hx, Bi ⇐⇒ hx, B − Ai = 0 ⇐⇒ x ∈ mAB .
4.2.22 Satz Es sei ABC ein Eulersches Dreieck. Dann schneiden sich die Mittelsenkrechten der Seiten von ABC in einem gemeinsamen Punktepaar U1/2 = ±
1 (A × B + B × C + C × A). kA × B + B × C + C × Ak
Beweis Es gen¨ ugt zu zeigen, dass A × B + B × C + C × A auf den die Mittelsenkrechten definierende Ebenen liegt: Dazu betrachte man etwa hA × B + B × C + C × A, B − Ai = hC × A, Bi − hB × C, Ai Lemma 4.2.7
=
det(C, A, B) − det(B, C, A) = 0.
Analog zeigt man dies f¨ ur die anderen Mittelsenkrechten.
Wie in der Euklidischen Geometrie werden wir den Schnittpunkt der Mittelsenkrechten auch Umkreismittelpunkt des Dreiecks ABC nennen, wobei wir in 4.2.22 das positive Vorzeichen w¨ahlen. Dies macht Sinn, da nach 4.2.21 der Umkreismittelpunkt von allen Punkten den gleichen Abstand hat.
56
Nicht-Euklidische Geometrien
4.2.23 Definition Ist ABC ein Eulersches Dreieck, so ist wA := S 2 ∩ E(n) mit n := PC − PB die Winkelhalbierende des Innenwinkels bei A (analog f¨ ur die anderen Innenwinkel). Offenbar macht diese Definition wieder anschaulich Sinn, da A ∈ E(n) gilt und ^(E(n), AB) = ^(E(n), AC) gilt. Damit ist offenbar die Winkelhalbierende eines Innenwinkels eines Eulerschen Dreiecks gleich der Mittelsenkrechte derjenigen Seite des zugeh¨origen Poldreiecks, welche dem entsprechenden Eckpunkt gegen¨ uberliegt. Dies zeigt sofort: 4.2.24 Satz Die Winkelhalbierenden eines Eulerschen Dreiecks schneiden sich in einem gemeinsamen Punktepaar I1/2 = ±
1 (PA × PB + PB × PC + PC × PA ), kPA × PB + PB × PC + PC × PA k
wobei PA PB PC das Poldreieck von ABC ist. ¨ Ahnlich wie oben bezeichnen wir den Punkt aus 4.2.24 mit positivem Vorzeichen als den Winkelhalbierendenschnittpunkt von ABC. Man erh¨alt dann die u ¨berraschende Folgerung. 4.2.25 Korollar 1. Der Winkelhalbierendenschnittpunkt eines Eulerschen Dreiecks ABC stimmt mit dem Umkreismittelpunkt seines Poldreiecks PA PB PC und umgekehrt u ¨berein. 2. Es gibt Zahlen λ, µ ∈ R, sodass f¨ ur den Umkreismittelpunkt U und den Inkreismittelpunkt I eines Eulerschen Dreiecks ABC gilt: U = λ(sin(a)PA + sin(b)PB + sin(c)PC ), I = µ(sin(α)A + sin(β)B + sin(γ)C) Im Folgenden bestimmen wir noch den Fl¨acheninhalt eines Eulerschen Dreiecks: Die drei Großkreise eines Eulerschen Dreiecks bestimmen drei Paare von Zweiecken ZA , ZB und ZC mit den Winkeln α, β und γ. Ist F (ABC) der Fl¨acheninhalt des Dreiecks ABC, so gilt offenbar 2F (ZA ) + 2F (ZB ) + 2F (ZC ) − 4F (ABC) = O(S 2 ) = 4π, wobei O(S 2 ) die Oberfl¨ache der Einheitskugel bezeichnet. Wendet man nun Bemerkung 4.2.2 an, so folgt 4α + 4β + 4γ − 4π = 4F (ABC). Dies zeigt den Satz 4.2.26 Satz In einem Eulerschen Dreieck mit den Innenwinkel α, β und γ und dem Fl¨acheninhalt F (ABC) gilt F (ABC) = α + β + γ − π.
4.2 Dreiecke in der sph¨arischen Geometrie
57
Insbesondere zeigt dies, dass in einem sph¨arischen Dreieck die Winkelsumme immer gr¨oßer als π und nicht konstant ist, sondern vom Fl¨acheninhalt des Dreiecks abh¨angt. Neben der Nichtexistenz von Parallelen ist dies einer der fundamentalen Unterschiede zur klassischen euklidischen Geometrie. Die sph¨arische Geometrie hat jedoch einen Sch¨onheitsfehler: Eine Gerade ist im Allgemeinen nicht durch zwei Punkte festgelegt. Durch zwei Antipodalpunkte verlaufen offenbar immer mehrere Geraden (Großkreise). Um dieses Problem zu umgehen, geht man oft zur projektiven Ebene (auch elliptische Ebene) u ¨ber. ¨ 4.2.27 Definition Auf S 2 sei die Aquivalenzrelation x ∼ y definiert durch x ∼ y : ⇔ x = ±y. ¨ Es ist eine offensichtliche Ubung nachzurechnen, dass die obige Definition in der Tat eine ¨ Aquivalenzrelation liefert. ¨ 4.2.28 Definition Die projektive Ebene P2 := S 2 / ∼ ist die Menge der Aquivalenzklassen der 2 ¨ in 4.2.27 definierten Aquivalenzrelation. Mit π : S → P2 bezeichnen wir die Abbildung, die ¨ jedem Punkt seine Aquivalenzklasse zuordnet. Punkte und Geraden in P2 sind die Bilder von Punkten und Geraden in S 2 unter π. 4.2.29 Bemerkung F¨ ur P ∈ S 2 gilt π −1 (π(P )) = {P, −P }. F¨ ur einen Großkreis G gilt −1 π (π(G)) = G. 4.2.30 Satz Die Menge P2 mit den oben definierten Begriffen Punkten und Geraden erf¨ ullt folgende Eigenschaften: 1. Sind p, q ∈ P2 verschieden, dann gibt es genau eine Gerade g mit p, q ∈ g. 2. Sind g, h verschiedene Geraden, so gibt es genau ein p ∈ P2 mit p ∈ g und p ∈ h. 3. Es gibt p, q, r, s ∈ P2 , so dass die (nach 1. wohldefinierten) Geraden durch je zwei dieser vier Punkte paarweise verschieden sind. Beweis 1. Man w¨ahle P, Q ∈ S 2 mit π(P ) = p und π(Q) = q. Dann sind die Vektoren P − O und Q − O linear unabh¨angig, also gibt es eine Ursprungsebene E mit O, P, Q ∈ E. Diese schneidet S 2 in einem Großkreis G und definiert damit eine Gerade durch P und Q. Mit g := π(G) ist die Existenz gezeigt. Die Eindeutigkeit folgt direkt aus Bemerkung 4.2.29. 2. Man w¨ahle Großkreise G und H mit π(G) = g und π(H) = h. Wegen Bemerkung 4.2.29 gilt g ∩ h = π(π −1 (g ∩ h)) = π(G ∩ H) = π({P, −P }) = {π(P )}.
58
Nicht-Euklidische Geometrien 3. Man w¨ahle etwa P := (1, 0, 0), Q := (0, 1, 0), R := √12 (1, 0, 1) und S := √12 (0, 1, 1). Dann rechnet man schnell nach, dass p := π(P ), q := π(Q), r := π(R) und s := π(S) die Behauptung erf¨ ullen.
Die in Satz 4.2.30 genannten Eigenschaften sind gerade die Axiome der projektiven Ebene f¨ ur eine projektive Geometrie. Wir haben also gezeigt, dass die sph¨arische Geometrie im Prinzip eine projektive Geometrie ist.
4.3
Geometrie in der komplexen Zahlenebene
Als Gegenst¨ uck zur elliptischen Geometrie werden wir uns auch noch der hyperbolischen Geometrie zuwenden. Um diese jedoch besser verstehen zu k¨onnen, machen wir kurz einen Exkurs in die komplex projektive Geometrie, zumal diese durchaus auch einige eigene f¨ ur sich selbst interessante Resultate liefert. ¨ 4.3.1 Definition Auf C2 \ {0} sei eine Aquivalenzrelation definiert durch (z, w) ∼ (z 0 , w0 ) : ⇔ es gibt ein λ ∈ C \ {0} mit (z, w) = λ(z 0 , w0 ). b bezeichnet und die ¨ Die Menge der Aquivalenzklassen, die komplex projektive Gerade, sei mit C ¨ Aquivalenzklassenabbildung mit πC . Sind keine Missverst¨andnisse zu bef¨ urchten, schreiben wir einfach nur π. b vorstellen als die komplexe Ebene C erweitert um einen unendlich Als Menge kann man sich C b fernen Punkt ∞, d.h. C = C ∪ {∞}. Offenbar ist n¨amlich jeder Punkt (z, w) mit w 6= 0 ¨aquivalent zu ( wz , 1) und daher kann π(z, w) mit wz identifiziert werden. Die einzige andere ¨ Aquivalenzklasse besteht aus Punkten (z, 0) mit z 6= 0 und diese identifiziert man dann mit dem unendlich fernen Punkt ∞. b liefert das Modell der Riemannschen Zahlenkugel. Eine andere Vorstellung von C 4.3.2 Lemma Es sei wieder S 2 := {P ∈ R3 ; kP k = 1} ⊂ R3 die Einheitskugel und ı : C → R3 die kanonische Einbettung, d.h. ı(a + ib) = (a; b; 0). F¨ ur z ∈ C sei ferner gz die Gerade durch N := (0; 0; 1) und ı(z). Dann gibt es genau einen von N verschiedenen Schnittpunkt Sz von gz mit S 2 und es gilt 1 (2a; 2b; |z|2 − 1). Sz = 1 + |z|2 Beweis
Der Beweis erfolgt durch Nachrechnen.
In der Notation von 4.3.2 erh¨alt man durch die Abbildung ( b → S 2 , z 7→ Sz , z ∈ C S: C N, z = ∞
(4.1)
4.3 Geometrie in der komplexen Zahlenebene
59
Abbildung 4.4: Die Riemannsche Zahlenkugel
b sogar metrisieren, indem man f¨ b die so eine Bijektion. Man kann damit den Raum C ur z, w ∈ C genante Sehnenmetrik σ(z, w) := kS(z) − S(w)|k mit der Standardnorm auf R3 definiert. 4.3.3 Aufgabe In der Notation von 4.3.2 und (4.1) zeige man: 1. Die Umkehrabbildung von S ist gegeben durch ( 1 b P = (x1 , x2 , x3 ) 7→ 1−x3 (x1 + ix2 ), P 6= N . S 2 → C, ∞, P =N 2. F¨ ur z, w ∈ C gelten σ(z, w) = p
2|z − w| (1 +
|z|2 )(1
+
|w|2 )
und
σ(z, ∞) = p
4.3.4 Definition Eine M¨obiustransformation ist eine Abbildung b → C, b z 7→ az + b M: C cz + d
mit ad − bc 6= 0.
Dabei setzen wir f (− dc ) := ∞ und f (∞) := ac . M¨obiustransformationen entsprechen gerade der Gruppe P GL(2, C) := {A ∈ C2×2 ; det(A) = 1}/±I2 , wie folgende Bemerkung zeigt:
2 1 + |z|2
.
60
Nicht-Euklidische Geometrien
4.3.5 Bemerkung z 7→
1. Es sei A :=
a b ∈ C2×2 mit det(A) 6= 0 sowie MA die durch c d
az + b definierte M¨obiustransformation. Ist z = π(u, v) wie in 4.3.1, dann gilt cz + d u MA (z) = π A · , v
d.h. das Diagramm A
C2 \ {0} −→ C2 \ {0} ↓ ↓ MA b b C −→ C ist kommutativ. 2. Zwei Matrizen A, A0 ∈ C2×2 mit nicht verschwindender Determinante definieren genau dann die gleiche M¨obiustransformation, wenn es ein λ ∈ C \ {0} gibt mit A = λA0 . 3. F¨ ur zwei Matrizen A, B ∈ C2×2 mit nicht verschwindender Determinante und die zugeh¨origen M¨obiustransformationen gilt MAB = MA ◦ MB . Ist A die eine M¨obiustransformation MA definierende Matrix, so heißt det(A) auch die Determinante det(M ) von M . Wie wir in 4.3.5 2. gesehen haben, kann man immer annehmen, dass det(M ) = 1 gilt. Die beiden in 4.3.5 dargestellten Sichtweisen von M¨obiustransformationen sind oftmals sehr praktisch: Beispielsweise l¨asst sich damit die Umkehrabbildung einer M¨obiustransformation sofort angeben. 4.3.6 Lemma Die Menge der M¨obiustransformationen bildet eine Gruppe bzgl. der Verkettung der Abbildungen, insbesondere sind M¨obiustransformationen bijektiv. Beweis Wir zeigen nur die Bijektivit¨at und u ¨berlassen den Rest dem Leser: Offenbar ist die az+b Umkehrabbildung von z 7→ cz+d gegeben durch f −1 (z) =
dz − b . −cz + a
b Dann gibt es genau eine M¨obiustransformation M mit 4.3.7 Satz Es seien a, b, c, a0 , b0 , c0 ∈ C. 0 0 0 M (a) = a , M (b) = b und M (c) = c . Beweis
F¨ ur die Existenz seien zun¨achst a0 = 0, b0 = ∞ und c0 = 1. Dann setzen wir M (z) :=
(z − a)(c − b) . (z − b)(c − a)
Dann gilt offenbar M (a) = 0, M (b) = ∞ und M (c) = 1.
4.3 Geometrie in der komplexen Zahlenebene
61
Im allgemeinen Fall gibt es nach dem ersten Teil des Beweises M¨obiustransformationen T und S mit T (a) = 0, T (b) = ∞, T (c) = 1 sowie S(a0 ) = 0, S(b0 ) = ∞ und S(c0 ) = 1. Offenbar leistet dann M := S −1 ◦ T das Gew¨ unschte. F¨ ur die Eindeutigkeit reicht es zu zeigen, dass eine M¨obiustransformation M mit M (0) = 0, M (1) = 1 und M (∞) = ∞ die Identit¨at ist. Dies u ¨berlassen wir dem Leser. Ein oftmals sehr n¨ utzliches Hilfsmittel der komplexen Geometrie ist das Doppelverh¨altnis von vier Punkten. b paarweise verschieden. Dann ist das Doppelverh¨altnis 4.3.8 Definition Es seien a, b, c, d ∈ C dieser vier Punkte im Fall, dass alle endlich sind, definiert durch: [a, b; c, d] :=
(a − c)(b − d) . (a − d)(b − c)
Ist einer der Punkte unendlich, so definiert man das Doppelverh¨altnis sinngem¨aß. Eine einfache Rechnung zeigt sofort b die Projektion (vgl. 4.3.1) mit π(A) = a, 4.3.9 Bemerkung Es sei π : C2 \ {(0, 0)} → C π(B) = b, π(C) = c und π(D) = d. Dann gilt [a, b; c, d] =
det(A, C) · det(B, D) . det(A, D) · det(B, C)
Die zweite Beschreibung des Doppelverh¨altnisses zeigt mit Hilfe der Multiplikativit¨at der Determinante und der Beobachtung 4.3.5 die Invarianz des Doppelverh¨altnisses unter M¨obiustransformationen: b→C b eine M¨obiustransformation und sind a, b, c, d ∈ C, b so gilt 4.3.10 Satz Ist M : C [M (a), M (b); M (c), M (d)] = [a, b; c, d]. 4.3.11 Definition Eine reelle Gerade in C ist eine Menge der Form z + Rw, z, w ∈ C. Unter einem Kreis verstehen wir eine Menge der Form K(z; r) := {w ∈ C; |w − z| = r}. b k¨onnen wir Geraden als Kreise, die den Punkt ∞ enthalten, auffassen. Man fasst daher In C auch Kreise und Geraden unter dem Begriff verallgemeinerte Kreise zusammen. 4.3.12 Beispiel 1. Die Abbildung z 7→ z1 heißt Inversion. Sie bildet verallgemeinerte Kreise wieder auf verallgemeinerte Kreise ab und ist winkeltreu. 2. Die Abbildung
z−i z+i heißt Cayley-Transformation. Sie bildet die obere Halbebene H := {z ∈ C; Im(z) > 0} in das Innere des Einheitskreises ab; weiter ist C(R) = S 1 := K(0; 1). Die Umkehrabbildung von C ist gegeben durch 1+z C −1 (z) = i . 1−z C : z 7→
62
Nicht-Euklidische Geometrien
¨ Die Beweise dieser Aussagen bleiben dem Leser zur Ubung u ¨berlassen. 4.3.13 Satz Die Gruppe der M¨obiustransformationen wird von (reellen) Streckungen, Drehungen, Translationen und der Inversion erzeugt. az + b . Wir k¨onnen annehmen, dass ad − bc = 1 gilt. Ist c = 0, so cz + d ist die Behauptung offensichtlich richtig; im Fall c 6= 0 gilt
Beweis
Es sei M (z) =
M (z) =
az + b a cz + d bc − ad 1 a 1 1 = · + · = − 2· , cz + d c cz + d c cz + d c c z + dc
woraus man die Behauptung abliest.
Zusammen mit Beispiel 4.3.12 erh¨alt man daraus unmittelbar 4.3.14 Korollar Ist M eine M¨obiusabbildung, so ist das Bild eines Kreises oder einer Geraden wieder ein Kreis oder eine Gerade. Wegen der Invarianz des Doppelverh¨altnisses und der Tatsache, dass man M¨obiustransformationen auf drei Punkten festlegen kann, erh¨alt man nun auch noch b ist genau dann 4.3.15 Satz Das Doppelverh¨altnis [a, b; c, d] von vier Punkten a, b, c, d ∈ C reell, wenn a, b, c, d auf einem Kreis oder auf einer Gerade liegen. 4.3.16 Aufgabe Man zeige, dass Satz 4.3.15 dem Peripheriewinkelsatz entspricht. b → C, b z 7→ 1 , heißt Inversion am Einheitskreis (oder 4.3.17 Definition Die Abbildung ıE : C z auch Kreisspiegelung). 4.3.18 Bemerkung Nach Beispiel 4.3.12 ist klar, dass ıE winkeltreu ist und Kreise bzw. Geraden wieder auf Kreise oder Geraden abbildet. Weiter sind die Punkte 0, z und ıE (z) offenbar (reell) kollinear und es gilt |z| · |ıE (z)| = 1. F¨ ur den n¨achsten Satz erinnern wir an das Lemma von Schwarz aus der Funktionentheorie: 4.3.19 Lemma (Lemma von Schwarz) Es sei D := {z ∈ C; |z| < 1} die Einheitskreisscheibe. Ist f : D → D holomorph mit f (0) = 0, dann gilt |f (z)| ≤ |z| f¨ ur alle z ∈ D sowie |f 0 (0)| ≤ 1. Gilt in einer der beiden Ungleichungen Gleichheit f¨ ur ein z ∈ D, so folgt f (z) = eiϕ z mit ϕ ∈ [0, 2π[. F¨ ur den Beweis vgl. etwa [21], Lemma III.3.7 oder [2], 4 Theorem 13. 4.3.20 Satz Die biholomorphen Abbildungen f : D → D sind von der Form f (z) = eiϕ
z−a . 1 − az
4.4 Der hyperbolische Abstandsbegriff
63
Beweis Dass Abbildungen von der behaupteten Form in der Tat D nach D biholomorph abbilden, u ¨berlassen wir dem Leser. Es sei nun f : D → D biholomorph und a := f −1 (0). Die Abbildung z−a h := f ◦ M −1 (z) mit M (z) := 1 − az erf¨ ullt die Voraussetzungen des Lemmas von Schwarz. Daher gilt |h0 (0)| ≤ 1. Ebenso trifft dies auf h−1 zu, also gilt auch |(h−1 )0 (0)| ≤ 1. Dann muss aber in der Tat Gleichheit gelten. Wieder das Lemma von Schwarz liefert dann h(z) = eiϕ z, woraus man die Behauptung direkt ableiten kann.
4.4
Der hyperbolische Abstandsbegriff
Die hyperbolische Geometrie ist in gewissem Sinne das Gegenst¨ uck zur elliptischen Geometrie. Hier gibt es unendlich viele Parallelen zu einer Geraden durch einen gegebenen Punkt außerhalb der gegebenen Geraden. Es gibt verschiedene Modelle f¨ ur die hyperbolische Geometrie. Wir stellen hier ein Modell vor, das auf Herny Poincar´e zur¨ uckgeht und als oberes HalbebenenModell von Poincar´e bezeichnet wird. Dazu sei H := {z ∈ C; Im(z) > 0} die obere Halbebene“ in C, d.h. die Menge der komplexen Zahlen mit positivem Imagin¨arteil. ” Wir zeigen zun¨achst, dass eine M¨obiustransformation, die H invariant l¨aßt, immer in der Form M : z 7→
az + b cz + d
mit a, b, c, d ∈ R sowie det(M ) = ad − bc > 0 dargestellt werden kann. Dazu benutzen wir folgende Beobachtung: 4.4.1 Lemma Es sei M : C → C; z 7→ mit a, b, c, d ∈ R. Dann gilt Im(M (z)) = Beweis
az + b cz + d
ad − bc Im(z). |cz + d|2
Dies erfolgt durch direktes Nachrechnen.
4.4.2 Satz Ist M : H → H biholomorph, so gibt es ein A ∈ R2×2 mit M = MA und det(A) > 0. Beweis Es sei also M : H → H biholomorph. Dann ist mit der Cayley-Transformation C aus 4.3.12 2. die Abbildung f := CM C −1 : D → D
64
Nicht-Euklidische Geometrien
eine biholomorphe Abbildung der Einheitskreisscheibe, also nach 4.3.20 eine M¨obiustransformation. Dann ist aber auch M = C −1 f C als Verkettung von M¨obiustransformationen eine M¨obiustransformation. Es bleibt zu zeigen, dass man annehmen kann, dass M (z) =
az + b cz + d
b := R ∪ {∞} (aus Stetigkeitsgr¨ b ⊂R b reelle Koeffizienten hat. Offenbar gilt mit R unden) M (R) −1 b b Speziell liefert dies und M (R) ⊂ R. b a d M (0) = , M (∞) = , M −1 (∞) = − ∈ R. d c c Wir betrachten dabei nur den Fall c 6= 0 6= d und u ¨berlassen die anderen F¨alle dem Leser. In diesem Fall hat man a b A := c dc ∈ R2×2 1 c und M = MA . Wir k¨onnen also a, b, c, d ∈ R annehmen. Wegen Im(M (i)) > 0 folgt aus 4.4.1 nun auch die letzte Behauptung. In der Funktionentheorie beweist man, dass die biholomorphen Abbildungen eines Gebietes genau die winkel- und orientierungstreuen (stetigen mit stetigen partiellen Ableitungen) Abbildungen des Gebietes sind (vgl. [9], IV, §2, speziell Satz 8 und Satz 9). Damit erhalten wir folgenden Satz 4.4.3 Satz Die winkeltreuen Selbstabbildungen von H k¨onnen beschrieben werden durch z 7→
az + b , cz + d
oder z 7→
−az + b , ad − bc = 1, a, b, c, d ∈ R. −cz + d
Um Messen zu k¨onnen, werden wir eine Metrik auf H einf¨ uhren. Es wird sich herausstellen, dass die in 4.4.3 angegebenen Abbildungen auch diese Metrik respektieren, also genau die Isometrien bzgl. dieser Metrik darstellen. Wir bezeichnen die Menge aller Abbildungen wie in 4.4.3 daher mit Iso(H). 4.4.4 Aufgabe Man zeige: Sind u, w ∈ H, so gibt es eine M¨obiustransformatiom M ∈ Iso(H) mit M (u), M (v) ∈ iR. 4.4.5 Definition Mit Γ := {γ ∈ C([0, 1], H); ∃0 = t0 < t1 < · · · < tm = 1, γ|]ti ,ti+1 [ stetig differenzierbar} bezeichnen wir die st¨ uckweise stetig differenzierbaren Wege in H. 4.4.6 Bemerkung 1. Die st¨ uckweise stetig differenzierbaren Wege Γ bilden einen R-Kegel in V := C([0, 1], H).
4.4 Der hyperbolische Abstandsbegriff
65
2. Zu γ ∈ Γ wird durch −γ(t) := γ(1 − t) der zu γ inverse Weg −γ ∈ Γ definiert. Man hat −γ(0) = γ(1) und −γ(1) = γ(0). 3. Zu γ, µ ∈ Γ mit γ(1) = µ(0) sei ( γ(2t), 0 ≤ t ≤ 12 , µ ∗ γ : [0, 1] → H, t 7→ µ(2t − 1), 12 < t ≤ 1. die Aneinanderh¨angung von γ und µ. Dann gilt µ ∗ γ ∈ Γ. Die wohl grundlegende Idee, um das Halbebenenmodell nach Poincar´e zu erhalten, ist wohl folgende Definition. 4.4.7 Definition Es sei γ ∈ Γ. Dann heißt Z1 L(γ) :=
|γ 0 (t)| dt Im(γ(t))
0
die hyperbolische L¨ange von γ. Zun¨achst beachte man, dass das in der Definition gegebene Integral sicher existiert: Nach Voraussetzung an γ ist der Integrand zun¨achst eine st¨ uckweise stetig differenzierbare Funktion. Da zudem γ([0, 1]) kompakt ist, existiert m := min(Im(γ([0, 1]))) > 0 und daher kann der Integrand nach oben gegen |γ 0 (t)|m−1 abgesch¨atzt werden und dass dieses Integral existiert, ist bekannt. Genauer erh¨alt man folgende Beobachtung: 4.4.8 Bemerkung F¨ ur γ, µ ∈ Γ hat man: 1. Gilt m ≤ Im(γ([0, 1])) ≤ M , dann gilt 1 1 `(γ) ≤ L(γ) ≤ `(γ), M m wobei `(γ) die euklidische Bogenl¨ange von γ bezeichnet. 2. L(−γ) = L(γ). 3. Im Falle γ(1) = µ(0) gilt L(µ ∗ γ) = L(µ) + L(γ). Die erste Beobachtung ist, dass die hyperbolische L¨ange invariant unter M¨obiustransformationen ist. 4.4.9 Satz Es seien M ∈ Iso(H) eine M¨obiustransformation und γ ∈ Γ. Dann gilt L(M ◦ γ) = L(γ).
66
Beweis
Nicht-Euklidische Geometrien
Es gilt M ◦ γ(t) =
γ 0 (t) aγ(t) + b =⇒ (M ◦ γ)0 (t) = . cγ(t) + d) (cγ(t) + d)2
Zusammen mit Lemma 4.4.1 ergibt sich |γ 0 (t)| |(M ◦ γ)0 (t)| = , Im(M ◦ γ(t)) Im(γ(t)) woraus man die Behauptung erh¨alt.
4.4.10 Definition Es seien z, w ∈ H. Dann heißt d(z, w) := inf{L(γ); γ ∈ Γ mit γ(0) = z, γ(1) = w} der hyperbolische Abstand von z und w. 4.4.11 Bemerkung Aus 4.4.9 folgt offenbar d(z, w) = d(M (z), M (w)) f¨ ur jede M¨obiustransformation aus Iso(H). Offenbar gilt diese Invarianz auch f¨ ur die Abbildung z 7→ −¯ z , was zeigt, dass sowohl L als auch d unter allen Abbildungen aus Iso(H) invariant sind. 4.4.12 Lemma F¨ ur z = iy, w = iv ∈ iR>0 mit y < v gilt d(z, w) = log yv , wobei log den reellen nat¨ urlichen Logarithmus bezeichnet. Beweis Es sei γ ∈ Γ mit γ(0) = z und γ(1) = w. Um Schreibarbeit zu sparen, nehmen wir an, dass γ stetig differenzierbar ist (sonst muss man das Integral auf entsprechende Teilintervalle aufspalten und dann summieren) und schreiben γ(t) = γ1 (t) + iγ2 (t). Dann gilt Z1 L(γ) = 0
|γ 0 (t)| dt = Im(γ(t))
Z1 p
(γ10 (t))2 + (γ20 (t))2 dt ≥ γ2 (t)
Z1
0
γ20 (t) v dt = log . γ2 (t) y
0
Da sich f¨ ur µ(t) := iy + it(v − y) offenbar Gleichheit ergibt, erh¨alt man die Behauptung.
4.4.13 Satz Der hyperbolische Abstand ist eine Metrik auf H. Beweis Zun¨achst gilt offenbar d(z, z) = 0 f¨ ur alle z ∈ H. F¨ ur z, w ∈ H mit z 6= w gibt es aufgrund Aufgabe 4.4.4 ein M ∈ Iso(H) mit M (z), M (w) ∈ iR. Wegen Satz 4.4.9 und Lemma 4.4.12 gilt dann d(z, w) = d(M (z), M (w)) > 0. Die Symmetrie folgt offenbar aus 4.4.8 2. F¨ ur die Dreiecksungleichung und z, u, w ∈ H w¨ahle man zu ε > 0 Wege γ ∈ Γ mit γ(0) = z, γ(1) = u, µ(0) = u, µ(1) = w mit L(γ) < d(z, u) + ε und L(µ) < d(u, w) + ε.
4.4 Der hyperbolische Abstandsbegriff
67
Dann gelten f¨ ur ν := µ ∗ γ offenbar ν(0) = z, ν(1) = w und wegen Bemerkung 4.4.6 3. L(ν) = L(γ) + L(µ). Dies zeigt d(z, w) ≤ L(ν) < d(z, u) + d(u, w) + 2ε. Da ε beliebig war, erh¨alt man die Dreiecksungleichung.
Damit k¨onnen wir den Satz 4.4.3 in der Tat dahin verallgemeinern, dass die dort angegebenen Abbildungen genau die winkel- und l¨angentreuen Selbstabbildungen von H sind. Eine genauere Analyse des Beweises von Lemma 4.4.12 zeigt, dass in der hyperbolischen Geometrie die k¨ urzeste Verbindung zweier Punkte auf der imagin¨aren Achse in der Tat die (euklidische) Strecke zwischen den Punkten ist. Dies trifft generell f¨ ur Punkte mit gleichem Realteil zu, da man diese durch eine horizontale Verschiebung auf die imagin¨are Achse bef¨ordern kann. F¨ ur Punkte z, w mit verschiedenem Realteil sei K(m, r) ein Kreis mit m ∈ R und z, w ∈ K(m, r). Wir behaupten, dass dieser die k¨ urzeste Verbindung von z und w beschreibt. Dazu gen¨ ugt es zu zeigen, dass es eine M¨obiustransformation gibt, die diesen Kreis auf die Imagin¨are Achse abbildet, sodass der positive Halbkreis auf der positiven imagin¨are Achse landet. 4.4.14 Lemma Es seien z, w ∈ H mit (ohne Einschr¨ankung) Re(z) < Re(w). Weiter sei K(m, r) der Kreis mit Mittelpunkt m ∈ R und z, w ∈ K(m, r). Ferner seien z ∗ , w∗ ∈ R∩K(m, r) mit z ∗ = Re(z ∗ ) < Re(w∗ ) = w∗ . Dann gelten f¨ ur M (ζ) :=
ζ − z∗ . w∗ − ζ
1. M ∈ Iso(H). 2. M (K(m; r)) = iR. Beweis 1. Die erste Aussage ist eine direkte Folgerung aus 4.4.3. 2. Offenbar hat man M (z ∗ ) = 0, M (w∗ ) = ∞ und M (m + ir) = i (man beachte, dass z ∗ = m − r und w∗ = m + r gelten). Damit folgt aus der Invarianz verallgemeinerter Kreise unter M¨obiustransformationen die Behauptung. Aus dem letztem Lemma ergibt sich eine sch¨one Formel f¨ ur den hyperbolischen Abstand zweier Punkte: 4.4.15 Korollar F¨ ur z, w ∈ H gelten in der Notation von Lemma 4.4.14 d(z, w) = | log([z, w, z ∗ , w∗ ])|, wobei [z, w, z ∗ , w∗ ] wieder das Doppelverh¨altnis bezeichnet.
68
Nicht-Euklidische Geometrien
Abbildung 4.5: Zur Doppelverh¨altnisformel 4.4.15
4.4.12 M (z) Beweis In der Bezeichnung von 4.4.14 hat man d(z, w) = d(M (z), M (w)) = | log M |. (w) Einsetzen liefert z − z ∗ w∗ − w z − z ∗ w − w∗ = log = | log([z, w, z ∗ , w∗ ])|. d(z, w) = log · · w∗ − z w − z ∗ z − w∗ w − z ∗
Es gibt eine Reihe von weiteren Formeln f¨ ur den hyperbolischen Abstand, von denen wir nur einige vorstellen werden. Die Formel aus Korollar 4.4.15 notieren wir noch explizit. Dazu bezeichnen wir f¨ ur z, w ∈ H mit Im(z) 6= Im(w) den reellen Mittelpunkt des Kreises durch z und w mit m. Dieser hat den Radius |z − m| = |w − m|. Dann gilt (z − m + |z − m|)(w − m − |z − m|) . d(z, w) = log (4.2) (z − m − |z − m|)(w − m + |z − m|) Eine der wohl wichtigsten Darstellungen liefert folgendes Lemma: 4.4.16 Lemma Es seien z, w ∈ H. Dann gilt: 1. cosh(d(z, w)) = 1 + 2. sinh(d(z, w)) =
|z − w|2 . 2Im(z)Im(w)
|z − w| · |z − w| . 2Im(z)Im(w)
Beweis 1. Wir zeigen die Formel zun¨achst f¨ ur z, w ∈ iR, also z = iy und w = iv mit y < v. Dann gilt nach 4.4.12 v2 + y2 (v − y)2 |z − w|2 1 v y cosh(d(x, y)) = + = =1+ =1+ . 2 y v 2vy 2vy 2Im(z)Im(w)
4.5 Das Halbebenenmodell der hyperbolischen Ebene
69
Es gen¨ ugt also nun zu zeigen, dass der Ausdruck auf der rechten Seite invariant unter M¨obiustransformationen ist. Dazu sei M (z) := az+b mit OE ad−bc = 1 eine M¨obiustranscz+d formation. Dann rechnet man schnell z−w M (z) − M (w) = (cz + d)(cw + d) nach. Zusammen mit Lemma 4.4.1 erh¨alt man nun |z − w|2 |M (z) − M (w)|2 = , Im(M (z))Im(M (w)) Im(z)Im(w) woraus die Behauptung folgt. ¨ 2. Diesen Nachweis u ¨berlassen wir dem Leser als Ubung.
4.5
Das Halbebenenmodell der hyperbolischen Ebene
In diesem Abschnitt f¨ uhren wir ein klassisches, auf Herni Poincar´e zur¨ uckgehendes, Modell der hyperbolischen Geometrie ein, das Halbebenenmodell. Dieses erf¨ ullt alle Hilbertschen Axiome bis auf das Parallelenaxiom, wie wir im Folgenden sehen werden. 4.5.1 Definition Unter dem Halbebenenmodell der hyperbolischen Ebene verstehen wir die Menge H zusammen mit dem hyperbolischen Abstand d. Punkte in H sind die Elemente von H, Geraden in H sind entweder (euklidische) Halbstrahlen x + iR>0 , x ∈ R, oder Halbkreise K+ (m; r) := H ∩ K(m; r) mit reellem m ∈ R und positivem Radius r ∈ R>0 . 4.5.2 Bemerkung Aus den S¨atzen 4.4.3 und 4.4.9 sowie Lemma 4.4.14 folgt, dass die winkeltreuen Isometrien von H gerade die in 4.4.3 angegebenen Abbildungen sind und dass die Gruppe Iso(H) transitiv auf der Menge der Geraden in H operiert. Im Folgenden werden wir uns u ¨berlegen, dass die hyperbolische Ebene H das Hilbertsche Axiomensystem außer dem Parallelenaxiom erf¨ ullt. F¨ ur die Axiomengruppe der Inzidenz 2.2.1 ist dies ziemlich offensichtlich. Exemplarisch zeigen wir wie im euklidischen Fall das erste Inzidenzaxiom: 4.5.3 Lemma Es seien A, B ∈ H mit A 6= B. Dann gibt es genau eine hyperbolische Gerade g mit A, B ∈ g. Beweis Wir zeigen nur die Existenz, da die Eindeutigkeit ziemlich offensichtlich ist: Gilt Re(A) = Re(B) =: x, so sei g := x + iR. Dann gilt offenbar A, B ∈ g. Im Fall Re(A) 6= Re(B) schneidet die (euklidische) Mittelsenkrechte die reelle Achse. Dieser Schnittpunkt sei M . Nach 3.4.8 gilt |A − M | = |B − M | =: r. Dann ist g := K(M ; r) ∩ H eine hyperbolische Gerade, und es gilt A, B ∈ g.
70
Nicht-Euklidische Geometrien
Wir geben an dieser Stelle eine explizite Berechnung des zwei Punkte mit unterschiedlichem Realteil verbindenden Halbkreis an (also der hyperbolischen Geraden durch diese Punkte), die wir sp¨ater noch ¨ofter verwenden werden. 4.5.4 Lemma Es seien A, B ∈ H mit Re(A) 6= Re(B). Ferner sei K(M ; r) ein Kreis mit M ∈ R und A, B ∈ K(M ; r). Dann gelten M=
|B|2 − |A2 | 2(Re(B) − Re(A))
und
r=
|B − A| · |B − A| . 2|Re(B) − Re(A)|
Beweis Wir zeigen zun¨achst die Aussage u ¨ber den Mittelpunkt: Punkte x auf der euklidischen Mittelsenkrechte von A und B erf¨ ullen die Gleichung x − B). (x − A)(¯ x − A) = |x − A|2 = |x − B|2 = (x − B)(¯ Ist x reell, so erh¨alt man die Gleichung −x(A + A) + |A|2 = −x(B + B) + |B|2 , woraus man direkt die behauptete Form f¨ ur M erh¨alt. Wir schreiben nun A = a1 + ia2 und B = b1 + ib2 . Dann gilt M=
b 1 + a1 b2 − a22 (b1 − a1 )2 + a22 − b22 b21 + b22 − a21 − a22 = + 2 =⇒ B − M = + ib2 . 2(b1 − a1 ) 2 2(b1 − a1 ) 2(b1 − a1 )
Dies zeigt |B − M |2 = = = = =
(b1 − a1 )4 + (b22 − a22 )2 + 2(b1 − a1 )2 (a22 − b22 ) + 4b22 (b1 − a1 )2 4(b1 − a1 )2 (b1 − a1 )4 + 2(b1 − a1 )2 (a22 + b22 ) + (b22 − a22 )2 4(b1 − a1 )2 (b1 − a1 )4 + (b1 − a1 )2 (b2 + a2 )2 + (b1 − a1 )2 (b2 − a2 )2 + (b2 − a2 )2 (b2 + a2 )2 4(b1 − a1 )2 ((b1 − a1 )2 + (b2 − a2 )2 )((b1 − a1 )2 + (b2 + a2 )2 ) 4(b1 − a1 )2 |B − A|2 · |B − A|2 , 4(Re(B) − Re(A))2
woraus man die Behauptung abliest.
F¨ ur die Anordnungsaxiome definieren wir zun¨achst eine Zwischenbeziehung: 4.5.5 Definition Es seien A, B, C ∈ H drei Punkte einer Geraden. Wir sagen, dass C zwischen A und B liegt, falls d(A, B) = d(A, C) + d(C, B) gilt. Damit lassen sich auch Begriffe wie Strecke, Seite einer Geraden und Halbstrahl offensichtlich analog zum euklidischen Fall definieren.
4.5 Das Halbebenenmodell der hyperbolischen Ebene
71
¨ Wieder ist es eine einfache Ubung, einzusehen, dass die Axiome aus 2.2.6 bei dieser Definition erf¨ ullt sind. Man beachte dazu, dass man immer ohne Einschr¨ankung annehmen kann, dass A = iy, B = iv, C = is ∈ iR>0 mit y < v gilt. Dann liegt C offenbar genau dann zwischen A und B, falls y < s < v gilt. Mit dieser Beobachtung l¨asst sich auch das Axiom von Pasch mit Hilfe eines Stetigkeitsarguments relativ einfach nachweisen. 4.5.6 Aufgabe Man zeige, dass f¨ ur H das Axiom von Pasch gilt: Sind A, B, C ∈ H nicht alle auf einer Gerade und schneidet die Gerade g die Strecke AB zwischen A und B und liegt C nicht auf g, so schneidet g auch eine der beiden Strecken AC oder BC. Kongruenz von Strecken definieren wir ebenfalls wie im Euklidischen: 4.5.7 Definition Es seien A, B, C, D ∈ H. Die Strecken AB und CD heißen kongruent, falls d(A, B) = d(C, D) gilt. Wir zeigen von der Axiomengruppe 2.2.12 lediglich das erste Axiom und u ¨berlassen die anderen wieder dem Leser: 4.5.8 Lemma Es seien A, B ∈ H mit A 6= B sowie g die Gerade durch A und B. Weiter sei A0 ein Punkt einer weiteren (nicht notwendig von g verschiedenen) Geraden g 0 , so gibt es auf einer gegebenen Seite der Geraden g 0 von A0 einen Punkt B 0 , sodass d(A, B) = d(A0 , B 0 ) gilt. Beweis Es sei d := d(A, B) > 0. Durch Anwenden einer geeigneten M¨obiustransformation k¨onnen wir annehmen, dass g 0 = iR>0 und damit A0 = iy mit y ∈ R>0 gilt. Die beiden Seiten von A0 entsprechen dann den Halbstrahlen h = {iv; v > y} bzw. h0 = {iv; 0 < v < y}. 0 0 0 Setzt man nun B± := iye±d , so liegen B+ und B− auf verschiedenen Seiten von A0 und es gilt 0 0 d(A , B± ) = d. Damit folgt die Behauptung. Winkelgr¨oßen werden auf euklidische Winkelgr¨oßen zur¨ uckgef¨ uhrt: 4.5.9 Definition Es seien h, h0 zwei Halbstrahlen, die von einem gemeinsamen Punkt ausgehen. Die Winkelgr¨oße des Winkels ∠(h, h0 ) zwischen diesen Halbstrahlen ist der euklidische Winkelwert zwischen entsprechenden Tangentialvektoren an die Halbstrahlen. Man kann diese Winkelgr¨oßen in der Tat als Winkelgr¨oßen zwischen euklidischen Halbstrahlen interpretieren: Dazu nehmen wir an, dass A = iy, C = iv mit v > y sowie B ∈ H mit Re(B) > 0 gelte. Weiter sei M ∈ R der Mittelpunkt des Halbkreises durch A und B. Sei ferner O ∈ C der Nullpunkt, so gilt f¨ ur den Winkelwert α des Winkels ∠(AB AC −→, − →) zwischen den hyperbolischen Halbstrahlen AB und AC −→ −→ α = ^AM O im euklidischen Sinne. Mit dieser Beobachtung u ur die ¨berzeugt man sich schnell davon, dass die Axiome 2.2.17 auch f¨ hyperbolische Ebene erf¨ ullt sind. Wir k¨onnten das letzte Kongruenzaxiom, das Kongruenzaxiom sws 2.2.19 an dieser Stelle beweisen, stellen diesen Beweis aber zur¨ uck, da wir es sp¨ater aus dem hyperbolischen Kosinussatz automatisch erhalten werden. Der Beweis des archimedischen Axioms 2.2.27 folgt nach dem u ¨blichen Muster:
72
Nicht-Euklidische Geometrien
4.5.10 Lemma Es seien AB und CD Strecken. Dann gibt es eine nat¨ urliche Zahl n, so dass das n-malige Abtragen der Strecke CD vom Punkt A aus die Strecke AB enth¨alt. Beweis Wie u ¨blich k¨onnen wir annehmen, dass A = ia, B = ib ∈ iR mit b > a gelten. Es sei d = d(C, D). Da der Abstandsbegriff additiv ist, gen¨ ugt es zu zeigen, dass es ein n ∈ N gibt mit b nd > d(A; B) = log . a Dies ist aber offensichtlich richtig. Auf den Nachweis des Vollst¨andigkeitsaxioms 2.2.28 verzichten wir: Dieser l¨asst sich ¨ahnlich wie der Beweis des Satzes 3.1.21 im euklidischen Modell bewerkstelligen. Damit haben wir gezeigt, dass in der Tat alle Hilbertschen Axiome außer dem Parallelenaxiom erf¨ ullt sind. Dieses gilt aber nicht! Vielmehr gibt es sogar unendlich viele Parallelen zu einer gegebenen Gerade durch einen Punkt außerhalb dieser Geraden. 4.5.11 ur x ∈ R>0 und √ Beispiel Es seien g := iR und P := 1 + i. Ferner sei M := 1 + x f¨ 2 r := 1 + x . Dann gilt P ∈ K(M ; r), aber K(M ; r) ∩ g = ∅. Beweis
Offenbar gilt |P − M | =
√
1 + x2 , also P ∈ K(M ; r). F¨ ur z = iy ∈ g gilt
|z − M |2 = (1 + x)2 + y 2 > (1 + x)2 = 1 + x2 + 2x > 1 + x2 = r2 , also schneiden sich g und K(M ; r) nicht.
Man kann die hyperbolische Geometrie durchaus auch als Wahlthema in der gymnasialen Oberstufe in den Schulunterricht integrieren. Eine beispielhafte Durchf¨ uhrung dieser Idee findet sich etwa in [3].
4.6
Hyperbolische Trigonometrie
In diesem Abschnitt untersuchen wir hyperbolische Dreiecke und werden f¨ ur diese die hyperbolischen trigonometrischen Aussagen beweisen. Zun¨achst w¨ahlen wir wieder die u ¨blichen Bezeichnungen: 4.6.1 Definition Sind A, B und C drei Punkte in H, die nicht auf einer Geraden liegen, so heißt ABC ein hyperbolisches Dreieck mit Seitenl¨angen a = d(B, C), b = d(A, C) sowie c = d(A, B). Die Innenwinkel des Dreieckes sind α = ∠(AB AC BA −→, − →), β = ∠(BC −−→, − →) sowie γ = ∠(CA CB −→, − −→). In diesem Abschnitt werden wir uns mit Aussagen u ¨ber hyperbolische Dreiecke auseinandersetzen. Die entscheidende Beweistechnik besteht dabei darin, dass man das Dreieck so legt, dass zwei Punkte auf der imagin¨aren Achse liegen und der dritte Punkt positiven Realteil besitzt. Durch Anwenden einer M¨obiustransformation und gegebenenfalls der Abbildung z 7→ −z ist das immer erreichbar.
4.6 Hyperbolische Trigonometrie
73
Abbildung 4.6: Ein hyperbolisches Dreieck
4.6.2 Definition Ein hyperbolisches Dreieck ABC heißt in kanonischer Lage, falls A, C ∈ iR>0 mit Im(C) > Im(A) und Re(B) > 0 gelten.
Abbildung 4.7: Ein Dreieck in kanonischer Lage 4.6.3 Lemma Es sei ABC ein hyperbolisches Dreieck in kanonischer Lage. Ferner seien MAB und MBC die Mittelpunkte der Kreise, auf denen die hyperbolischen Strecken AB bzw. BC liegen. F¨ ur die Innenwinkelwerte α, β und γ, gelten dann ( ( ^AMAB O, α ≤ π2 , π − ^CMBC O, γ ≥ π2 α= γ = und β = ^MBC BMAB . π − ^AMAB O, α > π2 ^CMBC O, γ < π2
74
Nicht-Euklidische Geometrien −→
Beweis
Im Punkt A seien AC der Tangentialvektor der Seite AC sowie ~v der Tangentialvek−→
−→
−→
tor zur Seite AB. Dann gelten AC⊥MAB O und ~v ⊥MAB A, woraus man die Behauptung erh¨alt. Die anderen Aussagen sieht man a¨hnlich ein. Als erstes Ergebnis zeigen wir damit den hyperbolischen Sinussatz. 4.6.4 Satz (Hyperbolischer Sinussatz) Es sei ABC ein hyperbolisches Dreieck in u ¨blicher Bezeichnung. Dann gelten sinh(b) sinh(c) sinh(a) = = . sin(α) sin(β) sin(γ) Beweis Wir k¨onnen ohne Einschr¨ankung annehmen, dass ABC in kanonischer Lage ist, d.h. es gelten A = iy, C = iv ∈ iR>0 , v > y sowie B = b1 + ib2 mit b1 > 0. Weiter seien MAB und MBC die Mittelpunkte der Kreise durch A und B bzw. B und C. Dann gelten wegen Lemma 4.6.3 und des Euklidischen Sinussatzes 3.6.3 sin(α) =
Im(A) |A − MAB |
und
sin(γ) =
Im(C) . |C − MBC |
Die Gleichung sinh(c) sinh(a) = sin(γ) sin(α) ist dann aufgrund von Lemma 4.4.16 ¨aquivalent zu |B − A| · |B − A| · |C − MBC | |B − C| · |B − C| · |A − MAB | = . 2Im(A)Im(B)Im(C) 2Im(A)Im(B)Im(C) Wegen Re(A) = Re(C) = 0 zeigt das Lemma 4.5.4 die Richtigkeit dieser letzten Gleichung. Die anderen behaupteten Gleichungen ergeben sich durch zyklische Vertauschung. F¨ ur Punkte auf der imagin¨aren Achse gibt es eine einfache M¨oglichkeit, den hyperbolischen Abstand zu einem Punkt außerhalb der imagin¨aren Achse zu ermitteln: 4.6.5 Aufgabe Gelten A = iv ∈ iR>0 und B ∈ H, so hat man |A|2 + |B|2 . cosh(d(A, B)) = 2Im(A)Im(B) Damit folgt auch direkt der hyperbolische Seitenkosinussatz 4.6.6 Satz (Hyperbolischer Seitenkosinussatz) Es sei ABC ein hyperbolisches Dreieck mit den u ¨blichen Bezeichnungen. Dann gilt cosh(b) cosh(c) − cosh(a) = sinh(b) sinh(c) cos(α) und entsprechend f¨ ur zyklische Vertauschungen.
4.6 Hyperbolische Trigonometrie
75
Beweis Wieder nehmen wir A = iy, C = iv ∈ iR mit v > y > 0 sowie Re(b) > 0 an. Ist M ∈ R der Mittelpunkt des A und B verbindenden Halbkreises, so gilt wieder wegen Lemma 4.6.3 und des Euklidischen Kosinussatzes 3.6.1 |B|2 − |A|2 M 4.5.4 = . cos(α) = |A − M | |B − A| · |B − A| Wegen 4.4.16 2. gelten sinh(c) =
|B − A| · |B − A| (Im(C))2 − (Im(A))2 und sinh(b) = . 2Im(B)Im(A) 2Im(C)Im(A)
Mit Im(C) = |C| und Im(A) = |A| steht auf der rechten Seite der behaupteten Gleichung somit der Ausdruck (|C|2 − |A|2 )(|B|2 − |A|2 ) R := . 4(Im(A))2 Im(B)Im(C) F¨ ur den Ausdruck auf der linken Seite erh¨alt man unter Ausnutzung der Aufgabe 4.6.5 (|A|2 + |C|2 )(|B|2 | + |A|2 ) |B|2 + |C|2 − 4(Im(A))2 Im(B)Im(C) 2Im(B)Im(A) 2 2 2 2 2 2 |A| |B| + |C| |B| + |A| |C| + |A|4 − 2|A|2 |B|2 − 2|A|2 |C|2 , = 4(Im(A))2 Im(B)Im(C)
cosh(b) cosh(c) − cosh(a) =
was ebenfalls R ergibt, woraus man die Behauptung abliest
4.6.7 Korollar (Hyperbolischer Pythagoras) Ist ABC ein rechtwinkliges hyperbolisches Dreieck mit α = π2 , so gilt cosh(a) = cosh(b) cosh(c). 4.6.8 Korollar In der hyperbolischen Geometrie gilt der Kongruenzssatz sws“: Ein Dreieck ” ist durch zwei Seiten und den eingeschlossenen Winkel festgelegt. 4.6.9 Korollar In der hyperbolischen Geometrie gilt der Basiswinkelsatz samt Umkehrung: Ein Dreieck ist genau dann gleischschenklig, wenn es zwei gleiche Winkel besitzt. 4.6.10 Satz (Hyperbolischer Winkelkosinussatz) Es sei ABC ein hyperbolisches Dreieck in den u ¨blichen Bezeichnungen. Dann gelten cos(β) = − cos(α) cos(γ) + sin(α) sin(γ) cosh(b) und alle entsprechenden zyklischen Vertauschungen. Beweis Wieder nehmen wir an, dass ABC in kanonischer Lage ist und bezeichnen die Mittelpunkte der zu AB bzw. BC geh¨orenden Kreise mit MAB und MAC und zugeh¨origen Radien rAB bzw. rBC . Anwenden des euklidischen Kosinussatzes 3.6.1 auf das Dreieck MAB BMAC liefert zun¨achst 2 2 2rAB rBC cos(β) = rAB + rBC − |MAB − MBC |2 .
76
Nicht-Euklidische Geometrien
Die Aussage des Winkelkosinussatzes erweist sich mit Hilfe des Lemmas 4.6.3 und der Aufgabe 4.6.5 ¨aquivalent zu |A|2 + |C|2 MAB MBC Im(A) Im(C) · + · · . cos(β) = rAB rBC rAB rAB 2Im(A) · Im(C) Somit gen¨ ugt es 2 2 2 2 rAB + rBC − MAB − MAC = |A|2 + |C|2 2 2 zu zeigen. Die Gleichung rAB = MAB + |A|2 ist aber gerade der Satz des Pythagoras 3.6.2 im rechtwinkligen Dreieck AOMAB und ebenso f¨ ur das Dreieck COMBC .
4.6.11 Aufgabe Man untersuche, welche der Kongruenzs¨atze sss, www, sws, wsw, ssw und wws in der hyperbolischen Geometrie gelten. Wir wenden uns abschließend noch der Berechnung hyperbolischer Fl¨acheninhalte zu. 4.6.12 Definition Es sei K ⊂ H eine messbare Teilmenge. Dann ist der hyperbolische Fl¨acheninhalt FK von K definiert durch Z 1 FK := d(x, y). 2 K y 4.6.13 Aufgabe 1. Es seien G ⊂ C ein Gebiet sowie f : G → C holomorph. Weiter bezeichne man mit fR : GR → R2 die durch Zerlegung in Real- und Imagin¨arteil definierte zugeh¨orige reelle Abbildung. Man zeige det(fR0 (x, y)) = |f 0 (z)|2 , mit z = x + iy. 2. Man folgere f¨ ur eine M¨obiustransformation M : H → H, z 7→
az + b , a, b, c, d ∈ R, ad − bc = 1, cz + d
die Identit¨at det(MR0 (x, y)) =
1 , mit z = x + iy. |cz + d|4
4.6.14 Bemerkung Aus der Aufgabe 4.6.13 und dem Lemma 4.4.1 sowie der Substitutionsregel f¨ ur mehrdimensionale Integrale ([25], 205.2) folgt, dass der hyperbolische Fl¨acheninhalt invariant unter M¨obiustransformationen ist. 4.6.15 Satz Es sei ABC ein Dreieck. Dann gilt FABC = π − α − β − γ. Beweis Wegen Bemerkung 4.6.14 k¨onnen wir annehmen, dass ABC in kanonischer Lage ist. Weiter seien wieder K+ (MAB , rAB ) und K+ (MBC , rBC ) die A und B bzw. B und C verbindenden Halbkreise. Wir beschr¨anken uns auf den Fall 0 < MBC < MAC < Re(B) und u ¨berlassen die
4.7 Hyperbolische Parallelen und Abst¨ande
77
(analog zu behandelnden) anderen F¨alle dem Leser (dies entspricht gerade der in Abbildung 4.7 dargestellten Situation). F¨ ur z = x + iy mit x ∈ [0, Re(B)] gilt dann: q q 2 2 − (x − MAB )2 ≤ y ≤ rBC − (x − MBC )2 =: o(x). z ∈ ABC ⇐⇒ u(x) := rAB Damit ist ABC ein durch u und o begrenzter Normalbereich bzgl. der x-Achse. Somit gilt (vgl. [25], Satz 204.1) Re(B) Z Zo(x) 1 FABC = dy dx y2 0
u(x)
Re(B) Z
= 0
1
1
p −p 2 2 rAB − (x − MAB )2 rBC − (x − MBC )2
! dx.
Die Aufgabe 4.6.17 zeigt nun Re(B) − MAB MAB Re(B) − MBC MBC FABC = arcsin +arcsin −arcsin −arcsin . rAB rAB rBC rBC Wendet man daraus das Lemma 4.6.3 an, so folgt aufgrund der betrachteten Situation π π −α − − (π − γ) = π − α − β − γ, FABC = −β + 2 2 also die Behauptung.
4.6.16 Korollar F¨ ur hyperbolische Dreiecke ist die Winkelsumme immer kleiner als π. 4.6.17 Aufgabe F¨ ur a, b, z ∈ R>0 mit (x − b)2 ≤ a2 f¨ ur 0 ≤ x ≤ z zeige man: Zz
1 p
0
4.7
a2 − (x − b)2
= arcsin
z−b a
b + arcsin . a
Hyperbolische Parallelen und Abst¨ ande
In diesem Abschnitt stellen wir einige Erg¨anzungen der hyperbolischen Geometrie zusammen, die uns einige weitere Einsichten u ¨ber diese Geometrie geben werden. 4.7.1 Bemerkung In der hyperbolischen Geometrie gelten der Nebenwinkel- und der Scheitelwinkelsatz, der Stufen- und Wechselwinkelsatz sind dagegen im Allgemeinen falsch! 4.7.2 Lemma Es seien g, h zwei hyperbolische Geraden und ` eine hyperbolische Gerade, die g und h rechtwinklig schneidet. Dann sind g und h parallel.
78
Nicht-Euklidische Geometrien
Beweis Andernfalls seien S := g ∩ h, G := g ∩ ` und H := h ∩ `. Dann gilt im Dreieck SGH offenbar σ + γ + η = σ + π ≥ π im Widerspruch zur Folgerung 4.6.16! Die folgende Umkehrung des Lemmas 4.7.2 ist dagegen in der hyperbolischen Geometrie offenbar falsch: Sind g und h parallel, so schneidet jede Gerade, die g rechtwinklig schneidet, auch h rechtwinklig. Interessanterweise braucht es bei parallelen hyperbolischen Geraden im Allgemeinen u ¨berhaupt keine gemeinsame rechtwinklige Gerade geben. Wir werden dieses Ph¨anomen im Folgenden etwas allgemeiner untersuchen. 4.7.3 Definition Zwei parallele hyperbolische Geraden g und h heißen verbindbar, wenn es eine Gerade ` gibt, die g und h rechtwinklig schneidet.
Abbildung 4.8: Zwei verbindbare Geraden
4.7.4 Lemma Es sei g eine hyperbolische Gerade. Dann gibt es zu einem Punkt P ∈ H unendlich viele zu g parallele Geraden durch P , die mit g verbindbar sind. Beweis Ohne Einschr¨ankung k¨onnen wir g = iR>0 und Re(P ) > 0 annehmen. Weiter sei h := K(M ; r) ∩ H mit √ M ∈ R>0 und r < M und P ∈ h. Dann sind offenbar g und h parallel. Setzt man nun ρ := M 2 − r2 und ` := K(0; ρ) so schneidet ` sowohl g als auch h rechtwinklig: Die erste Behauptung ist offenbar richtig. Setzt man nun S :=
M 2 − r2 r √ 2 +i M − r2 , M M
so rechnet man schnell nach, dass S ∈ `, S ∈ h und S ∈ K( M2 ; M2 ) liegt. Aus den ersten beiden Beobachtungen folgt, dass S = ` ∩ h gilt, aus der letzten Beobachtung folgt, dass S auf dem (euklidischen) Thaleskreis u ¨ber 0M liegt. Daher schneiden sich h und ` in S rechtwinklig. Eine genauere Analyse des letzten Beweises zeigt, dass es f¨ ur die beiden Parallelen h1 := |P |2 K(M ; M ) ∩ H mit M := Re(P ) und h2 := Re(P ) + iR>0 keine verbindende Gerade gibt. Dies zeigt den Satz 4.7.5 Satz Zu einer hyperbolischen Geraden g und P ∈ / g gibt es genau zwei nicht verbindbare parallele Geraden h1 und h2 mit P ∈ hi . Alle anderen zu g parallelen (also dann mit g verbindbaren) Geraden durch P liegen zwischen h1 und h2 .
4.7 Hyperbolische Parallelen und Abst¨ande
79
Abbildung 4.9: Randparallelen zu g durch P mit weiteren Parallelen
4.7.6 Definition Es sei g eine Gerade und P ∈ / g. Dann nennt man die beiden zu g parallelen aber nicht mit g verbindbaren Geraden durch P auch die Randparallelen von g bzgl P . Wir gehen abschließend noch etwas auf Abst¨ande ein. 4.7.7 Definition Es sei g eine hyperbolische Gerade und P ∈ H. Dann heißt d(P ; g) := inf{d(P ; G); G ∈ g} der Abstand von P zu g. 4.7.8 Beispiel Es seien g := iR>0 und h := 1 + iR>0 . F¨ ur H := 1 + iη ∈ h gilt dann 1.
p 1 2 d(g, H) = Arcosh η +1 . η
2. Ist L ∈ g mit d(L, H) = d(g, H), so schneidet LH die Gerade g rechtwinklig. Beweis
Es sei is ∈ g. Dann gilt nach Aufgabe 4.6.5 s2 + 1 + η 2 cosh(d(is, H)) = ≥ 2sη
p 1 + η2 , η
√ a+b wobei die Ungleichung gerade die Ungleichung ≥ ab zwischen arithmetischem und 2 geometrischen Mittel mit s 1 + η2 und b := a := η sη p ist und das Minimum daher genau f¨ ur a = b, d.h. s = 1 + η 2 angenommen wird. Damit erh¨alt man beide Behauptungen.
80
Nicht-Euklidische Geometrien
Offenbar l¨asst sich die Aussage des Beispiels 4.7.8 etwa durch Anwendung einer geeigneten M¨obiustransformation auf beliebige Geraden u ¨bertragen. Dies zeigt, dass man den Abstand wie in der euklidischen Situation immer durch das F¨allen des Lotes messen kann. Man erh¨alt allerdings aus 4.7.8 auch einen weiteren fundamentalen Unterschied zur euklidischen Geometrie: 4.7.9 Korollar Parallele Geraden haben in der hyperbolischen Geometrie keinen festen Abstand, in folgendem Sinne: Es seien g, h zwei parallele hyperbolische Geraden sowie P ∈ h. Dann gibt es Q ∈ h mit d(P, g) 6= d(Q, g). Nat¨ urlich l¨aßt sich dennoch ein Abstand paralleler Geraden in sinnvoller Weise definieren: 4.7.10 Definition Es seien g und h parallele Geraden. Dann heißt d(g, h) := inf{d(P, Q); P ∈ g, Q ∈ h} der Abstand der beiden Geraden g und h. Man beachte, dass dieser Abstand den Wert Null ergeben kann: 4.7.11 Aufgabe Man zeige: Sind g und h nicht verbindbar, dann gilt d(g, h) = 0. 4.7.12 Bemerkung Es seien g und h durch ` verbindbar und P := ` ∩ g sowie Q := ` ∩ h. Dann gilt d(g, h) = d(P, Q) und d(g, h) < d(P 0 , Q0 ) f¨ ur alle Paare (P, Q) 6= (P 0 , Q0 ) ∈ g × h. Damit beweist man schnell folgenden Satz 4.7.13 Satz Es seien g eine Gerade sowie P ∈ / g. Dann gibt es genau eine Parallele h zu g durch P mit maximalem Abstand. F¨ ur diese gilt d(g, h) = d(g, P ). Beweis Ohne Einschr¨ankung nehmen wir wieder g = iR>0 sowie Re(P ) > 0 an. Dann setze ) |P |2 sowie r := Im(P |P |. Dann sind offenbar g und h := K(M ; r) ∩ H man ρ := |P |, M := Re(P ) Re(P ) durch ` := K(0; ρ) ∩ H verbindbar. Weiter gilt ` ∩ h = P . Daher gilt d(g, h) = d(g, P ). F¨ ur jede andere mit g verbindbare Gerade h0 mit P ∈ h0 gibt es ein P 6= S ∈ h0 mit 4.7.12
d(g, h0 ) = d(g, S) < d(g, P ) = d(g, h) (vgl. den Beweis von 4.7.4), was die Behauptung zeigt.
Im Folgenden untersuchen wir noch die Existenz von Mittelsenkrechten. 4.7.14 Lemma Zu je zwei Punkten A, B ∈ H mit A 6= B gibt es eine hyperbolische Mittelsenkrechte, d.h. es gibt eine Gerade mAB , sodass f¨ ur jedes P ∈ mAB gilt: d(A, P ) = d(B, P ).
4.7 Hyperbolische Parallelen und Abst¨ande
81
Beweis √Wir k¨onnen wieder ohne Einschr¨ankung A = ia, B = ib ∈ iR>0 annehmen. Es sei dann r := ab und M := 0. Dann setze man mAB := K+ (M, r). Wir behaupten, dass mAB die gesuchte Mittelsenkrechte ist. F¨ ur einen Punkt P = x + iy ∈ mAB gilt dann x2 + y 2 = r2 = ab. Daher hat man nach Aufgabe 4.6.5 cosh(d(A, P )) =
a+b = cosh(d(B, P )), 2y
und daher die Behauptung.
Man beachte, dass gem¨aß des Beweises von 4.7.14 auch die hyperbolische Mittelsenkrechte von A und B ihren Namen zu recht tr¨agt: Sie ist die eindeutig bestimmte Gerade, die AB im (hyperbolischen) Mittelpunkt von AB rechtwinklig schneidet. 4.7.15 Aufgabe Es seien A, B ∈ H mit Re(A) 6= Re(B) und Mittelsenkrechte mAB . Man zeige: a) Gilt Im(A) = Im(B), so ist mAB =
Re(A)+Re(B) 2
+ iR.
b) F¨ ur Im(A) 6= Im(B) sei h die Euklidische Gerade durch A und B sowie M := h ∩ R. Dann gibt es ein r > 0, sodass mAB = K(M, r) ∩ H gilt. 4.7.16 Beispiel Es gibt hyperbolische Dreiecke, bei denen die Mittelsenkrechten der Seiten keinen Schnittpunkt besitzen, die also keinen Umkreis“ haben. ”
Abbildung 4.10: Ein hyperbolisches Dreieck ohne Umkreis
Beweis Es sei A := i, B := 6 + i und C := 4i. Dann gilt f¨ ur die entsprechenden Mittelsenkrechten mAC = K(0; 2) ∩ H und mAB = 3 + iR>0 . Offenbar besitzen mAB und mAC keinen Schnittpunkt. Im letzten Beispiel war vom Umkreis eines Dreiecks die Rede. Eine naheliegende Frage ist, wie hyperbolische Kreise aussehen. 4.7.17 Definition Ein hyperbolischer Kreis mit Radius r > 0 und Mittelpunkt M ∈ H ist die Menge Kh (M ; r) := {z ∈ H; d(z, M ) = r}.
82
Nicht-Euklidische Geometrien
4.7.18 Satz Hyperbolische Kreise sind euklidische Kreise. Beweis Wir nehmen wieder M = im ∈ iR>0 und r > 0 an. Dann liegt z = x + iy ∈ H nach Aufgabe 4.6.5 genau dann in Kh (M ; r), wenn c := cosh(r) = cosh(d(z, M )) =
m2 + |z|2 , d.h. x2 + (y − mc)2 = m2 (c2 − 1) 2ym
gilt. Damit folgt in diesem Fall Kh (M ; r) = K(im cosh(r); m sinh(r)). Aus historischen Gr¨ unden gehen wir noch kurz auf Vierecke ein. Dabei sind Vierecke wieder (im hyperbolischen Sinn!) konvexe Mengen mit genau vier Eckpunkten. 4.7.19 Definition Ein Viereck ABCD heißt Saccherisches Viereck, falls AD⊥AB, BC⊥AB sowie d(A, D) = d(B, C) gelten.
Abbildung 4.11: Ein Saccherisches Viereck
4.7.20 Lemma In einem Saccherischen Viereck stimmen die Winkel bei C und D u ¨berein und π sind (beide) kleiner als 2 . Beweis Anwenden des Kongruenzsatzes sws (4.6.8) auf die Dreiecke ABD und ABC zeigt d(A, C) = d(B, D). Wendet man nun den Kongruenzsatz sss (vgl. Aufgabe 4.6.11 auf die Dreiecke BCD und ACD, so folgt die Winkelgleichheit. Die Tatsache, dass beide kleiner als π2 sind, folgt aus dem Winkelsummensatz f¨ ur hyperbolische Dreiecke. 4.7.21 Korollar In der hyperbolischen Geometrie existieren weder Rechtecke noch Quadrate. Die letzte Aussage ist insbesondere von historischem Interesse. In den vielen Versuchen, das Parallelenaxiom aus den anderen Axiomen abzuleiten, wurde oftmals die Existenz von Rechtecken bzw. Quadraten implizit angenommen. Wie wir anhand der Aussage 4.7.21 sehen, waren alle diese Versuche zum Scheitern verurteilt.
4.8 Alternative Modelle f¨ ur hyperbolische Geometrien
4.8
83
Alternative Modelle fu ¨ r hyperbolische Geometrien
Es gibt eine Reihe weiterer Modelle f¨ ur die hyperbolische Geometrie, auf die wir in diesem Abschnitt noch etwas eingehen wollen. Die Grundlage unserer Betrachtungen bildet folgende Bemerkung: 4.8.1 Bemerkung Es sei f : H → G ⊂ C biholomorph. Dann l¨asst sich auf G verm¨oge f eine hyperbolische Geometrie defininieren, sodass f eine Isometrie der Geometrien induziert. Beweis Die Punkte der neuen hyperbolischen Geometrie sind die Elemente von G, Geraden sind die Bilder hyperbolischer Geraden in H unter f . Eine hyperbolische Metrik l¨aßt sich auf G definieren durch dG (z, w) := d(f −1 (z), f −1 (w)), z, w ∈ G, wobei d die hyperbolische Metrik auf H bezeichnet. Es ist offensichtlich, dass sich dann alle Aussagen in analoger Form auf G u ¨bertragen lassen. Der Riemannsche Abbildungssatz besagt, dass jedes einfach zusammenh¨angendes Gebiet sich damit zu einem Modell einer hyperbolischen Ebene machen l¨asst (mit Hilfe des Großen Riemannschen Abbildungssatzes l¨asst sich dies sogar auf einfach zusammenh¨angende Riemannsche Fl¨achen u ¨bertragen, vgl. [21]). Das wohl neben der oberen Halbebene wichtigste Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Einheitskreisscheibe zusammen mit der Cayleytransformation aus 4.3.12. Wir werden die Formeln f¨ ur die hyperbolische L¨ange und die entsprechende Metrik in dieser Situation explizit formulieren. 4.8.2 Definition 1. Es sei γ : [0, 1] → E := {z ∈ C |z| < 1} ein st¨ uckweise stetig differenzierbarer Weg. Dann ist die hyperbolische Scheibenl¨ange von γ definiert durch LE (γ) := L(H(γ)), wobei L die hyperbolische L¨ange und H die Umkehrabbildung der Cayleytransformation ist. 2. Die hyperbolische Scheibenmetrik ist definiert durch dE (z, w) := d(H(z), H(w)),
z, w ∈ E,
wobei d die hyperbolische Metrik auf H ist. 4.8.3 Lemma Es sei z ∈ E und H die Umkehrabbildung der Cayleytransformation. Dann gilt Im(H(z)) =
1 − |z|2 . |1 − z|2
84
Nicht-Euklidische Geometrien
Beweis
Gem¨aß 4.3.12 gilt H(z) = i
1 + z − z¯ − |z|2 1 − |z|2 2Im(z) 1+z =i = i − , 2 2 1−z |1 − z| |1 − z| |1 − z|2
woraus man die Behauptung abliest.
Damit k¨onnen wir die entsprechenden Formeln f¨ ur die hyperbolische L¨ange und den hyperbolischen Abstand im Modell des Einheitskreises angeben: 4.8.4 Satz
1. F¨ ur einen stetig differenzierbaren Weg γ : [0, 1] → E gilt Z1 LE (γ) =
2|γ 0 (t)| dt. 1 − |γ(t)|2
0
2. F¨ ur z, w ∈ E hat man |z − w|2 . cosh(dE (z, w)) = 1 + (1 − |z|2 )(1 − |w|2 ) Beweis 1. Offenbar gilt mit der Umkehrung H der Cayleyabbildung (H ◦ γ)0 (t) = i
2γ 0 (t) . (1 − γ(t))2
Nach Definition der Scheibenl¨ange folgt daher zusammen mit 4.8.3 die Behauptung. 2. F¨ ur z, w ∈ E rechnet man schnell H(z) − H(w) = i
2(z − w) (1 − z)(1 − w)
nach. Damit folgt die Behauptung aus Lemma 4.8.3 zusammen mit Lemma 4.4.16. Ohne Beweise geben wir der Vollst¨andigkeit halber noch zwei weitere Modelle f¨ ur euklidische Geometrien an. F¨ ur interessierte Leser verweisen wir auf [18] oder [29]. 4.8.5 Beispiel
1. (Einschaliger Hyperboloid) Es sei
ϕ : R3 × R3 → R,
(x, y) = ((x1 , x2 , x3 ), (y1 , y2 , y3 ) 7→ x1 y1 + x2 y2 − x3 y3
das Minkowski-Produkt auf dem R3 . Weiter seien H := {x = (x1 , x2 , x3 ) ∈ R3 ; x3 > 0, ϕ(x, x) = 1} ein (einschaliger) Hyperboloid sowie dH (x, y) := Arcosh(ϕ(x, y)). W¨ahlt man dann als Punkte die Elemente von H und als Geraden die bzgl. dH k¨ urzesten Wege, so liefert dies eine zum Poincar´e-Modell isometrische hyperbolische Geometrie.
4.8 Alternative Modelle f¨ ur hyperbolische Geometrien
85
2. (Beltrami-Klein-Modell – Bierdeckelgeometrie) Man betrachte wieder die Einheitskreisscheibe E := {z ∈ C; |z| < 1}. W¨ahlt man als Punkte die Elemente von E und als Geraden die Sehnen, so erh¨alt man ebenfalls eine (isometrische) hyperbolische Geometrie. Eine Metrik konstruiert man in diesem Fall wie folgt. Sind z, w ∈ E und s die Sehne durch z, w, so seien z ∗ und w∗ die Schnittpunkte der Sehne mit ∂E (jeweils auf der entsprechenden Seite); man setzt nun 1 z − z ∗ w − w∗ 1 ∗ ∗ · . dBK (z, w) := log([z, w, z , w ]) = log 2 2 z − w∗ w − z ∗ Eine Schwierigkeit in diesem Modell liegt in der Winkelmessung, die hier nicht euklidisch erfolgt: Als Beispiel definieren wir Orthogonalit¨at. Es sei s eine Sehne in E (die kein Durchmesser ist) und P ∈ s sowie z ∗ , w∗ die Endpunkte von s. Der Schnittpunkt Ps der Tangenten an ∂E in z ∗ und w∗ heißt der Pol von s. Dann ist die Sehne E ∩ P Ps die Orthogonale zu s durch P .
Kapitel 5 Konstruierbarkeit In diesem Kapitel kehren wir wieder in die euklidische Geometrie zur¨ uck und setzen uns ein wenig mit Fragen nach Konstruierbarkeit von geometrischen Gr¨oßen auseinander. Bereits in der Antike besch¨aftigte man sich mit dem Problem, ob und wie gewisse Gr¨oßen nur mit Zirkel und Lineal konstruierbar sind. Wir werden im Folgenden uns mit dieser Problematik auseinandersetzen.
5.1
Konstruierbare Zahlen
Wir verwenden wieder das euklidische Modell E, welches auf dem R2 zusammen mit dem Standardskalarprodukt basiert. F¨ ur unsere Herangehensweise identifizieren wir R2 ∼ = C verm¨oge der kanonischen Identifikation (x; y) 7→ x + iy mit dem K¨orper C der komplexen Zahlen. Wir definieren nun eine aufsteigende Familie von Teilmengen von C. Dazu sei K0 := {0; 1}. Weiter sei wie u ur a, b, c ∈ C mit b 6= c die Gerade durch b und c mit bc bezeichnet sowie mit ¨blich f¨ K(a; |b − c|) := {z ∈ C; |z − a| = |b − c|} der Kreis um a mit Radius |b − a|. Dann definieren wir zu n ∈ N die Menge Kn+1 durch oder z ∈ a1 b1 ∩ a2 b2 , a1 b1 6= a2 b2 z ∈ C; ∃a1 , a2 , b1 , b2 , c1 , c2 ∈ Kn z ∈ a1 b1 ∩ K(a2 , |c2 − b2 |) oder z ∈ K(a1 , |c1 − b1 |) ∩ K(a2 , |c2 − b2 |), a1 6= a2 Offenbar gilt Kn ⊂ Kn+1 f¨ ur alle n ∈ N. 5.1.1 Definition Die Menge K :=
[
Kn ⊂ C
n∈N
heißt Menge der konstruierbaren Zahlen. Wir wollen im Folgenden zeigen, dass K ein K¨orper ist. Dazu ben¨otigen wir einige Vor¨ uberlegungen.
5.1 Konstruierbare Zahlen
87
5.1.2 Lemma Es sei a ∈ K. Dann gelten auch a, Re(a), Im(a), |a| ∈ K. Umgekehrt folgt aus x, y ∈ K ∩ R auch x + iy ∈ K. Beweis
Ohne Einschr¨ankung sei Re(a) 6= 0. Wegen {0; 1} = K0 ⊂ K folgt K ⊃ K(0; |a − 0|) ∩ 01 = {±|a|}.
Damit erh¨alt man auch {0, 2Re(a)} = K(a; |a|) ∩ 01 ⊂ K. Dies zeigt a ∈ K(0; |a|) ∩ K(2Re(a); |a|) ⊂ K. Weiter folgt Re(a) ∈ aa ∩ 01 ⊂ K. Die Konstruktion von Im(a) u ¨berlassen wir dem Leser. F¨ ur die letzte Behauptung sei y 6= 0. Dann gelten zun¨achst {x − y, x + y} = 01 ∩ K(x, |y|) ⊂ K sowie (speziell) 2y ∈ K(y, |y|) ∩ 01 ⊂ K. Damit sind auch die Schnittpunkte z, w = x ± iu von K(x + y, 2|y|) und K(x − y, 2|y|) in K. Offenbar gilt dann x + iy ∈ K(x, |y|) ∩ zw ⊂ K. 5.1.3 Lemma Es seien a, b ∈ K. Dann gilt auch a ± b ∈ K. Beweis Es gilt K(a; |0 − b|) ∩ K(b; |0 − a|) 3 a + b, woraus die Behauptung u ¨ber die Summe folgt. Die Differenz folgt aus dem ersten Teil und Lemma 5.1.2 zusammen mit der Beobachtung −a ∈ K(0; |a|) ∩ 0a. 5.1.4 Lemma F¨ ur x, y ∈ R>0 ∩ K gelten auch x · y ∈ K sowie
1 x
∈ K.
Beweis Aufgrund Lemma 5.1.2 gelten 1 + iy, x + i ∈ K. Dann erh¨alt man nach dem Strahlensatz x + xyi = 0(1 + iy) ∩ x(x + i). Wieder mit Lemma 5.1.2 folgt xy ∈ K. Ebenso sieht man 1 + i x1 = 0(x + i) ∩ 1(1 + i).
5.1.5 Satz Die Menge K der konstruierbaren Zahlen ist ein K¨orper. Beweis Es ist zu zeigen, dass mit a, b ∈ K auch a ± b, a · b ∈ K und im Fall a 6= 0 auch a1 ∈ K gelten. Die erste Behauptung ist genau die Aussage von Lemma 5.1.3. Die Aussage u ¨ber das Produkt folgt aus den bisherigen Lemmas aufgrund der Definition des komplexen Produkts. F¨ ur den Kehrwert erh¨alt man die Behauptung aus der Beobachtung 1 a = 2. a |a| Speziell folgt aus dem letzten Satz, dass Q(i) ⊂ K gilt, Punkte mit rationalen Koordinaten also in jedem Fall konstruierbar sind. Allerdings lassen sich etwas mehr Zahlen konstruieren: 5.1.6 Lemma F¨ ur a ∈ K und b ∈ C mit b2 = a gilt b ∈ K.
88
Konstruierbarkeit
p Beweis Wir nehmen zun¨achst a ∈ C\R<0 an. In diesem Fall gilt gilt b ∈ 0(a+|a|)∩K(0; |a|) (vgl. Aufgabe 5.1.7), daher kann man ohne Einschr¨ankung a ∈ R>0 ∩ K annehmen. Dann sind nach Lemma 5.1.2 die Zahlen ia und −i Elemente von K. Wegen Satz 5.1.5 ist m := 12 (ia−i) ∈ K und mit Lemma 5.1.2 ist auch r := 21 | − i − ia| ∈ K. Es sei nun b0 der positive Schnittpunkt von 01 mit K(m; r). Nach dem Satz des Thales 3.4.4 ist dann das Dreieck aus den Punkten −i, b0 und ia rechtwinklig mit rechtem Winkel bei b0 . Der H¨ohensatz (Aufgabe 3.6.5) liefert nun b0 2 = a, und nach Konstruktion gilt offenbar b0 ∈ K. Wegen b = ±b0 erh¨alt man die Behauptung. Den Fall a < 0 u ¨berlassen wir dem Leser.
5.1.7 Aufgabe F¨ ur a ∈ C \ R<0 und p |a| (a + |a|) b := |a + |a|| gilt b2 = a. Zus¨atzlich zu Punkten mit rationalen Koordinaten enth¨alt K also auch Punkte, die sich durch sukzessives Wurzelziehen berechnen lassen. Wir wollen im Folgenden zeigen, dass dies in der Tat alle sind.
5.2
Quadratwurzeltu ¨ rme
F¨ ur den Nachweis, dass sich jedes Element aus K durch die u ¨blichen Rechenarten und sukzessives Wurzelziehen aus einem Elemen von Q konstruieren l¨aßt, brauchen wir ein wenig Erinnerung an Algebra. Sind L, K ⊂ C Teilk¨orper von C, so heißt L eine K¨orpererweiterung L|K von K, wenn K ⊂ L gilt. Offenbar l¨aßt sich L dabei als K-Vektorraum auffassen. Ist die Dimension von L als K-Vektorraum endlich, so sprechen wir von einer endlichen K¨orpererweiterung. Gilt dimK (L) = 2, so heißt L quadratische Erweiterung von K. Ein Quadratwurzelturm L|K ist eine Folge von K¨orpererweiterungen K = L0 ⊂ L1 ⊂ L2 ⊂ · · · ⊂ Ls = L, sodass jedes Li+1 quadratische Erweiterung von Li ist, d.h. dimLi (Li+1 ) = 2 f¨ ur 0 ≤ i ≤ s − 1. Weiter bezeichnen wir f¨ ur eine Teilmenge M ⊂ C den kleinsten Teilk¨orper von C, der M enth¨alt, mit Q(M ). Jeder derartige Teilk¨orper enth¨alt speziell den K¨orper Q der rationalen Zahlen. F¨ ur n ∈ N sei weiter Qn := Q(Kn ) der kleinste Teilk¨orper von C, der Kn enth¨alt, wobei Kn die zu Beginn des Abschnitts 5.1 definierten Mengen bezeichnet. 5.2.1 Lemma Es gilt Kn = Kn . Beweis F¨ ur n = 0 ist die Behauptung klar. F¨ ur n > 0 folgt die Behauptung gem¨aß der Definition von Kn mittels Induktion nach n.
5.2 Quadratwurzelt¨ urme
89
5.2.2 Lemma Es sei x ∈ Qn+1 . Dann gilt x ∈ Qn oder es gibt zu Qn (x)|Qn einen Quadratwurzelturm. Beweis
¨ Dies u ¨berlassen wir dem Leser als Ubungsaufgabe.
5.2.3 Satz Es sei x ∈ K. Dann gibt es einen Quadratwurzelturm Q = L0 ⊂ L1 ⊂ · · · ⊂ Ls = Q(x). S Beweis Wegen K = Qn gibt es ein n ∈ N mit x ∈ Qn . Wir f¨ uhren nun Induktion nach n. F¨ ur n = 0 ist nichts zu zeigen. Andernfalls gibt es zu Qn−1 (x)|Qn−1 nach Lemma 5.2.2 Qn (x) einen Quadratwurzelturm. Um Schreibarbeit zu sparen, nehmen wir an, dass Qn−1 (x)|Qn−1 eine quadratische Erweiterung ist. Es gibt also ein quadratisches Polynom p(T ) := T 2 + aT + b mit p(x) = 0 und a, b ∈ Qn−1 . Anwenden der Induktionsvoraussetzung auf a und b liefert Quadratwurzelt¨ urme f¨ ur a und b. Setzt man diese zusammen, so erh¨alt man einen Quadratwurzelturm f¨ ur Q(a, b) und damit auch einen f¨ ur Q(x). 5.2.4 Beispiel
1. Das klassische Problem der W¨ urfelverdopplung ist nicht l¨osbar.
2. Das klassische Problem der Winkeldrittelung ist nicht l¨osbar. Beweis 1. Hier w¨are die Zahl nicht m¨oglich.
√ √ 3 2 zu kontruieren. Wegen [Q( 3 2) : Q] = 3 ist dies nach Satz 5.2.3 √
2. Wir betrachten z := 12 + i 23 ∈ K(0, 1). Wegen Lemma 5.1.6 gilt z ∈ K. W¨are der Winkel 1 ∠(01 0z ) drittelbar, dann g¨abe es ein w ∈ K mit ∠(01 0z ). Ohne Ein→ − ,→ − → − ,→ − → − , 0w − →) = 3 ∠(01 schr¨ankung k¨onnen wir w ∈ K(0, 1) annehmen (sonst betrachte 0w ∩ K(0, 1)). Schreiben wir w = x + iy, dann gilt w3 = z, also 1 = x3 − 3xy 2 = 4x3 − 3x, 2 somit gilt [Q(x) : Q] = 3. Wieder nach Satz 5.2.3 ist x nicht konstruierbar. Dann kann aber auch w nach Lemma 5.1.2 nicht konstruierbar sein.
Teil II Geometrie in ho ¨heren Dimensionen
Kapitel 6 Polytope In diesem Kapitel besch¨aftigen uns wir mit der euklidischen Geometrie von Polytopen in h¨oherdimensionalen R¨aumen. Wir beschr¨anken uns dabei auf das Studium konvexer K¨orper, d.h. Teilmengen des Rn , die jeweils auch die Verbindungsstrecke zweier Punkte der Mengen enthalten. Wir setzen dabei Begriffe wie metrischer oder normierter Raum voraus.
6.1
Konvexit¨ at
F¨ ur die folgendenen Untersuchungen sei h·, ·i ein euklidisches Skalarprodukt auf dem Rn , d.h. eine symmetrische, positiv definite Bilinearform. Bekanntlich wird damit f¨ ur v ∈ Rn durch p kvk := hv, vi eine Norm auf dem Rn definiert, die Rn zusammen mit dem gew¨ahlten Skalarprodukt zu einem normierten Raum macht. F¨ ur x, y ∈ Rn liefert d(x, y) := kx − yk eine Metrik auf Rn , sodass man einen metrischen Raum erh¨alt. Weiter nennen wir die Elemente von Rn Punkte“. Unter ” einer Gerade des Rn verstehen wir Mengen der Form Γ := A + R · v, A, v ∈ Rn . Sind A, B ∈ Rn zwei Punkte aus dem Rn , so ist [A, B] := {A + t(B − A); t ∈ [0, 1]} die abgeschlossene Strecke zwischen A und B. Offenbar ist diese eine Teilmenge der eindeutig bestimmten Geraden durch A und B. 6.1.1 Definition Ist u ∈ Rn \ {0} und e ∈ R so heißt die Menge Hu=e := {x ∈ Rn ; hu, xi = e} eine Hyperebene in Rn . Die beiden Mengen Hu≥e := {x ∈ Rn ; hu, xi ≥ e} sowie Hu≤e := {x ∈ Rn ; hu, xi ≤ e}
92
Polytope
heißen die durch die Hyperebene Hu=e definierten (abgeschlossenen) Halbr¨aume von Rn . Oftmals betrachtet man auch offene Halbr¨aume und definiert diese dann sinngem¨aß. Wir merken an, dass f¨ ur ein festes u ∈ Rn die Abbildung ϕu : Rn → R, x 7→ hu, xi offensichtlich eine Linearform auf dem Rn ist. Damit erhalten wir durch u 7→ ϕu eine expliziten Isomorphismus des Rn mit seinem Dualraum (Rn )∗ . In diesem Sinne ist die Hyperebene Hu=e nichts anderes als das Urbild von e unter ϕu , d.h. Hu=e = ϕ−1 u (e). Wie in der Beschreibung der Hyperebene werden n wir oft nicht zwischen R und seinem Dualraum bzw. zwischen u und ϕu unterscheiden, d.h. wenn wir von der Linearform u ∈ Rn sprechen, meinen wir die mit Hilfe des Skalarproduktes definierte Abbildung ϕu . 6.1.2 Definition Eine Teilmenge K ⊂ Rn heißt konvex, wenn f¨ ur alle A, B ∈ K auch deren n Verbindungsstrecke [A, B] ⊂ R ganz in K liegt. Aus konvexen Mengen lassen sich weitere konvexe Mengen konstruieren: 6.1.3 Bemerkung Sind Ki , i ∈ I, konvexe Teilmengen von Rn und s ∈ R≥0 , dann gelten: 1. Ki1 + Ki2 := {x + y; x ∈ Ki1 , y ∈ Ki2 } ist konvex; 2. sKi := {sx; x ∈ Ki } ist konvex. T 3. i∈I Ki ist konvex. 6.1.4 Aufgabe Man zeige Bemerkung 6.1.3. 6.1.5 Beispiel 1. Hyperebenen (allgemeiner affine Unterr¨aume) und Halbr¨aume sind konvexe Mengen. 2. Kugeln K(M ; r) := {X ∈ Rn ; kX − M k = r} mit M ∈ Rn und r > 0 sind konvex. Die dritte Aussage der Bemerkung 6.1.3 erlaubt es, zu jeder Menge eine kleinste sie enthaltende konvexe Menge zu konstruieren: 6.1.6 Definition Ist M ⊂ Rn eine beliebige Teilmenge, so heißt der Durchschnitt aller M enthaltenden konvexen Mengen \ KM := conv(M ) := K M ⊂K konvex
die konvexe H¨ ulle von M . Von besonderem Interesse sind f¨ ur uns kompakte konvexe Mengen. Das folgendene Lemma kann man als einen Spezialfall des ber¨ uhmten Satzes von Hahn-Banach auffassen: 6.1.7 Lemma Es sei K ⊂ Rn kompakt und konvex, weiter sei P ein Punkt mit P ∈ / K. Dann n existiert ein u ∈ R sowie ein e ∈ R mit hu, P i < e < hu, Ki := {hu, xi; x ∈ K}.
6.2 Polytope
93
Man sagt dabei auch, dass die Hyperebene Hu=e := {x ∈ Rn ; hu, xi = e} den Punkt P und die konvexe Menge K trennt. Beweis
Die Abbildung Rn → R, x 7→ ||x − P ||2
ist stetig, nimmt also auf der kompakten Menge K ihr Minimum, etwa in W , an. Wir setzen u := W − P und e := 21 (||W ||2 − ||P ||2 ). Es sei nun y ∈ K. Dann besitzt die quadratische Funktion f (t) := kty + (1 − t)W − P k2 in [0, 1] ihr Minimum in Null. Dies zeigt aber 0 ≤ f 0 (t) = 2hy − W, ty + (1 − t)W − P i. Speziell erh¨alt man 0 ≤ f 0 (0) = 2hy − W, W − P i, also 1 hu, yi ≥ hu, W i = kW 2 k − hP, W i = e + kW − P k2 > e. 2 Andererseits hat man 1 hu, P i = hW, P i − kP k2 = e − kW − P k2 < e, 2 was schließlich die Behauptung liefert.
6.1.8 Aufgabe 1. Man zeige, dass man in 6.1.7 die Voraussetzung, dass K kompakt ist, durch die Abgeschlossenheit von K ersetzen kann. 2. Man zeige, dass man das e aus 6.1.7 immer als −1 oder 1 w¨ahlen kann. Mit Hilfe des Lemmas 6.1.7 erh¨alt man eine weitere M¨oglichkeit, konvexe Mengen zu beschreiben. 6.1.9 Satz Ist K ⊂ Rn kompakt und konvex, so stimmt K mit dem Durchschnitt aller K enthaltenden Halbr¨aume u ¨berein. Beweis Offenbar ist K im Durchschnitt aller K enthaltenden Teilr¨aume enthalten. Angenommen, dieser Schnitt ist echt gr¨oßer als K. Dann gibt es ein x ∈ / K, welches ebenfalls in diesem Schnitt enthalten ist. Nach Lemma 6.1.7 gibt es dann aber einen Halbraum, der K enth¨alt, aber x nicht. Daher kann x nicht im Durchschnitt aller K enthaltenden Halbr¨aume liegen.
6.2
Polytope
In diesem Abschnitt definieren wir Polytope und betrachten einige einfache Beispiele. In gewissem Sinne sind Polytope konvexe Mengen, welche einer speziellen Endlichkeitsbedingung unterliegen.
94
Polytope
6.2.1 Definition Eine kompakte Teilmenge P des Rn heißt Polytop, wenn es die konvexe H¨ ulle endlich vieler Punkte des Rn ist: A1 , . . . , An ∈ Rn .
P = conv(A1 , . . . An ),
Man beachte, dass die vorgegebenen Punkte nicht notwendigerweise eine minimale Anzahl darstellen m¨ ussen; es k¨onnen durchaus Redundanzen auftreten. Im Allgemeinen ist es eine schwierige Aufgabe, zu einer gegebenen Menge von Punkten eine minimale Teilmenge zu finden, die die gleiche konvexe H¨ ulle besitzt (Simplex-Verfahren, Fourier-Motzkin-Elimination). In Satz 6.2.11 geben wir ein Ergebnis an, das in diese Richtung geht. Wir vermerken, dass auch die leere Menge als konvexe H¨ ulle von keinem Punkt ein Polytop ist. Ausgehend von den gegebenen Punkten l¨aßt sich auch eine explizitere Darstellung des zugeh¨origen Polytops angeben: 6.2.2 Lemma F¨ ur A1 , . . . , An ∈ Rn gilt ( n ) n X X P := conv(A1 , . . . An ) = ti Ai ; ti = 1, ti ≥ 0, 1 ≤ i ≤ n . i=1
i=1
P P Beweis Wir setzen M := { ni=1 ti Ai ; ni=1 ti = 1, ti ≥ 0}. Dann sieht man induktiv schnell, dass M sicherlich konvex ist. Da offenbar Aj ∈ M f¨ ur 1 ≤ j ≤ n gilt, folgt P ⊂ M . Da mit den Aj auch alle Konvexkombinationen derselben in P liegen, erh¨alt man auch die umgekehrte Inklusion. 6.2.3 Definition Es sei P ⊂ Rn ein Polytop und H := Hu=e eine Hyperebene mit P ⊂ Hu≥e . Dann heißt der Durchschnitt F := H ∩ P eine Seite von P . Im Fall von F = ∅ oder F = P (u = 0 und e = 0, was wir hier zulassen) spricht man von uneigentlichen Seiten, andernfalls von eigentlichen Seiten. Ist F Seite von P , so schreibt man F P . 6.2.4 Lemma Es sei P = conv(A1 , . . . , An ) ein Polytop und F P eine Seite von P , so gilt F = conv({Ai ; Ai ∈ F }). Insbesondere ist F selbst ein Polytop. Beweis Es sei F = P ∩ H mit H := Hu=e . Ohne Einschr¨ankung (Umnummerieren!) gelte Ai ∈ H ⇐⇒ 1 ≤ i ≤ m. Wir behaupten F = conv(A1 , . . . , Am ): Da F als Schnitt konvexer Mengen selbst konvex ist und A1 , . . . , Am enth¨alt, gilt in jedem Fall F ⊃ conv(A1 , . . . , Am ). F¨ ur die umgekehrte Inklusion sei x ∈ F . Wegen F ⊂ P besitzt x gem¨aß Lemma 6.2.2 eine Darstellung n n X X x= ti Ai , ti ≥ 0, ti = 1. i=1
i=1
Wegen F ⊂ H ergibt die Auswertung mit u e = hu, xi =
m X i=1
ti e +
n X i=m+1
ti hu, Ai i.
6.2 Polytope
95
Angenommen, f¨ ur m + 1 ≤ j ≤ n ist ein tj gr¨oßer Null, so erh¨alt man aufgrund von P ⊂ Hu≥e und Aj ∈ /H m n X X e = hu, xi > ti e + ti e = e, i=1
i=m+1
was nicht sein kann. Daher gilt tj = 0 f¨ ur alle m + 1 ≤ j ≤ n und somit x=
m X
ti Ai ∈ conv(A1 , . . . , Am ).
i=1
6.2.5 Korollar Ein Polytop besitzt nur endlich viele Seiten. Ist C ⊂ Rn nicht leer, so bezeichnet man den kleinsten affinen Teilraum, der C enth¨alt, mit aff(C). Die Dimension von C ist dann die Dimension dieses Teilraums, d.h. dim(C) := dim(aff(C)). Die Dimension der leeren Menge setzt man in diesem Zusammenhang als −1, also dim(∅) := −1. Weiter nennen wir Punkte v1 , . . . , vk ∈ Rn , k ≥ 2 affin unabh¨angig, falls die k − 1 Vektoren v1 − vi , 2 ≤ i ≤ k linear unabh¨angig sind. Beispielweise sind zwei verschiedene Elemente des Rn immer affin unabh¨angig. 6.2.6 Bemerkung Die Punkte v1 , . . . , vk ∈ Rn sind genau dann affin linear unabh¨angig, falls das System k k X X si vi = 0, si = 0, si ∈ R, i=1
i=1
nur die triviale L¨osung besitzt. Beweis ⇒“: Andernfalls sei si , i = 1, . . . , k eine nicht triviale L¨osung dieses Systems. Damit ” erh¨alt man die Gleichung k X 0= si (v1 − vi ), i=2
in der mindestens ein si , i ≥ 2 ungleich Null ist. Damit sind die Vektoren v1 , v2 , . . . , vn affin abh¨angig im Widerspruch zur Voraussetzung. ⇐“: Es sei eine Darstellung ”
k X
si (v1 − vi ) = 0
i=2
gegeben. Mit s1 := −
k X
si erh¨alt man daraus durch Umstellen die Gleichung
i=2
0=
k X i=1
! si
v1 =
k X i=1
si vi ,
96
Polytope
in der nach Voraussetzung alle si = 0 sind, woraus man die Behauptung erh¨alt.
F¨ ur Dimensionsaussagen ben¨otigen wir noch folgendes Lemma: 6.2.7 Lemma Es sei A ⊂ Rn ein affiner Unterraum der Dimension d mit 0 ∈ / A sowie e 6= 0. Dann ist die Menge A∗ := {u ∈ Rn ; hu, Ai = e} ein affiner Unterraum der Dimension n − 1 − d. Beweis Nur die Dimensionsaussage ist interessant. Wir betrachten den Raum U := lin(A × {1}) ⊂ Rn × R =: Rn+1 . Mit U ⊥ sei dessen orthogonales Komplement bezeichnet. Dann ist die Abbildung −u , 1) A∗ → U ⊥ ∩ (Rn × {1}), u 7→ ( e bijektiv. Wegen dim U ⊥ = n + 1 − (dim(A) + 1) = n − d erh¨alt man die Behauptung. 6.2.8 Definition Ein Polytop P heißt ein Simplex, wenn es Punkte A1 , . . . , Adim(P )+1 gibt mit P = conv(A1 , . . . , Adim(P )+1 ), d.h. die Punkte A1 , . . . , Adim(P )+1 sind affin unabh¨angig. Man nennt ein Polytop simplizial, wenn seine eigentlichen Seiten Simplizes sind. 6.2.9 Beispiel
1. Das Polytop P := conv(0, e1 , . . . , en ) ⊂ Rn heißt Standardsimplex.
2. Ist P ⊂ Rn ein Polytop mit dim(p) = n, so heißt ΠP := conv(P × {0}, en+1 ) ⊂ Rn × R = Rn+1 Pyramide u ¨ber P . Ist P ein Simplex, so ist auch ΠP ein Simplex. 3. Ist P ⊂ Rn volldimensional und enth¨alt P den Nullpunkt als inneren Punkt, so heißt ∆P := conv(P × {0}, ±en+1 ) ⊂ Rn × R = Rn+1 Doppelpyramide u ¨ber P . Ist P simplizial, so ist auch ∆P simplizial. 4. Der W¨ urfel C := conv({(a1 , a2 , a3 ); ai = ±1, 1 ≤ i ≤ 3} ist nicht simplizial. Allgemeiner bezeichnet man zu einem Polytop P ⊂ Rn der Dimension n − 1 und einem Vektor v ∈ Rn die Menge P Pv := conv(P, P + v) ein Prisma u ¨ber P , falls dim(P Pv ) = n gilt. 6.2.10 Definition Es sei P ⊂ Rn ein volldimensionales Polytop. Die Seiten von P der Dimension 0 heißen Ecken, die eindimensionalen Seiten Kanten und die (n − 1)-dimensionalen Seiten Facetten. Die Anzahl der j-dimensionalen Seiten wird mit fj (P ) bezeichnet. Der Vektor fP := (f0 (P ), . . . , fn−1 (P )) wird auch als f -Vektor des Polytops P bezeichnet. Anschaulich ist folgende Aussage einleuchtend:
6.2 Polytope
97
6.2.11 Satz (Satz von Krein-Milman) Ist P ein Polytop, so gilt P = conv(v; v Ecke von P ). Beweis Die Inklusion ⊃“ ist offensichtlich richtig. Umgekehrt gen¨ ugt es f¨ ur eine Darstellung ” 0 P = conv(w1 , . . . , wn ) und w1 ∈ / conv(w2 , . . . , wn ) =: P zu zeigen, dass w1 eine Ecke von P ist. Nach Lemma 6.1.7 gibt es u ∈ Rn und e ∈ R mit hu, w1 i < e < hu, P 0 i. Wir setzen f := hu, w1 i. Dann gilt offenbar P ⊂ Hu≥f und w1 ∈ Hu=f . F¨ ur x ∈ P gibt es nach Pn Lemma 6.2.2 eine Darstellung x = i=1 ti wi mit ti ≥ 0. Dann gilt offenbar f = hu, xi ⇐⇒ tj = 0 f¨ ur j > 1, also Hu=f ∩ K = w1 .
Eine aktuelle Forschungsfrage besteht in der Frage, welche Vektoren als f -Vektoren eines Polytops auftreten k¨onnen. F¨ ur simpliziale Polytope wurde das von Stanley erst 1980 vollst¨andig gel¨ost (vgl. [38]). Im Fall nicht simplizialer Polytope weiß man relativ wenig. Ein Ergebnis in diese Richtung ist die Eulersche Polyederformel 6.3.8, der wir uns sp¨ater noch zuwenden werden. 6.2.12 Aufgabe Es sei P ein (n − 1)-dimensionales Polytop in Rn . Man zeige 1. F¨ ur eine Pyramide ΠP u ¨ ber P gilt fj (ΠP ) = fj (P ) + fj−1 (P ), 1 ≤ j ≤ n − 1. 2. F¨ ur ein Prisma P Pv u ¨ ber P hat man f0 (P Pv ) = 2f0 (P ) und fj (P Pv ) = 2fj (P ) + fj−1 (P ), 1 ≤ j ≤ n − 1. Wir diskutieren noch ein weiteres wichtiges Beispiel, n¨amlich die sogenannten zyklischen Polytope: 6.2.13 Definition Die Abbildung µ : R → Rn ,
t 7→ (t, t2 , . . . , tn ),
heißt Moment-Abbildung. F¨ ur k > n und t1 , . . . , tk ∈ R paarweise verschieden heißt das Polytop C(k, n) := conv(µ(t1 ), . . . , µ(tk )) ein zyklisches Polytop. 6.2.14 Satz Es sei n ≥ 2 und C(k, n) = conv(µ(t1 ), . . . , µ(tk )) ein zyklisches Polytop. Dann gelten:
98
Polytope
1. C(k; n) ist simplizial. 2. Jedes µ(ti ), 1 ≤ i ≤ k ist eine Ecke von C(K; n). Beweis 1. Es gen¨ ugt zu zeigen, dass je n+1 der Punkte µ(ti ), 1 ≤ i ≤ k affin linear unabh¨angig sind. Dazu verwenden wir die Vandermonde-Deteminante und zeigen dies ohne Einschr¨ankung f¨ ur die ersten n + 1 Punkte: 1 t1 t21 . . . tn1 1 t2 Y t22 . . . tn2 = (tj − ti ) 6= 0. det .. .. .. .. 1≤i −t21 = e. Daher ist Hu=e eine St¨ utzhyperebene f¨ ur v. Im Folgenden geben wir noch eine alternative Beschreibung von Polytopen, die in vielen Anwendungen, etwa der linearen Optimierung, eine wichtige Rolle spielt. 6.2.15 Definition Es sei M ⊂ Rn . Ein x ∈ M heißt Endpunkt von M , falls f¨ ur alle abgeschlossenen Strecken [A, B] ⊂ M mit x ∈ [A, B] entweder x = A oder x = B gilt. Ist M ein Polytop, so stimmen die Endpunkte von M gerade mit den Ecken von M u ¨berein: 6.2.16 Bemerkung Ist P ein Polytop, so ist x ∈ P genau dann ein Endpunkt von P , falls x eine Ecke von P ist. Beweis Die Richtung ⇐“ ist klar. Umgekehrt sei x ∈ P Endpunkt von P . Dann zeigen wir, ” dass P \ {x} konvex ist, woraus die Behauptung aus dem Satz von Krein-Milman folgt. W¨are P \ {x} nicht konvex, dann g¨abe es A, B ∈ P mit x ∈ [A, B] ⊂ P und x 6= A sowie x 6= B im Widerspruch dazu, dazu x Endpunkt von P ist. Unbeschr¨ankte oder offene Mengen brauchen offenbar keine Endpunkte zu besitzen. Im Falle kompakter Mengen existieren immer Endpunkte: 6.2.17 Lemma Sind K ⊂ Rn kompakt und x ∈ K mit kxk maximal, dann ist x Endpunkt von K.
6.2 Polytope
Beweis
99
Es sei x ∈ [A, B] ⊂ K, etwa x = tA + (1 − t)B, 0 ≤ t ≤ 1 und A 6= B. Dann gilt kxk2 = t2 kAk2 + 2t(1 − t)hA, Bi + (1 − t)2 kBk2 .
(6.1)
Die Ungleichung von Cauchy-Schwartz besagt hA, Bi ≤ kAk · kBk, wobei hier Gleichheit genau dann gilt, wenn A = rB mit r > 0 ist. Man erh¨alt somit aus (6.1) die Absch¨atzung kxk2 ≤ t2 kAk2 +2t(1−t)kAk·kBk+(1−t)2 kBk2 ≤ t2 kxk2 +2t(1−t)kxk·kxk+(1−t)2 kxk2 = kxk2 , d.h. alle Ungleichheitszeichen sind in Wahrheit Gleichheitszeichen. Dies zeigt entweder t = 0, 1 oder es gilt sowohl kxk = kAk = kBk als auch hA, Bi = kAk · kBk, also A = rB, r > 0. Diese beiden Gleichheiten k¨onnen aber nur im Fall A = B erf¨ ullt sein, was wir ausgeschlossen hatten. Daher erh¨alt man t = 0 oder t = 1, d.h. x = A oder x = B, und x ist Endpunkt von K. 6.2.18 Definition Ein endlicher Schnitt von Halbr¨aumen heißt Polyeder, d.h. P ist genau dann Polyeder, wenn ui ∈ Rn , ei ∈ R, 1 ≤ i ≤ m existieren mit P =
m \
Hui ≥ei .
i=1
Wir wollen zeigen, dass Polytope genau die beschr¨ankten Polyeder sind. Wir zeigen zun¨achst die eine Richtung: 6.2.19 Satz Jeder beschr¨ankte Polyeder ist ein Polytop. Beweis
Es sei P =
Tm
i=1
Hui ≥ei ⊂ Rn . Wir machen Induktion nach n.
Im Fall n = 1 ist P ein Punkt oder eine Strecke und die Behauptung trifft zu. Im Fall n > 1 sei x ∈ P ein Endpunkt von P , welchen es nach 6.2.17 gibt. Offenbar gilt x ∈ Hui =ei f¨ ur mindestens ein i und x ist auch Endpunkt von P ∩ Hui =ei =: P 0 . Nun ist nach Induktionsvoraussetzung P 0 ein Polytop und hat daher nur endlich viele Ecken, also nach 6.2.16 endlich viele Endpunkte. Daher besitzt auch P nur endlich viele Endpunkte x1 , . . . , xk . Wir setzen S := conv(x1 , . . . , xk ) und behaupten S = P . Andernfalls gibt es ein p ∈ P \ S. Dazu gibt es wegen Lemma 6.1.7 eine trennende Hyperebene Hu=e mit u(p) < e < u(S). Es seien mu := min(u(P )) sowie Y := {y ∈ P ; u(y) = mu }. Dann hat man Y ∩ S = ∅. Offenbar ist Y selbst ein beschr¨anktes Polyeder und besitzt daher einen Endpunkt q, welcher offenbar auch Endpunkt von P ist. Dies ist aber ein Widerspruch dazu, dass S alle Endpunkte von P enth¨alt. F¨ ur die Umkehrung ben¨otigen wir ein weiteres Lemma: 6.2.20 Lemma F¨ ur ein volldimensionales Polytop P ⊂ Rd gilt [ ∂P = F. F P,F 6=P
100
Polytope
Beweis Die Inklusion ⊃ ist klar, da es sich um echte Seiten handelt. F¨ ur die umgekehrte Inklusion k¨onnen wir ohne Einschr¨ankung 0 ∈ P ◦ annehmen. Es sei nun x ∈ ∂P . Dann gibt es zu jedem n ∈ N ein yn ∈ Rd \P mit kx−yn k < n1 (bzgl. der durch das Skalarprodukt induzierten Norm). Wegen Lemma 6.1.7 und Aufgabe 6.1.8 gibt es zu diesem yn ein un mit hun , P i < 1 und hun , yn i > 1. Da die un auf P beschr¨ankt sind und Null innerer Punkt von P ist, kann man un → u f¨ ur ein u ∈ Rn annehmen. F¨ ur dieses u gilt dann hu, P i ≤ 1 und hu, xi = 1. Damit gilt x ∈ F := P ∩ Hu=1 . Damit erhalten wir die angek¨ undigte Charakterisierung von Polytopen als kompakter Durchschnitt endlich vieler Halbr¨aume. 6.2.21 Satz Es sei P ⊂ Rn ein volldimensionales Polytop mit Seiten F1 , . . . , Fk . Weiter seien ui ∈ Rn und ei ∈ R mit P ⊂ Hui ≥ei und Fi = P ∩ Hui =ei , 1 ≤ i ≤ k. Dann gilt P =
k \
Hui ≥ei .
i=1
Beweis Die T Inklusion ”⊂“ ist offensichtlich richtig. Es bleibt also ”⊃“ zu zeigen. Sonst gibt es ein x ∈ Hui ≥ei \ P . Zu y ∈ P ◦ schneidet dann die Strecke xy den Rand ∂P , also nach 6.2.20 eine Seite Fi P in zi . Dann gilt offenbar ui (x) ≥ ei , ui (zi ) = ei und ui (y) > ei . Dies ist aber ein Widerspruch dazu, dass x und y auf verschiedenen Seiten von zi liegen. Die Darstellungen eines Polytops als konvexe H¨ ulle endlich vieler Punkte bzw. als Schnitt endlich vieler Halbr¨aumesind in gewissem Sinn dual zueinander und h¨angen daher eng mit dem Konzept des Dualisierens von Polytopen zusammen: ◦
6.2.22 Definition Es sei P ⊂ Rn ein Polytop mit dim(P ) = n und 0 ∈ P . Dann heißt P dualisierbar und P ∗ := {u ∈ Rn ; hu, P i ≥ −1} das zu P duale Polytop. ◦
6.2.23 Aufgabe Es sei P ein Polytop mit 0 ∈ / P . Man untersuche die (wie in 6.2.22 definierte) ∗ Menge P in dieser Situation. 6.2.24 Satz Es sei P ⊂ Rn ein dualisierbares Polytop. Dann gelten 1. P ∗ ist ein dualisierbares Polytop. 2. (P ∗ )∗ = P . 3. Ist F P eine Seite von P , so ist F ∗ := {u ∈ P ∗ ; hu, F i = −1} eine Seite von P ∗ mit dim(F ) + dim(F ∗ ) = n − 1. 4. fj (P ∗ ) = fn−j−1 (P ), −1 ≤ j ≤ n.
6.2 Polytope
101
Beweis 1. Da P beschr¨ankt ist, gibt es ein r > 0 mit kvk ≤ r f¨ ur alle v ∈ P . W¨ahlt man nun u ∈ Rn ur jedes v ∈ P aufgrund der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung mit kuk ≤ 1r , so gilt f¨ |hv, ui| ≤ kvk · kuk ≤ 1 =⇒ hu, vi ≥ −1. Daher gilt K(0, 1r ) ⊂ P ∗ , also ist Null innerer Punkt von P ∗ . Da umgekehrt Null innerer Punkt von P ist, gibt es ein ε > 0 mit Uε (0) ⊂ P . Es sei R := 2ε . F¨ ur u ∈ P ∗ gibt es ein λ < 0, sodass f¨ ur v := λu gilt kvk = 2ε , also speziell v ∈ P . Damit gilt 2 ε −1 ≤ hu, vi = λkuk2 = − kuk =⇒ kuk ≤ = R, 2 ε ∗ somit ist P beschr¨ankt. Es seien v1 , . . . , vm die Ecken von P . Dann behaupten wir ∗
P =
m \
Hvi ≥−1 .
i=1
Die Inklusion ⊂“ ist offenbar richtig. Umgekehrt gelte f¨ ur ein u ∈ Rn die Beziehung ” hu, vi i ≥ −1 f¨ ur alle 1 ≤ i ≤ m. Jedes v ∈ P ist nach Lemma 6.2.2 eine Konvexkombination der vi , was sofort hu, vi ≥ −1 zeigt, also u ∈ P ∗ . Insgesamt ist P ∗ also ein beschr¨ankter Polyeder und somit nach Satz 6.2.19 ein Polytop. 2. F¨ ur v ∈ P gilt hv, ui ≥ −1 f¨ ur jedes u ∈ P ∗ , also v ∈ (P ∗ )∗ , was P ⊂ (P ∗ )∗ , zeigt. Zu v∈ / P gibt es nach Lemma 6.1.7 und Aufgabe 6.1.8 ein u mit hu, vi < −1 und hu, P i > −1 (beachte 0 ∈ P ◦ ), also insbesondere u ∈ P ∗ und v ∈ / (P ∗ )∗ , was die umgekehrte Inklusion zeigt. 3. Es sei v ein Element des relativen Inneren von F . Wegen 2. gilt dann hv, P ∗ i ≥ −1. Wir setzen nun F 0 := Hv=−1 ∩ P ∗ und behaupten F 0 = F ∗ : Dazu sei u ∈ F 0 . Dann gilt hu, vi = −1. Weil v im relativen Innern von F liegt, gilt dann auch hu, F i = −1, also folgt u ∈ F ∗ . Die umgekehrte Inklusion ist klar. Daher ist F ∗ Seite von P ∗ . Die Aussage u ¨ber die Dimension folgt aus dem Lemma 6.2.7 4. Das folgt direkt aus dem bereits Bewiesenen. 6.2.25 Aufgabe 1. Man zeige, dass das duale Polytop eines n-Ecks (ein Polytop im R2 mit n Ecken) wieder ein n-Eck ist. 2. Man bestimme die dualen Polytope zu den Polytopen aus Aufgabe 6.2.9. 3. Es sei P ein dualisierbares Polytop mit Facetten F1 , . . . , Fs , die durch die Hyperebenen Hui =ei , 1 ≤ i ≤ s, definiert seien. Dann gilt ui , 1 ≤ i ≤ s. P ∗ = conv(u01 , . . . , u0s ) mit u0i := |ei |
102
6.3
Polytope
Graphen von Polytopen und die Eulersche Polyederformel
In diesem Abschnitt betrachten wir Graphen von Polytopen und zeigen mit deren Hilfe f¨ ur dreidimensionale Polytope die ber¨ uhmte Eulersche Polyederformel, die eine fundamentale Beziehung zwischen den Seiten eines dreidimensionalen Polytops aussagt. Als Anwendung studieren wir die regelm¨aßigen dreidimensionalen Polytope, die platonischen K¨orper. Abschließend geben wir dann noch einen Beweis f¨ ur die Eulersche Polyederformel in beliebigen Dimensionen. 6.3.1 Definition Ein Graph G = (V, E) ist ein Paar bestehend aus einer endlichen Menge V (den Knoten“) sowie einer Teilmenge E ⊂ V 2 (den Kanten“). ” ” Einen Graph G = (V, E) kann man graphisch dadurch darstellen, dass man f¨ ur jedes v ∈ V einen Punkt in der Ebene markiert und zwei zu v1 , v2 ∈ V geh¨orende Punkte genau dann durch eine Linie verbindet, wenn (v1 , v2 ) ∈ E gilt. Unterscheidet man dabei die Kanten (v1 , v2 ) und (v2 , v1 ), so spricht man von einem gerichteten Graphen, andernfalls von einem ungerichteten Graphen (genauer gilt dann E ⊂ V 2 / ∼ mit (x, y) ∼ (y, x) — wir werden im Folgenden aber auch in diesem Fall einfach V 2 notieren). Wir werden uns in erster Linie mit ungerichteten Graphen auseinandersetzen, nicht zuletzt deshalb, weil jedes Polytop in naheliegender Weise einen ungerichteten Graphen definiert: 6.3.2 Definition Es sei P ein Polytop. Setzt man V := {F P ; dim(F ) = 0} und E := {(F1 , F2 ) ∈ V 2 ; ∃F P dim(F ) = 1, F1 , F2 ∈ F }, so heißt G(P ) := (V, E) der Graph des Polytops P . Wie oben erw¨ahnt, identifizieren wir dabei die Kanten (v1 , v2 ) und (v2 , v1 ) in V 2 . 6.3.3 Aufgabe Man gebe die Graphen des W¨ urfels sowie der k-fachen Doppelpyramiden u ¨ ber I := [−1, 1] an. Im folgenden stellen wir einige Eigenschaften des Graphs eines Polytops zusammen: 6.3.4 Bemerkung Es sei P ⊂ Rd ein d-dimensionales Polytop. 1. Der Graph G(P ) ist einfach, d.h. es gibt keine Schleifen oder mehrfachen Kanten. 2. Jeder Knoten V von G(P ) hat mindestens Grad d, d.h. es gibt mindestens d Kanten, die V enthalten. 6.3.5 Lemma Der Graph eines dreidimensionalen Polytops ist planar, d.h. der Graph l¨asst ¨ sich in einer Ebene ohne Uberschneidungen darstellen.
6.3 Graphen von Polytopen und die Eulersche Polyederformel
103
Beweis Ohne Einschr¨ankung sei P ⊂ R3 ein Polytop mit 0 als innerem Punkt. Dann gibt es ein r > 0 mit kxk < r f¨ ur alle x ∈ P . Durch Streckung kann man annehmen, dass r = 1 gilt. Projiziert man P nun auf S 2 und wendet anschließend eine stereographische Projektion dieses Bildes auf die Ebene an, so erh¨alt man (gegebenenenfalls nach einer geeigneten Drehung von S 2 ) offenbar einen planaren Graphen. 6.3.6 Satz (Satz von Balinski) Es sei P ⊂ Rd ein d-dimensionales Polytop. Der zugeh¨orige Graph G(P ) ist dann d-zusammenh¨angend, d.h. er bleibt auch nach Entfernen von d−1 Knoten (und allen an diesen Knoten anliegenden Kanten) zusammenh¨angend. Beweis Es sei V die Knotenmenge von G(P ), d.h. P = conv(V ); dabei identfizieren wir die Ecken von P mit den Knoten von G(P ). Aufgrund der Dimensionsbedingung hat V mindestens d + 1 Elemente. Mit S := {E1 , . . . , Ed−1 } bezeichnen wir die d − 1 Knoten, die entfernt werden. Der resultierende Graph sei mit G0 := G(P ) − S sowie seine Knotenmenge mit V 0 := V \ S bezeichnet. Es sei d−1 1 X Ei w := d − 1 i=1 der Eckenschwerpunkt von S. Dann gibt es zwei M¨oglichkeiten: 1. Fall: Es gibt eine echte Seite F ≺ P mit w ∈ F ; dann liegen auch alle Ei ∈ F , 1 ≤ i ≤ d − 1. Man w¨ahle nun eine Hyperebene H := Hu=e mit F = P ∩ H und P ⊂ Hu≥e . Weil P kompakt ist, nimmt u auf P sein Maximum, etwa m, an und durch F 0 := Hu=m ∩ P wird eine weitere Seite von P definiert. Alle Knoten in V 0 liegen dann entweder in F 0 oder lassen sich mit Ecken mit einem gr¨oßeren u-Wert verbinden. Damit l¨asst sich jeder Knoten von V 0 mit einer Ecke von F 0 verbinden. Da F 0 selbst ein Polytop ist, ist der Graph von F 0 und somit auch G0 zusammenh¨angend. Im 2. Fall liegt w im Innern von P . In diesem Fall u ¨berlassen wir den Beweis dem Leser zur ¨ Ubung. 6.3.7 Beispiel Der kleinste 3-zusammenh¨angende planare Graph ist der Graph K4 , der aus vier Knoten und sechs Kanten besteht. Man kann zeigen, dass umgekehrt jeder einfache, planare, drei-zusammenh¨angende Graph der Graph eines dreidimensionalen Polytops ist (Satz von Steinitz, vgl. [41], Theorem 4.1 — welches Polytop f¨ uhrt auf den K4 ?). Wir verzichten auf diesen Nachweis und wenden uns nun der ber¨ uhmten Eulerschen Polyederformel zu: 6.3.8 Satz Es sei P ⊂ Rn ein n-dimensionales Polytop mit f -Vektor f = (f0 , f1 , . . . , fn−1 ). Dann gilt n−1 X (−1)i fi = 1 − (−1)n . i=0
Man u ur 1 oder 2-dimensionale Poly¨berzeugt sich schnell, dass die Eulersche Polyederformel f¨ eder zutrifft:
104
Polytope
6.3.9 Bemerkung Gilt n ≤ 2, so ist 6.3.8 offensichtlich. Einen Beweis f¨ ur allgemeine Dimensionen stellen wir zun¨achst zur¨ uck und zeigen die Aussage f¨ ur den speziellen (historischen) Fall n = 3 mit einem auch f¨ ur den Schulunterricht geeigneten Beweis: Beweis (von 6.3.8 f¨ ur dreidimensionale Polytope) Es sei G := G(P ) der Graph von P . Dann entsprechen die Knoten von G den Ecken von P , die Kanten von G den Kanten von P und die Komponenten von G den Facetten von P , wenn man die ¨außere Komponente mitz¨ahlt. Wir zeigen die behauptete Gleichung etwas allgemeiner f¨ ur einen planaren,zusammenh¨angenden Graphen und f¨ uhren dabei Induktion nach f1 . Im Fall f1 = 0 besteht der Graph aus einem Knoten und null Kanten und einer (der¨außeren) Komponente und damit gilt f0 − f1 + f2 = 1 − 0 + 1 = 2, wie behauptet. F¨ ur den Schritt von f1 auf f1 + 1, d.h. dem Hinzuf¨ ugen einer Kante zu einem Graphen, so gibt es die folgenden M¨oglichkeiten: a) Es wird eine Kante und ein Knoten hinzugef¨ ugt; dabei bleibt die Eulerformel g¨ ultig. b) Zwei bestehende Knoten werden durch eine neue Kante verbunden. Dann erh¨ohen sich Gebiete- und Kantenanzahl jeweils um eins, und die Eulerformel bleibt g¨ ultig. Da sich jeder Graph in dieser Form konstruieren l¨asst, erh¨alt man die Behauptung.
Im Folgenden diskutieren wir eine Anwendung der Eulerschen Polyederformel und betrachten dazu die platonischen K¨orper. 6.3.10 Definition Ein platonischer K¨orper ist ein dreidimensionales Polytop, dessen Facetten kongruente regelm¨aßige n-Ecke sind, und bei dem es ein k gibt, sodass jede Ecke in genau k Facetten enthalten ist. ¨ Bereits in der Antike stellte man fest, dass es — bis auf Ahnlichkeit — genau f¨ unf platonische K¨orper gibt. Das damals gefundene, auch gut f¨ ur den Schulunterricht geeignete Argument nutzt die Winkelsumme im regelm¨aßigen n-Eck: Offenbar ist klar, dass die Zahlen k und n in 6.3.10 mindestens den Wert drei haben m¨ ussen. Im Fall von n = 3 hat das regelm¨aßige Dreieck den π ur k kommen dann nur die Werte 3, 4 oder 5 in Frage. Im Fall von n = 4 Innenwinkel 3 , d.h. f¨ ist der Innenwinkel bereits π2 , f¨ ur n = 5 ist er 3π , daher kann k in diesen beiden F¨allen nur 3 10 sein. Im Fall von n ≥ 6 m¨ usste k < 3 sein, was nicht sein kann. Wir stellen noch einen weiteren Beweis dieser Tatsache vor, der im Wesentlichen auf der Eulerschen Polyederformel basiert. ¨ 6.3.11 Satz Es gibt bis auf Ahnlichkeit maximal f¨ unf platonische K¨orper, n¨amlich den Tetra-, Hexa-, Okta,- Dodeka- sowie den Ikosaeder.
6.3 Graphen von Polytopen und die Eulersche Polyederformel
105
Beweis Da jede Ecke in k Facetten liegt, aber jede Facette genau n Ecken hat, folgt nf2 = kf0 . Ebenso sieht man 2f1 = nf2 . Mit Hilfe der Eulerschen Polyederformel erh¨alt man daraus f2 (2k − kn + 2n) = 4k > 0 =⇒
kn < 2. k+n
Zusammen mit n, k ≥ 3 sieht man schnell, dass die einzigen ganzzahligen L¨osungstupel dieser Ungleichung gegeben sind durch (3, 3), (3, 4), (4, 3), (3, 5) und (5, 3). Die Existenz der angesprochenen platonischen K¨orper, n¨amlich des Tetraeders (dreiseitige Pyramide), Hexaeders (W¨ urfel), Oktaeders (Doppelpyramide u ¨ber einem Quadrat), Dodekaeders (Zw¨olffl¨achner aus regelm¨aßigen F¨ unfecken) und des Ikosaeders (Zwanzigfl¨achners aus gleichseitigen Dreiecken) u ¨berlassen wir dem Leser. 6.3.12 Aufgabe
1. Man zeige, dass es mindestens f¨ unf platonische K¨orper gibt.
2. Es sei P ein platonischer K¨orper mit Mittelpunkt 0 ∈ P ◦ . Man zeige, dass das duale Polytop P ∗ ebenfalls ein platonischer K¨orper ist und gebe die zu den angegebenen platonischen K¨orpern dualen Polytope an. 3. Man bestimme die f -Vektoren der platonischen K¨orper. Wir wenden uns nun dem Beweis der Eulerschen Polyederformel f¨ ur beliebige Dimensionen zu. Dabei folgen wir im Wesentlichen dem Beweis von B. Gr¨ unbaum (vgl. [17]). Wir zeigen im ersten Schritt, dass die in 6.3.8 behauptete Gleichung f¨ ur eine spezielle Klasse von Polytopen, n¨amlich f¨ ur Prismoide, g¨ ultig ist. Wir vereinbaren zun¨achst noch eine spezielle Sprechweise: Ein Polytop der Dimension d nennen wir ein d-Polytop. 6.3.13 Definition Ein d-Polytop P heißt Prismoid, falls es h¨ochstens (d − 1)-dimensionale Polytope P1 , P2 gibt, die in Hyperebenen H1 bzw. H2 so liegen, dass (P1 ∪ P2 ) ∩ H1 ∩ H2 = ∅ gilt, mit der Eigenschaft, dass P = conv(P1 , P2 ) gilt. 6.3.14 Lemma Es sei P ein d-Prismoid. Dann erf¨ ullt P die Eulersche Polyederformel, falls jedes k-Polytop mit k < d die Eulersche Polyederformel erf¨ ullt. Beweis Wir stellen P gem¨aß der Definition 6.3.13 dar und w¨ahlen (in obiger Notation) eine Hyperebene H0 zwischen H1 und H2 , die einen inneren Punkt von P enth¨alt. Es sei P0 := H0 ∩P . Dann gelten a) f0 (P ) = f0 (P1 ) + f0 (P2 ), b) jede k-Seite F von P , 1 ≤ k ≤ d − 1, ist entweder eine k-Seite von P1 oder P2 oder definiert eineindeutig eine (k − 1)-dimensionale Seite von P0 . Man erh¨alt fk (P ) = fk (P1 ) + fk (P2 ) + fk−1 (P0 ) mit fk (Pi ) := 0 f¨ ur k > dim(Pi ), i = 1, 2. Da P0 , P1 und P2 h¨ochstens (d − 1)-dimensional sind, k¨onnen wir davon ausgehen, dass diese die Eulersche Polyederformel erf¨ ullen. Es seien
106
Polytope
d1 := dim(P1 ) und d2 := dim(P2 ). Weiter gilt offenbar dim(P0 ) = d − 1. Damit erhalten wir d−1 X (−1)i fi (P ) = i=0
f0 (P1 ) + f0 (P2 ) +
dX 1 −1
i
(−1) fi (P1 ) +
dX 2 −1
i=1
d1
d2
d−1
d2
(−1) fi (P2 ) + (−1) + (−1) −
d−2 X
(−1)i fi (P0 )
i=0
i=1 d1
d2
d1
i
= 1 − (−1) + 1 − (−1) + (−1) + (−1) − 1 + (−1)
d
= 1 − (−1) .
6.3.15 Lemma Es sei P ein d-Polytop und H = Hu=e eine Hyperebene, die P im Innern trifft und genau eine Ecke v von P enth¨alt. Weiter seien P0 := P ∩ H, P+ := P ∩ Hu≥e und P− := P ∩ Hu≤e . Erf¨ ullen dann P0 , P+ und P− den Satz 6.3.8, so auch P . Beweis Die Idee besteht darin, die Seitenzahlen von P durch die von P0 , P+ und P− auszudr¨ ucken. Zun¨achst gilt offenbar f0 (P ) = f0 (P+ ) + f0 (P− ) − 2f0 (P0 ) + 1. Weiter hat man f1 (P ) = f1 (P+ ) + f1 (P− ) − 2f1 (P0 ) − f0 (P0 ) + 1, da jede Kante von P , die P0 nicht in v trifft, in eine Kante von P1 und eine von P2 geteilt wird. F¨ ur 2 ≤ i ≤ d − 2 gilt analog fi (P ) = fi (P+ ) + fi (P− ) − 2fi (P0 ) − fi−1 (P0 ). F¨ ur Facetten von P gilt schließlich fd−1 (P ) = fd−1 (P+ ) + fd−1 (P− ) − 2 − fd−2 (P0 ). Damit erh¨alt man dann d−1 X i=0 d−1 X
(−1)i fi (P ) = i
(−1) (fi (P+ ) + fi (P− )) − 2
d−2 X
i=0
i
(−1) fi (P0 ) +
i=0 d
d−1
= 2(1 − (−1) ) − (1 − (−1)
d−2 X
(−1)i fi (P0 ) + 1 − 1 − 2(−1)d−1
i=0 d
) + 2(−1) = 1 − (−1)d .
Damit k¨onnen wir nun die Eulersche Formel beweisen: Beweis (von 6.3.8) Wir f¨ uhren Induktion nach d := dim(P ). Der Induktionsanfang ist durch 6.3.9 gegeben. Zu einem d-Polytop P w¨ahle man eine Hyperebene H, sodass keine zu H parallele
6.4 Erg¨anzungen zur Graphentheorie
107
Hyperebene mehr als eine Ecke von P enth¨alt. Dann gibt es zu H parallele Hyperebenen H1 , . . . , Hs , sodass jedes Hi := Hui =ei genau eine Ecke von P enth¨alt. Weiter seien die Hi so nummeriert, dass Hi+1 ⊂ Hi,+ := Hui ≥ei f¨ ur jedes 1 ≤ i ≤ s − 1 gilt. Man setze Pi := Hui ≥ei ∩ Hui+1 ≤ei+1 ∩ P,
1 ≤ i ≤ s − 1.
Offenbar ist dann jedes Pi ein d-Prismoid. Wegen Lemma 6.3.14 erf¨ ullt somitSunter Ausnutzung der Induktionsvoraussetzung jedes Pi die Eulerformel. Weiter sei P (j) := ji=1 Pi . Dann l¨aßt sich auf P (j+1) , Hj+1 , P (j) und Pj+1 das Lemma 6.3.15 anwenden und jedes P (`) , 1 ≤ ` ≤ s − 1, erf¨ ullt die Eulersche Polyederformel. Wegen P (s−1) = P erh¨alt man die Behauptung.
6.4
Erg¨ anzungen zur Graphentheorie
In diesem Abschnitt gehen wir kurz auf zwei ber¨ uhmte S¨atze der Graphentheorie ein, n¨amlich den Satz von Euler und den Vierfarbensatz. Der Satz von Euler geht auf das ber¨ uhmte Problem der Br¨ ucken von K¨onigsberg“ zur¨ uck. Euler ” soll damals gefragt worden sein, ob man alle Br¨ ucken von K¨onigsberg auf einem Rundgang queren kann, ohne dabei eine Br¨ ucke mehrmals zu benutzen. Er l¨oste dieses Problem, wobei er dabei die moderne Graphentheorie begr¨ undete. 6.4.1 Definition Es sei G := (V, E) ein zusammenh¨angender Graph. Ein Eulerweg des Graphen G ist eine Aufz¨ahlung der Kanten E = (ei )1≤i≤m , wobei ei = (vi1 , vi2 ) mit vi2 = v(i+1)1 f¨ ur 1 ≤ i ≤ m − 1 sowie ei 6= ej f¨ ur i 6= j gelten. 6.4.2 Beispiel lerweg.
1. Der durch ein n-Eck kanonisch definierte Graph besitzt immer einen Eu-
2. Der Graph des Tetraeders besitzt keinen Eulerweg. 6.4.3 Definition Der Grad deg(v) eines Knotens v ∈ V des Graphens G = (V, E) ist die Anzahl der Kanten die v enthalten: deg(v) = |{e ∈ E; v ∈ e}|. Mit dem Begriff des Grad eines Knotens l¨aßt sich bereits der Satz von Euler formulieren. 6.4.4 Satz Ein Graph (V, E) besitzt genau dann einen Eulerweg, wenn es keinen oder genau zwei Knoten von ungeradem Grad gibt. Beweis
⇒:“ Es sei E = (ei ) ein Eulerweg des Graphen (V, E). F¨ ur 1 ≤ i ≤ m − 1 gilt ” ei 3 vi2 = vi1 ∈ ei+1 ,
d.h. f¨ ur alle Knoten v ∈ V \ {v11 , vm2 } ist deg(v) gerade. Im Fall v11 = vm2 haben alle Knoten geraden Grad, andernfalls gibt es genau zwei Knoten mit ungeradem Grad.
108
Polytope
⇐:“ Wir nehmen zun¨achst an, dass G := (V, E) nur Knoten geraden Grades hat und zeigen, ” dass G dann sogar einen Eulerkreis, also einen geschlossenen Eulerweg besitzt. Wir w¨ahlen einen Knoten V ∈ G. Offenbar enth¨alt G einen Kreis, der V enth¨alt, da alle Knoten geraden Grad gr¨oßer gleich zwei haben. Es sei C ein solcher Eulerkreis maximaler L¨ange (dabei ist die L¨ange die Anzahl der Kanten, die in C liegen). Wir behaupten, dass C alle Kanten von G enth¨alt. Andernfalls sei E = (Y, X) eine Kante, die nicht in C enthalten ist. Dann gibt es, da G zusammenh¨angend ist, einen Weg W = (V0 = X, V1 , . . . , Vr−1 , Vr = V ) der X mit V verbindet. Weiter setzen wir V−1 := Y . Dann sei Vi , 0 ≤ i ≤ r, der erste Knoten von W , der in C liegt. Dann ist E 0 := (Vi−1 , Vi ) nicht in C. Es sei G0 := G \ C. Jeder Knoten in G0 hat geraden Grad, da ja aus dem geraden Graphen G der gerade Graph C entnommen wurde. Daher gibt es wie oben einen Kreis C 0 in G0 , der die Kante E 0 enth¨alt. Die Verbindung C ∪ C 0 definiert dann b in G, der echt gr¨oßer als C ist, was ein Widerspruch ist. einen Kreis C F¨ ur den Fall, dass G genau die zwei Knoten U und V von ungeradem Grad besitzt, betrachten wir den Graphen G0 := G ∪ (U, V ). Dieser enth¨alt nur Knoten von geradem Grad und besitzt nach dem ersten Teil des Beweises einen Eulerkreis. Entfernt man von diesem wieder die Kante (U, V ) erh¨alt man einen Eulerweg f¨ ur G. Abschließend gehen wir noch kurz auf F¨arbungsprobleme ein: 6.4.5 Definition Es sei G = (V, E) ein (schleifenfreier) Graph und n ∈ N. Eine surjektive Abbildung f : V → {1, . . . , n} heißt n-F¨arbung von G, falls f¨ ur alle Kanten e = (vi , vj ) ∈ E immer f (vi ) 6= f (vj ) gilt. Offenbar besitzt jeder schlingenfreie Graph G = (V, E) f¨ ur n := |V | eine n-F¨arbung, indem man einfach jedem Knoten eine andere Zahl zuordnet. Die interessante Frage ist offenbar, welches das kleinste n ∈ N ist, sodass ein gegebener Graph eine n-F¨arbung besitzt. Man nennt ein solches n die chromatische Zahl χ(G) des Graphen G. F¨ ur planare Graphen sieht man schnell ein, dass die chromatische Zahl mindestens 4 betr¨agt, wie das Beispiel in Abbildung 6.1 zeigt:
Abbildung 6.1: Ein Graph mit mindestens vier Farben samt Landkarte Im Jahr 1852 fragte der Student Francis Guthrie den Mathematiker Auguste de Morgan, ob es richtig sei, dass man eine Landkarte immer mit 4 Farben so f¨arben k¨onne, dass zwei aneinander
6.4 Erg¨anzungen zur Graphentheorie
109
grenzende L¨ander verschiebenfarbig gef¨arbt sind. Da de Morgan die Frage nicht l¨osen konnte, legte er sie seinem Kollegen William Hamilton vor, der aber auch keine L¨osung angeben konnte. In der folgenden Zeit wurde dieses Problem als Vierfarben-Vermutung weltber¨ uhmt, und erst 1976 wurde diese Frage von W. Haken und K. Appel unter massivem Computereinsatz positiv beantwortet: Sie reduzierten das Problem dazu auf eine endliche (exakt 1936 - sp¨ater gelangen weitere Reduktionen) Anzahl von F¨allen, welche dann ein Computer rechnete (zur weiteren Informationen bzgl. dieser Fragestellung vgl. ???). Offenbar ist die Fragestellung gleichbedeutend mit der Frage, ob jeder planare Graph eine 4F¨arbung besitzt. Wir wollen hier die den deutlich einfacher zu zeigenden F¨ unffarbensatz zeigen, also die Aussage, dass jeder planare Graph immer eine 5-F¨arbung zul¨asst. Wir zeigen zun¨achst zwei auch f¨ ur sich genommen interessante Aussagen u ¨ber planare Graphen. 6.4.6 Satz Es sei G = (V, E) ein einfacher, planarer, zusammenh¨angender Graph mit f0 := |V | und f1 := |E|. Dann gilt f1 ≤ 3f0 − 6 Beweis Mit f2 bezeichnen wir die Anzahl der Zusammenhangskomponenten von G, wobei wir die unbeschr¨ankte Komponente mitz¨ahlen. Da jede derartige Komponente von mindestens 3 Kanten begrenzt, aber jede Kante an genau zwei Komponenten grenzt, gilt 3f2 ≤ 2f1 . Setzt man dies in die Eulersche Polyederformel ein, so folgt 2 2 = f2 − f1 + f0 ≤ f1 − f1 + f0 =⇒ f1 ≤ 3f0 − 6. 3 Damit zeigen wir nun 6.4.7 Satz Jeder einfache planare Graph besitzt einen Knoten vom Grad d ≤ 5. Beweis Angenommen jeder Knoten h¨atte einen Grad d ≥ 6. Dann k¨ame jeder Knoten in mindestens 6 Kanten vor. Da aber jede Kante zwei Knoten enth¨alt, folgt 6f0 ≤ 2f1 . Zusammen mit 6.4.6 folgt 6f0 ≤ 2f1 ≤ 6f0 − 12 =⇒ 12 ≤ 0, was nicht sein kann.
Damit k¨onnen wir den F¨ unffarbensatz zeigen: 6.4.8 Satz Jeder planare, einfache, zusammenh¨angende Graph G = (V, E) ist 5-f¨arbbar. Beweis Wir f¨ uhren Induktion nach f0 := |V |. F¨ ur f0 ≤ 5 ist die Aussage trivialerweise zutreffend. Es sei nun also f0 > 5. Nach Satz 6.4.7 gibt es einen Knoten v0 vom Grad kleiner gleich f¨ unf. Ist der Grad echt kleiner als 5, so ist der Graph G0 := G \ v0 nach Induktionsvoraussetzung 5-f¨arbbar, und die mit v0 verbundenen Knoten sind mit maximal 4 Farben gef¨arbt: Daher bleibt eine Farbe f¨ ur v0 u ¨brig und es gibt eine 5-F¨arbung von G.
110
Polytope
Ist der Grad von v0 genau 5, so gibt es zwei Nachbarn v1 und v3 von v0 , die selbst nicht benachbart sind. Dann betrachten wir den Graphen G0 , der entsteht, wenn man v0 entfernt und v1 mit v3 identifiziert. Dieser besitzt nach Induktionsvoraussetzung eine 5-F¨arbung, aus der man wieder eine 5-F¨arbung von G gewinnen kann.
Kapitel 7 Bilinearformen und Kegelschnitte Quadriken wurden als Kegelschnitte bereits in der Antike ausf¨ uhrlich untersucht. In diesem Kapitel gehen wir auf einige (zum Teil wohl bekannte) Ergebnisse u ¨ber quadratische Formen aus der linearen Algebra ein, bevor wir die ebenen Quadriken wie Parabel, Hyperbel und Ellipse auf geometrischem Wege konstruieren und einige Eigenschaften festhalten.
7.1
Bilinearformen
In diesem Abschnitt wiederholen wir einige — vermutlich schon aus der Linearen Algebra bekannte — Grundaussagen u ¨ber Bilinearformen. Eine (reelle) Bilinearform ist dabei eine Abbildung ϕ: V × V → R des kartesischen Produktes eines R-Vektorraums mit sich selbst nach R, die linear in jedem Argument ist. Sie heißt symmetrisch, falls f¨ ur alle v, w ∈ V gilt ϕ(v, w) = ϕ(w, v). 7.1.1 Definition Es sei V ein R-Vektorraum. Eine symmetrische Bilinearform ϕ : V × V → R heißt nicht-ausgeartet, wenn es zu jedem v ∈ V ein u ∈ V gibt mit ϕ(v, u) 6= 0. Wir werden uns im Folgenden auf symmetrische Bilinearformen beschr¨anken, auch wenn wir dies nicht in jedem Fall explizit erw¨ahnen werden. 7.1.2 Beispiel arform.
1. Das u ¨bliche Skalarprodukt auf dem Rn ist eine nicht-ausgeartete Biline-
2. Ist V ein Vektorraum, so ist die triviale Abbildung ϕ : V × V → R, (v, w) 7→ 0 nicht nicht-ausgeartet, also ausgeartet. 3. Ist V = C[0; 1] der Raum der stetigen Funktionen auf [0, 1], so ist Z 1 ϕ(f, g) := f (x)g(x) dx 0
112
Bilinearformen und Kegelschnitte
eine nicht-ausgeartete Bilinearform auf V . 7.1.3 Definition Ist V ein endlich-dimensionaler Vektorraum und B : v1 , . . . , vn eine Basis von V sowie ϕ : V × V → R eine Bilinearform, so heißt MB (ϕ) := (ϕ(vi , vj ))i,j Matrix von ϕ bzgl. der Basis B. Offenbar ist der folgende Satz richtig: 7.1.4 Satz Es sei V ein endlich dimensionaler R-Vektorraum und B eine Basis von V . Dann ist die Abbildung Bil(V ) → Rn×n , ϕ 7→ MB (ϕ) bijektiv. 7.1.5 Bemerkung Es sei V ein endlich dimensionaler R-Vektorraum und ϕ : V × V → R eine Bilinearform. Sind B und B 0 Basen von V und S die Matrix des Basiswechsels von B 0 zu B, so gilt MB 0 = S > · MB · S. Ist ϕ eine nicht-ausgeartete Bilinearform auf dem R-Vektorraum V , so nennen wir zwei Vektoren v, w ∈ V ϕ-orthogonal (wenn der Zusammenhang klar ist, auch nur orthogonal), wenn ϕ(v, w) = 0 gilt. 7.1.6 Aufgabe Es sei V ein R-Vektorraum mit einer nicht-ausgearteten symmetrischen Bilinearform ϕ. Ist W ⊂ V ein Unterraum von V , so heißt W ⊥ das ϕ-orthogonale Komplement von V . Man zeige, dass W ⊥ ein Unterraum von V ist. Ist ϕ : V × V → R eine symmetrische Bilinearform auf V , so wird durch q(v) := ϕ(v, v) eine quadratische Form definiert. 7.1.7 Aufgabe Man zeige, dass ϕ durch die zugeh¨orige quadratische Form vollst¨andig bestimmt ist. Der Hauptsatz u ¨ber Bilinearformen (der u ¨ber beliebigen K¨orpern mit Charakteristik ungleich zwei gilt) liefert die Existenz von Orthonormalbasen (im entsprechenden Sinne) 7.1.8 Satz Es sei V ein endlich dimensionaler R-Vektorraum und ϕ : V × V → R eine nichtausgeartete Bilinearform mit zugeh¨origer quadratischer Form q. Dann gibt es eine Basis (man sagt auch ϕ-Orthonormalbasis“) v1 , . . . , vn von V mit ” ϕ(vi , vj ) = 0 f¨ ur i 6= j,
q(vi ) = −1, 1 ≤ i ≤ r,
q(vi ) = 1, r + 1 ≤ i ≤ n.
7.2 Kegelschnitte
Beweis richtig.
113
Wir f¨ uhren Induktion nach n := dim V . F¨ ur n = 1 ist die Behauptung offensichtlich
F¨ ur n > 1 folgt aus Aufgabe 7.1.7 die Existenz eines Vektors w mit q(w) 6= 0. Setzt man ur die w0 := √ w , so hat man q(w0 ) = ±1 und damit den ersten Basisvektor gefunden. F¨ |q(w)|
weiteren Basisvektoren setzen wir W := Rw und U := U ⊥ . Dann ist U ein Untervektorraum von V mit w ∈ / U , d.h. dim(U ) < n. Die Induktionsvoraussetzung liefert daher eine Basis u1 , . . . , um von U , wie gew¨ unscht. Es bleibt, m = n − 1 zu zeigen. Dazu sei v ∈ V beliebig und u := v −
ϕ(w, v) w. ϕ(w, w)
Man sieht dann schnell u ∈ U , was zeigt, dass w, u1 , . . . , um ein Erzeugendensystem von V , also nach Konstruktion sogar eine Basis ist. 7.1.9 Beispiel Wir betrachten f¨ ur a > 0 die quadratische Form q(x, y) := x2 + 4xy + ay 2 . Quadratische Erg¨anzung liefert q(x, y) = x2 + 4xy + 4y 2 + (a − 4)y 2 = (x + 2y)2 + (a − 4)y 2 . Damit erh¨alt man f¨ ur a = 4 eine ausgeartete Bilinearform. Im Fall a > 4 ist die Matrix der zu q geh¨orenden Bilinearform bzgl. einer Orthonormalbasis wie in 7.1.8 die Einheitsmatrix, andernfalls hat sie einen positiven und einen negativen Eintrag auf der Diagonalen. Im ersten Fall hat die quadratische Form q als Niveaulinien Ellipsen, im zweiten Fall Hyperbeln, wie wir sp¨ater sehen werden. Das geometrische Pendant zum algebraischen Begriff der quadratischen Form sind im zweidimensionalen die Kegelschnitte, denen wir uns nun zuwenden werden.
7.2
Kegelschnitte
In diesem Abschnitt geben wir eine elementargeometrische Einf¨ uhrung der Kegelschnitte und werden damit das Beispiel 7.1.9 geometrisch verstehen k¨onnen. Zu einer Linearform u ∈ R3 \ {0} und a ∈ R3 nennen wir H(u, a) := {x ∈ R3 ; hu, x − ai = 0} die durch u und a definierte Ebene. In der Notation von 6.1.1 gilt dann gerade H(u, a) = Hu=e mit e := hu, ai gilt. Eine Kugel K := K(M ; r) in R3 ist die Menge {x ∈ R3 ; kx − M k = r}. Weiter nennen wir eine Teilmenge D ⊂ R3 Kreis mit Radius r und Mittelpunkt M , falls es eine Ebene HD ⊂ R3 gibt mit M ∈ H und D = H ∩ K(M ; r). Die Ebene HD ist dann eindeutig bestimmt und heißt Kreisebene von D. 7.2.1 Aufgabe Man zeige: Ist K eine Kugel und H eine Ebene, so ist K ∩ H entweder leer, einpunktig oder ein Kreis in H ∼ = R2 .
114
Bilinearformen und Kegelschnitte
7.2.2 Definition Es sei D ein Kreis im R3 mit Mittelpunkt M und Kreisebene H = H(u, a). Weiter sei S ∈ M + R6=0 u. Dann heißt die Menge C :=
[
aff(S, y)
y∈D
ein (Kreis-)Doppelkegel mit Spitze S. Die Gerade L := M + Ru heißt Zentralgerade des Kegels. 7.2.3 Bemerkung Eine Teilmenge C ⊂ R3 ist genau dann ein Kegel mit Zentralgerade L = M + Ru und Spitze S, wenn S ∈ L gilt und f¨ ur jedes a ∈ L = 6 S die Menge H(u, a) ∩ C ein Kreis ist. 7.2.4 Definition Ist C ein Kegel mit Zentralgerade L und Spitze S, so ist der Kegelwinkel ¨ (oder halbe Offnungswinkel) ω von C definiert als ∠L, SY mit Y ∈ C \ {S}. Bereits in der Antike interessierte man sich f¨ ur die Kurven, die man erh¨alt, wenn man einen (Kreis-)Doppelkegel mit einer Ebene schneidet. Offenbar unterscheiden sich diese Kurven je nach Lage der Ebene. Wie wir in Bemerkung 7.2.3 gesehen haben, ergeben sich Kreise, wenn die Schnittebene senkrecht zur Leitgeraden ist. 7.2.5 Definition Es sei C ein Doppelkegel mit Spitze S und Zentralgerade L sowie H eine Ebene mit S ∈ / H. Der Schnittebenenwinkel ist der Winkel zwischen H und der Zentralgerade L. Wir werden sehen, dass das Verh¨altnis von Schnittebenenwinkel zu Kegelwinkel die entscheidende Gr¨oße ist, die die Qualit¨at der Schnittkurve beschreibt. Das entscheidende Hilfsmittel zur geometrischen Beschreibung der Schnittkurven sind die Dandelinschen Kugeln (Pierre Dandelin, 1794–1847). 7.2.6 Definition Es sei C ein Doppelkegel und H eine Schnittebene. Eine Kugel, die den Kegel von innen (in einem Kreis) und die Ebene H ber¨ uhrt, heißt Dandelinsche Kugel. Der Ber¨ uhrpunkt der Kugel mit der Ebene heißt Brennpunkt. 7.2.7 Lemma (Kreistangentensatz) Es sei D ein Kreis mit Kreisebene HD , P ∈ HD außerhalb von D sowie T1 , T2 Tangenten an den Kreis D durch P mit Ber¨ uhrpunkten B1 und B2 . Dann gilt |T1 P | = |T2 P |. Beweis
Der Beweis ist eine einfache Anwendung des Kongruenzsatzes ssW 3.2.14.
7.2.8 Satz Es seien C ein Doppelkegel mit Spitze S und Kegelwinkel ω, H eine Schnittebene mit Schnittwinkel α > ω. Dann gibt es zwei Punkte F1 und F2 und ein c ∈ R>0 , sodass f¨ ur alle P ∈ H ∩ C gilt |P F1 | + |P F2 | = c.
7.2 Kegelschnitte
115
Abbildung 7.1: Zum Beweis von 7.2.8 Beweis Offenbar gibt es in der betrachteten Situation genau zwei Dandelinsche Kugeln K1 und K2 mit Ber¨ uhrkreisen D1 und D2 in Kreisebenen H1 und H2 . Ferner seien F1 und F2 die Ber¨ uhrpunkte der Kugeln K1 und K2 mit der Ebene H. Zu P ∈ H ∩ C seien g := SP und Bi := Di ∩ g, i = 1, 2, (vgl. Abbildung 7.1). Durch die Punkte F1 , B1 und P wird eine Ebene H 0 definiert. Gem¨aß Aufgabe 7.2.1 ist H 0 ∩ K1 ein Kreis, der die Geraden P F1 und P B1 als Tangenten besitzt. Daher liefert der Kreistangentensatz 7.2.7 |P F1 | = |P B1 |. Analog sieht man |P F2 | = |P B2 |. Insgesamt erh¨alt man |P F1 | + |P F2 | = |P B1 | + |P B2 | = |B1 B2 |, wobei der letzte Wert ersichtlich unabh¨angig von P ist, was die Behauptung liefert.
7.2.9 Definition Eine Kurve wie in 7.2.8 heißt Ellipse; die Punkte F1 und F2 heißen Brennpunkte der Ellipse. 7.2.10 Lemma In der Notation des Beweises von 7.2.8 sei `i := Hi ∩ H, i = 1, 2. Dann gibt es ein 0 < ε < 1 , sodass f¨ ur jeden Punkt P ∈ C ∩ H =: E die Beziehung |P Fi | =ε d(P, `i ) gilt. Beweis Wir verwenden wieder die Notation aus dem Beweis von 7.2.8. Weiter w¨ahle man L1 ∈ `1 mit d(P, `1 ) = |P L1 |. Ferner setze man T1 := (F1 F2 ) ∩ `1 . Weiter sei A1 ∈ F1 F2 ∩ E so gew¨ahlt, dass |A1 T1 | maximal ist sowie Q1 := (A1 S) ∩ H1 . Dann erh¨alt man (Strahlensatz!) |P F1 | |P B1 | |A1 Q1 | = = . d(P, `1 ) |P L1 | |A1 T1 |
116
Bilinearformen und Kegelschnitte
Abbildung 7.2: Zum Beweis von 7.2.10 Wendet man auf das Dreieck A1 Q1 T1 den Sinussatz 3.6.3 an und bezeichnet den Kegelwinkel und Schnittwinkel wieder mit ω bzw. α, so folgt sin( π2 − α) cos(α) |P F1 | = =: ε. = π d(P, `1 ) sin( 2 − ω) cos(ω) Weil der Kosinus im Intervall [0, π] streng monoton fallend ist, erkennt man ε < 1.
F¨ ur den Fall α < ω gelten analoge Aussagen: 7.2.11 Satz Es seien C ein Doppelkegel mit Spitze S und Kegelwinkel ω, H eine Schnittebene mit Schnittwinkel α < ω. 1. Dann gibt es zwei Punkte F1 und F2 und ein c ∈ R>0 , sodass f¨ ur alle P ∈ H ∩ C gilt |P F1 | − |P F2 | = c. 2. Sind Hi wieder die Ber¨ uhrkreisebenen der Dandelinschen Kugeln, unds setzt man wieder `i := H ∩ Hi , so gibt es ein ε > 1, sodass f¨ ur jedes P ∈ H ∩ C gilt |P Fi | =ε d(P, `i ) Beweis Die Beweise verlaufen entsprechend den Beweisen von 7.2.8 und 7.2.10 und werden ¨ dem Leser zur Ubung u ¨berlassen. 7.2.12 Definition Die Schnittkurve im Fall des Satzes 7.2.11 heißt Hyperbel.
7.2 Kegelschnitte
117
7.2.13 Definition Die Gr¨oße ε aus 7.2.10 bzw. 7.2.11 2. heißt Numerische Exzentrizit¨at des Kegelschnittes. Der Grenzfall α = ω f¨ uhrt zur Numerischen Exzentrizit¨at von 1 und in der Tat gilt, wie man mit analogen Argumenten wie bisher einsehen kann: 7.2.14 Satz Es seien C ein Doppelkegel mit Spitze S und Kegelwinkel ω, H eine Schnittebene mit Schnittwinkel α = ω. Dann gibt es einen Punkt F sowie eine Gerade `, sodass f¨ ur alle P ∈ H ∩ C gilt d(P, `) = |P F |. Eine derartige Kurve nennt man eine Parabel. Wir zeigen im Folgenden, dass die Gleichungen der Kegelschnitte gerade Gleichungen entsprechen, die man erh¨alt, wenn man Niveaulinien von quadratischen Formen betrachtet. F¨ ur einen Kegel C und eine Schnittebene H ∼ = R2 mit Schnittwinkel α > ω sei E := C ∩ H die Schnittellipse mit Brennpunkten F1 und F2 . Durch Identifikation von H mit R2 und nach Anwenden einer Kongruenzabbildung k¨onnen wir annehmen, dass F1 = (−f ; 0) und F2 = (f ; 0) mit f > 0 gelten. Die Ellipsengleichung |P F1 | + |P F2 | = c schreibt sich dann in der Form p p (x + f )2 + y 2 + (x − f )2 + y 2 = c. Offenbar k¨onnen wir hier c > 2f annehmen. Dann liefert Quadrieren die ¨aquivalente Gleichung p p (x + f )2 + y 2 + (x − f )2 + y 2 + 2 (x + f )2 + y 2 · (x − f )2 + y 2 = c2 bzw.
p p 1 (x + f )2 + y 2 · (x − f )2 + y 2 = c2 − x2 − y 2 − f 2 . 2 Erneutes Quadrieren liefert 2
2
2
2
((x + f ) + y ) · ((x − f ) + y ) =
1 2 c − x2 − y 2 − f 2 2
2 ,
mit der Zusatzbedingung 1 x 2 + y 2 + f 2 < c2 . 2 Die neue Gleichung ergibt beim Ausmultiplizieren (x + f )(x − f ))2 + y 2 ((x + f )2 + (x − f )2 ) + y 4 1 = c4 − c2 (x2 + y 2 + f 2 ) + x4 + y 4 + f 4 + 2(x2 y 2 + x2 f 2 + y 2 f 2 ), 4 bzw.
1 c2 (x2 + y 2 + f 2 ) = c4 + 4x2 f 2 . 4
(7.1)
118
Bilinearformen und Kegelschnitte
In einer weiteren Umformung ergibt sich nun x2 y2 1 1 = , (c2 − 4f 2 )x2 + c2 y 2 = c2 (c2 − 4f 2 ) bzw. 2 + 2 2 4 c c − 4f 4 also genau die Ellipsengleichung gem¨aß der Hauptachsentransformation. Ist diese Gleichung erf¨ ullt, so gilt weiter 1 f2 x2 + y 2 + f 2 = x2 + (c2 − 4f 2 ) − x2 + 4 2 x2 + f 2 4 c 2 2 f f 1 1 1 1 = c2 + 4 2 x 2 ≤ c2 + 2 c2 = c2 + f 2 ≤ c2 , 4 c 4 c 4 2 d.h. die Bedingung (7.1) ist automatisch erf¨ ullt. p c2 − 4f 2 c Setzt man nun abschließend a := und b := , so erh¨alt man die Ellipsengleichung 2 2 in Normalform x2 y 2 + 2 = 1. a2 b Mit analogen Rechnungen sieht man ein, dass die Normalform der Hyperbel gegeben ist durch x2 y 2 − 2 = 1. a2 b Damit k¨onnen wir das Beispiel 7.1.9 auch geometrisch einordnen. F¨ ur eine Parabel mit Brennpunkt F = (f, 0) und Leitgerade x = −f erh¨alt man ebenso die Gleichung y 2 = 4f x. Wir formulieren f¨ ur diese speziellen Gleichungen noch die zugeh¨origen Abstandsformeln: 7.2.15 Lemma 1. Es sei P := (x; y) ein Punkt auf der Ellipse E : Brennpunkten F1 := (−f ; 0) und F2 := (f ; 0). Dann gelten |P F1 | = a +
xf a
und |P F2 | = a −
x2 a2
+
y2 b2
= 1 mit den
xf . a
2. Es sei P := (x; y) ein Punkt auf der Parabel K : y 2 = 4f x mit Brennpunkt F := (f ; 0) und Leitgeraden x = −f . Dann gilt |P F | = x + f. Beweis 1. Offenbar hat man die Beziehung f 2 = a2 − b2 . Damit gilt etwa f¨ ur |P F1 | die Gleichung |P F1 |2 = (x + f )2 + y 2 = x2 + 2xf + a2 − b2 + y 2 b2 f 2 x2 = x + 2xf + a − 2 x2 = a2 + 2xf + 2 = a a 2
2
woraus man die Behauptung abliest.
2 fx a+ , a
7.2 Kegelschnitte
119
2. Dies ist mehr oder weniger die Definition der Parabel. 7.2.16 Definition Es sei f : R2 → R eine (stetig differenzierbare) Funktion. Dann heißt die Menge Nf := {(x, y) ∈ R2 ; f (x, y) = 0} die Nullstellenmenge von f oder die durch f definierte ebene Kurve. Eine injektive Abbildung s : I → R2 f¨ ur ein Intervall I ⊂ R mit s(I) = Nf heißt Parametrisierung von Nf . Eine solche Parametrisierung heißt glatt, falls s stetig differenzierbar ist und s0 (t) 6= 0 f¨ ur alle t ∈ I gilt. 2
2
7.2.17 Beispiel 1. Es sei E := Nf f¨ ur f (x, y) := xa2 + yb2 − 1 eine Ellipse. Dann ist durch s : [0, 2π[→ R2 , t 7→ (a cos(t), b sin(t)) eine glatte Parametrisierung von E gegeben. 2
2
2. Es sei H : xa2 − yb2 = 1 eine Hyperbel. Dann ist s : R → R2 , t 7→ (a cosh(t), b sinh(t)) eine glatte Parametrisierung von E. 2
t 3. Es sei K : y 2 = 4f x eine Parabel. Dann ist s : R → R2 , t 7→ ( 4f , t) eine glatte Parametrisierung von K.
¨ Den Beweis dieser Beispiele u ¨berlassen wir dem Leser als Ubungsaufgabe. Mit Hilfe der letzten Ergebnisse lassen sich die bekannten fundamentalen Reflexionseigenschaften der Kegelschnitte recht einfach u ufen. ¨berpr¨ 7.2.18 Definition Es seien s : R → R2 eine glatte Parametrisierung einer ebenen Kurve K sowie P := s(t0 ) ∈ K. Dann heißt s0 (t0 ) ein Tangentialvektor von K in P . Ein Vektor n mit hn, s0 (t0 )i = 0 heißt ein Normalenvektor von K in P . 2
2
7.2.19 Satz Es sei E : xa2 + yb2 = 1 eine Ellipse mit den Brennpunkten F1 := (−f ; 0) und F2 := (f ; 0) und P ein Punkt auf der Ellipse, sowie nP ein Normalenvektor der Ellipse in P . Dann gilt ∠(nP , P F1 ) = ∠(nP , P F2 ). Beweis Es sei (x(t), y(t)) eine stetig differenzierbare Parametrisierung der Ellipse, die nach Beispiel 7.2.17 existieren. Damit erh¨alt man x(t) y(t) 2x(t)x0 (t) 2y(t)y 0 (t) 0 0 = 0. + = 0 =⇒ (x (t), y (t) , , a2 b2 a2 b 2 Damit ist n(t) := x(t) , y(t) ein Normalenvektor der Ellipse in (x(t), y(t)). Die Behauptung a2 b2 folgt nun aus dem ersten Teil des Lemmas 7.2.15 durch Nachrechnen. 7.2.20 Satz Es sei K : y 2 = 4f x eine Parabel mit Brennpunkt F = (f ; 0) und Leitgerade x = −f . Weiter sei P := (x; y) ein Punkt auf der Parabel mit Normalenvektor nP sowie Q := (x + 1, y). Dann gilt ∠(nP , P Q) = ∠(nP , P F ).
120
Bilinearformen und Kegelschnitte
Beweis Es sei wieder (x(t), y(t)) eine stetig differenzierbare Parametrisierung der Parabel. Dann gilt 2y(t)y 0 (t) − 4f x0 (t) = 0, d.h. n(t) = (−2f, y(t)) ist ein m¨oglicher Normalenvektor. Damit folgt die Behauptung wieder mit Hilfe von Lemma 7.2.15.
Kapitel 8 Geometrische Topologie und Transformationsgruppen In diesem Kapitel gehen wir auf topologische R¨aume und Transformationen geometrischer und topologischer Objekte ein. Wir erinnern zun¨achst an einige topologische Grundlagen.
8.1
Topologie
8.1.1 Definition Ein topologischer Raum (M, O) ist eine Menge M zusammen mit einem System O von Teilmengen ( offene Mengen“) von M , welches folgende Eigenschaften erf¨ ullt: ” 1. ∅, M ∈ O; 2. O1 , O2 ∈ O =⇒ O1 ∩ O2 ∈ O. S 3. Ist Oi ∈ O, i ∈ I, dann gilt i∈I Oi ∈ O. Ein topologischer Raum heißt Hausdorffsch, wenn es zu je zwei Punkten x, y ∈ M offene Mengen Ox , Oy ∈ O gibt mit x ∈ Ox , y ∈ Oy und Ox ∩ Oy = ∅. Eine Menge A ⊂ M heißt abgeschlossen, wenn M \ A ∈ O gilt, also das Komplement von A offen ist. 8.1.2 Beispiel Es sei M := Rn und O ⊂ Rn sei offen, falls es zu jedem x ∈ O ein ε > 0 gibt, sodass Uε (x) := {z ∈ Rn ; kx − zk < ε} ⊂ O gilt. Man rechnet schnell nach, dass man damit in der Tat einen topologischen Raum erh¨alt. Topologische R¨aume lassen sich vergleichen: 8.1.3 Definition Eine Abbildung f : X → Y zwischen topologischen R¨aumen heißt stetig, falls Urbilder offener Mengen wieder offen sind. Ist f bijektiv und stetig und ist auch f −1 stetig, so heißt f ein Hom¨oomorphismus.
122
Geometrische Topologie und Transformationsgruppen
8.1.4 Bemerkung Es ist leicht zu zeigen, dass im Fall des Beispiels 8.1.2 die in 8.1.3 gegebene Definition mit der klassischen metrischen Definition u ¨bereinstimmt. Im Folgenden geben wir eine klassische Konstruktion an, wie man aus bekannten topologischen R¨aumen neue topologische R¨aume erhalten kann. ¨ 8.1.5 Definition Es sei X ein topologischer Raum und R eine Aquivalenzrelation auf X. Wei¨ ter bezeichne man mit X/R den Raum der Aquivalenzklassen und π : X → X/R die kanonische Abbildung. Eine Teilmenge O ⊂ X/R heiße offen, falls ihr Urbild π −1 (O) ⊂ X offen ist. Den so erhaltenen topologischen Raum bezeichnet man als den topologischen Quotient von X nach R und die Topologie auf X/R heißt Quotiententopologie. 8.1.6 Bemerkung Die Quotiententopologie auf X/R ist die gr¨obste Topologie, sodass die Quotientenabbildung stetig ist. Der topologische Quotient besitzt eine gewisse universelle Eigenschaft: ¨ 8.1.7 Lemma Es seien X und Y topologische R¨aume und R eine Aquivalenzrelation auf X. Weiter sei f : X → Y stetig mit f (x) = f (y), falls x ∼ y. Dann gibt es genau eine stetige Abbildung f¯: X/R → Y mit f = f¯ ◦ π. ¨ Beweis Man definiere f¯([x]) := f (x), wobei x ein Repr¨asentant f¨ ur die Aquivalenzklasse [x] ist. Dies ist wohldefiniert, da f¨ ur y ∼ x nach Voraussetzung f (x) = f (y) gilt. Es bleibt die Stetigkeit von f¯ zu zeigen. Dazu sei O ⊂ Y offen. Dann ist auch π −1 f¯−1 (O) = f −1 (O) ⊂ X wegen der Stetigkeit von f offen. Nach Definition der Quotiententopologie ist dann auch f¯−1 (O) ⊂ X/R offen, also f¯ stetig. Man beachte, dass die Quotiententopologie oftmals uns vertraute Vorstellungen verletzt. ¨ 8.1.8 Beispiel Auf R sei die Aquivalenzrelation x ∼ y definiert durch x = ay f¨ ur ein a ∈ R \ {0}. Dann besteht der Quotientenraum aus zwei Punkten [0] und [1], wobei [1] ein offener Punkt ist, [0] jedoch nicht!
8.2
Gruppenoperationen
In diesem Abschnitt wiederholen wir die wichtigsten Grundlagen zu Gruppenoperationen auf topologischen R¨aumen. Eine Gruppe ist bekanntlich eine Menge zusammen mit einer assoziativen Verkn¨ upfung mit neutralem Element, sodass zu jedem Element ein inverses Element existiert. 8.2.1 Beispiel Es sei X eine Menge. Unter Bij(X) verstehen wir die bijektiven Selbstabbildungen von X. Diese bilden bzgl. der Verkettung von Abbildungen eine Gruppe.
8.2 Gruppenoperationen
123
8.2.2 Definition Es sei G eine Gruppe und X eine Menge. Eine Gruppenoperation von G auf X ist ein Gruppenhomomorphismus ψ : G → Bij(X). Gruppenoperationen sind also spezielle Abbildungen G × X → X. Wir werden uns fast ausschließlich auf Operationen beschr¨anken, bei denen die Gruppenelemente als Hom¨oomorphismen operieren. 8.2.3 Bemerkung Ist ψ : G → Bij(X) eine Gruppenoperation, so schreiben wir f¨ ur g ∈ G und x in X meist einfach gx anstatt ψ(g)(x). Dann gilt f¨ ur eine Gruppenoperation gerade(gh)x = g(hx) f¨ ur alle g, h ∈ G und x ∈ X sowie ex = x f¨ ur das Neutralelement e ∈ G. 8.2.4 Definition Es sei ψ : G → Bij(X) eine Gruppenoperation. Dann heißt die Operation 1. transitiv, falls zu jedem x, y ∈ X ein g ∈ G existiert mit gx = y, 2. effektiv, falls ψ injektiv ist. 8.2.5 Beispiel Es sei X := Rn und G := GLn (R). Dann operiert G auf X verm¨oge der u ¨blichen Gruppenoperation. Diese Operation ist transitiv und effektiv. Offenbar operiert damit auch jede Untergruppe von G auf X. Die Untersuchung derartiger Untergruppen wird das Hauptziel der folgenden Betrachtungen sein. Operiert G auf X, so wird durch x ∼ y genau dann, wenn es ein g in G gibt mit y = gx, eine ¨ Aquivalenzrelation auf X definiert. Man nennt Gx := [x] := {y ∈ X; ∃g ∈ G y = gx} die Bahn von x unter dieser Operation. 8.2.6 Lemma Es seien X ein topoglogischer Raum und ψ : G → Bij(X) eine Gruppenoperation, sodass f¨ ur jedes g ∈ G das Bild ψ(g) ein Hom¨oomorphismus von X ist. Dann ist die Quotientenabbildung π : X → X/G offen, d.h. Bilder offener Mengen sind offen. Beweis
Es sei O ⊂ X offen. Dann ist [ π −1 (π(O)) = GO := [O] := gO = {x ∈ X; ex. g ∈ G, y ∈ O x = gy} g∈G
als Vereinigung offener Mengen selbst offen. Nach Definition der Quotiententopologie ist dann auch π(O) offen. 8.2.7 Lemma Ist Iso(x) := Gx := {g ∈ G; gx = x} die sogenannte Isotropiegruppe von X, so ist G/Iso(x) → Gx, hIso(x) 7→ hx bijektiv.
124
Geometrische Topologie und Transformationsgruppen
Beweis Zun¨achst ist zu zeigen, dass die angegebene Abbildung wohldefiniert ist. Gilt h−1 1 h2 ∈ Iso(x), so gilt h−1 h x = x, also h x = h x. Weiter ist sie injektiv, da aus h x = h x sofort 2 1 2 1 2 1 −1 h h2 ∈ Iso(x) folgt. Die Surjekivit¨at ist klar.
8.3
Mannigfaltigkeiten
In diesem Abschnitt definieren wir Mannigfaltigkeiten und geben eine Beweisskizze f¨ ur den Klassifikationssatz kompakter zweidimensionaler Fl¨achen. 8.3.1 Definition Es sei X ein zusammenh¨angender Hausdorffscher topologischer Raum sowie n ∈ N. Man nennt X eine n-dimensionale Mannigfaltigkeit, falls es zu jedem Punkt x ∈ X eine Umgebung x ∈ U ⊂ X gibt, die hom¨oomorph zur offenen Einheitskugel Uε (1) ⊂ Rn ist. Ist X kompakt und gilt n = 2, so heißt X eine kompakte reelle Fl¨ache. 8.3.2 Beispiel
1. Es sei G := Z2 und die Operation von G auf X := R2 definiert durch G × X → X,
((m1 , m2 ), (x, y)) 7→ (x1 + m1 , y1 + m2 ).
Dann ist T := X/G eine kompakte reelle Fl¨ache, die man als Torus bezeichnet. Anschaulich entspricht X/G einem Rettungsring, bzw. einem Donut. 2. F¨ ur n ≥ 1 sei X := Rn+1 \ {0} sowie G := R∗ := R \ {0} und G × X → X,
(g, (x1 , . . . , xn+1 )) 7→ (gx1 , . . . , gxn+1 ).
Dann ist X/G eine kompakte n-dimensionale reelle Mannigfaltigkeit, der so genannte projektive Raum RPn . Man beachte, dass im Fall n = 2 der Raum RP2 gerade die projektive oder elliptische Ebene P2 aus 4.2.28 ist. Beweis ¨ 1. Dies u ¨berlassen wir dem Leser als Ubung. 2. Es seien π : X → X/G die Quotientenabbildung, bi := {x = (x1 , . . . , xn+1 ) ∈ Rn+1 ; xi = 1} ∼ U = Rn ,
bi ). 1 ≤ i ≤ n + 1, und Ui := π(U
Dann ist wegen π −1 (Ui ) = {x ∈ Rn+1 ; xi 6= 0} die Menge Ui offen in RPn . Weiter sei [x] := π(x) ∈ RPn mit x = (x1 , . . . , xn+1 ) ∈ X. Dann gibt es ein 1 ≤ i ≤ n + 1 mit xi 6= 0. Offenbar gilt xn+1 x1 bi , also π(y) = [x] ∈ Ui . ,..., ∈U y := xi xi
8.3 Mannigfaltigkeiten
125
Damit sieht man, dass RPn =
S
Ui gilt. Weiter ist die Einschr¨ankung bi → Ui π|Ubi : U
stetig und bijektiv. Aufgrund Lemma 8.2.6 ist π und damit auch π|Ubi eine offene Abbildung, d.h. auch (π|Ub )−1 ist stetig, somit ist π|Ubi ein Hom¨oomorphismus. Daher ist RPn eine Mannigfaltigkeit. Schließlich ist RPn wegen π(S n ) = RPn kompakt. Im Folgenden wollen wir die kompakten reellen Fl¨achen genauer studieren. Diese lassen sich durch so genannte Fl¨achenpolygone gut beschreiben: Unter einem Fl¨achenpolygon versteht man ein Polygon mit 2m Ecken und 2m Kanten, bei dem jede Kante eine Orientierung besitzt und je zwei Kanten mit dem selben Symbol bezeichnet werden:
Identifiziert man nun entsprechende Kanten gem¨aß ihrer Orientierung, so erh¨alt man z.B. im ersten Fall die Oberfl¨ache der Einheitskugel, die so genannte Einheitssph¨are, im zweiten Fall die projektive Ebene und im letzten Fall den Torus. Man kann diese Fl¨achenpolygone durch Fl¨achenworte beschreiben: 8.3.3 Definition Ein Fl¨achenwort ist eine Abfolge von 2n Buchstaben, bei der jeder Buchstabe mindestens zweimal auftritt und jeder Buchstabe durch eine Orientierung gekennzeichnet ist. 8.3.4 Beispiel Die Fl¨achenworte aa−1 , aa und aba−1 b−1 beschreiben die Sph¨are, die projektive Ebene sowie den Torus. Im Folgenden stellen wir eine Methode vor, wie man aus gegebenen Fl¨achen neue erhalten kann: 8.3.5 Definition Es seien X und Y Fl¨achen, AX ⊂ X und AY ⊂ Y zur Einheitskreisscheibe hom¨oomorphe Teilmengen sowie ψ : ∂AX → ∂AY ein Hom¨oomorphismus. Weiter sei auf ◦
◦
Z := (X \ AX ) ∪ (Y \ AY ) ¨ eine Aquivalenzrelation durch x ∼ ψ(x) erkl¨art. Dann versteht man unter der topologischen Summe X]Y von X und Y bzgl. ψ den Raum Z/ ∼.
126
Geometrische Topologie und Transformationsgruppen
Anschaulich werden aus X und Y also jeweils zwei Kreisscheiben entfernt und die verbliebenden R¨aume l¨angs der durch das Entfernen entstandenen R¨ander miteinander verklebt. 8.3.6 Bemerkung Es sei X eine topologische Fl¨ache und Y die Einheitssph¨are, so gilt X]Y ∼ = X. 8.3.7 Aufgabe Die topologischen Summen von n Tori bzw. von n projektiven Ebenen lassen sich durch die Fl¨achenworte −1 −1 −1 a1 b1 a−1 1 b1 . . . an bn an bn
bzw.
a1 a1 . . . an an
beschreiben. Wir wollen im Folgenden zeigen, dass jede kompakte Fl¨ache entweder hom¨oomorph zur Sph¨are oder zu einer der in Aufgabe 8.3.7 dargestellten Fl¨achen ist. Dabei geben wir eher eine informelle Beweisskizze und u ¨berlassen die Details dem Leser. Wir folgen an dieser Stelle der Darstellung aus W. Massey (vgl. [33]). 8.3.8 Definition Es sei X eine kompakte reelle Fl¨ache. Ein Simplex in X ist eine Einbettung des zweidimensionalen Standardsimplexes in X. Eine Triangulierung ist eine Zerlegung [ X= Si von X in Simplizes, derart, dass Si ∩ Sj Seite“sowohl von Si als auch Sj ist, d.h. es ist Bild ” einer Seite des entsprechenden Standardsimplex. Man kann zeigen, dass jede kompakte reelle Fl¨ache triangulierbar ist (Satz von Rado, vgl. ??). Diese Tatsache werden wir im Folgenden stillschweigend verwenden. 8.3.9 Lemma Es sei X eine reelle kompakte (triangulierbare) Fl¨ache. Dann gibt es ein Polygon P , sodass X aus P durch Identifikation geeigneter Kanten von P entsteht. Beweis Es sei eine Triangulierung S von X gegeben. Wir f¨ uhren Induktion nach der Anzahl von Simplizes in S. Dazu schreiben wir S = T1 , . . . , Tn sodass, jedes Dreieck“ Ti mit min” destens einem Dreieck Tj , 1 ≤ j ≤ i − 1 eine Ecke gemeinsam hat. Dies ist m¨oglich, da X zusammenh¨angend ist. F¨ ur n = 1 ist offenbar nichts zu zeigen. Im Fall n > 1 erf¨ ullt nach Induktionsvoraussetzung die durch S := {T1 , . . . , Tn−1 } definierte Teilfl¨ache die Behauptung. Es sei P 0 das zugeh¨orige Polygon und Tn0 ∼ = Tn ⊂ R2 das zu Tn hom¨oomorphe Dreieck. Verklebt man nun P 0 und Tn entsprechend der Triangulierung S, so erh¨alt man ein Polygon P , aus dem X durch Verkleben geeigneter Kanten entsteht. Wir brauchen nun einige Umformungsregeln f¨ ur Fl¨achenpolygone und -worte: 8.3.10 Lemma Es seien P ein Fl¨achenpolygon sowie E die Menge der Ecken von P . Nennt man zwei Ecken ¨aquivalent, wenn sie beim Verkleben identifiziert werden, so sei [E] die Menge ¨ ¨ der zugeh¨origen Aquivalenzklassen. Dann gibt es ein Fl¨achenpolygon P 0 mit nur einer Aquivalenzklasse von Ecken, sodass die zugeh¨origen Fl¨achen XP und XP 0 hom¨oomorph sind.
8.3 Mannigfaltigkeiten
127
¨ Beweis Einelementige Aquivalenzklassen k¨onnen nur auftreten, wenn Fl¨achenworte einen −1 Abschnitt aa enthalten. Diese aufeinanderfolgenden Kanten lassen sich gem¨aß Bemerkung 8.3.6 eliminieren. ¨ Es seien nun zwei mindestens zweielementige Aquivalenzklassen gegeben. Dann gibt es mindestens eine Kante, die zwei nicht ¨aquivalente Punkte verbindet. Die angrenzenden Kanten sind dann ebenfalls verschieden, da man sie sonst als Sph¨are eliminieren k¨onnte. Dann f¨ uhren wir die dargestellte Operation durch:
¨ Dadurch reduzieren wir die Elemente in einer Aquivalenzklasse. Offenbar kann man durch sukzessives Anwenden dieser Operation sowie die Sph¨arenelimination ein Fl¨achenpolygon mit ¨ nur einer Aquivalenzklasse erhalten, ohne dass sich der Hom¨oomorphietyp a¨ndert. 8.3.11 Lemma Treten in einem Fl¨achenwort zwei Kanten mit derselben Orientierung auf, so kann man annehmen, dass diese Kanten aneinander angrenzen. Beweis
Wir geben die entsprechende Operation wieder grafisch an:
128
Geometrische Topologie und Transformationsgruppen
8.3.12 Lemma Tritt in einem Fl¨achenwort ein Kantenpaar mit verschiedener Orientierung auf, so gibt es ein weiteres Kantenpaar mit unterschiedlicher Orientierung und wir k¨onnen annehmen, dass diese vier Kanten in der Form aba−1 b−1 auftreten. Beweis Angenommen, es tritt nur ein Kantenpaar in der Form ?a ? a−1 ? auf. Gem¨aß Lemma 8.3.11 k¨onnen wir dann annehmen, dass das Fl¨achenwort die Form x1 x1 . . . xm xm axm+1 xm+1 . . . xk xk a−1 xk+1 xk+1 . . . xn xn hat mit paarweise verschiedenen xi . Dann werden aber die Endpunkte von a und a−1 nicht identifiziert im Widerspruch zu Lemma 8.3.10. Die Aneinanderh¨angung der vier Kanten stellen wir wieder grafisch da:
8.3.13 Lemma Die topologische Summe eines Torus und einer projektiven Ebene ist hom¨oomorph zur Summe dreier projektiver Ebenen. Beweis Diesen Beweis kann man wieder u uhren und ¨ber das entsprechende Fl¨achenwort f¨ ¨ wir u ¨berlassen ihn dem Leser zur Ubung. Damit k¨onnen wir nun den Klassifikationssatz f¨ ur kompakte Fl¨achen beweisen: 8.3.14 Satz Jede kompakte reelle (triangulierbare) Fl¨ache ist entweder hom¨oomorph zu einer Summe von Tori oder einer Summe projektiver Ebenen. Beweis Wegen Lemma 8.3.9 k¨onnen wir die Fl¨ache durch ein Fl¨achenpolygon und damit durch ein zugeh¨origes Fl¨achenwort beschreiben. Aufgrund von Lemma 8.3.11 und von Lemma 8.3.12 k¨onnen wir annehmen, dass das Fl¨achenwort aus einer Abfolge von Tori und von projektiven Ebenen besteht. Tritt keine Ebene oder kein Torus auf, so sind wir fertig. Wenn beides auftritt, k¨onnen wir die Anzahl der Tori aufgrund von Lemma 8.3.13 um eins reduzieren. Damit folgt die Behauptung induktiv.
8.4 Gruppenoperationen auf dem Rn
8.4
129
Gruppenoperationen auf dem Rn
In diesem Abschnitt besch¨aftigen wir uns mit einigen allgemeinen Aussagen u ¨ber Gruppenoperationen auf dem Rn . Unser Hauptaugenmerk liegt dabei auf geometrisch relevanten Gruppen, wie etwa Untergruppen der GLn (R). Diese operieren kanonisch auf dem Rn und k¨onnen oftmals durch diese Operation charakterisiert werden. Die allgemeinste auf dem Rn operierende Gruppe ist die Gruppe Bij(Rn ) aller bijektiven Selbstabbildungen des Rn . Weitere prinzipiell interessante Gruppen sind Top(Rn ) := {f : Rn → Rn ; f Hom¨oomorphismus}, Diff(Rn ) := {f : Rn → Rn ; f bijektiv, f, f −1 differenzierbar} ( Diffeomorphismen“), ” welche Gegestand der Topologie oder der Differentialtopologie (bzw. Differentialgeometrie) sind und von uns hier nicht weiter untersucht werden sollen. F¨ ur uns wichtige Gruppen sind zum einen die Gruppe der Vektorraumautomorphismen von Rn , die bekanntlich nach Wahl einer Basis isomorph zur GLn (R) ist und wir im Folgenden damit identifizieren werden, und zum Anderen die Translationsgruppe T ∼ = Rn , welche auf dem Rn verm¨oge T × Rn → Rn , (t, x) 7→ x + t operiert. Die von diesen in Bij(Rn ) erzeugte Untergruppe ist die Gruppe AGLn (R) der affinen Transformationen des Rn . 8.4.1 Definition Es sei G eine Gruppe und M ⊂ G eine Teilmenge von G. Dann heißt \ hM i := H M j den Vektor ni,j := vi − vj und die Ebene Hi,j durch 1 Hi,j := {x ∈ Rn ; hni,j , xi = hni,j , (vi + vj )i}. 2 Dann gilt f¨ ur ` 6= i, j offenbar v` ∈ Hi,j und die Spiegelung σi,j an Hi,j bildet vi auf vj ab. Das Bild der kanonischen Einbettung DS → Sn enth¨alt somit alle Transpositionen. Da diese Sn erzeugen, folgt die Behauptung. 8.5.7 Aufgabe Man bestimme die Symmetriegruppen der regul¨aren Polyeder aus 6.3.11.
8.6
Untergruppen der speziellen linearen Gruppe
Abschließend betrachten wir noch Untergruppen der SL2 (R) = {A ∈ GL2 (R); det(A) = 1}. Die entscheidende Beobachtung zur Untersuchung a SL2 (R) → Isoo (H), A = c
dieser Gruppe ist die Surjektion az + b b 7→ z 7→ d cz + d
(8.1)
dieser Gruppe auf die orientierungstreuen Isometrien Isoo (H) der Hyperbolischen Ebene H (vgl. Bemerkung 4.3.5, Satz 4.4.3 und Bemerkung 4.5.2), welche bis auf Multiplikation der Matrix A mit dem Faktor −1 eindeutig ist. Wir beschr¨anken uns auf zyklische Untergruppen von Isoo (H), d.h. von einer M¨obiustransformation erzeugte Gruppen. Um das geometrische Verhalten einer derartigen Transformation besser az + b zu verstehen, untersuchen wir die Fixpunkte einer solchen Transformation M (z) := mit cz + d ad − bc = 1: Offenbar gilt az + b = z ⇐⇒ az + b = cz 2 + dz cz + d p a − d ± (a − d)2 + 4bc a−d 1p = ± ⇐⇒ z1/2 = (a + d)2 − 4. 2c 2c 2c
(8.2)
Daher gibt es f¨ ur a + d = ±2 genau einen Fixpunkt (auf der reellen Achse), f¨ ur |a + d| > 2 zwei Fixpunkte auf der reellen Achse sowie im Fall |a + d| < 2 genau einen Fixpunkt in H und einen in −H.
134
Geometrische Topologie und Transformationsgruppen
8.6.1 Definition Es sei M (z) :=
az + b , cz + d
a, b, c, d ∈ R,
ad − bc = 1,
eine M¨obiustransformation. Im Fall a + d = ±2 heißt M parabolisch, im Fall |a + d| > 2 hyperbolisch und im Fall |a + d| < 2 elliptisch. 8.6.2 Lemma Es sei z ∗ ∈ C ein Fixpunkt der M¨obiustransformation M , sowie S eine weitere M¨obiustransformation und T := SM S −1 . Dann ist S(z ∗ ) ein Fixpunkt von T und es gilt (f¨ ur S(z ∗ ) 6= ∞) T 0 (S(z ∗ )) = M 0 (z ∗ ). Beweis Die erste Aussage ist klar (vgl. Lemma 8.4.8). F¨ ur die zweite Aussage beachte man die f¨ ur beliebiges w ∈ C g¨ ultige Gleichung T 0 (w) = S 0 (M (S −1 (w))) · M 0 (S −1 (w)) ·
1 S 0 (S −1 (w))
.
Durch Einsetzen von z ∗ folgt die Behauptung.
Bekanntlich hat man (vgl. den Beweis von 4.4.9) f¨ ur eine M¨obiustransformation M ∈ Isoo (H) M 0 (z) =
1 . (cz + d)2
Im Fall zweier Fixpunkte z1/2 wie in (8.2) gilt M 0 (z1/2 ) =
4 0 0 2 =⇒ M (z1 ) · M (z2 ) = 1. p (a + d) ± (a + d)2 − 4
8.6.3 Korollar Im Fall einer parabolischen Transformation M mit einem Fixpunkt z ∗ gilt M 0 (z ∗ ) = 1. Hat M zwei Fixpunkte z1/2 , so gilt im hyperbolischen Fall M 0 (z1 ) > 1 und M 0 (z2 ) < 1 (bzw. umgekehrt) und in der elliptischen Situation |M 0 (zi )| = 1, i = 1, 2. Wir untersuchen im Folgenden das geometrische Verhalten der drei oben definierten Typen von M¨obiustransformationen: 8.6.4 Lemma Ist M eine parabolische Transfomation, so ist M konjugiert zu z 7→ z + b f¨ ur ein geeignetes b in R. Beweis Nach Definition gibt es genau einen Fixpunkt z ∗ von M . Dann gibt es eine M¨obiustransfomation S, die diesen auf ∞ abbildet. Wegen Lemma 8.6.2 ist dann ∞ der einzige Fixpunkt von T := SM S −1 . Dann ist aber T zwangsl¨aufig von der Form T (z) = z + b, wie man schnell nachrechnet. 8.6.5 Aufgabe Man zeige: In Isoo (H) ist z 7→ z + b f¨ ur b > 0 konjugiert zu z 7→ z + 1; in Iso(H) ist jede Abbildung z 7→ z + b, b 6= 0, konjugiert zu z 7→ z + 1.
8.6 Untergruppen der speziellen linearen Gruppe
135
8.6.6 Lemma Ist M hyperbolisch, so ist M konjugiert zu z 7→ kz mit k > 0. Beweis Gem¨aß Lemma 4.4.14 gibt es eine M¨obiustransformation S ∈ Isoo (H), die die zwei reellen Fixpunkte von M auf 0 und ∞ abbildet. Offenbar ist dann die konjugierte Abbildung T := SM S −1 von der Form T (z) = kz mit k > 0. Durch Konjugation mit z 7→ − z1 kann man in Lemma 8.6.6 sogar annehmen, dass k > 1 gilt. 8.6.7 Lemma Ist M elliptisch, so gibt es ein t ∈]0, 2π[\{π}, sodass M konjugiert ist zu einer Abbildung der Form cos(t)z − sin(t) z 7→ . sin(t)z + cos(t) Beweis Bei einer elliptischen Transformation sind die beiden Fixpunkte z1/2 aus (8.2) konjugiert komplex. Ohne Einschr¨ankung k¨onnen wir daher annehmen, dass z1 = i und z2 = −i gilt, also a − d = 0 und 4 − (a + d)2 = 4c2 (vgl. (8.2)). Dies impliziert aber 1 = a2 + c2 und somit gibt es ein t ∈ [0, 2π[ mit d = a = cos(t) und c = sin(t). Wegen 1 = ad − bc = cos2 (t) − b sin(t) folgt b = − sin(t) f¨ ur t 6= 0, π. Offenbar liegt in den beiden u ¨brigen F¨allen t = 0 oder t = π aber eine parabolische Transformation (bzw. die Identit¨at) vor. Umgekehrt rechnet man schnell nach, dass die angebene Form in der Tat eine elliptische Transformation ist. Da in (8.1) genau die beiden Matrizen A und −A die gleiche M¨obiustransformation liefern und cos(t + π) = − cos(t) und sin(t + π) = − sin(t) gelten, l¨asst sich das t in Lemma 8.6.7 auch immer in ]0; π[ w¨ahlen. 8.6.8 Aufgabe Es seien a, b, c, d ∈ R mit ad − bc = 1 sowie az + b a b A := und MA (z) := c d cz + d die zugeh¨orige M¨obiustransformation. Weiter seien λ1 und λ2 die Eigenwerte von A und z1 bzw. 1 z2 die Fixpunkte von MA . Man zeige, dass dann (bis auf Reihenfolge) MA0 (zi ) = 2 gilt. λi Als abschließende Folgerung erhalten wir letztendlich eine Spezialfassung des Hauptsatzes u ¨ber die Jordansche Normalform f¨ ur die SL2 (R): 8.6.9 Korollar
a b A := ∈ SL2 (R). c d
Dann ist A in SL2 (R) konjugiert zu einer der folgenden Matrizen: cos(t) − sin(t) 1 ±1 λ 0 , |λ| > 1, , t ∈ [0; 2π[, oder ± . sin(t) cos(t) 0 1 0 λ1
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