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Eine Allgemeine Theorie Der Politik

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Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info Eine allgemeine Theorie der Politik - Evolution und Devolution Volker von Prittwitz (24. Mai 2016) 1. Das Begriffsfeld der Politik Politik lässt sich am besten in Abgrenzung zu anderen grundlegenden Begriffen, so Kommunikation, Interaktion, Gesellschaft, Governance und Staat, verstehen. 1.1 Kommunikation ist der Austausch oder die Übertragung von Information. Dabei verständigen und versichern sich die Beteiligten zumindest latent über den Charakter ihrer Beziehung (Beziehungs-Kommunikation). Auf dieser Grundlage können sie sich über ihre Wirklichkeitswahrnehmungen (SachKommunikation inklusive Ästhetischer Kommunikation und Reflexion) und ihre normativen Vorstellungen (Befehle, Erwartungen, Normenhorizonte) austauschen. Dieser Austausch kann unmittelbar oder technisch und organisatorisch vermittelt geschehen. 1.2 Interaktion bezeichnet zielgerichtetes Tun oder Unterlassen gegenüber anderen Akteuren. Dabei werden zwar auch Kommunikationsanforderungen bewältigt. Interaktion verändert oder stabilisiert aber gezielt Wirklichkeit. So bedeutet ein Friedensschluss, dass die herrschenden Interaktionsregeln von Krieg auf Frieden umgestellt werden - etwas anderes, als über einen Friedensschluss zu informieren oder hiervon Kenntnis zu erhalten. 1.3 Der weiteste Rahmen regelmäßiger Interaktion und Kommunikation wird als Gesellschaft bezeichnet. Mit der vor sich gegangenen und gehenden Globalisierung besteht so zunehmend eine Weltgesellschaft. 1.4 Governance bedeutet institutionelle Koordination. Hierbei bezeichnet Koordination die Abstimmung von Akteur-Verhalten, institutionell allgemein anerkannte Muster und Strukturen. Damit sind aus dem Governance-Begriff ausgeschlossen: 1 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info a) Verhaltensmuster, die nicht koordinierend wirken, so Formen einseitigen Handelns, sowie übergreifende Koordinationsversuche, die sich nicht durchsetzen können, b) Koordinationsstrukturen ohne allgemeine Anerkennung, so kriminelle und terroristische Netzwerke, c) Krieg (in dem sich Akteure gegenseitig vernichten wollen - das Gegenteil gemeinsamer Abstimmung). 1 1.5 Der Staat verkörpert das Ganze gemeinsamer Interessen, Werte und Normen der in einem Territorium lebenden Bevölkerung. Er ist damit autoritative Instanz der prozessualen Rahmung, Durchsetzung und Umsetzung allgemeinverbindlicher Entscheidungen. 1.6 Politik ist die Sphäre, in der allgemeinverbindliche Entscheidungen ausgehend von konkurrierenden Akteur-Motiven zustande gebracht werden; sie ist idealtypisch also staatlichem Handeln vorgeschaltet. Sind hierbei die Beteiligten geschützt, so etwa durch machtunabhängig geltende Rechte und Freiheiten, so besteht Politik im Besonderen. Politische Lösungen in diesem Sinne erfordern Respekt für alle Beteiligten und ihre Mitwirkungsmöglichkeit. 1.7 In der Zusammenschau ergibt sich folgendes Begriffsfeld (Figur 1: Das Begriffsfeld der Politik) G e s e l l s c h a f t Staat: Autoritative Umsetzung allgemeinverbindlicher Entscheidungen Politik: Bildung allgemein Politik im Besonderen: Bildung allgemeinverbindlicher Entscheidungen durch geschützte Teilnehmer Politik: Bildung allgemeinverbindlicher Entscheidungen Governance: Institutionelle Koordination Kommunikation: Verständigung Interaktion: Wechselseitiges Handeln 1 Zu einem Überblick von Governance-Typen siehe: Prittwitz, Volker 2016: Governance. Eine Typologie institutioneller Koordination: http://diberlin.info/index_htm_files/Governancetypologie.pdf 2 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info 2. Politik-Dimensionen 2.1 Politik ist komplex, womit sie sich nur in mehreren unterschiedlichen Dimensionen verstehen lässt. In diesem Sinn werden seit den 1980er Jahren drei analytische Dimensionen der Politik unterschieden: Policy (für Politikinhalte/Politikfelder), Politics (für den politischen Prozess), und Polity (für politische Systeme).2 Die Bedeutung dieser Konzepte und ihre logischen Beziehungen untereinander sind allerdings genauer und systematischer zu bestimmen. 2.2 Dimensionen dienen grundsätzlich der unabhängigen Bemessung von Sachverhalten; dementsprechend haben sie strikt unabhängig zu sein - eine allgemeine Feststellung, die auch für die Politikdimensionen gilt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass unabhängig gemessene Sachverhalte unterschiedlicher Dimensionen nicht verglichen und nicht vergleichend dargestellt werden könnten. Auch können sich Sachverhalte unterschiedlicher Politikdimensionen gegenseitig beeinflussen. 2.3 Inhaltlich lassen sich die drei angegebenen Politikdimensionen im Anschluss an definierte Begriffe des dargestellten Begriffsfelds folgendermaßen bestimmen:  Da Politik von konkurrierenden Akteur-Zielen ausgeht und allgemein akzeptierte Entscheidungen bilden soll, ist Interaktion in ihr zwingend notwendig. Dabei geht es insbesondere darum, wer sich mit welchen Motiven an Politik bzw. Governance beteiligt und wer sich in welchem Grade und in welchen Formen gegenüber anderen Akteuren durchsetzt (Einfluss/Macht). Diese Fragen werden in der Interaktions- oder ProzessDimension der Politik (politics) untersucht.  Politik im Besonderen hebt sich von Politik im weiten Sinn durch den Schutz ihrer Teilnehmer, insbesondere durch institutionell gesicherte Freiheiten und Rechte gegenüber gegebener Macht, hervor. Etwas 2 Obwohl die verwendeten Termini dem Anglo-Amerikanischen entstammen, ist der mehrdimensionale Politikbegriff im Anglo-Amerikanischen nicht verbreitet. Soweit ich weiß, hat sich das Modell in der MittelEuropäischen Politikwissenschaft ausgehend von der am 22./23. November in Hannover stattgefundenen Konferenz Zum Verhältnis der Policy-Forschung/Policy-Studies zu den Kernbereichen des Fachs entwickelt, publiziert als: Hartwich, Hans Hermann (Hrsg.) 1985: Policyforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Selbstverständnis und ihr Verhältnis zu den Grundfragen der Politikwissenschaft, Opladen, Westdeutscher Verlag, im Netz: http://www.springer.com/de/book/9783531117553 3 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info politisch lösen ist etwas anderes als Krieg zu führen. Dementsprechend geht es in der Polity-Dimension nicht allgemein um System-Strukturen, sondern darum, wieweit macht-unabhängige Institutionen, insbesondere Freiheiten und Schutzrechte, bestehen. Die Dimension ist demzufolge als institutionelle Dimension zu bezeichnen und zu operationalisieren.  Da Politik allgemein akzeptierte Entscheidungen produzieren soll, stellt sich die Frage nach Sinn und Qualität solcher Entscheidungen und Programme. Diese inhaltliche Dimension von Politik (auch Politikfeldoder Policy-Dimension) impliziert besondere Untersuchungskriterien, so etwa Wirkungskriterien öffentlichen Handelns (Wirkungstiefe, Wirkungsbreite, Wirkungsgenauigkeit, Wirkungsgeschwindigkeit), Kosten- und Effizienz-Kriterien sowie Fairness (Gerechtigkeits-)Kriterien. 2.4 Neben den dargestellten funktionalen Dimensionen können weitere Dimensionen von politikanalytischer Bedeutung sein. So kann sich Politik auf unterschiedlichen sozialen Ebenen vollziehen, von der Mikro-Ebene im personellen Umfeld über die etwa auf Vereine und Verbände bezogene MesoEbene bis zur - üblicherweise mit Politik assoziierte - gesamt-gesellschaftliche Makro-Ebene. Räumliche Ebenen der Politik reichen von der lokalen über die regional-subnationale, nationale, inter-, trans- und supranationale Ebene bis zur globalen Politikebene. Abgesehen von bestimmten Politik-Ebenen kann die Frage von Bedeutung sein, ob Politik auf nur einer Ebene (Ein-Ebenen-Politik) oder auf mehreren Ebenen (Mehrebenen-Politik) operiert. 2.5 Wie alle sozialen Prozesse, vollzieht sich Politik in der Zeit-Dimension. Hierbei ist die Unterscheidung politischer Situationen und mehr oder weniger langer politischer Prozesse von Bedeutung. Schließlich werden mit der Verortung bestimmter politischer Geschehnisse in einer bestimmten Zeit bestimmte (zeit)historische Kontexte als gegeben angesehen. Da derlei Kontexte auch räumlich bestimmt sind, liegt es nahe, eine Raum/ZeitDimension der Politikanalyse zu bilden. 2.6 In konkreten Analysen kann es sinnvoll sein, weitere Politik-Dimensionen zu berücksichtigen. Insofern ist der dimensionale Raum der Politikanalyse prinzipiell offen. 4 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info Figur 2: Politik-Dimensionen Inhalt Soziale Raum/Zeit Ebene PolitikDimensionen Interaktion Institution 3. Politik-Typen 3.1 Politik variiert in den dargestellten Dimensionen. In der Zusammenschau dieser Dimensionen ergeben sich einige grundlegende Politik-Typen. 3.2 Operiert Politik nur in der Dimension der Interaktion, so ist sie machtorientiert; sie nutzt Kapazitäten institutioneller Unabhängigkeit und eigenständiger inhaltlicher Entwicklung für die Allgemeinheit nicht. Tabelle 1: Machtbornierte und Entfaltete Politik Interaktion (Machtpolitik) Unabhängige Institutionen Substantielle Entscheidungen Machtorientierte Politik X - - Entfaltete Politik (Politik im Besonderen) x X x 3.3 Politik mit einem hohen Grad institutioneller Unabhängigkeit und substantiellen Politikprogrammen operiert demgegenüber in unterschiedlichen Dimensionen, so der Interaktions-Dimension, der institutionellen Dimension und der inhaltlichen Dimension (Entfaltete Politik). Damit werden Potentiale institutioneller Unabhängigkeit und inhaltlicher Politikdiskurse genutzt und gefördert - üblicherweise Motivation und Anreiz zu höheren Leistungen. 5 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info 3.4 Entfaltete Politik in diesem Sinne entspricht dem dargestellten Typus von Politik im Besonderen. Denn sie operiert mit institutionalisiertem Teilnehmerschutz und ist als besondere Sphäre ausdifferenziert. 3.5 Wird Politik ausschließlich an Interessen und Bedürfnissen einer Politikebene ausgerichtet, so ist sie Ein-Ebenen-Politik. Beispielsweise operiert lokale Politik zunächst nur auf lokaler Ebene; aber auch wenn Lokalpolitiker ihre lokalen Interessen auf regionaler oder gar nationaler Ebene verfolgen, betreiben sie Ein-Ebenen-Politik. Nach demselben Muster kann nationale EinEbenen-Politik bis zu nationalistischem Expansionismus (Chauvinismus) reichen, der bestimmte nationale Sichtweisen und Ziele grenzüberschreitend ausbreiten und anderen aufpressen will. 3.5 Auch einebenig globale Politik, durch die kollektive Interessen der Menschheit ohne angemessene Berücksichtigung nationaler und subnationaler Interessen verfolgt werden, ist denkbar. Ohne Machtgrundlage einer etablierten globalen Politikebene erscheint ein solcher Politik-Typ allerdings zurzeit als irrelevant. Eine relevante Alternative zu einebeniger Politik bildet dagegen Mehrebenen-Politik unter Einschluss globaler Handlungsanforderungen. In einer solchen Politik werden Handlungsanforderungen unterschiedlicher Politikebenen, von der lokalen bis zur globalen Ebene, abgewogen und institutionell wie inhaltlich kombiniert. 3.7 In der Zusammenschau der dargestellten Politik-Typen ergibt sich zunächst mehrebenig entfaltete Politik. In diesem Politik-Typus, der auch als Mehrebenen-Bürgerschaft bezeichnet werden kann, wird institutioneller Teilnehmerschutz zu einer Herausforderung im Spannungsfeld zwischen lokaler, nationaler und globaler Institutionalisierung. Auch substantielle Politik unterliegt nicht mehr nur lokalen und nationalen, sondern auch eigenständigen globalen Beurteilungskriterien (wie dem globalen Klimaschutz).3 3.8 Dem steht einebenig machtorientierte Politik gegenüber, die machtpolitische Anforderungen einer Ebene, so der nationalen Ebene, verabsolutiert. Akteure anderer Nationalstaaten und Ebenen erscheinen dabei 3 Genaueres dazu siehe unter: Prittwitz, Volker von 2016: Multi-Level Citizenship. A chance for overcoming deficits of global governance: http://diberlin.info/multi-level%20governance.htm sowie ders.: Levels of Citizenship. The case of refugee policy: http://diberlin.info/levels%20citizenship.htm 6 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info vor allem als Bedrohung oder gar Feinde. Übergreifender Teilnehmerschutz und übergreifend globale Politikdiskurse erscheinen überflüssig oder sogar schädlich. 3.9 Besondere analytische Herausforderungen ergeben sich durch die kreuzweise Kombination der dargestellten Idealtypen. So fragt es sich, ob Einebenen-Politik im Zeichen globaler Herausforderungen überhaupt als entfaltete Politik operieren kann (wohl nicht). Mehrebenige machtbornierte Politik dagegen ist gerade in totalitären Systemen durchaus möglich. Dabei werden eigenständige institutionelle Ebenen-Anforderungen ausgeblendet oder entsprechende Bemühungen unterdrückt. 4. Politikleistungen 4.1 Was Politik prozessual leisten soll, ergibt sich grundsätzlich aus dem dargestellten Begriffsfeld: Während der Staat allgemeinverbindliche Entscheidungen autoritativ rahmt, durch- und umsetzt, besteht die besondere Aufgabe der Politik darin, ausgehend von konkurrierenden Akteur-Motiven (Interessen, Werten usw.) allgemeinverbindliche Entscheidungen zustande zu bringen. 4.2 Spezifischere Politikanforderungen variieren mit dem jeweils realisierten Politik-Typ: Während machtorientierte Politik darauf fokussiert ist, Macht zu erlangen, zu stabilisieren oder/und auszuweiten, wird entfaltete Politik vor allem an ihrer inhaltlichen Steuerungsqualität gemessen. In diesem Sinne sind breite Partizipation, vor allem aber die inhaltliche Qualität von Programmen und Entscheidungen wesentlich. Weiterhin können politische Impulse zur Umsetzung (Bottom-up Implementation) und laufendes Politiklernen als Leistungskriterien betrachtet werden. 4.3 Modelle des Policy Cycle beziehen sich auf entfaltete Politik.4 Ausgehend von der qualitativen Differenzierung zwischen Politik im Besonderen und Staat ergeben sich die in Figur 3 (folgende Seite) dargestellten Zuordnungen. So sind Initiative, Willensbildung, Entscheidungsprozesse und Lernen vorwiegend 4 Einige zusammengefasst Feststellungen zur Geschichte und zum Diskussionsstand des Modells siehe bei: https://de.wikipedia.org/wiki/Politikzyklus 7 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info politische Aufgaben, während die Durchsetzung und Implementation getroffener Entscheidungen vorwiegend Staatsaufgaben bilden. Figur 3: Politik- und Staatsleistungen im Zyklus entfalteter Politik Entscheidungsprozess Willensbildung Implementation Staat Politik Initiative Lernen Politik 4.4 Übernehmen formal staatliche Apparate, etwa der öffentlichen Verwaltung, Funktionen von Willensbildung, offener Entscheidung und laufendem Lernen, so politisieren sie sich. Umgekehrt können politische Akteure Implementationsaspekte reflektieren. 4.5 Hat der Staat charakteristische Leistungen (Funktionen) für die GesamtGesellschaft zu erbringen, so ist auch entfaltete Politik in diesem Sinne gefordert. Dabei hat sie allerdings ihre besonderen Leistungspotentiale, Initiative, Willensbildung, Entscheidungsfindung und Lernen bei konkurrierenden Akteur-Motiven, in den Mittelpunkt zu stellen. 4.6 Beginnen wir mit den klassischen Staatsfunktionen der inneren und äußeren Sicherheit: Unter diesen Gesichtspunkten geht es in der öffentlichen Diskussion traditionell um das staatliche Gewaltmonopol - ein Muster, das auch in einem Staat, der unabhängig geltende Freiheiten und Rechte schützen will, von grundlegender Bedeutung ist. Gerade Politik im besonderen Sinne setzt einen starken, schutzfähigen Staat voraus. Mit der Entwicklung speziell politischer Systeme und Prozesse politisieren sich allerdings auch Sicherheitsfragen. Insbesondere existentielle Entscheidungen über Krieg und Frieden haben in einer modernen Gesellschaft öffentlich-politisch reflektiert zu geschehen. Dass dies praktisch möglich ist, aber keineswegs immer geschieht, zeigt sich bis in die Gegenwart hinein - siehe aktuell den Syrien-Krieg. Eine 8 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info wichtige Variable dafür ist die öffentlich-politische Sensibilität für Vorformen und wachsende Risiken kriegerischen Denkens. 4.7 Auch der Schutz der Rechtsordnung, eine zweite klassische Staatsfunktion, erscheint zunächst als hoheitliche Staatsaufgabe. Noch deutlicher als bei Fragen der äußeren und inneren Sicherheit wird hier die gewachsene Bedeutung der Politik: Politische Angriffe gegen institutionell geschützte Politik, so extremistische und fundamentalistische Bewegungen, können nur in einem politischen Rahmen effektiv gekontert werden. Denn über die geltende Rechtsordnung wird letztlich politisch entschieden. Hierbei spielen nicht nur symbolische Politik-Formen, beispielsweise Demonstrationen, eine Rolle, sondern vor allem auch das kenntnisreiche Verstehen von Politik und entsprechende politische Bildung. Informelle Verbotsnormen zum Schutz freier Politik, so Political Correctness, und formelle Schutz-Normen des Staates, bilden dabei ambivalente Governance-Formen. Werden sie überzogen eingesetzt, können sie nämlich allgemeine Freiheiten und Rechte über Gebühr einschränken und damit selbst zu einer Gefahr für die Rechtsordnung werden. Bewusste Rechtspolitik verlangt daher beides, externe wie interne Gefährdungen der Rechtsordnung wahrzunehmen und zu kontern. 4.8 Optimale Infrastruktur zu schaffen und zu pflegen dürfte wohl die am meisten unterschätzte öffentliche Aufgabe sein; denn ohne ausreichende Infrastruktur, zum Beispiel ohne öffentliche Plätze und Einrichtungen, Verkehrs- und Transporteinrichtungen, Strukturen der Energieversorgung und öffentliche Kommunikationstechnik kann keine (moderne) Gesellschaft funktionieren. Auch weittragende Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen über derlei Strukturen werden aber traditionell primär als Angelegenheit von Experten und öffentlicher Verwaltungen angesehen. Immerhin hat sich dieser Aufgabenbereich zumindest in den entwickelten Ländern in hohem Maße politisiert - insbesondere sichtbar anhand anhaltender heftiger Kontroversen über verkehrspolitische Projekte und energiepolitische Entscheidungen. Politik in ihrer besonderen Bedeutung ist hier mehr denn je gefragt mit immer substantielleren Vorlagen für die öffentliche Willensbildung und politische Entscheidungsprozesse. 9 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info 4.9 Wirtschaftspolitik: Es gibt kaum einen Bereich, dessen politische Legitimation so umstritten ist wie die Wirtschaftspolitik. Während Wirtschaftsund Finanzfragen in manchen Ländern traditionell dem Markt (also den mächtigsten Wirtschafts- und Finanzunternehmen) überantwortet werden, erscheinen Staat und Experten als selbstverständliche Regelinstanz in anderen Ländern. Dabei ist der hochpolitische Charakter dieser Politikfelder seit langem überdeutlich. Während dieser Sachverhalt lange Zeit anhand einfacher KonfliktModelle, etwa anhand eines Klassenkampf-Modells zwischen ArbeitgeberInteressen und Lohn-Interessen (Angebots- und Nachfragepolitik) öffentlich beurteilt wurde, ist inzwischen klar, dass viele unterschiedliche Zielparameter in dieses Politikfeld einfließen - siehe den optimalen Einsatz von Arbeit, Boden und Kapital (Allokationsziele) sowie diverse Kriterien der Einkommens-, Vermögens-, Leistungsrechtigkeit (Verteilungsziele). Spezielle Kriterien sind unter anderem Wettbewerbsschutz und -förderung, die allgemeine Versorgung mit öffentlichen Gütern, Umweltschutz und Nachhaltigkeit, Stabilisierung von Beschäftigung und Preisniveau, die Steigerung von Einkommen und Versorgung, steigende Anpassungsflexibilität und eine Angleichung regionaler Lohn-, Wohn- und Freizeitwerte.5 Diese unterschiedlichen Gesichtspunkte werden üblicherweise, wenn überhaupt, jeweils für sich politisch diskutiert siehe beispielsweise die Diskussion über das US-europäische Angleichungsvorhaben TTIP. 4.10 Auch die Steuerpolitik und Finanzpolitik sind von großer wirtschaftspolitischer Bedeutung, eine der zahlreichen Überschneidungen von Politikfeldern, reichen aber deutlich über die Wirtschaftspolitik hinaus. So betrifft die Steuerpolitik Grundfragen im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern, und die Finanzpolitik ist gleichbedeutend mit allen Maßnahmen, die die Haushalte von Staat (nationalen Staaten, supranationalen Organisationen, subnationalen Staaten, so den deutschen Ländern) und Kommunen betreffen. 4.11 Auch Kriminalitätsbekämpfung (Bekämpfung von Geldwäsche, Steuerhinterziehung, organisierter Kriminalität, Einbruchkriminalität, politischer Kriminalität und des ganzen Spektrums von Gewaltverbrechen), eine klassische Staatsfunktion, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich politisiert. Vermittelt über kritischen Journalismus, politische Initiativen und 5 https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftspolitik 10 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info Bewegungen, Nichtgouvernementale Organisationen (NGOs) und zunehmend das ganze Parteien-Spektrum werden diverse politische Aspekte von Kriminalitäts-Problemen (Bedrohungen, gesellschaftliche und ökonomische Hintergründe, Güterabwägungen) öffentlich politisch thematisiert. 4.12 Sozialpolitik: Im Unterschied zu anderen Politikfeldern mit langer staatlicher Tradition hat die Sozialpolitik primär eine soziale Tradition. So galt das Helfen in der Form des Almosengebens von der Antike bis in die frühe Neuzeit hinein als - meist religiös fundiertes - gutes Tun des Einzelnen ohne jede Verpflichtung. Erst mit dem Aufkommen der Arbeiterbewegung und staatlich-politischen Befriedungsversuchen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand die moderne Sozialpolitik im Sinne staatlich festgelegter Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation insbesondere benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen. Die daneben bestehende Tradition betrieblicher sozialpolitischer Maßnahmen lässt sich allerdings weiter zurückverfolgen, so etwa dem sozialen Bauprogramm der Augsburger Fuggerei (1521).6 4.13 Die in den modernen Wohlfahrtsstaaten bestehenden sozialpolitischen Programme (Arbeitslosen-Programme, Rentenpolitik, Gesundheitspolitik) sind immer wieder Gegenstand kontroverser politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse. Im internationalen Vergleich zeigen sich dabei unterschiedliche politische Kulturen, die Gegenstand der politikwissenschaftlichen Forschung sind.7 4.14 Forschungs- und Bildungspolitik: Bildung, Forschung und Innovation sind von überragender Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften in der Moderne. Klassischer Adressat dieser Einsicht, die sich in Mitteleuropa ausgehend von modernen Pädagogen bereits seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert entwickelt hat und inzwischen in Ländern aller Kontinente Widerhall findet, ist der Staat; Ihre Verbreitung und praktische Umsetzung setzt aber entsprechende Bildungs- und Forschungspolitik, einer Tatsache, die erst zögerlich in das öffentlich-politische Bewusstsein dringt. 6 https://de.wikipedia.org/wiki/Fuggerei Zum Überblick: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/55072/wohlfahrtsstaatlichegrundmodelle?p=all 7 11 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info 4.15 Umweltpolitik und ökologische Nachhaltigkeit: Wie die moderne Sozialpolitik, so war auch die Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik historisch vor allem Produkt einer politischen Bewegung, der Umweltbewegung. Und noch immer sind hier Wechselprozesse zwischen Alltags-Engagement, Experten, Nichtverwaltungs-Organisationen (NGOs) und staatlichen Einrichtungen besonders intensiv. Dabei wird die Notwendigkeit, in Mehrebenen-Systemen bis hin zur globalen Ebene zu denken und zu handeln, besonders deutlich. 4.16 Familien- und Gender-Fragen: Während Fragen der Familie und persönlicher Beziehungen in der politischen Philosophie traditionell als politikextern oder sogar dem Bereich von Staat und Politik entgegengesetzt gedacht wurden (Aristoteles, John Locke und andere), rücken inzwischen Regulierungsfragen im öffentlichen Umgang mit Familienversorgung, Sexualität und Geschlechterrollen zunehmend in den Mittelpunkt politischer Kontroversen. 4.17 Spannungen zwischen Religion(en) und säkularer Herrschaft spielten in allen Zeiten neuerer menschlicher Zivilisation eine Rolle - bis hin zu Religionskriegen und Verfolgungswellen von Religionsangehörigen der jeweils falschen Konfession (Minderheitsproblematik). Mit zunehmender Globalisierung, in der Angehörige unterschiedliche Kulturen mit unterschiedlichen Bezügen zur Moderne aufeinandertreffen, ergeben sich neue Regulierungskonflikte: Während Religion in religionsdominierten Staatsformen durch Religionsministerien und Religionspolizei herrschaftlich umgesetzt wird, bildet die offene Gesellschaft mit ihrer ausdifferenzierten Politik im Besonderen (Religionsfreiheit) einen Regulierungsrahmen für unterschiedliche Religionen. Dabei sind zivile und herrschaftsorientierte Religionen zu differenzieren und beides sicherzustellen, die freie Ausübung von Religion und der Schutz der offenen Gesellschaft vor anachronistischen Herrschaftsformen eine enorme staatliche und politische Herausforderung. Denn nicht nur religionsbegründete Gewalt steht im Gegensatz zu Verfassungsnormen der offenen Gesellschaft, sondern jede religiöse Herrschaft, so die Verankerung von Praktiken der Scharia. Hier stoßen Moderne und Vormoderne aufeinander, eine enorme politische Herausforderung. 12 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info 5. Politik-Kosten und Politik-Effizienz Parlaments- und Regierungsgebäude, Parteienfinanzierung, Fraktionsgelder, Diäten, Renten, Politikerzahl: Politik ist, wie jede systematische Tätigkeit, mit einer Vielzahl von Kosten verbunden. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um psychische Kosten, die in relativ komplexen und oft wenig ergiebigen politischen Koordinationsprozessen für die Beteiligten entstehen. Lohnt es sich angesichts dessen Politik zu machen? Wer Politik bewerten und erklären will, hat auch an die Entwicklung von Politik-Kosten und ihre Relationen zu PolitikLeistungen zu denken (Politik-Effizienz). 6. Evolution der Politik 6.1 Der Begriff der Evolution wird vorwiegend mit Charles Darwins Theorie der natürlichen Selektion und der biologischen Evolutionsgeschichte der Arten assoziiert.8 Daneben gibt es seit dem 19. Jahrhundert ein Spektrum politischkultureller Evolutions-Theorien, kulminierend in Niklas Luhmanns evolutionär inspirierter soziologischer Systemtheorie.9 Schließlich war es vor allem im marxistischen Sprachgebrauch lange Zeit üblich, einander Evolution und Revolution gegenüber zustellen, wobei nur Revolution einen wahren Umbruch bezeichnete, während Evolution reformistische Anpassungsprozesse kennzeichnete. 6.2 In erklärtem Gegensatz zur kulturrelativistischen Auffassung, es gäbe nur nicht bewertbare sozio-kulturelle Verschiedenartigkeiten, nehme ich mit dem Begriff Evolution der Politik das Konzept der Entwicklung politikbezogen auf. Demnach erbringt entfaltete Politik im Besonderen charakteristische HöherLeistungen für die Gesamtgesellschaft, so vor allem die Möglichkeit politischer Willens- und Entscheidungsbildung zwischen institutionell geschützten Teilnehmern: Damit können allgemeinverbindliche Entscheidungen zustande kommen, die dem allgemeinen Wohl mit dem Wohl von Minderheiten dienen. 8 Charles Darwin 1859: The Origin of Species: https://de.wikisource.org/wiki/Entstehung_der_Arten In den 1930er Jahren wurde die von Darwin herausgestellte natürliche Selektion mit den Mendelschen Regeln zur Vererbung verbunden, woraus die Synthetische Theorie der Evolution entstand. Durch ihre deskriptiven und kausalen Aussagen wurde diese Theorie zum zentralen organisierenden Prinzip der modernen Biologie und liefert eine fundierte Erklärung für die Vielfalt des Lebens auf der Erde (nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Evolution) 9 Siehe zum Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/Soziokulturelle_Evolution; speziell Luhmann Niklas: Theorie der Gesellschaft: Politik http://www.cs.unsyiah.ac.id/~frdaus/PenelusuranInformasi/File-Pdf/politik-der-gesellschaft.pdf 13 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info Im Besonderen werden dadurch friedliche Formen eines integrierten Miteinanders möglich. 6.3 Die Evolution von Politik vollzieht sich als Prozess funktionaler Ausdifferenzierung: Während Politik in der Vormoderne vermischt mit anderen Gesellschaftsfunktionen stattfand, so mit dem Austrag militärischer Konflikte (der Adel als militärische und politische Herrschaftsklasse), religiöser Macht (Herrschaftliche Religion) oder/und ökonomischer Macht (der größte Bauer als Bürgermeister), differenzieren sich mit der Evolution der Politik spezifisch politische Zwecke, Kommunikations- und Interaktionsformen, vor allem spezifische Formen der politischen Willens- und Entscheidungsbildung gesellschaftlich aus. Es entsteht, gestützt auf entsprechende Schutzrechte und Freiheiten für alle an Politik Beteiligten, ein besonderes politisches System; und auch ohne ein festes politisches System, so in der internationalen Politik, unterscheiden sich spezifisch politische Verfahren klar von militärischen, religiösen, administrativen oder ökonomischen Abläufen. 6.4 Diese funktionale Ausdifferenzierung der Politik korrespondiert mit der Ausdifferenzierung anderer gesellschaftlicher Subsysteme, so spezifischer Formen des Rechts, der Ökonomie, der Verwaltung, der Religion oder der Wissenschaft. Denn andere funktionale Subsysteme ihre jeweiligen Hauptfunktionen arbeitsteilig spezifiziert wahrnehmen, muss die Sphäre der Politik umso intensiver Anforderungen politischer Willens- und Entscheidungsbildung gerecht werden. Insofern bildet die Evolution der Politik einen Teilprozess gesellschaftlicher Modernisierung.10 6.5 Die Ausdifferenzierung von Politik im Besonderen hat allerdings nichttriviale Voraussetzungen:  Es muss unterschiedliche Akteure (mit relevantem Einfluss) geben.11  Die Akteure müssen Interesse daran entwickeln, zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen. Dies tun sie üblicherweise im Maße ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten.12 10 Soweit stimme ich mit Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie (1984: Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, neue Auflage 2001) überein. Grundlegende Ideen gesellschaftlicher Differenzierung lassen sich meines Erachtens nach aber auch als gesellschaftlicher Prozess zunehmender Arbeitsteilung verstehen. 11 Tatu Vanhanen hat dies als Voraussetzung von Demokratiebildung gezeigt und einen entsprechenden Index of Power Resources gebildet - siehe: http://www.amazon.de/Process-Democratization-Comparative-States1980-88/dp/0844816418/ref=asap_bc?ie=UTF8 Der Sachverhalt gilt aber auch für die Bildung jeder Politik 14 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info 6.6 Wie weit diese Voraussetzungen bestehen, beeinflusst das Aufkommen von Politik fundamental: Können Akteure ihre Interessen nur zusammen mit anderen kompetitiven Akteuren verwirklichen, so werden sie versuchen, zu gemeinsamen verbindlichen Entscheidungen zu kommen, also politisch vorgehen. Ist ein Akteur dagegen übermächtig, braucht er also keine anderen Akteure, die mit ihm konkurrieren könnten, so geht es auch ohne Politik im Besonderen: Solange Großgrundbesitzer praktisch alles Land besitzen und sie die bei ihnen arbeitende Bevölkerung ökonomisch und rechtlich, etwa nach dem Prinzip der Leibeigenschaft, beherrschen, ist Politik bestenfalls im Verhältnis zwischen den Großgrundbesitzern und der gesamtgesellschaftlichen Exekutivspitze von Bedeutung. Ein Schutz aller Teilnehmer, dabei auch der Vertreter der arbeitenden Bevölkerung, dagegen erscheint überflüssig, ja schädlich, da dies das Zustandekommen allgemeinverbindlicher Entscheidungen nur erschweren kann. Auch Priester einer herrschenden Religion wollen im Allgemeinen nichts mit Politik im besonderen Sinne zu tun haben; sie tendieren vielmehr dazu, Politik als gottesfern oder gar gotteslästerlich zu denunzieren und ihre absolute Machtposition zu stärken. Haben sich die Arbeitenden dagegen eigenständig organisiert und begonnen, ihre eigenen Rechte zu vertreten, so ändert sich die Situation grundlegend: Nun beginnen auch die bisher absolut Herrschenden Interesse an Verfahren zu entwickeln, die ein friedliches und konstruktives Miteinander ermöglichen, auch wenn damit die gesellschaftliche Opposition politischen Einfluss erhält. Die Chancen politischen Entscheidens wachsen also damit, je mehr kompetitive Akteure wechselseitig voneinander abhängen und je mehr diese Akteure gemeinsames Entscheiden für gemeinwohlförderlich halten. 6.7 Besteht verteilter Einfluss in einer Gesellschaft und sind Akteure an gemeinsamen Entscheidungs- Verfahren interessiert, so können sich weitere Momente einer Evolution der Politik entwickeln, so ein Menschenbild, nach dem auch unterschiedlich motivierte Akteure respektvoll zu behandeln sind, Grundwerte der prinzipiellen Gleichstellung und Freiheit sowie die institutionelle Festlegung politischer Entscheidungsverfahren und der sie fördernden Grundrechts-Normen. Aufbauend darauf können sich Bestands12 Elias Norbert, 1939: Über den Prozess der Zivilisation…: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_den_Proze%C3%9F_der_Zivilisation 15 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info bzw. Helferinteressen politischer Systeme entwickeln, so etwa die Interessen von Abgeordneten an ihrer Wiederwahl oder die Interessen politischer Journalisten daran, politikbezogene Artikel schreiben und verwerten zu können.13 6.8 Kapazitätstheorie: Schließlich kann sich die Evolution der Politik auch vermittelt über die Leistungsfähigkeit der Gesamt-Gesellschaft beschleunigen: Je leistungsfähiger die moderne Gesellschaft durch ihre funktionale Ausdifferenzierung wird, desto eher ist sie dazu in der Lage und interessiert, auch weitreichende und zukünftig dringliche Probleme der Allgemeinheit zu thematisieren und zu managen (Kapazitäts-Theorie). 14 Dies erklärt sich daraus, dass Systeme grundsätzlich darauf gerichtet sind, sich selbst bestmöglich zu stabilisieren und zu reproduzieren. Würde die Wahrnehmung eines im Augenblick unlösbar erscheinenden Problems ein gesellschaftliches System existentiell gefährden, so tendiert dieses System dazu, das Problem nicht wahrzunehmen oder solange zu verschieben, bis eine Lösungsmöglichkeit dafür auftaucht; kann ein Problem dagegen mit den bestehenden Mitteln gelöst werden, so wird es auch als solches thematisiert und im Weiteren angegangen. Wachsende Problemlösungs-Kapazitäten führen daher in der Tendenz zu wachsender Problem-Sensibilität und einem ausdifferenzierten Instrumentarium der Problem-Behandlung. Demzufolge ist Politik vor allem in etablierten Wohlfahrtsgesellschaften zu einem großen Teil in Form policyorientierter Ressorts organisiert und festgeschrieben, während weniger leistungsfähige Gesellschaften Politik weit stärker machtzentriert organisieren. 6.9 Zusammengefasst zeigt sich: Die Evolution der Politik setzt nicht nur einen allgemeinen Modernisierungsprozess funktionaler Ausdifferenzierung voraus; vielmehr benötigt sie im Besonderen wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Akteuren mit konkurrierenden Motiven. Ist die Evolution der Politik einmal in Fahrt gekommen, kann sie sich über prozessual entwickelte Effekte selbst verstärken und stabilisieren. Dabei beeinflussen sich wachsende Handlungskapazitäten und zunehmende Problem- Sensibilität wechselseitig. 13 Christian Welzel hat ähnliche Feststellungen zur Entwicklung von Demokratie statistisch belegt getroffen: siehe Welzel, Christian 2002: Fluchtpunkt Humanentwicklung: Über die Grundlagen der Demokratie und die Ursachen ihrer Ausbreitung. Westdeutscher Verlag, Opladen 14 Prittwitz, Volker von 1990: Das Katastrophenparadox. Elemente einer Theorie der Umweltpolitik, Opladen (Leske+Budrich): http://www.amazon.de/Das-Katastrophenparadox-Elemente-TheorieUmweltpolitik/dp/3810008877; ders.: http://www.volkervonprittwitz.de/katastrophenparadox.htm 16 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info 7. Devolution der Politik 7.1 Devolution der Politik bezeichnet den Verlust von Politik im Besonderen. In Verbindung damit entdifferenzieren sich auch andere funktionale Teilsysteme der Gesellschaft. Damit gehen die funktionalen Vorteile moderner Gesellschaft einschließlich politischer Freiheiten und Rechte tendenziell verloren - eine Rückentwicklung, die bis zu Krieg und zum Zusammenbruch zivilisatorischer Normen führen kann. 7.2 Desintegration: Sind Akteure nicht mehr an gemeinsamer Willensbildung mit konkurrierenden Akteuren interessiert, weil sie absolute Handlungs-Macht erlangt haben oder andere Akteure als Feinde betrachten, so desintegriert dies die moderne Gesellschaft. Auch wenn sich viele Menschen als chancenlos und ausgestoßen fühlen und daher ihre Solidarität mit der Gesamt-Gesellschaft und der sie vertretenden Politik zumindest latent aufkündigen, schwächt dies das System funktional ausdifferenzierter Politik. 7.3 Stabilisieren sich Strukturen absoluter Macht (Lobby-Macht, religiösökonomische Macht, Reste von Feudal-Macht, Macht krimineller Banden, Korruption), bedroht dies die moderne Gesellschaft mehr oder weniger unmittelbar. Eine extrem offene, gewaltsame Ausprägung dieser Bedrohung bildet der Islamische Staat, in dem sich absolutes Machtstreben und strikte Gewaltorientierung mit einer religiös überhöhten Rückwendung zum 7. Jahrhundert und allen denkbaren Formen von Kriminalität verbindet. Es sollte aber nicht übersehen werden, dass Logiken absoluter Macht, so religiöser Herrschaft mit der Ablehnung pluraler Moderne, von nicht wenigen anderen Akteuren außerhalb, teilweise auch innerhalb der offenen Gesellschaft geteilt werden. Derlei Logiken sind mit der Logik einer offenen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft auf Dauer nicht verträglich; gelingt es nicht, derlei Logiken wirkungsvoll zu kontern, so gefährdet dies den Bestand der offenen Gesellschaft. 7.4 Schwächen und Fehl-Leistungen von Politik im Besonderen: Da die offene Gesellschaft mit ihren Formen entfalteter Politik zahlreiche Staaten höchster Wohlfahrt und großer Macht hervorgebracht hat, kann ihr drohender Niedergang nicht allein durch externe Momente und Bedrohungen verursacht sein. So operiert das politische System oft nur oberflächlich, ist also nicht in der Lage, die es begründenden Werte und Verfahren nachhaltig deutlich zu 17 Volker von Prittwitz: Theorie der Politik. Evolution und Devolution, 23. Mai 2016: www.diberlin.info machen und sozio-kulturell zu verankern. Beispielsweise sind populäre Medien, Spiele und Unterhaltungsformen zum größten Teil durch Logiken von Macht und Krieg bestimmt. Journalisten haben oft wenig Verständnis für Herausforderungen moderner Politik und orientieren sich oft an machtzentrierten Denkmustern - bis hin zur zumindest latenten Bewunderung machthabender Massenmörder wie Hitler und Stalin. 7.5 Kommt es zu großen, weiter wachsenden Einkommens- und Vermögensunterschieden, so ist dies Ausdruck eines auf Dauer geradezu selbstmörderischer Schwäche der Politik gegenüber bestehenden MachtStrukturen. Verlieren viele Menschen ihre Arbeit oder sind sie darauf angewiesen, sich ihren Lebensunterhalt in wenig respektierten Tätigkeitsbereichen mit besonders niedriger Bezahlung zu verdienen, fühlen sie sich abgekoppelt und wenig respektiert15 - politisches Futter für Strategen und Propagandisten vormoderner Gesellschafts- und Politik-Modelle. 7.6 Sich in dieser Situation abzuschotten und nationales, nationales oder gar rassistisches Denken zu übernehmen, bedeutet keine Rettung - im Gegenteil: Wer die Welt nur bis zur eigenen Grenze sieht, betrachtet alle anscheinend Außenstehenden als potentielle Bedrohung oder gar Feinde - ein typisches Devolutions-Muster, das zu wirtschaftlichem Niedergang und Kriegsbegeisterung, damit potentiell in die Selbstvernichtung, führt. Wer auf einen magischen Retter - sei er auch noch so beschränkt - setzt, schadet dem allgemeinen Wohl und indirekt damit auch sich selbst. 7.7 Die zivile Moderne kann ihre Freiheiten und enormen Möglichkeiten mit ihren Formen entfalteter Politik erhalten - vorausgesetzt, ihre Bürger/innen wollen dies. ------------------------------------------------------------------------------------------------------Autor: Prof. Dr. Volker von Prittwitz Freie Universität Berlin: www.volkervonprittwitz.de Institute for Political Analysis: www.diberlin.info Stellungnahmen, Kritik und Anregungen sind willkommen: [email protected] 15 Siehe hierzu das Spiegel-Interview mit Hull: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/aufstieg-derrechtspopulisten-afd-und-spd-niedergang-a-1092066.html 18