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Fachvortrag – Dipl.-Psych. Dietmar Huland Urteil: „Schuldig“! Die Rolle von Müttern und Vätern bei Suchtpatienten
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich mich für Ihr Kommen und Ihr Interesse an unserer Fachtagung und damit auch unserer Klinik bedanken. Bei dem heute überall bestehenden Arbeitsdruck ist es nicht selbstverständlich, dass Sie sich freigeschaufelt haben, um die Gelegenheit zu einem Fortbildungstag zu nutzen. Seien Sie also herzlich willkommen. Wir freuen uns auf die Begegnung und lebendige Diskussionen mit Ihnen. Ich bin Dietmar Huland, Psychologischer Psychotherapeut; und seit gut einem Jahr als Therapeutischer Leiter in der Fachklinik Furth tätig. Ich freue mich, mich Ihnen mit dem heutigen ersten Fachvortrag präsentieren zu können und möchte die Gelegenheit nutzen, mich mit drei inhaltlichen Statements, die mir in der Suchttherapie wichtig geworden sind, vorzustellen. Bei der Umsetzung meines Vorhabens habe ich – nachdem ich die drei Sätze aufgeschrieben hatte – zunächst selbst gedacht, dass dies für Sie doch sicherlich ganz banal und selbstverständlich klingen wird. Ich will dennoch dazu stehen, um damit meine therapeutische Identität ein wenig zu beschreiben. Gleichzeitig bin ich mir im Klaren, dass ich selbst auch noch eine Vielzahl anderer Sätze hätte wählen können und ich bin überzeugt, wenn ich Sie gleich herausfordere mal im Stillen mit einem Satz ihre eigene Therapeutische Identität zu umschreiben, dann werden wir feststellen können, welch vielfältige therapeutische Kompetenz hier im Raume heute vertreten ist. Lassen Sie sich also einladen, in einer Minute der Stille, für sich ein Wort oder einen Satz zu formulieren, der stellvertretend für Ihre therapeutische Identität steht. Was ist Ihnen in der Arbeit mit den suchtkranken Menschen wichtig? Was muss geschehen, damit sie selbst mit Ihrer therapeutischen Arbeit zufrieden sind?
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Was mich ausmacht, lautet wie folgt: (Folie 2) 1. Sucht ist eine Beziehungskrankheit
2. Es kommt auf die Verarbeitung an (Folie 3)
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3. Für Gefühle Worte finden (Folie 4)
Sicherlich haben diese drei Statements dann doch auch etwas mit dem Thema der heutigen Fachtagung zu tun. In diesem ersten Fachvortrag soll ja der Fokus auf die frühkindliche Entwicklung gelegt und aus eher tiefenpsychologischer Perspektive gefragt werden, wie sich frühkindliche Erfahrungen auf die Persönlichkeitsentwicklung und auf die Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen auswirken. 3
In meinen ersten Berufsjahren habe ich noch miterlebt, wie die Entstehung von Suchterkrankungen auf belastendes oder unzureichendes elterliches Verhalten zurückgeführt wurde und an die Suchttherapeuten die Erwartung gestellt wurde durch eine sogenannte „positive Beelterung“ diese Erfahrungen zu revidieren. Bevor ich mich nun mit dem im Vortragsthema formulierten Urteil „Schuldig“ auseinandersetze, möchte ich Ihnen noch ein paar Gedanken der psychoanalytischen Suchttheorie wieder ins Gedächtnis rufen. Ich stütze mich dabei im Wesentlichen auf die Darstellungen von Klaus Bilitza, der bis heute als Grundlagenliteratur in der Ausbildung zum psychoanalytischen Sozialtherapeuten Sucht gelehrt wird. Klaus Bilitza hat in seinem Buch Psychodynamik der Sucht; 2008, S.15 die Entwicklung der Suchterkrankung quasi in einer Formel dargestellt: (Folie 5)
Die Darstellung in dieser Formel drückt eine eher deterministische Störungstheorie aus, nach der scheinbar zwangsläufig eine Suchtentstehung vorherzusagen ist. Hier stehen allerdings die Psychoanalytiker nicht alleine da, zumindest in dem Punkt 5 in dem das Augenmerk auf die Wirkung des Suchtmittels gelegt wird. Die meisten Suchttherapeuten stimmen darin überein, dass der Beginn der Abhängigkeit dort zu suchen ist, wo das Suchtmittel um der Wirkung willen konsumiert wird. Johannes Lindenmeyer z. B. beschreibt in seinem verhaltenstherapeutischen Grundlagenwerk „Lieber schlau als blau“ die Schritte einer Abhängigkeitsentwicklung mit 4
dem Beispiel einer Eisenbahn ganz ähnlich. Da wo ein Mensch in einer als belastend erlebten Situation mit dem Konsum von Alkohol in den Tunnel der Erleichterung abbiegt, entsteht durch fortlaufende Gewöhnung eine Abhängigkeit. Die psychoanalytische Theorie mit ihrem Fokus auf die frühkindliche Entwicklung eines Menschen stellt darüber hinaus die steile These auf, dass die Suchtentwicklung nicht mit dem ersten Konsum beginnt, sondern schon viel früher durch belastende Lebenserfahrungen angebahnt wird. In der frühen Kindheit entwickelt ein Mensch belastende Gefühle und Konfliktthemen die dann zum Einfallstor für das Suchtmittel werden können, wenn die erleichternde Wirkung des Suchtmittels mit diesen Gefühlen verbunden wird. In einem interessanten Artikel zum Thema: „Ein psychoanalytisches Modell zur männlichen Suchtentwicklung …“ legt Bilitza in einem Modell dar, wie aus seiner Sicht sich die männliche Suchtpathogenese aus einem Zusammenhang von struktureller Störung und Konfliktpathologie entwickeln kann. Dabei nimmt er als Ausgangspunkt einen meist fehlenden, oder schwachen bzw. wenig geachteten oder auch selbst abhängigen Vater an, der seine Aufgabe als triangulierendes Objekt in der frühen Kindheitsentwicklung oder auch später als Identifizierungsobjekt in der ödipalen Triangulierung nicht ausreichend wahrnimmt. Lassen sie uns kurz die dazu entwickelte Modellskizze (Folie 6) anschauen.
Nun mag nicht jeder von Ihnen einen Zugang zu diesem analytischen Ansatz finden und sicherlich bergen solche Modelle immer die Gefahr der Vereinfachung und eines eher deterministischen Denkens, aber ich bin überzeugt, dass jeder Suchtpraktiker mit mir die Erfahrung teilt, dass fehlende oder schwache Väter auffällig häufig in den Suchtanamnesen unserer Patienten zu finden sind. Ich lese so wöchentlich an die 10 Biographien von Suchtpatienten und würde sagen in 6 bis 7 Anamnesen taucht das Vaterthema auf, teilweise natürlich auch in der Weise, dass ein dominanter, aggressiver Vater die kindliche Entwicklung des Selbstwertes und der eigenen Identität negativ beeinflusst hat. Auch wenn ich nicht behaupten möchte, dass ein Vater, der seiner Vorbildfunktion und seiner Rolle als 5
Wegweiser in das Leben zu fungieren nicht gerecht wurde, zwangsläufig zu einer Suchterkrankung führen muss, so möchte ich diese Auffälligkeit doch als belastenden Faktor, der zur Suchterkrankung führen kann, benennen. Ich möchte aber noch auf einen anderen wichtigen Aspekt hinweisen. Nach dem psychoanalytischen Suchtverständnis ist die Sucht immer nur das Symptom. Worum es in der Behandlung eigentlich geht ist der Mensch mit seinen eingeschränkten Ich-Funktionen und gegebenenfalls strukturellen Störungen. Hier wird seit einigen Jahren zudem vermehrt darauf geschaut, ob durch Traumata die Lebensfähigkeit des Menschen und seine Konfliktlösungsfähigkeit eingeschränkt wurde. Bilitza; 2009; S14 fasst das in dem Satz zusammen: „Behandelt wird der suchtkranke ganze Mensch und nicht lediglich seine Krankheit.“ In seinem Buch Psychodynamik der Sucht stellt er diese Auffassung in der Eisbergmetapher dar (Bilitza 2008, S.22) (Folie 7)
Mit diesem Bild wird auch verständlich, warum in der tiefenpsychologisch orientierten Suchttherapie die Auffassung besteht, dass die Suchtentwicklung nicht erst mit dem ersten Konsum eines Suchtmittels beginnt, sondern dass durch die frühen Lebenserfahrungen und die daraus resultierenden Fähigkeiten, Ich-Funktionen sowie Selbst- und Objektbeziehungen zu entfalten bzw. eben auch nur eingeschränkt aufzubauen, bereits die Voraussetzungen geschaffen werden, später eine Abhängigkeit zu entwickeln. Häufig lässt sich nachweisen, dass die sogenannte auslösende Situation, in der ein Mensch zum ersten Mal die positive Wirkung des Suchtmittels bewusst wahrnimmt, mit Gefühlszuständen verbunden ist, die 6
dieser Mensch schon aus belastenden Beziehungserfahrungen seiner frühkindlichen Entwicklung kennt. Bilitza selbst fasst die psychoanalytische Krankheitslehre wie folgt zusammen: „Sucht entsteht nicht plötzlich vor dem Hintergrund einer ansonsten unauffälligen seelischen Entwicklung, sondern als Ergebnis einer prämorbiden seelischen Krankengeschichte.“ Bilitza 2009, S.19 oder wie Rost (1992) formuliert: „In der Sicht der Psychoanalyse ist das Symptom Sucht Ausdruck, Lösungs- und Bewältigungsversuch einer tief in der Persönlichkeit und ihrer individuellen Entwicklung gelegenen und oft verborgenen Grundstörung.“ Auf die dem Vortragenden vorgegebene Frage nach der Schuld lässt sich damit zunächst eine vorläufige Antwort denken. In Anlehnung an mein eigenes 1. Statement zur Suchtarbeit möchte ich nun nach diesem Ausflug in die psychoanalytische Epidemiologie Stellung nehmen: Offensichtlich haben die frühkindlichen Erfahrungen, insbesondere mit den primären Bezugspersonen – und das sind meistens die Eltern – einen prägenden Einfluss auf den Menschen und seine Fähigkeiten, die Konflikte seines Lebens zu bewältigen. Es hat einen Einfluss auf die Entwicklung von Störungen und damit auch auf die Suchtentwicklung, wie ich in dieser Welt willkommen geheißen wurde, ob ich mich auf eine angemessene Versorgung meiner Grundbedürfnisse verlassen konnte und ob ich die Erfahrung machen konnte, für jemanden wichtig zu sein und zu jemanden zu gehören. Nun entspricht es allerdings meiner Lebenserfahrung, dass selten etwas einfach und klar in dieser Welt ist. Und so ist es mein Bedürfnis, die gerade getroffene Feststellung selbst ein wenig zu relativieren. Wenn man nur lange genug in der therapeutischen Arbeit tätig ist, dann kann man nicht darüber hinweg sehen, dass Menschen oft ähnliche Erfahrungen machen, nicht aber zwangsläufig dieselben Krankheiten und Störungen entwickeln. Eine psychische Belastung kann zu einer Suchterkrankung, einer psychosomatischen oder psychiatrischen Erkrankung führen, muss es aber nicht. Deswegen lautete mein 2. Statement zur Suchtarbeit: „Es kommt auf die Verarbeitung an!“ Für die Frage, ob die Eltern Schuld an der Suchtentwicklung ihrer Kinder haben, müsste ich also im Sinne von Radio Eriwan antworten: „Im Prinzip ja, aber es kommt darauf an, was das Kind daraus macht.“ Lassen Sie mich mit einem weiteren kleinen Ausflug in die psychoanalytische Suchttheorie aufzeigen, welche Theorien im Laufe der Geschichte entstanden sind, mit denen versucht wurde, die verschieden Verarbeitungsschemata von Menschen zu erklären.
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Betrachten wir zunächst die linke Spalte der Tabelle. Es wird darauf hingewiesen, dass es drei unterschiedliche Krankheitsmodelle gibt und es wird mit der Spalte ganz rechts mit der Überschrift der Behandlungsmethoden aufgezeigt, dass entsprechend zu dem Krankheitsmodell die passende Behandlungsmethode zu wählen ist. Ich muss gestehen, ich habe in meiner beruflichen Laufbahn ein wenig gebraucht, bis mir klar wurde, dass es nicht eine gute Therapiemethode gibt, sondern es darauf ankommt, für jeden Patienten die passende Behandlungsform zu finden. Während man früher zwischen neurotischer und psychotischer Erkrankung unterschieden hat und dementsprechend die Verfahrenstechniken gewählt hat, werden in der tiefenpsychologisch analytisch orientierten Psychotherapie inzwischen eher die Begriffe der Konfliktpathologie oder der strukturellen Störung / Entwicklungspathologie verwendet. Die Frage, die dahinter steht und die es diagnostisch zu klären gilt, ist, worauf führe ich die Entstehung der Störung zurück. War es ein innerpsychischer oder äußerer Konflikt, der zum Ausbruch der Störung geführt hat, oder liegt der Ursprung der Störung in einer unzureichenden Ausbildung von Ich-Funktionen, die zur Lebensbewältigung eigentlich benötigt würden. Vor etwa 20 Jahren wurde damit begonnen, das Augenmerk auch auf Traumata zu legen. Daraus ist inzwischen die 3. Säule der Krankheitsmodelle geworden. Ist also klar, dass eine Störung die Folge eines Traumas ist, dann gibt es inzwischen auch dafür ganz spezielle Behandlungsmethoden. Da dies heute aber nicht unser Thema ist, möchte ich alle, die sich damit gerne vertiefter beschäftigen wollen auf das Buch von Gerd Rudolph „Psychodynamische Psychotherpie“ (2014), verweisen in dem Konflikt, Struktur und Trauma als zentrale Ansatzpunkte der Psychodynamischen Therapie dargelegt werden und aufgezeigt wird, warum diese unterschiedlichen Störungsauslöser auch unterschiedliche Behandlungsmethoden benötigen. 8
In der hier vorgestellten Tabelle von Bilitza sind die verschiedenen psychoanalytischen Behandlungsmethoden den Krankheitsmodellen zugeordnet worden. Ich möchte darauf aber hier nicht näher eingehen. Mein Anliegen war lediglich, aufzuzeigen, dass vor dem Beginn der Therapie eine Diagnostik stehen sollte, die das auftretende Problem einem Krankheitsmodell zuordnet, weil nur so die adäquate Behandlungsmethode gefunden werden kann. Außerdem möchte ich mit der Vorstellung der Tabelle Ihren Blick auf die drei wesentlichen Strömungen in der analytischen Theoriebildung legen und diese kurz aufgreifen, ohne auch hier genau auf die einzelnen Felder der Tabelle einzugehen. Für unser Thema heute sind vor allem die Ansätze aus der Selbstpsychologie und Objektbeziehungstheorie interessant, die ich anschließend etwas ausführlicher darstellen möchte. (Folie 9)
Mit Freud hat die „Klassische Psychoanalyse“ zunächst einmal mit den Ideen zur Triebtheorie, also der Frage nach der Lust, der Lehre vom Unbewussten und der Instanzenlehre – (Es, Ich, Über-Ich) – begonnen. Ein Suchtkranker wurde als ein Mensch mit einem schwachen Ich verstanden, der seinem Lustprinzip folgt und bei dem auch sein übergeordnetes Wertesystem kein Korrektiv darstellt. Ein suchtkranker Mensch habe so die Anforderungen der Realität nicht erfüllen können, was wiederum zu Regression und Fixierungen in der Libidoentwicklung führe. Mit dem Aufkommen der sogenannten Ich-Psychologie wurde das Augenmerk auf die IchOrganisation gelegt. Begriffe wie Ich-Funktionen und strukturelle Ich-Störungen wurden geboren. Das Ich des Süchtigen ist demnach nicht in der Lage, unangenehme Spannungen und Unlust zu ertragen, die entweder aus seinen inneren Triebspannungen oder aus den Anforderungen der Außenwelt hervorgehen. Die fehlenden oder nur schwach ausgebildeten Ich-Funktionen wie z.B. Affektdifferenzierung, Reizschutz, Frustrationstoleranz oder mangelnde Realitätsprüfung werden unbewusst versucht, durch die Wirkungen des 9
Suchtmittels auszugleichen. Förderung der Ich-Funktionen ist demnach der beste Weg, einem Menschen zu helfen, so dass er das Suchtmittel nicht mehr braucht.
Schon Melanie Klein (Folie 10) lenkte das psychoanalytische Augenmerk auf die frühen Beziehungen des Kindes zu seinen Bezugspersonen und war davon überzeugt, dass dadurch nicht nur die frühkindliche Entwicklung, sondern auch die spätere Persönlichkeitsentwicklung maßgebend geprägt wird. Wie ein Mensch die Welt wahrnimmt und mit welchen Erwartungen er an sie herantritt wird durch das Erleben der wichtigen frühen Bezugspersonen geprägt. Es geht also nicht um scheinbar objektive Sachverhalte, sondern darum, wie ein Kind die Erfahrungen mit seinen frühen Bezugspersonen interpretiert und letztlich dadurch sein Selbst- und Weltbild entwickelt. Ein entscheidender Faktor dabei ist das Gefühl, mit dem das junge Kind bzw. auch schon der Säugling seine frühen Bezugspersonen (Objekte) belegt. Da gerade in den ersten Lebensmonaten ein Säugling noch nicht über ausreichende Differenzierungsmöglichkeiten verfügt, gleicht dies eher einem Schwarz-Weiß-Denken und bildet die Grundlage für spätere Spaltungen zwischen Idealisierungen und Entwertungen, die wir aus der Arbeit mit Suchtkranken und sogenannten Frühstörungen kennen. Die Unfähigkeit, Menschen in ihrer vielfältigen Ganzheitlichkeit, ihrer Ambivalenz und Widersprüchlichkeit wahrnehmen und aushalten zu können, weist auf ein Reifungsdefizit der suchtkranken Patienten hin. Sie entwickeln von ihren Mitmenschen oft nur bruchstückhafte Bilder, sogenannte Teilobjekte. Es gilt ja als ein Kennzeichen für frühe Persönlichkeitsstörungen, dass diese Menschen über keine stabilen Selbst- und Objektbilder verfügen und daher auch nicht in der Lage sind, die Folgen des eigenen Verhaltens für sich und andere abzuschätzen. Die Fähigkeit zur Realitätsüberprüfung ist dadurch eingeschränkt. Gepaart ist dies meist mit einer geringen Affekttoleranz und überhaupt nur einer sehr begrenzten Fähigkeit zur Affektwahrnehmung und -differenzierung. 10
In den Arbeiten von Daniel Stern und Otto F. Kernberg wird darauf hingewiesen, dass Menschen quasi ein angeborenes Bedürfnis nach Beziehung und Bindung haben. An Eltern wird damit die Erwartung gestellt, dieses Grundbedürfnis nach Geborgenheit und Zugehörigkeit zu stillen, weil sich nur dadurch eine stabile Persönlichkeit entwickeln kann. Andersherum gesagt: Wenn Eltern nicht in der Lage sind, diese menschlichen Grundbedürfnisse ausreichend zu befriedigen, besteht für das Kind eine erhöhte Gefährdung, eine frühe Persönlichkeitsstörung zu entwickeln. Das Suchtmittel und die Beziehung zum Suchtmittel werden nach diesem Verständnis zum pathologischen Ersatz für nicht Halt gebende und Liebe spendende Bezugspersonen. Burian (2003) hat dafür den Begriff „die Suche nach dem guten Objekt“ geprägt. Das Suchtmittel ist die bequeme und in der Regel leicht verfügbare Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Es ist leichter, das Suchtmittel zu konsumieren, als Befriedigung in Beziehungen zu erhalten. Das Suchtmittel hilft, die Spannungszustände auszuhalten, die dadurch entstehen, dass der Suchtkranke diffus doch spürt, dass mit seinen Beziehungen zu den Mitmenschen etwas nicht stimmt. Stimmt am Ende nun doch das über dem Vortrag stehende Urteil: „schuldig!“? Wenn es so immens wichtig ist, ob die frühen Bezugspersonen die existenziellen Bedürfnisse des noch nicht selbständig lebensfähigen Säuglings befriedigt haben, dann muss man diese doch schuldig sprechen, wenn ein Kind seine Ich-Funktionen nicht ausreichend ausbilden konnte und auf einer frühen Entwicklungsstufe regrediert. Ich bin selbst Vater von 5 Kindern. Als die Kinder auf die Welt kamen, hatte ich schon ein Diplom in Psychologie in der Tasche. Man sollte also meinen, dass ich hätte wissen müssen, wie sich ein guter Vater zu verhalten habe, damit sich seine Kinder optimal entwickeln können. Aus eigener Erfahrung kann ich da aber nur sagen, etwas zu wissen, heißt noch lange nicht, dass man es auch stets so umsetzen kann. Ich bin stattdessen davon überzeugt, dass kein Mensch ein Kind erziehen kann, ohne an dem Kind „schuldig“ zu werden. Zumindest wenn man davon ausgeht, dass Kinder stets einen Anspruch auf „optimale“ Entwicklungsbedingungen haben und die Fülle der Ratschläge aus den Erziehungsratgebern stets berücksichtigt werden müssen. Wir können jetzt noch weiter philosophieren: Kann man Eltern schuldig sprechen, wenn sie gar nicht in der Lage waren, die hochgesteckten Erwartungen an eine optimale Erziehung – was immer das auch sein mag – zu erfüllen? Wichtiger als die Antwort auf diese Frage finde ich, dem Gedanken nachzugehen, was es denn wirklich bringt, wenn ich jemandem die Schuld zuschieben kann. Geht es dem Suchtkranken besser, wenn er einen Schuldigen für sein Dilemma benennen kann? Im ersten Moment mag das ja eine Entlastung bedeuten, doch wir wissen doch alle, sich einen Schuldigen zu suchen, führt in der Regel dazu, sich im eigenen Elend einzurichten. Der Schuldige wird als Ausrede benutzt, dass man selbst ja nichts dafür kann und leider am eigenen Elend auch nichts ändern kann. Sie merken vermutlich, worauf ich hinaus will. Meine nun fast 30-jährige Erfahrung in der Arbeit mit suchtkranken Menschen hat mich eins gelehrt: Eine gute Suchttherapie muss immer dazu führen, den Suchtkranken in seiner Selbstverantwortung zu stärken. Es geht 11
immer darum, den Suchtkranken darin zu unterstützen, neue Fähigkeiten zu entwickeln, damit er sich selbst besser verstehen kann und befähigt wird, mit den Konflikten in seiner Person und in der Bewältigung seines Lebens besser zurecht zu kommen. Deshalb möchte ich im letzten Teil meines Vortrags noch eine kleine praktische Einheit zum Thema Affektdifferenzierung weitergeben. Sie haben dabei längst registriert, dass ich damit zum 3. Statement meiner therapeutischen Grundhaltung komme, nämlich für „Gefühle Worte finden“. Menschliches Verhalten wird vielmehr durch Gefühle und Stimmungen bestimmt, als wir uns meistens eingestehen wollen. Diese Steuerungsprozesse laufen in der Regel unbewusst und sehr schnell ab. Ich denke, hier wiederholt sich, was sich entwicklungspsychologisch belegen lässt: das Fühlen kommt vor dem Denken. In dem ich einem Menschen helfe, seine Gefühle besser wahrzunehmen, befähige ich ihn, vom unbewussten Reagieren zum verantwortlichen Handeln wechseln zu können. Lassen Sie mich anhand einiger Gedanken von Wolfgang Wöller (2006) aufzeigen, was mit Affektdifferenzierung gemeint ist. (Folie 11)
Ein Therapeut sollte also in seinem Arbeitskoffer, sprich seinem Gehirn, existentielle Gefühlszustände gespeichert haben, die er aus seiner Erfahrung in der Arbeit mit psychisch belasteten Menschen kennt, und die er dem jeweils Betroffenen als Beschreibungshilfe für den selbst erlebten bzw. in der psychotherapeutischen Arbeit phantasierten Gefühlzustand als Beschreibungshilfe anbietet. Wöller hat aus seiner Arbeit mit traumatisierten Patienten eine Auflistung solcher Gefühlszustände zusammengestellt, die ich Ihnen hier gerne noch vorstellen möchte. (Folie 12)
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In der Arbeit mit unseren zumeist frühgestörten Patienten geht es also darum, sie aufzufordern, ihre Gefühle möglichst konkret und bildhaft zu beschreiben. Gemeinsam mit dem Patienten versuchen wir, für diese Gefühle ein Thema zu finden, das zu den Gefühlen passt und das uns die Botschaft vermittelt, welche Lebensaufgaben bisher noch nicht zufriedenstellend gelöst werden konnten. Letztere gilt es in der Therapie anzugehen. Wir stehen als Therapeuten vor der Aufgabe, sich gemeinsam mit dem Patienten seinen Ängsten und Sehnsüchten zu stellen und ihn anzuregen, nach neuen Lösungsschritten für seine Lebensthemen zu suchen und diese dann auch auszuprobieren. Was hat nun dieser Ausflug in die Affektdifferenzierung mit unserm Vortragsthema zu tun? Halten wir zum Schluss noch mal fest: Nach einem ersten Ausflug in die psychoanalytische Suchttheorie haben wir eine erste Schlussfolgerung gezogen: Mütter und Väter haben als die wichtigen ersten Bezugspersonen einen ganz entscheidenden Anteil an der Entstehung einer Suchterkrankung. Im zweiten Schritt habe ich diese Aussage dann relativiert durch die Auffassung, dass nicht in erster Linie die scheinbar objektiven Lebenserfahrungen entscheidend sind, sondern es viel wichtiger ist, darauf zu achten, wie diese Erfahrungen vom Betroffenen interpretiert und verarbeitet wurden. Im abschließenden dritten Teil des Vortrags war es mein Anliegen, aufzuzeigen, dass uns die Schuldfrage nicht wirklich weiterbringt. Es bleibt unbestritten, dass alle Erfahrungen die wir in unserem Leben machen, und die Frage, wie wir diese Erfahrungen in unser Selbstund Weltbild einordnen, einen enormen Einfluss auf unsere Persönlichkeitsentwicklung 13
haben. Therapeuten sollten meiner Meinung nach ihre Energie nicht bei der Suche nach Erklärungsmöglichkeiten vergeuden, sondern ihren Fokus auf die Suche nach Lösungsschritten legen. Gefühle sind für uns dabei der Wegweiser zu den bisher noch nicht zufriedenstellend gelösten Lebensaufgaben. Sie weisen uns also den Weg zu den Therapiezielen. Wenn ich einem Menschen helfen kann, seine Gefühle besser zu verstehen, dann versetze ich ihn damit auch in die Lage, sich eigenverantwortlich und selbstbestimmt seinen Lebensaufgaben zu stellen. Es ist also gar nicht mehr notwendig, Eltern schuldig zu sprechen, oder langwierig gescheiterte Elternbeziehungen aufzuarbeiten. Vielmehr sollte es in einer modernen Suchttherapie darum gehen, Menschen darin zu unterstützen, sich ihren individuellen Entwicklungsaufgaben zu stellen, und sie zu befähigen, selbstverantwortlich und möglichst zufrieden am Leben teilhaben zu können.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!
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