Preview only show first 10 pages with watermark. For full document please download

Fast Normal - Theater Lüneburg

   EMBED

  • Rating

  • Date

    July 2018
  • Size

    2.3MB
  • Views

    3,974
  • Categories


Share

Transcript

Fast normal (Next to normal) Junges Musical von Tom Kitt und Brian Yorkey Materialien 1 30.10.15 Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Pädagogen, liebe Pädagoginnen, liebe Leserinnen und Leser! Das diesjährige Jugendmusical „Next to Normal“, deutsch „Fast normal“, ist für Jugendliche ab 14 Jahren, aber auch für junge Erwachsene geeignet. Fast Normal (Next to Normal) ist die Geschichte einer Familie, die sich durch ein traumatisches Ereignis und die Erkrankung der Mutter in einer Schieflage befindet. Mutter Diane stellt mit ihrer Erkrankung eine große Belastung für die Familie dar, Vater Dan versucht mit viel Geduld Ausgleich zu schaffen und gerät dabei ständig an seine Grenzen. Sohn Gabe scheint irgendwie immer im Mittelpunkt zu stehen. Und die Tochter Natalie möchte vor allem eins: Endlich gesehen werden. Außerdem sind da noch Natalies Freund Henry, Dr. Madden und Dr. Fine, die alle, vermeintliche Lösungen für die familiären Nöte parat haben. Next to Normal stellt Fragen zu vielen grundlegend menschlichen Themen wie dem Erwachsenwerden, dem Streben nach Anerkennung, dem Bedürfnis nach Geborgenheit, dem Bedürfnis normal zu sein und in einer funktionierenden Familie zu leben. Außerdem wird das Thema Drogenkonsum nicht nur als adoleszentes Thema behandelt, sondern auch ein Blick auf den vordergründig legalen Medikamentenkonsum der Erwachsenenwelt gelenkt. Eine spannende Frage, nicht zuletzt, weil der Konsum eine Strategie bei den einzelnen Figuren auf ihrer persönlichen Glückssuche darstellt. Auf der Bühne stehen dieses Mal drei Profi-Sänger/innen, sowie drei jugendliche Laien. Mit Materialien zur Vor- und Nachbereitung möchten wir Ihren Theaterbesuch bereichern. Neben Informationen über Musical im Allgemeinen, die Inszenierung und das Stück, finden Sie in dieser Materialmappe mehrere Artikel über Trauer, Bipolare Störung, Medikamentensucht, Trauma, sowie über EKT-Behandlungen. Zusätzlich geben wir Ihnen noch theaterpädagogische Übungen und Fragen für die Schulstunde nach dem Theaterbesuch mit. Innerhalb des Landkreises Lüneburg bieten wir Ihnen gerne eine Einführung in der Schule an. Bei Interesse kontaktieren Sie bitte [email protected] Viel Freude mit unseren Materialien und einen schönen und interessanten Theaterbesuch wünschen Katja Meier und Heidrun Kugel 2 Inhaltsverzeichnis: Seite Zur Besetzung 4 Zum Inhalt 5 Zum Stück 8 Zur Uraufführung 12 Zu Musicals 15 Artikel über Bipolare Störung 22 Artikel über Trauer 32 Artikel über Trauma 38 Artikel über Medikamentensucht 44 Artikel über EKT-Behandlungen 56 Fragen zur Nachbereitung 58 Theaterpädagogische Übungen 59 Quellen 62 3 FAST NORMAL (Next to normal) Junges Musical von Tom Kitt und Brian Yorkey Deutsch von Titus Hoffmann Personen Diane Goodman ……………….Anna Müllerleile Dan Goodman …………………Kristian Lucas Dr. Madden ……………………..Timo Rößner Natalie Goodman .…………… Pia Jauernig / Anna von Mansberg Henry ……………………………Timm Marvin Schattling Gabe Goodman ………………. Calvin-Noel Auer Dr. Fine …………………………Timo Rößner Musikalische Leitung Inszenierung Ausstattung Musikal. Einstudierung Vocal Coach Choreogr. Beratung Regieassistenz und Abendspielleitung Technische Leitung Ton Technik Maske 1. Gewandmeisterin 2. Gewandmeisterin Gewandmeister Chefgarderobiere Requisite Tischlerei (Vorstand) Malersaal Alexander Eissele / Hye-Yeon Kim Friedrich von Mansberg Christiane Becker Hye-Yeon Kim, N.N. Anna Schwemmer Heidrun Kugel Cornelia Nell / Calvin-Noel Auer Ludger Niemeyer Wolfgang Ziemer Richard Busse / Tobias Wortmann Britta Bannemann Elke Pesarra Julia Debus-Borgschulze Kay Horsinka Imke Hampel Rolf Seichter, Heidi Böhm Walter Zimmermann Dorothea Flohr, Susanne Mcleod Bühnenrechte: Musik und Bühne Verlag Wiesbaden Premiere: 30.10.2015 Spieldauer: ca. 2:15 Hajo Fouquet Intendant 4 Inhalt Erster Akt Vorstadtmutter Diana Goodman wartet spät auf ihren Sohn und tröstet ihre ängstliche und übereifrige Tochter, Natalie. Am Morgen hilft Dan, Dianas Mann, die Familie für einen weiteren Tag vorzubereiten. Diana versucht, Sandwiches für die Familie zu machen, doch sie sind am ganzen Boden verstreut. Als Dan der verwirrten Diana hilft, geht ihr Sohn Gabe (dessen Namen man erst am Schluss erfährt) schnell in die Schule und Natalie ins Klavierübungszimmer. Dort wird sie von Henry, einem Klassenkameraden, der ihr gerne beim Spielen zuhört, und der eindeutig an ihr interessiert ist, unterbrochen. Über die folgenden Wochen macht Diana eine Serie von Besuchen bei ihrem Doktor, während Dan draußen im Auto wartet und versucht, mit seinen eigenen Depression zurechtzukommen. Diana leidet seit sechzehn Jahren an einer mit Halluzinationen verbundener bipolarer Störung. Doktor Fine verändert ihre Behandlungen ständig, bis sie sagt, dass sie gar nichts mehr fühle. An diesem Punkt erklärt er sie für stabil. Natalie und Henry kommen sich näher bis zu dem Tag, als er ihr seine Liebe gesteht und sie zum ersten Mal küssen. Diana bekommt das mit und merkt, dass sie ihre besten Jahre hinter sich hat, aber sie vermisst die Höhen und Tiefen in ihrem Leben. Mit der Ermutigung von Gabe spült sie ihre Medikamente weg. Ein paar Wochen später freut sich Dan auf das Abendessen mit seiner Familie. Natalie bringt Henry zum ersten Mal mit. Doch als Diana mit einem Kuchen hereinkommt und „Happy Birthday“ für Gabe singt, sind Natalie und Dan am Boden zerstört. Dan nimmt Diana zur Seite und erklärt ihr, dass ihr Sohn vor 16 Jahren starb. Dan schlägt vor, dass sie zurück zum Doktor gehen solle, aber Diana lehnt ab und sagt, dass er sicher nicht das Gleiche fühle wie sie. Dan versucht, sie dazu zu überreden, ihm zu vertrauen, als ihr Sohn erscheint und seine Mutter davon überzeugt, ihm anstatt Dan zu vertrauen. In ihrem Zimmer lässt Natalie ihren Ärger an Henry aus und nimmt die Entschuldigung ihrer Mutter nicht an. Gabe beobachtet das und verspottet sie. Einige Tage später arbeiten Diana mit ihrem neuen Doktor, Doktor Madden. Gabe versucht ihr zu sagen, dass er hier und lebendig sei. Dan und Natalie zweifeln daran, dass die Sitzungen helfen. Doktor Madden schlägt Hypnose als neue Behandlungsmethode vor, um Diana zu helfen, die Wurzeln von ihrem Trauma zu entdecken. Zuletzt ist Diana damit einverstanden, dass es Zeit ist, ihren Sohn gehen zu lassen. Diana geht nach Hause, um die Dinge, die Gabe gehörten, wegzuwerfen und stößt auf eine alte Spieluhr. Gabe tanzt mit ihr und fordert sie dann auf, mit ihm wegzugehen. Sie tut es. Im Krankenhaus liegt Diana ruhig und zurückhaltend mit selbst zugefügten Wunden an den Handgelenken im Krankenbett. Sie hat sich selbst die Pulsadern aufgeschlitzt. Doktor Madden erklärt Dan, dass die ECT-Behandlung, eine Elektroschocktherapie, die Standardprozedur für Patienten ist, die suizidgefährdet und resistent gegen Medikamente sind. Dan geht nach Hause, um aufzuräumen und zu entscheiden, was zu tun ist. Am nächsten Tag teilt Diana Doktor Madden mit, 5 dass die die Behandlung ablehnt. Dan überzeugt sie jedoch mit dem Argument, dass es vielleicht ihre letzte Chance sei. Zweiter Akt Diana erhält über zwei Wochen eine Serie von ECT-Behandlungen. Natalie probiert inzwischen Klubs und Medikamente, die sie im Medizinschrank ihrer Mutter gefunden hat, aus und verfällt in den Drogenrausch. Diana verliert durch die ECTs die letzten neunzehn Jahre ihres Gedächtnisses. Sie kommt nach Hause, doch erinnert sich an nichts. In der Uni spricht Henry Natalie darauf an, dass sie ihn meidet. Daraufhin lädt er sie zum Frühlingsball. Dan und Diana besuchen Doktor Madden, der ihnen erklärt, dass ein Gedächtnisverlust normal ist, und ermutigt Dan, Fotos, Andenken und desgleichen zu verwenden, um Diana zu helfen, sich zu erholen. Dan versammelt die Familie, um Diana zu helfen, sich zu erinnern, auch wenn er anfangs nur geringfügige Erfolge zu verzeichnen hat. Doch als Natalie die Spieluhr aus einem Stapel Andenken zieht, lässt er diese verschwinden und lässt Diana verwirrt zurück. Gabe erscheint, unbemerkt, und beklagt, dass Diana ihn vergessen habe, doch dass er immer noch bei ihr sei, während Diana Dan sagt, dass es etwas gebe, an das sie sich dringend erinnern müsse, das ihr auf der Zunge liegt. Als Henry kommt und Natalie sucht, studiert Diana sein Gesicht und fragt nach seinem Alter. Er erinnert sie an jemanden. Entnervt eilt Henry in Natalies Schlafzimmer, um sie zu überreden, ihn in der nächsten Nacht zum Tanz zu begleiten. Diana geht zurück zu Doktor Madden, der ihr vorschlägt, weiter ihre Geschichte zu erforschen und mehr mit ihrem Mann sprechen. Diana geht zurück nach Hause und durchsucht die Kisten mit Andenken, sucht die Spieluhr. Dan versucht, sie aufzuhalten, aber die Erinnerungen an Gabe kommt schon zurück. Diana erzählt Dan, dass sie sich aber älter an Gabe erinnere und fragt ihn nach seinem Namen. Dan verweigert die Antwort und beharrt stattdessen darauf, dass sie weitere Behandlung benötige. Henry kommt, um Natalie für den Tanz abzuholen. Dan reißt währenddessen die Spieluhr aus Dianas Hände und wirft sie auf dem Boden. Diana konfrontiert Dan mit der Frage, warum er alle Probleme dulde, die sie ihm macht. Zur selben Zeit stellt Natalie Henry dieselbe Frage. Beide schwören, standhaft zu bleiben. Da erscheint Gabe wieder, was Diana dazu bringt, Doktor Madden aufzusuchen. Diana fragt Doktor Madden, was sie tun könne, wenn die Medizin nicht funktioniert. Mit ihren Fragen kommt die Erkenntnis, dass nicht ihr Gehirn, sondern ihr Seele Schuld an den Halluzinationen hat. Madden versichert ihr, dass ein Rückfall normal sei und schlägt weitere ECTs vor, doch Diana weigert sich. Natalie ist bedrückt, weil sie erfahren hat, dass ihre Mutter die Behandlung abgebrochen hat. Diana öffnet sich ihrer Tochter das erste Mal. Sie erinnert Natalie an den Tanz, für den Henry schon auf sie wartet, um sie zu trösten und zu umarmen Diana sagt Dan, dass sie ihn verlasse mit der Begründung, dass er nicht immer da sein werde, um sie zu fangen. Sie muss ein Risiko eingehen und ihre Angelegenheiten selbst regeln. Sie geht und lässt Gabe bei Dan. Als Dan sich fragt, wie sie ihn verlassen konnte, nach allem, was sie durchgemacht haben, kommt Gabe 6 und erklärt Dan, dass er nirgendwo hingehen werde. Dan verzweifelt immer mehr, bis er ihn endlich sieht und ihn zum ersten Mal beim Namen nennt. Hier erfährt auch das Publikum Gabes Name. Natalie kommt nach Hause, ihr Vater sitzt alleine in der Dunkelheit, tränenüberströmt. Sie tröstet ihn und schaltet das Licht an. Natalie versichert ihm, dass die beiden die Situation schon meistern werden. Diana ist allein und immer noch verletzt, aber hoffnungsvoll. Dan besucht Doktor Madden in der Hoffnung, über Diana reden zu können, aber er gibt ihm stattdessen den Namen eines anderen Therapeuten. https://de.wikipedia.org/wiki/Next_to_Normal     7 Next to Normal           aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie Next to Normal ist ein Musical von Brian Yorkey (Libretto) und Tom Kitt (Musik). Es erzählt die Geschichte einer Mutter, die an einer bipolaren Störung leidet und von den Auswirkungen, die diese auf ihre Familie hat. Außerdem befasst sich das Musical mit Themen wie Trauer um einen Verlust, Selbstmord, Drogenabhängigkeit, Ethik in der modernen Psychiatrie und dem Leben in einem Vorort. Das Musical gewann 2009 den Tony Award in den Kategorien „Best Original Score“ (Tom Kitt [Musik] und Brian Yorkey [Libretto]), „Best Orchestration“ (Michael Starobin und Tom Kitt), und „Best Performance by a Leading Actress in a Musical“ (Alice Ripley). Die Show war für 11 Tony Awards nominiert, unter anderem als „Best Musical“. Es gab mehrere Workshop-Aufführungen von Next to Normal vor dem Off-Broadway-Debüt 2008. Die Show gewann den „Outer Critics' Circle Award“ für eine herausragende Leistung, außerdem erhielt Alice Ripley eine Nominierung für den „Drama Desk Award“ als beste Hauptdarstellerin. Nachdem das Stück am Off-Broadway ein Erfolg geworden war, wurde das Stück von November 2008 bis Januar 2009 in der Arena Stage in Crystal City (Virginia) gespielt, bevor es im April 2009 seine Premiere am Broadway feierte und 2010 mit dem Pulitzerpreis für Drama ausgezeichnet wurde. Entwicklung Workshops und Leseproben Das Musical, das ursprünglich Feeling Electric hieß, wurde zum ersten Mal auf einer Lesung 2002 im Cutting Room in New York City vorgestellt, mit Norbert Leo Butz als Dan und Sherie Rene Scott als Diana, im Anschluss daran gab es eine szenische Lesung im Oktober 2002 im Musical Mondays Theater Lab in New York. 2005 wurde das Stück zum ersten Mal in einer Workshop-Aufführung im Village Theatre (Issaquah) gezeigt, mit Amy Spanger als Diana, Mary Faber als Natalie und Deven May als Dr. Madden. Im September 2005 nahm die Barrow Group Arts Center Produktion am New York Musical Theatre Festival teil, mit Amy Spanger als Diana, Joe Cassidy als Dan, Annaleigh Ashford als Natalie und Anthony Rapp als Dr. Madden. Das Second Stage Theatre produzierte das Stück im Jahr 2006 sowie im Jahr 2007 mit Joe Cassidy und Greg Edelman als Dan, Alice Ripley als Diana, Mary Faber und Phoebe Strole als Natalie, Anthony Rapp als Dr. Madden/Dr. Fine und Skylar Astin als Henry. Off-Broadway- und Pre-Broadway-Produktionen Next to Normal wurde am Off-Broadway unter seinem heutigen Namen im Second Stage Theatre gespielt (vom 16. Januar bis zum 16. März 2008; Regie: Michael Greif, mit Anthony Rapp als Regieassistent und unter der musikalischen Leitung von Sergio Trujillo). Schon im damaligen Cast waren Alice Ripley als Diana und Brian d'Arcy James als Dan zu sehen. Der Nachname der Familie wurde von Brown in Godmann geändert. Die Show erhielt gemischte Rezensionen, Kritiker schrieben, dass eine unverantwortliche Botschaft über die Behandlung einer bipolaren Störungen gezeigt werde und nicht die richtige Balance zwischen Pathos und Humor gefunden worden sei. 8       Nach der Überarbeitung des Stücks lief eine pre-Broadway-Produktion im Arena Stage Theatre in Crystal City, VA. Regie führte wieder Michael Greif. Alice Ripley und die meisten Mitglieder des off-Broadway Casts nahmen an dieser Produktion teil, aber Brain d'Arcy James blieb in New York, um die Titelrolle im Musical „Shrek“ zu spielen und wurde durch J. Robert Spencer ersetzt. Asa Somers, der Dr. Madden und Dr. Fine spielte, wurde durch Louis Hobson ersetzt. Einige der Nummern wurden geändert und andere durch Lieder, die den emotionalen Inhalt des Buches wiedergeben sollten, ersetzt. Die Produktion erhielt begeisterte Kritiken. Broadway-Produktion 2009 Am 27. März gab es eine Preview von „Next to Normal“ am Broadway im Booth Theatre. Premiere feierte das Musical am 15. April 2009. Es spielte der Cast der Arena-Stage-Produktion unter der Regie von Michael Greif. Bis Ende Januar 2011 wurde das Musical über 733-mal gespielt. Deutschsprachige Erstaufführung 2013, österreichische Erstaufführung 2014 Am 11. Oktober 2013 fand die deutschsprachige Erstaufführung von next to normal - fast normal unter der Regie und in der deutschen Übersetzung von Titus Hoffmann im Stadttheater Fürth statt. Zur namhaften Besetzung gehörten Pia Douwes als Diana, Thomas Borchert als Dan, Dirk Johnston als Gabe, Sabrina Weckerlin als Natalie, Dominik Hees als Henry und Ramin Dustdar als Dr. Fine bzw. Dr. Madden. Am 3. Juni 2014 erschien die Deutsche Originalaufnahme Live (aufgenommen im Stadttheater Fürth) auf CD und auf itunes. Wegen der großen Nachfrage fand am 30. April 2015 eine Wiederaufnahme der Fürther Inszenierung statt. Alle Beteiligten waren dabei wieder mit von der Partie - einzig Armin Kahl war neu in der Doppelrolle als Dr.Fine/Dr.Madden. Aufgrund von Stimmproblemen von Pia Douwes, sang Kristin Hölck, die in der Linzer Produktion schon die Diana spielte, am 9. und 10. Mai von der Orchesterloge aus, während Pia Douwes auf der Bühne dazu die Lippen bewegte. Die erste österreichische Inszenierung hat am 18. Januar 2014 im Schauspielhaus des Landestheaters Linz als sechste Produktion des Ende 2012 gegründeten Musicalensembles Linz Premiere. Regie führt Matthias Davids, es spielen Kristin Hölck (Diana), Reinwald Kranner (Dan), Oliver Liebl (Gabe), Lisa Antoni/Ariana Schirasi-Fard (Natalie), Christian Manuel Oliveira (Henry) und Rob Pelzer (Dr. Madden).  Fast normal (Next to Normal) – Die Deutsche Erstaufführung des Broadway-Erfolgsmusicals am Stadttheater Fürth    Dramaturgisch einwandfrei durchgerüttelt von Dieter Stoll Fürth, 11. Oktober 2013. Eben noch flippten die Psychopharmaka wie riesige Bonbons triumphierend durch düstere Gedanken einer Suizidgefährdeten, da kippt die depressive Patientin in einem Verzweiflungsakt sämtliche Aufheiterungs-Medikamente in die Toilette. Den besorgten Ehemann, der seine seit 16 Jahren an einer "bipolaren Störung" erkrankte Frau mit schwindenden Kräften zu lenken versucht, fertigt sie scheinbar gutgelaunt ab: "Wir haben die glücklichste Klospülung der Straße". Leistungsstarkes Werk Der ruppige Witz passt zum Genre, der Anlass dazu ist ein veritabler TabuBruch. Denn im Show-Schaumschlag, mit dem die Musical-Sparte mittlerweile   9         weltweit eingeseift wird, gab es über die Jahre öfter mal schwarzen Humor, aber noch nie etwas Vergleichbares wie den Todestanz um das Bewusstsein von real existierender Geisteskrankheit. Das Komitee für den Pulitzer-Preis war nach der Broadway-Uraufführung vonNext to Normal davon offenbar so verblüfft, dass es den drei Tony-Awards der Spezialisten aus dem Jahr 2009 tatsächlich 2010 die Auszeichnung fürs beste Drama hinterherreichte. Mit der jedem Pädagogen zur Ehre gereichenden Begründung, dieses "leistungsstarke" Werk habe "die Bandbreite des Anwendungsbereichs Musical erweitert". Kann man so sehen. Bleibt die Frage, was der gesprengte Rahmen dem Theater bringt. Jenseits der Musical-Betriebsunfälle Dass es bis zum Import nach Deutschland einige Spielzeiten dauerte (und ohne den persönlichen Einsatz des für Übersetzung und Erstaufführung zuständigen Titus Hoffmann wohl noch mehrere gedauert hätte), ist erklärbar. Anders als in den USA, wo etwa Stephen Sondheim mit seinem literarischen Ehrgeiz als alternative Größe zu Webber & Co. schon lange akzeptiert war, haben sich hierzulande die freien Produzenten aufs spektakuläre Großformat spezialisiert und die Stadttheater mit ihrer Spartentrennung überwiegend künstlerische Betriebsunfälle verursacht. Wo Sänger auf komplexe Dialoge oder Schauspieler auf kehlkopflastige Songs gestoßen wurden, gab es nur in Sonderfällen Erfolgsmeldungen. Kurzum, der von dieser singenden Krankenakte überzeugte Hoffmann - er war unter anderem Produktionsleiter beim Wiener Musical-Glücksfall "The Producers", das auch im Berliner Admiralspalast Station machte - musste, nachdem er die deutschen Aufführungsrechte gesichert hatte, bei vielen ängstlichen Intendanten Klinken putzen. Der Fürther Theaterchef Werner Müller konnte es wagen, er engagiert für all seine Premieren durchweg gezielt die Darsteller und war mit den sechs mitgebrachten Akteuren aus der einschlägigen Szene optimal bedient. 90 Prozent Musik Die Fürther Inszenierung auf mehrstöckigem Bühnengerüst mit VideoIllustration, das auch jede "Westside Story" verkraften könnte, ist vor allem auf Tempo bedacht. Gleitende Übergänge für Charakter-Miniaturen, harte Schnitte zwischen den Show-Blöcken. Immer darauf achtend, dass die deutsche Übersetzung der 39 Song-Teilchen geschmeidig abgesetzt bleibt von den wenigen, drastisch einschlagenden Prosa-Brocken: "Ich spüre gar nichts mehr", klagt die Kranke. "Patient stabil", sagt der Arzt. Nach solch dunklen Momenten ohne Sound-Salbung hilft ein wenig Sentimentalität und der Ruf nach "Licht", der metaphorisch geballt zum Finale kommt – gesungen wie mindestens 90 Prozent der nahezu komplett durchkomponierten Aufführung. Brian Yorkey (Buch und Liedtexte) erzählt also nicht direkt dem Publikum, eher im Umweg dem Komponisten (Tom Kitt blättert ein Sortiment von Möglichkeiten aus Rock-Balladen, Soul-Imitaten wie auch raffinierten Ensemble-Konstruktionen auf und manchmal sülzt er nur herzhaft wie unser Xavier Naidoo) von dieser Standardfamilie Goodman, die vom Schicksal dramaturgisch einwandfrei durchgerüttelt wird. Als wolle er herausfordernd sagen: Was fällt dir dazu ein? Gedankliche Komplikationen nicht zu befürchten Die Fürther Musiker um Christoph Wohlleben, hinter der Dekoration souverän im Einsatz, balancieren mit den öfter mal auseinanderstrebenden Elementen von Konzert und Drama. Abstürze sind nicht zu befürchten, alle Beteiligten 10    beherrschen ihr Handwerk. Die Handlung bleibt sperrig: Mutter Diana (Pia Douwes singt und spielt sie voller melancholischer Rest-Energie) hat ihre Depression, seit Sohn Gabe im Kindbett starb (der junge Dirk Johnston geistert wie leibhaftig weitergewachsen als kletternder Dämon im T-Shirt durch Handlung und Bewusstsein), während die vernachlässigte Tochter (Sabrina Weckerlin) in den Drogenrausch abdriftet, aber zu unser aller Freude Halt findet am bodenständigen Freund Henry (Dominik Hees, ganz Sympathieträger, da er das Leben für eine Katastrophe hält, aber dabei cool bleibt). Vater Dan (Thomas Borchert) sucht Lösungen im "Depressions-Chatroom" und gerät an Ärzte (mal tranig wienerisch, mal als Rockstar-Therapeut: Ramin Dustdar), die auch die Zerstörung von Erinnerung durch Elektro-Schocks als "fast normal" empfehlen. Bei der Premiere war zu beobachten, wie sich das Publikum, geeicht auf die üblichen Musical-Rituale mit den großzügigen Publikums-Juchzern nach jedem Song-Aufschwung, erst vom Schrecken des höheren Anspruchs der Fabel erholen mussten. Als dann klar wurde, dass das "System Musical" auch auf dieser etwas mehr als sonst gewundenen Abzweigung eigenartig funktioniert, also zumindest in Deutschland schwerlich mit den gedanklichen Komplikationen eines Schauspiels zu verwechseln ist, war der Jubel nicht mehr aufzuhalten. Der gerührte Kritiker der New York Times und die Pulitzerpreis-Jury hätten ihre Freude dran gehabt. Fast normal – next to normal (DSE) Musik von Tom Kitt, Buch und Gesangstexte von Brian Yorkey, deutsche Fassung von Titus Hoffmann Regie: Titus Hoffmann, Choreografie: Melissa King, Ausstattung: Stephan Prattes. Mit: Thomas Borchert, Pia Douwes, Ramin Dustdar, Dominik Hees, Dirk Johnston, Sabrina Weckerlin. Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause www.stadttheater.fuerth.de     Kritikenrundschau "Da reißt ein Stück 700 Leute — die handelsüblichen Musical-Claqueure inklusive — aus den Sitzen, weil es an die Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts andockt", schreibt Matthias Boll in den Nürnberger Nachrichten (15.10.2013). Das "Husarenstück" von Regisseur und Übersetzer Titus Hoffmann besteht aus Bolls Sicht darin, eine kongeniale deutschsprachige Fassung der verblüffend dichten, Ironie, Tragik und Gefühl "souverän im Gleichgewicht haltendenden Textfaktur" des Originals erarbeitet zu haben, "die diesem 150-Minüter einen von der ersten Sekunde an fesselnd soghaften Drive gibt". Wäre nicht der aus Bolls Sicht "dramaturgisch holprigere zweite Teil mit einem allzu Apotheken-Umschau-mäßig parlierenden Therapeuten (Ramin Dustdar) und ein Schluss, der mit dem Song 'Licht' eine ärgerlich deplatzierte Kirchentags-Atmosphäre schafft", direser Kritiker "könnte Stück und Produktion für rundum großartig halten". Fast normal (Next to Normal) – Die Deutsche Erstaufführung des Broadway-Erfolgsmusicals am Stadttheater Fürth 11             Dramaturgisch einwandfrei durchgerüttelt von Dieter Stoll Fürth, 11. Oktober 2013. Eben noch flippten die Psychopharmaka wie riesige Bonbons triumphierend durch düstere Gedanken einer Suizidgefährdeten, da kippt die depressive Patientin in einem Verzweiflungsakt sämtliche Aufheiterungs-Medikamente in die Toilette. Den besorgten Ehemann, der seine seit 16 Jahren an einer "bipolaren Störung" erkrankte Frau mit schwindenden Kräften zu lenken versucht, fertigt sie scheinbar gutgelaunt ab: "Wir haben die glücklichste Klospülung der Straße". Leistungsstarkes Werk Der ruppige Witz passt zum Genre, der Anlass dazu ist ein veritabler TabuBruch. Denn im Show-Schaumschlag, mit dem die Musical-Sparte mittlerweile weltweit eingeseift wird, gab es über die Jahre öfter mal schwarzen Humor, aber noch nie etwas Vergleichbares wie den Todestanz um das Bewusstsein von real existierender Geisteskrankheit. Das Komitee für den Pulitzer-Preis war nach der Broadway-Uraufführung vonNext to Normal davon offenbar so verblüfft, dass es den drei Tony-Awards der Spezialisten aus dem Jahr 2009 tatsächlich 2010 die Auszeichnung fürs beste Drama hinterherreichte. Mit der jedem Pädagogen zur Ehre gereichenden Begründung, dieses "leistungsstarke" Werk habe "die Bandbreite des Anwendungsbereichs Musical erweitert". Kann man so sehen. Bleibt die Frage, was der gesprengte Rahmen dem Theater bringt. Jenseits der Musical-Betriebsunfälle Dass es bis zum Import nach Deutschland einige Spielzeiten dauerte (und ohne den persönlichen Einsatz des für Übersetzung und Erstaufführung zuständigen Titus Hoffmann wohl noch mehrere gedauert hätte), ist erklärbar. Anders als in den USA, wo etwa Stephen Sondheim mit seinem literarischen Ehrgeiz als alternative Größe zu Webber & Co. schon lange akzeptiert war, haben sich hierzulande die freien Produzenten aufs spektakuläre Großformat spezialisiert und die Stadttheater mit ihrer Spartentrennung überwiegend künstlerische Betriebsunfälle verursacht. Wo Sänger auf komplexe Dialoge oder Schauspieler auf kehlkopflastige Songs gestoßen wurden, gab es nur in Sonderfällen Erfolgsmeldungen. Kurzum, der von dieser singenden Krankenakte überzeugte Hoffmann - er war unter anderem Produktionsleiter beim Wiener Musical-Glücksfall "The Producers", das auch im Berliner Admiralspalast Station machte - musste, nachdem er die deutschen Aufführungsrechte gesichert hatte, bei vielen ängstlichen Intendanten Klinken putzen. Der Fürther Theaterchef Werner Müller konnte es wagen, er engagiert für all seine Premieren durchweg gezielt die Darsteller und war mit den sechs mitgebrachten Akteuren aus der einschlägigen Szene optimal bedient. 90 Prozent Musik Die Fürther Inszenierung auf mehrstöckigem Bühnengerüst mit VideoIllustration, das auch jede "Westside Story" verkraften könnte, ist vor allem auf Tempo bedacht. Gleitende Übergänge für Charakter-Miniaturen, harte Schnitte zwischen den Show-Blöcken. Immer darauf achtend, dass die deutsche Übersetzung der 39 Song-Teilchen geschmeidig abgesetzt bleibt von den wenigen, drastisch einschlagenden Prosa-Brocken: "Ich spüre gar nichts mehr", klagt die Kranke. "Patient stabil", sagt der Arzt. 12       Nach solch dunklen Momenten ohne Sound-Salbung hilft ein wenig Sentimentalität und der Ruf nach "Licht", der metaphorisch geballt zum Finale kommt – gesungen wie mindestens 90 Prozent der nahezu komplett durchkomponierten Aufführung. Brian Yorkey (Buch und Liedtexte) erzählt also nicht direkt dem Publikum, eher im Umweg dem Komponisten (Tom Kitt blättert ein Sortiment von Möglichkeiten aus Rock-Balladen, Soul-Imitaten wie auch raffinierten Ensemble-Konstruktionen auf und manchmal sülzt er nur herzhaft wie unser Xavier Naidoo) von dieser Standardfamilie Goodman, die vom Schicksal dramaturgisch einwandfrei durchgerüttelt wird. Als wolle er herausfordernd sagen: Was fällt dir dazu ein? Gedankliche Komplikationen nicht zu befürchten Die Fürther Musiker um Christoph Wohlleben, hinter der Dekoration souverän im Einsatz, balancieren mit den öfter mal auseinanderstrebenden Elementen von Konzert und Drama. Abstürze sind nicht zu befürchten, alle Beteiligten beherrschen ihr Handwerk. Die Handlung bleibt sperrig: Mutter Diana (Pia Douwes singt und spielt sie voller melancholischer Rest-Energie) hat ihre Depression, seit Sohn Gabe im Kindbett starb (der junge Dirk Johnston geistert wie leibhaftig weitergewachsen als kletternder Dämon im T-Shirt durch Handlung und Bewusstsein), während die vernachlässigte Tochter (Sabrina Weckerlin) in den Drogenrausch abdriftet, aber zu unser aller Freude Halt findet am bodenständigen Freund Henry (Dominik Hees, ganz Sympathieträger, da er das Leben für eine Katastrophe hält, aber dabei cool bleibt). Vater Dan (Thomas Borchert) sucht Lösungen im "Depressions-Chatroom" und gerät an Ärzte (mal tranig wienerisch, mal als Rockstar-Therapeut: Ramin Dustdar), die auch die Zerstörung von Erinnerung durch Elektro-Schocks als "fast normal" empfehlen. Bei der Premiere war zu beobachten, wie sich das Publikum, geeicht auf die üblichen Musical-Rituale mit den großzügigen Publikums-Juchzern nach jedem Song-Aufschwung, erst vom Schrecken des höheren Anspruchs der Fabel erholen mussten. Als dann klar wurde, dass das "System Musical" auch auf dieser etwas mehr als sonst gewundenen Abzweigung eigenartig funktioniert, also zumindest in Deutschland schwerlich mit den gedanklichen Komplikationen eines Schauspiels zu verwechseln ist, war der Jubel nicht mehr aufzuhalten. Der gerührte Kritiker der New York Times und die Pulitzerpreis-Jury hätten ihre Freude dran gehabt. Fast normal – next to normal (DSE) Musik von Tom Kitt, Buch und Gesangstexte von Brian Yorkey, deutsche Fassung von Titus Hoffmann Regie: Titus Hoffmann, Choreografie: Melissa King, Ausstattung: Stephan Prattes. Mit: Thomas Borchert, Pia Douwes, Ramin Dustdar, Dominik Hees, Dirk Johnston, Sabrina Weckerlin. Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause www.stadttheater.fuerth.de    Kritikenrundschau "Da reißt ein Stück 700 Leute — die handelsüblichen Musical-Claqueure inklusive — aus den Sitzen, weil es an die Lebenswirklichkeit des 21. 13 Jahrhunderts andockt", schreibt Matthias Boll in den Nürnberger Nachrichten (15.10.2013). Das "Husarenstück" von Regisseur und Übersetzer Titus Hoffmann besteht aus Bolls Sicht darin, eine kongeniale deutschsprachige Fassung der verblüffend dichten, Ironie, Tragik und Gefühl "souverän im Gleichgewicht haltendenden Textfaktur" des Originals erarbeitet zu haben, "die diesem 150-Minüter einen von der ersten Sekunde an fesselnd soghaften Drive gibt". Wäre nicht der aus Bolls Sicht "dramaturgisch holprigere zweite Teil mit einem allzu Apotheken-Umschau-mäßig parlierenden Therapeuten (Ramin Dustdar) und ein Schluss, der mit dem Song 'Licht' eine ärgerlich deplatzierte Kirchentags-Atmosphäre schafft", direser Kritiker "könnte Stück und Produktion für rundum großartig halten". http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8617:next-tonormal-fast-normal-die-deutsche-erstauffuehrung-des-broadway-erfolgsmusicals-amstadttheater-fuerth&catid=292&Itemid=100190 14 Musical Das Musical [ˈmju:zikəl][1] ist eine in New York entstandene, in der Regel zweiaktige Form populären Musiktheaters, die Elemente des Dramas, der Operette, des Varietees und in Ausnahmefällen- der Oper miteinander verbindet. Es basiert häufig auf literarischen Vorlagen und verwendet die Mittel des amerikanischen Popsongs, der Tanz- und Unterhaltungsmusik und des Jazz. Showszenen, Songs und Balletts sind in die Handlung integriert. Den Autoren ist dabei eine dramatisch-integrierte Form wichtig; also ein Drama, das Text, Gesang, Tanz und Musik zu einer Einheit verschmelzen lässt. Das Musical ist „Drama mit Musik“, während die Operette als „Drama in der Musik“ definiert wird. Während bei der Operette nur der Komponist genannt wird, werden beim Musical der Komponist, der Librettist und manchmal auch der Lyricist genannt. Das Musical ist ein Gesamtkunstwerk und ist eine literarische als auch eine musiktheatralische Gattung. Etymologie Das Wort Musical ist lediglich ein Adjektiv (engl. musikalisch) und wurde in ergänzenden Bezeichnungen zu den Stücktiteln gebraucht wie A Musical Comedy, A Musical Play, Musical Drama, Musical Fable, Musical Revue. Eine genaue Definition des Begriffes ist schwierig, da er eine große Stilfülle beinhaltet und sich die Vorstellungen im Lauf der Zeit geändert haben. Häufig werden „Musical“ und „Musical Comedy“ synonym verwendet. Mit Musical ist im engeren Sinne „Musical Play“ (im Stil von Showboat (1927)) gemeint. Geschichte Ursprünge Als in Amerika sich das Theater zu etablieren beginnt, war die Balladenoper die dominierende Gattung des Theaters in der englischsprachigen Welt. Kein Wunder also, dass die amerikanischen Autoren sich dieses Genres für ihr Nationaltheater bedienten. Selbst das ernste Theater, wie Royal Tylers The Contrast oder James Nelson Barkers Pocahontas, enthält Lieder. Der entscheidende Wegbereiter für das Musical war die Minstrel Show. Da das Musical in einer demokratischen Gesellschaft entstand und nicht von Aristokraten finanziert wurde, musste es Unterhaltung für jedermann sein. Das Musical entstand in einem kommerziellen System; die Zuschauer sollten den Theaterbetrieb finanzieren. Um möglichst viele Leute ins Theater zu bringen, musste das amerikanische Musical Unterhaltung sein. Unter dem Deckmantel Unterhaltung wird gleichzeitig dem kritischen, intellektuellen Zuschauer ernsthafte, sozialkritische und anspruchsvolle Unterhaltung geboten. Das Musical entwickelte sich aus älteren Formen des musikalischen Theaters wie Opera buffa, Operette und Singspiel. Die Ursprünge des Musicals finden sich in London und New York im 19. Jahrhundert. Als erstes Musical überhaupt wird oft das 1866 produzierte Spektakel The Black Crook genannt. The Black Crook war zunächst ein Melodram ohne Musik. Die Produzenten wollten ein französisches Ballett in die Handlung integriert haben. Der Autor Charles Barras gab aus Geldgründen nach und integrierte das Ballett. 15 Eine entscheidende Rolle ungefähr seit dem Ersten Weltkrieg spielte das Theaterviertel am Broadway als Schmelztiegel unterschiedlicher Nationalitäten, Kulturen, Hautfarben, Konfessionen und sozialer Schichten. So flossen die verschiedensten Einflüsse in die ersten Musicals ein: Swing und Jazz der Minstrel Shows, französische Revuen und Music Hall-Konzerte, Theaterformen der britischen Einwanderer wie das aus artistischen Nummern bestehende Vaudeville und die Burlesque, die Operette aus Paris und Wien und das Flair der Wild-West-Sideshows. Zum klassischen Operngesang gesellten sich neue Techniken wie das Belting. In aufwändigen Extravaganzas hatten Bühneneffekte, Bühnenmaschinerie, Tanzeinlagen und Kostüme große Bedeutung. Zu Beginn des Jahrhunderts bestand die Broadway-Unterhaltung noch hauptsächlich aus Revueshows wie den Ziegfeld Follies. Von einer spezifisch US-amerikanischen Gattung kann man erst seit den 1920er Jahren sprechen. Aus dieser Zeit stammen etwa George Gershwins Lady, Be Good (1924) und Jerome Kerns Show Boat (1927). Showboat gilt als das erste ernstzunehmende Musical (Musical Play). In diesem Stück ergaben sich die Songs aus der Handlung, ohne diese zu stoppen. Außerdem wurde auch Sozialkritik mit eingeflochten, wie gegen die Diskriminierung der Afroamerikaner. Klassische Zeit Der New Yorker Broadway gilt neben dem West End in London nach wie vor als Zentrum der Musicalwelt. Durch die zunehmende Konkurrenz durch den Film löste sich das Musical von der bloßen Nummernshow und erlebte von den 1930er bis zu den 1950er Jahren eine Blütezeit. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg behandelte das Musical sensible gesellschaftliche Themen, wie z. B. 1949 in South Pacific. Neben dem ernsten Musical Play gab es seit 1930 auch die Musical Comedy, die sich mit einem literarischen Buch von den bunt zusammengestellten Revuen abhob. Auf eine erste Generation von Komponisten, wie Cole Porter und George Gershwin (1920er bis 1940er Jahre), folgte auf dem Höhepunkt der „klassischen“ Zeit eine zweite mit Richard Rodgers oder Jule Styne (1940er bis 1960er). Mit dem RodgersSchüler Stephen Sondheim ging diese Tradition in den 1970er Jahren zu Ende. Als Textautor dominierte Oscar Hammerstein. Ganz wesentlich prägte West Side Story (1957) von Leonard Bernstein die zunehmende Entfernung des Musicals von Pathos und drolliger Komik. Eine Umbruchzeit waren die 1968er Jahre mit dem Niedergang der gefühlsbetonten, oft als kitschig empfundenen Musicals, die allerdings in den 1980er Jahren wiederkehrten. Das Filmmusical Die Entwicklung des Filmmusicals, die durch die Entwicklung des Tonfilms in den 1930er Jahren ins Rollen gebracht wurde und parallel zur Weiterentwicklung am Broadway verlief, machte die Gattung „Musical“ weltweit beliebt. Zunächst waren es hauptsächlich Revuefilme. Mit dem Filmmusical wurden am Anfang der Dreißiger Jahre neue Aufnahmetechniken erfunden. Die sogenannten „Overhead shots“ machten die Choreografien von Busby Berkeley, der für Warner Brothers Musicals produzierte, zum Markenzeichen. Darin bildeten – fernab jeglicher Realität – 16 Hunderte von Tänzerinnen menschliche Ornamente. In Lullaby of Broadway sieht man Hunderte von stepptanzenden Füßen in riesigen Art-Deco--Kulissen. Eine besondere Stellung hatte das Studio Metro-Goldwyn-Mayer. MGM – und hier vor allem die Produktionen Arthur Freeds – wurde zum Synonym für dieses Genre, das in Ein Amerikaner in Paris (1951, nach George Gershwin) seinen künstlerischen und qualitativen Höhepunkt fand und dafür mit einem wahren Oscarregen bedacht wurde. Ein anderes typisches Filmmusical, das sich zu einem Klassiker entwickelte, ist Singin’ in the Rain (1952), in dem die Filmindustrie persifliert wurde. Beginnend mit Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937) prägte Walt Disney die Musicalform auch für abendfüllende Zeichentrickfilme. Es fand ein reger Ideenaustausch statt zwischen dem Musicalzentrum Broadway und Hollywood, dem Mittelpunkt der Filmproduktion. So wurden viele der BroadwayErfolge verfilmt, genauso wie später Filme als Musical-Vorlage dienten. Das Medium Film eröffnete dem Musical neue Dimensionen und ermöglichte mehr Perfektion sowie üppigere Ausstattung. Durch das Verlassen der Bühne wich das Illusionstheater realistischen Landschaftsbildern. Erstmals waren rasche Szenenwechsel ohne Umbaupausen genauso realisierbar wie Nahaufnahmen, die dem Zuschauer das Gefühl vermittelten, in der ersten Reihe des Theaters zu sitzen. Das Film-Musical konnte durch einprägsame Lieder, Witz, akrobatische Tanzkünste, kostspielige Ausstattung und technische Effekte eine abwechslungsreiche Unterhaltung für ein Massenpublikum bilden. So wurde das Musical zur Handelsware und entwickelte sich zu einer „Kulturindustrie“. Die Blütezeit des Filmmusicals waren die späten vierziger und die fünfziger Jahre, danach wurde dieses Genre allmählich unpopulär. Als erfolgreichster Musicalfilm aller Zeiten folgte jedoch noch The Sound of Music (1965), die Verfilmung einer Broadway-Produktion. Filme wie Das zauberhafte Land (1939), Doktor Dolittle (1967) nach Hugh Lofting, Mary Poppins (1964) oder der Zeichentrickfilm South Park: Der Film – größer, länger, ungeschnitten (1999) ließen mitunter den (falschen) Eindruck entstehen, dieses Genre wäre vor allem für Kinder geeignet. Das Rock-Musical Ende der 1960er Jahre gingen neue Ideen und Klänge, beeinflusst durch Woodstock, Underground-Musik, auch an den Musicals nicht vorbei. Zu dieser Entwicklung gehörte das Musical Hair von 1967, das sich intensiv mit den Problemen Jugendlicher und deren aktueller Lage (Vietnamkrieg) beschäftigt. Durch eingebaute Mitspielszenen wurde die Barriere zwischen (jugendlichen) Darstellern und dem Publikum gebrochen. Auch der musikalische Stil und die Instrumentation passten sich den neuen Anforderungen an. Aktuelle Rockmusik verdrängte die sinfonischen Merkmale und die Jazzelemente in der Musik. Das Orchester wurde durch elektroakustische Instrumente wie die E-Gitarre ergänzt oder ersetzt. Hair (1967) oder Oh! Calcutta! (1969) ersetzten den Handlungsrahmen durch ein provokatives inhaltliches Konzept, das sich wieder mehr der Revue annäherte. Eine neue Art der Satire wie in Richard O’Briens The Rocky Horror Show (1973) wandte sich gegen die mittlerweile als brav empfundene Komik der Musical Comedy. 17 In den 1970er Jahren setzte sich eine neue Tendenz in der Kompositionsweise durch: Die handlungstragenden gesprochenen Dialoge im alten Stil der Opéra comique verschwanden. Es wurde nun, wie in „durchkomponierten“ großen Opern, durchgehend gesungen. Die Musik schuf einen lückenlosen Zusammenhang. In dieser Zeit entstanden Musicals wie Andrew Lloyd Webbers Jesus Christ Superstar (1971) und The Who's Tommy (1969) und Quadrophenia (1973). Moderne Musicals Mit den Stücken von Andrew Lloyd Webber wie Cats (1980), Starlight Express (1984) oder Phantom der Oper (1986) setzte seit Beginn der 1980er Jahre eine neue Musicalmode in Europa ein. Diese Musicals waren fast ausnahmslos durchkomponiert. Noch konsequenter als bei den klassischen Musicals dienten die szenische Realisierung ebenso wie die Musik als unveränderliche Vorlagen für alle Produktionen. Aufgrund der hohen Investitionen mussten sehr lange Laufzeiten erreicht werden. Ende des 20. Jahrhunderts wurden in vielen Städten spezielle Musical-Theater gebaut, um dort ein bestimmtes Musical optimal zu präsentieren. Prägnantestes Beispiel hierfür ist das 1988 für 24 Millionen DM fertiggestellte Starlight Express Theater in Bochum, dessen Installation der gesamten Bühnentechnik in nur 4 Monaten angefertigt worden ist und in nur 13 Monaten gebaut wurde. Das Theater am Stadionring steht damit zweimal im Guinness-Buch der Rekorde: Zum einen ist es das am schnellsten gebaute Theater, zum anderen, weil es das erste speziell für ein bestimmtes Stück gebaute Theater ist.[2] (Den Rekord des weltweit erfolgreichsten Musicals an einem Spielort hat die Bochumer Produktion übrigens nach 20 Jahren und über 12 Millionen Zuschauern längst eingefahren. [3]) Stilistisch hatten die Musicals des ausgehenden 20. Jahrhunderts eine große Bandbreite und orientierten sich wieder mehr an hergebrachten Theatergattungen wie der Revue, der Extravaganza, dem Melodram, dem Musical Play oder dem Film. Rock- und Jazzelemente wurden mit sinfonischen Klängen vermischt und der Operngesang mit dem Belting. Les Misérables (1980) ist dafür ein gutes Beispiel oder Aida (2000). In neuerer Zeit zeigte sich eine Annäherung des Bühnenmusicals an das Konzert in Gestalt des Jukebox-Musicals wie etwa in Buddy (1989, Buddy Holly), Saturday Night Fever (1998, Bee Gees), Mamma Mia! (1999, ABBA), We Will Rock You (2002, Queen), Priscilla, Queen of the Desert (2006, Disco-Musik, basierend auf dem Film Priscilla – Königin der Wüste), Ich war noch niemals in New York (2007, Udo Jürgens), Ich will Spaß (2008, NDW), Über Sieben Brücken (2009, Ostrock) oder Hinterm Horizont (2011, Udo Lindenberg). In den USA bleibt das Musical seiner Tradition treu. Der führende Komponist und Librettist am New Yorker Broadway ist seit den 1970er Jahren Stephen Sondheim. Das bedeutendste Musical der letzten Dekaden in den USA ist Sunday in the Park with George. Kindermusical 18 Der Begriff „Kindermusical“ erscheint zuerst Anfang der 1970er Jahre im Bereich des professionellen Kinder- und Jugendtheaters.[4] Musikalische Theaterformen für Kinder und Jugendliche sind seit dem Jesuitentheater der Renaissance verbreitet. Im Rahmen des Religionsunterrichtes und in der Kinder- und Jugendarbeit der Kirchen werden gern Kindermusicals erarbeitet. Neueren Datums sind die Stücke des Braunschweiger Domkantors Gerd-Peter Münden und des Komponisten Klaus Heizmann (Der verlorene Sohn, Der Stern von Bethlehem, Suleilas erste Weihnacht), sowie das Werk Unterwegs mit David von Michael Benedict Bender und Ingo Bredenbach nach einem Text von Brigitte Antes. An nicht religiösen Musicals, die zur Aufführung durch Kinder bestimmt sind, gibt es etwa die Ritter Rost-Serie von Jörg Hilbert und Felix Janosa (Terzio Verlag), dann die Musicals des Ehepaars Veronika te Reh und Wolfgang König (Carus-Verlag) sowie die Musicals aus dem Fidula-Verlag unter anderem von Mechtild von Schoenebeck. Zum Mozartjahr 2006 erschien das Kindermusical Amadeus legt los von Thekla und Lutz Schäfer. Musicals für die Aufführung durch Jugendliche schreibt u.a. Claus Martin (Pinocchio, Heidi, Dracula, das Grusical, Cantus Verlag) Neben den für jugendliche Amateure bestimmten Kindermusicals gibt es professionelle Produktionen für Kinder, meist nach Kinderbüchern und -filmen wie Pippi Langstrumpf, Das Sams, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Tabaluga. Einer der meistgespielten Autoren in diesem Bereich ist Christian Berg (viele seiner Werke mit der Musik von Konstantin Wecker) Wichtige Musical-Komponisten Die Liste ist alphabetisch sortiert nach dem Namen des Komponisten.                    Benny Andersson und Björn Ulvaeus (Chess, Kristina från Duvemåla, Mamma Mia!) Harold Arlen (Jamaica, Der Zauberer von Oz) Burt Bacharach (Promises, Promises) Lionel Bart (Oliver!) Irving Berlin (Annie Get Your Gun, Call Me Madam, Miss Liberty) Leonard Bernstein (On the Town, West Side Story, Wonderful Town, Candide (nach Voltaires Candide)) Jerry Bock (Anatevka, She Loves Me) Jason Robert Brown (Parade, Songs For A New World, The Last Five Years, Urban Cowboy) Warren Casey und Barry Gibb (Grease) Frank Churchill (Schneewittchen und die sieben Zwerge, Dumbo, Bambi) Cy Coleman (Little Me, The Life, I Love My Wife, Sweet Charity, Seesaw, On the Twentieth Century, Barnum, City of Angels) Phil Collins (Tarzan) George Gershwin (Girl Crazy, Of Thee I Sing, Shall We Dance, Funny Face) Marvin Hamlisch (A Chorus Line, They’re Playing Our Song) Jerry Herman (Hello, Dolly!, Mame, La Cage aux Folles, Dear World) Elton John (Der König der Löwen, Aida, Billy Elliot – I Will Dance) John Kander (Chicago, Cabaret, The Act, Kuss der Spinnenfrau) Jerome Kern (Show Boat, Sally, Sunny, Roberta) Jonathan Larson (Rent, Tick, Tick... BOOM!) 19                                 Mitch Leigh (Der Mann von La Mancha) Sylvester Levay (Elisabeth, Mozart!, Rebecca, Marie Antoinette) Frank Loesser (Guys and Dolls, Hans Christian Andersen, How to Succeed in Business Without Really Trying) Frederick Loewe und Alan Lerner (Brigadoon, Camelot, My Fair Lady, Gigi) Galt MacDermot (Hair) Henry Mancini (Victor/Victoria) Alan Menken (Der kleine Horrorladen (engl. Titel: Little Shop of Horrors), Die Schöne und das Biest (engl. Titel: Beauty and the Beast), Der Glöckner von Notre Dame, The Little Mermaid, Sister Act, Newsies) Richard O’Brien (The Rocky Horror Show) Cole Porter (Gay Divorce, Anything Goes, Silk Stockings, Can-Can, Kiss Me, Kate) Gerard Presgurvic (Roméo et Juliette, de la Haine à l’Amour, Autant en Emporte le Vent (Vom Winde verweht)) A. R. Rahman (Bombay Dreams) Jimmy Roberts (I Love You, You're Perfect, Now Change, The Thing About Men) Richard Rodgers und Oscar Hammerstein (Oklahoma!, Cinderella, The King and I, The Sound of Music, Carousel, South Pacific) Mary Rodgers (Once Upon on a Matress) Richard Rodgers und Lorenz Hart (Pal Joey, On Your Toes, Babes in Arms, The Boys from Syracuse) Harry Schärer (Space Dream, Twist of Time) Harvey Schmidt und Tom Jones (The Fantasticks, Mirette) Claude-Michel Schönberg (Les Misérables, Miss Saigon, Martin Guerre) Arthur Schwartz ( The Band Wagon, By the Beautiful Sea) Stephen Schwartz (Godspell, Wicked – Die Hexen von Oz, Pippin, Pocahontas, The Prince of Egypt) Marc Shaiman (Hairspray, Catch Me If You Can) Richard M. Sherman und Robert B. Sherman (Mary Poppins (Film) und Bühnenmusical, Das Dschungelbuch, Tschitti Tschitti Bäng Bäng, Aristocats, Die tollkühne Hexe in ihrem fliegenden Bett) Stephen Sondheim (A Little Night Music, A Funny Thing, Anyone Can Whistle, Company, Follies, Sweeney Todd, Into the Woods, Passion, Liedtexte zu West Side Story, Evening Primrose, Assassins, Sunday in the Park with George, Pacific Overtures, Merrily We Roll Along) Jim Steinman (Tanz der Vampire, Dance of the Vampires) Dave Stewart (Barbarella) Charles Strouse (Bye Bye Birdie, Annie) Jule Styne (Blondinen bevorzugt, Gypsy, Funny Girl) Karel Svoboda (Dracula) Pete Townshend (Tommy, Quadrophenia) Oliver Wallace (Dumbo, Cinderella, Alice im Wunderland, Peter Pan, Susi und Strolch) Harry Warren (42nd Street) Andrew Lloyd Webber (Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat, Aspects of Love, Cats, Cricket, Das Phantom der Oper, Evita, Jesus Christ Superstar, By Jeeves, Song and Dance, Starlight Express, Sunset Boulevard, The Beautiful Game, Tell Me on a Sunday, Whistle Down the Wind, The Woman in White, The Likes of Us, Phantom: Love Never Dies) 20       Konstantin Wecker (Hundertwasser-Musical, Ludwig²) Kurt Weill (Lady in the Dark, Street Scene, Lost in the Stars, One Touch of Venus) Frank Wildhorn (Jekyll & Hyde, The Scarlet Pimpernel, Dracula, Victor/Victoria, Rudolf - Affaire Mayerling, Der Graf von Monte Christo) Meredith Willson (The Music Man, The Unsinkable Molly Brown) Eric Woolfson (Freudiana, Gaudí, Gambler, Dancing with Shadows, Edgar Allan Poe) Maury Yeston (Nine, Phantom, Titanic – Das Musical) http://de.wikipedia.org/wiki/Musical 21 Bipolare Störung Die bipolare Störung ist eine psychische Erkrankung, bei der die Betroffenen an übersteigerten, weit über das normale Maß hinausgehenden Stimmungsschwankungen und Antriebsstörungen leiden. Dabei wechseln sich depressive Phasen mit manischen Phasen ab. Während depressive Episoden mit einem Gefühl der Traurigkeit und inneren Leere, Interessen- und Antriebslosigkeit einhergehen, empfinden Betroffene in manischen Phasen eine grenzenlose Hochstimmung mit gesteigertem Tatendrang und Selbstüberschätzung. Was ist eine bipolare Störung? Stimmungsschwankungen kennt vermutlich jeder Mensch. An manchen Tagen fühlt man sich glücklich, das Leben ist heiter und unbeschwert und alles geht einem leicht von der Hand. Dann wiederum gibt es Tage, an denen man sich bereits beim Aufwachen niedergeschlagen fühlt. Die Welt wirkt trist und grau und alles erscheint anstrengend und mühsam. Solche gelegentlichen Stimmungsschwankungen sind völlig normal und meistens eine Reaktion auf bestimmte Situationen und Lebensumstände. Bei der bipolaren Störung, die einige Ärzte auch als manisch-depressive Erkrankung bezeichnen, gehen die Stimmungsschwankungen weit über dieses normale Maß hinaus. Die Stimmung pendelt unabhängig von der Lebenssituation und ohne konkreten Anlass wie bei einer Achterbahnfahrt zwischen den Extremen hin und her – von „himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt“. Phasen schwerer Depression und Schwermütigkeit und sogenannte manische Phasen mit intensivem Hochgefühl und überschäumender Euphorie lösen sich gegenseitig ab und können sich ohne Unterbrechung über viele Monate oder sogar Jahre hinziehen. Bei Menschen mit einer bipolaren Störung schwanken die Stimmungen zwischen tiefer Depression und euphorischer Hochstimmung Die Betroffenen fühlen sich diesem Wechselbad der Gefühle meistens hilflos ausgeliefert und sind kaum in der Lage, ihre Stimmung selbst zu beeinflussen. Die bipolare Störung wirkt sich allerdings nicht nur auf die Stimmung aus, sie verändert auch das Denken, das Handeln und den körperlichen Zustand der betroffenen Menschen. In manchen Fällen ist die psychische und soziale Beeinträchtigung durch die Erkrankung so schwerwiegend, dass ein normaler Alltag nicht mehr möglich ist. Die bipolare Störung ist kein einheitliches Krankheitsbild und verläuft individuell sehr unterschiedlich. Vor allem die Schwere und die Länge der einzelnen Episoden kann sehr verschieden sein. Grundsätzlich unterscheiden Ärzte vier unterschiedliche Formen der bipolaren Störung:   Bipolar-I-Erkrankungen sind durch einen Wechsel von stark ausgeprägten Manien und schweren Depressionen gekennzeichnet. Bei den Bipolar-II-Erkrankungen sind die manischen Phasen kürzer und weniger stark ausgeprägt als bei der Bipolar-I-Erkrankung. Man bezeichnet solche Episoden auch als Hypomanien. Hypomanische Episoden sind oft sehr schwer festzustellen und das Krankheitsbild ist nur schlecht von einer reinen Depression zu unterscheiden. 22   Eine besondere Form der bipolaren Störung ist das Rapid Cycling, das viele Betroffene als extrem belastend beschreiben. Beim Rapid Cycling kommt es zu einem besonders schnellen Wechsel der Episoden. Innerhalb von 12 Monaten treten mindestens vier manische, hypomanische oder depressive Phasen auf. Bei den gemischten Episoden treten Symptome von Depression und Manie entweder in extrem schnellem Wechsel oder gleichzeitig auf. Das Krankheitsbild ist bei solchen Mischzuständen sehr variabel und schwer zu diagnostizieren. Die bipolare Störung ist eine relativ häufige psychische Erkrankung. Experten schätzen, dass bis zu fünf Prozent der Bevölkerung davon betroffen sind. Das entspricht alleine in Deutschland ca. vier Millionen Menschen. Die Krankheit beginnt meistens im jugendlichen bis jungen Erwachsenenalter. Da Stimmungsschwankungen gerade in der Pubertät aber auch bei gesunden Jugendlichen nicht ungewöhnlich sind, wird die bipolare Störung zu dieser Zeit oft noch nicht als solche erkannt. Noch heute vergehen zwischen der ersten Episode und der Diagnose durchschnittlich fünf bis zehn Jahre. Die psychische und soziale Entwicklung der Betroffenen ist zum Zeitpunkt der Diagnose deshalb oft schon nachhaltig gestört. Es ist deshalb besonders wichtig, die Anzeichen einer bipolaren Störung möglichst früh zu erkennen und so schnell wie möglich medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zwar kann die Erkrankung zum heutigen Zeitpunkt nicht geheilt werden, eine angemessene Behandlung kann die Situation der Patienten aber erheblich verbessern. http://www.praxisvita.de/bipolare-storung 23 Bipolare Störung "In einer Manie war meine Mutter nicht zu stoppen" Die einen sagen bipolare Störung, die anderen manisch-depressiv. Naema Gabriel ist der Name egal: Ihre Mutter leidet an der chronischen Krankheit. Ein Interview. Selbst viele Erwachsene wissen nicht, was eine bipolare Störung ist. Naema Gabriel wurde schon früh damit konfrontiert, denn sie und ihre ältere Schwester wuchsen bei ihrer manisch-depressiven Mutter auf. Ihre Erfahrungen hat sie in dem Bilderbuch "Sinus" verarbeitet. Ein Gespräch über Spaghetti in der Badewanne und die Angst vorm Waisenhaus. "Laut Beipackzettel darf Mama in ihrem Zustand nicht Auto fahren oder andere Maschinen bedienen. Vom Kindererziehen steht da nichts." - Obwohl Naema Gabriels Mutter an einer bipolaren Störung leidet, zog sie ihre beiden Töchter alleine groß - und brachte sie damit mehrfach in Lebensgefahr. Foto: Naema Gabriel "Mama war traurig, weil die Liebe zwischen Mama und Papa aufgebraucht war. Und die Liebe zwischen Mama und Papa war aufgebraucht, weil Mama immer traurig war. Da haben sie ihren Tisch und ihr Bett zertrennt. Zuerst für ein Jahr und dann für immer. Franka und ich, wir sind untrennbar. Papa hat gesagt, ich will die Kinder bei mir haben. Mama hat gesagt: ich will lieber tot sein als von den Kindern getrennt. So lieb hat sie uns. Deswegen sind wir mit Mama, mit den Möbeln und den Schachteln bei Papa ausgezogen. Mamas Wohnung ist voll bis unter die Decke und viel zu klein für uns. Papas Wohnung ist leer und viel zu groß für uns. Heute ist das Jahr vorbei. Heute fängt für immer an." (Auszug aus Naema Gabriels Buch "Sinus") Frau Gabriel, woran haben Sie gemerkt, dass Ihre Mutter anders ist? 24 Naema Gabriel: Einen Schlüsselmoment gab es an meinem sechsten Geburtstag. Ich wusste von anderen Kindergeburtstagen, dass Mütter sich normalerweise im Hintergrund halten, Spiele vorschlagen, Würstchen und Kuchen reichen. Meine Mutter hat wie ein Partylöwe alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, war in ihrer Euphorie nicht zu stoppen und hat mich dabei komplett vergessen. Da hat es mich das erste Mal wirklich gestört. In ihren manischen Phasen hatte meine Mutter außerdem immer Fernweh, sie ging impulsartig auf Reisen. Sie hat mich auch viel mitgenommen. Das hatte immer etwas sehr Abenteuerliches, wie bei Pippi Langstrumpf. Über die Autorin Naema Gabriel, 40, hat Kunst studiert und arbeitet unter ihrem Pseudonym freiberuflich als Autorin und Illustratorin. Ihr erstes Buch "Sinus" ist vor kurzem auch als E-Book erschienen. Über ihre verrückte Kindheit spricht sie regelmäßig bei Lesungen - in der Hoffnung, mehr Menschen für die Krankheit Bipolare Störung zu sensibilisieren. An was für Momente denken Sie dabei? An Autofahren mit aufgedrehter Musik. Lauthals singend den Schwung von einem Hügel zu nehmen, um den Nächsten hochzufliegen. Meine Mutter hat eine sehr ausgeprägte Fantasie, sie erzählte meiner Schwester und mir zum Beispiel, das sei die Sprungschanze in den Himmel. Sie hat auch ein echtes Schauspieltalent und konnte uns die tollsten Charlie-Chaplin-Szenen vorspielen. Wir durften sehr viel: Mit Rollschuhen in der Wohnung fahren, über Tische und Bänke klettern oder Spaghetti in der Badewanne essen. Aber in einer Manie konnte es ihr auch passieren, dass sie mich an einer Autobahnraststätte vergisst wieder einzupacken. Meine Schwester hat sie dann auf mein Fehlen aufmerksam gemacht. Dann ist sie natürlich abgebogen. Das war nicht die einzige kritische Situation. Vieles hatte mit dem Autofahren zu tun. In ihren manischen Phasen war meine Mutter zu aufgedreht zum Schlafen. Wir haben mehrmals an einer Raststätte oder einer Tankstelle im Auto übernachtet, wenn die Müdigkeit sie dann doch überfallen hatte. Einmal sind wir im Straßengraben gelandet, weil sie am Steuer eingenickt ist. In einer Manie war meine Mutter zudem übertrieben kontaktfreudig. Ihr fehlte das Gespür für Grenzen. Es kam oft vor, dass sie mit Männern anbandelte und sie mit zu uns nach Hause brachte - manchmal gabelte sie auch Obdachlose auf. Wenn dann früh morgens das Fernweh aufkam, fuhr sie einfach los und ließ uns mit ihren Bekanntschaften allein. Die manischen Phasen waren also gefährlicher als die depressiven. 25 Ja - deswegen war ich trotz allem irgendwie erleichtert, wenn meine Mutter depressiv war. Ich habe zwar gemerkt, dass sie sehr traurig und antriebslos war. Aber ich wusste, dass sie da ist, wenn ich aus der Schule nach Hause komme. Sie hat während der Depressionen auch eher ihre Medikamente genommen - die sollen das Schlimmste verhindern. "Ich bin Teenager, aber ich mach meiner Familie keine Probleme. Ich hab andere Sorgen. Die Angst, dass meine Mutter sich mehr oder weniger absichtlich aus dem Leben katapultieren könnte, ist bei mir Alltag. Ihre ganz eigenen Gezeiten, die sie regelmäßig mal himmelhoch, mal kratertief wirbeln, bringen sie todsicher jedes Mal an einen teuflischen Wendepunkt. Bevor nämlich die Metamorphose von manisch zu depressiv ganz vollbracht ist, tun sich unterschiedliche Facetten meiner beiden Mütter neu zusammen und ergeben eine implosive Mischung. Der Doktor macht einen Strich, das ist die Null-Linie, zack. Dann malt er eine Sinuskurve, mit rotem Kuli für "Manie" oberhalb der Null-Linie und blauem Kuli für "Depression" unterhalb der Null-Linie. "Die Medikamente", sagt er, "sollen folgendes bewirken." Er legt den Kopf schief wie ein Kind und malt horizontale Striche in Grün mit denen er die Hügel und die Täler der Sinuskurve abhackt. "Schwierig wird es hier", er malt Kringel um die Stellen, wo die Sinuskurve die Null-Linie ungerührt von oben nach unten überquert. "Da hat der Patient noch den euphorischen Antrieb der Manie, aber schon die Stimmung der Depression. Oder hier:" (Kringel an der nächsten Kreuzung weiter rechts) "noch die Gedanken der Depression, schon die Kraft der Manie. Da ist statistisch gesehen die Suizidwahrscheinlichkeit am höchsten. Man sollte denken, hier:" (Kringel am Tiefpunkt der Talkurve) "da ist der Patient ja am depressivsten, aber nein, am höchsten ist die Suizidwahrscheinlichkeit hier: noch die..." – "JA, JA, JA! Hab's ja schon verstanden! – Hatte es vorher schon verstanden, auch ohne Schaubild." Meine Welt ist in Ordnung, wenn ich weiß: Mama ist sicher in ihrer Depression gelandet. Endlich mal Ruhe die nächsten paar Wochen. Der Tsunami, den sie am Anfang ihrer letzten Manie ausgelöst hat, ist über uns hinweg getobt. Die Termine der Konzerte, die sie angezettelt hat, sind sang- und klanglos vergangen. Die 26 Liebhaber, die gekommen waren, um sich endlich zu holen, was ihnen versprochen worden war, sind unverrichteter Dinge von der verschlossenen Wohnungstür abgezogen. Die unbezahlten Rechnungen haben die Tanten schwesterlich geteilt und barmherzig beglichen." Foto: Naema Gabriel Ihre Mutter war alleinerziehend, Ihr Vater lebte in einer anderen Stadt. Warum haben sich weder Ihre Verwandten noch der behandelnde Arzt um Hilfe bemüht? Das habe ich meine Tanten auch gefragt. Sie fanden, dass wir Kinder nicht mehr zu ihrem Zuständigkeitsbereich gehören. Sie fühlten sich für meine Mutter verantwortlich und hatten mit ihr alle Hände voll zu tun: Den Haushalt managen, Rechnungen bezahlen - Sachen, die sie ausgeheckt hat, wieder geradebiegen. Wir Kinder waren zudem sehr unauffällig. Ein typisches Verhalten, wie ich inzwischen weiß. Es gibt dieses Phänomen der Parentifizierung wie bei Kindern suchtkranker Eltern: Die Kinder schlüpfen unbewusst in die Elternrolle. Sie erscheinen übermäßig vernünftig, nehmen sich sehr zurück. Das wird oft missinterpretiert. Die Tanten, mein Vater, Lehrer und Ärzte haben uns für reif und vernünftig gehalten, nach dem Motto: "Die können selbst auf sich aufpassen." Das werfe ich ihnen im Rückblick vor. Auf der anderen Seite müsste selbst ein williger Helfer erst eine hohe Mauer des Schweigens überwinden, um ein Kind dazu zu bringen, über seine Sorgen zu Hause zu sprechen. Kinder sind extrem solidarisch mit ihren Eltern. Das verlangt schon sehr viel Ausdauer und Feingefühl. Bipolare Störung - was bedeutet das? Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt - das trifft das Krankheitsbild einer bipolaren Störung recht gut. Sie lässt sich allerdings nicht so klar definieren wie andere Erkrankungen, da Form und Verlauf sehr unterschiedlich sein können. Betroffene leiden unter extremen Stimmungsschwankungen; Euphorie und Schwermut, also manische und depressive Phasen, wechseln sich ab. Eine Liste typischer Symptome hat das Informationsportal Neurologen und Psychiater im Netz zusammengestellt. In Deutschland sind etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung von einer bipolaren Störung betroffen. Experten schätzen, dass sich lediglich ein Drittel von Ihnen behandeln lässt. Ein Feingefühl, das offenbar niemand in Ihrem Umfeld besaß. Weil alle dachten, dass sich schon irgendjemand kümmern wird. Der Arzt denkt: "Die kriegen doch regelmäßig Besuch von den Tanten." Die Tanten denken: "Die kriegen doch regelmäßig Besuch vom Vater." Dabei betritt der Vater die Wohnung nicht. Oder die Lehrer sagen: "Die Nachbarn würden doch was mitkriegen." Und die Nachbarn sagen: "Die Lehrer müssten doch was merken." Jeder sieht nur die Spitze vom Eisberg - doch das ist keine Entschuldigung. In meiner Kindheit wiesen die 27 Spitzen auf einen so großen Eisberg hin, da war es schlicht unterlassene Hilfeleistung, nichts zu tun. Meine Tanten holten meine Schwester und mich einmal aus einem Hotel ab, in dem unsere Mutter uns allein gelassen hatte. Wir hatten Fieber und Hunger, ernährten uns aus der Minibar. Da ist es nicht okay zu sagen, das Problem ist gelöst, wenn die Kinder am nächsten Tag wieder in die Schule gehen. Erwachsene sollten nachfragen. Wenn sie sich nicht zutrauen, selber Verantwortung zu übernehmen, gibt es schließlich genügend Anlaufstellen, an die sie sich wenden kann. Hätten Sie sich als Kind gewünscht, von Ihrer Mutter getrennt zu werden? Natürlich nicht. Natürlich im wahrsten Sinne des Wortes. Es liegt in der Natur des Kindes, dass es bei der Mama bleiben möchte - selbst wenn es geschlagen oder missbraucht wird. Hätte man mir aber gesagt, dass ich in schlimmen Phasen woanders unterkommen kann* (s. Abspann), sonst aber weiterhin bei meiner Mutter wohne, hätte ich das sicher angenommen. Meine Horrorvorstellung war, dass man ein für alle Mal geschnappt wird, ins Waisenhaus kommt und die Mutter bis an ihr Lebensende ins Irrenhaus gesteckt wird. Foto: Naema Gabriel "Die Franka toupiert erst ihre Haare und dann meine. Augen zu, Luft anhalten, Kopf runter hängen, voll in die Haarlack-Wolke. Super: wir haben Haare wie braune Zuckerwatte. Jetzt in die hundert Spitzen-Unterröcke steigen, die Mama mal antiquarisch gekauft hat. Alle Gürtel, die wir finden, kreuz und quer um die Hüften. Mindestens fünfzig Männer-Unterhemden auf Bauchnabelhöhe abschneiden und übereinander anziehen – schräg, mal so, mal so, Hauptsache, die Schultern gucken raus. Bei Franka sieht der Lippenstift super aus. Ich seh aus, als hätte ich Spaghetti mit Tomatensoße gegessen. Egal. Wir tanzen wie Madonna. Zwei Madonnas im Zimmer, zwei im Spiegel. Okay, jetzt können wir los. Ich schlüpf mit meinen nackten Armen in die kühle Daunenjacke, das fühlt sich komisch an und neu. In der Garage haben wir die Besen geparkt. Wir reiten 28 auf unseren Hexenbesen durch das dunkle Dorf, zum Partykeller vom CVJM. Die ganzen katholischen Kinder stehen rum, haben Salzstangen und Coladosen in den Händen und reden, immer zu dritt. Thriller kommt ganz laut, aber alle sind so: ich hab Wichtigeres zu tun als Tanzen. Die Franka kennt jemanden, aber der kommt erst später. Ich kenn auch jemanden, vom Sehen, den da in der Ecke, den von der Bushaltestelle. "Hallo. Na?" Vielleicht erkennt der mich nicht. "Wir sind Hexen!" – "Ihr seid Nutten." – "Aber..." Ich halt ihm meinen Besen hin. "Weil Eure Mutter eine Nutte ist – hat mein Vater gesagt!" – Ich erzähl alles der Franka: "...hat sein Vater gesagt!". Sie legt den Arm um mich, schiebt mich vor sich her, zum Eingang, wieder raus aus dem CVJM. Auf dem Rückweg reiten wir nicht, wir gehen zu Fuß und ziehen die Besen hinter uns her. Zuhause machen wir den Fernseher an. Kölle allaf – das können wir auch. Wir marschieren mit durchgedrückten Knien, winken wie Funkenmariechen-Roboter und zeigen alle Zähne – fest zusammenbeißen! Wir knicken vor Kichern nach vorne, marschieren weiter, knicken wieder. Tä-täää, Tä-täää, Tä-täää!" Foto: Naema Gabriel Dazu kam es nie. Probleme hatten Sie trotzdem. Wir wurden sozial ausgegrenzt. Meine Mutter hat manchmal mit den Vätern anderer Kinder geflirtet. An einem Fasching hat ein Kind meine Schwester und mich als Nutten beschimpft, weil der Vater des Kindes ihm das eingeredet hat. Ich kannte das Wort bis dahin nicht mal. Meine Schwester hat auf solche Dinge mit einer Überanpassung reagiert, sie war immer besonders schick gestylt. Wir verließen morgens unsere verwahrloste Wohnung und auf dem Schulweg sah meine Schwester aus, als kämen wir aus einem der besseren Haushalte. Wir haben versucht, eine Fassade aufzubauen - was nicht gut geklappt hat. Inwiefern? Wenn die anderen Kinder ihren Eltern erzählt haben, wie es bei uns zu Hause aussieht, durften sie nicht mehr kommen. Jugendliche Freundinnen fanden es später eher cool, von meiner Mutter eine Zigarette angeboten zu bekommen - in einer Wohnung, die ein einziges Chaos ist - Anarchie pur. Ich habe mich dagegen eher nach Ordnung und Regeln gesehnt, denn die gab es für mich nicht. Ich musste mir selber überlegen, wann ich abends nach Hause komme. Wie lange haben Sie bei Ihrer Mutter gewohnt? Meine Schwester war schon mit 16 Jahren viel weg. Ab 17 hatte sie einen Freund, bei dem sie wohnen konnte, und kam fast nur zum Wäsche waschen vorbei. Als letztes Kind zu Hause fühlte ich mich dann noch mehr verantwortlich für meine Mutter. Ich hatte lange die Illusion, die Krankheit sei etwas, das sich heilen oder 29 zumindest bessern ließe. Mit 18 Jahren habe ich mein Kunststudium in Karlsruhe begonnen. Das war ein Befreiungsschlag. Geographisch, aber auch innerlich. Kurz darauf kam es zum Bruch mit meiner Mutter. Nachdem sie mir am Telefon mal wieder lange ihr Leid geklagt und ihre Selbstmordgedanken geäußert hatte, schoss es aus mir heraus: "Dann bring dich halt um." Daraufhin war ein Jahr lang Funkstille. Ich dachte, das sei für immer. Aber als wir nach einem Jahr wieder sprachen, wollten wir beide unsere Beziehung ändern. Ich habe versucht, sie an ihre Mutterrolle zu erinnern und mich aus der Parentifizierung zu befreien. Einfach zu sagen: "Ich bin deine Tochter und erzähle dir jetzt meine Sorgen." Das hat ihr gut getan, denn sonst wurde sie dauernd als Kranke behandelt und nicht für voll genommen. Heute hilft ihr eine rechtliche Betreuerin, nicht nur in Gesundheitsfragen. Als junge Frau haben Sie eine Magersucht entwickelt und sich selbst verletzt. Eine Reaktion auf Ihre Erfahrungen? Durch Therapie habe ich verstanden, was eine Magersucht ist - dass das viel mit dem Bedürfnis zu tun hat, Grenzen zu setzen und Kontrolle zu haben. Das ist ja ein total berechtigtes Bedürfnis, das bloß nicht gut nur über das Körperliche befriedigt werden kann, weil es dann schnell selbstzerstörerisch wird. In Ausläufern begleitet mich dieses mangelnde Gefühl für gesunde Grenzen bis heute. Ich bin vielleicht zu leidensfähig: Ich merke es lange nicht, wenn jemand über meine Grenzen trampelt, weil ich es gewohnt bin. Ging es Ihrer Schwester genauso oder hat sie das anders verarbeitet? Sie hat einen anderen Weg eingeschlagen, hat sich früh nach außen orientiert, ist zu Freundinnen mit nach Hause gegangen. Durch ihre Neugier und ihr Selbstbewusstsein hat sie andere Familienmodelle kennengelernt. Der Kontrast zu ihrem eigenen Zuhause hat zu Konflikten geführt. Sie hat ihre Rechte als Kind gekannt und eingefordert. Haben Sie beide sich gut verstanden? Ja, unsere Kindheit hat uns sehr zusammengeschweißt. Wir konnten es uns allerdings auch nicht leisten, sehr zu streiten. Wir hatten nur einander. Sie rutschte auch in eine Mutterrolle für mich. Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Erlebnisse in einem Buch aufzuschreiben und aufzuzeichnen? Das Bedürfnis dazu hatte ich schon lange, denn diese Stories sprengen einfach jedes Gespräch. Durch meinen eigenen Sohn wurde dieses Bedürfnis stärker. Wenn er groß ist, soll er wissen, warum ich so ticke und warum seine Oma so ist. Auch 30 meinem Mann wollte ich es lieber in Form dieses Buches erzählen. Ich habe keinen Ratgeber geschrieben, aber offenbar erfüllt das Buch auch diese Funktion. Bei meinen Lesungen und der anschließenden Diskussion verlasse ich meine Komfortzone, das wird sehr persönlich. Aber wenn die Menschen mit geschärften Antennen für solche Kinder nach Hause gehen und ich anderen Betroffenen Mut machen kann, hat sich alles gelohnt. http://www.brigitte.de/gesund/gesundheit/bipolare-stoerung-1206281/ 31 Trauer: Ein unzeitgemäßes Gefühl Von SPIEGEL WISSEN-Autorin Eva-Maria Schnurr Trauer: Pendeln zwischen Sehnsucht und Ablenkung Wer trauert, sieht sich oft unter Druck, möglichst rasch zum Alltag zurückzukehren. Selbst Wissenschaftler streiten: Wie viel Verlustschmerz ist eigentlich normal? Frag einen Indianer vom Stamm der Navajo, und er wird sagen, dass vier Tage genug sind, um die Toten zu beweinen. Sprich mit einem Angehörigen der Zulu in Südafrika, und er wird sagen, dass Witwen ein Jahr zu trauern haben, abseits der Gemeinschaft, in schwarzen Kleidern. Bitte einen erfahrenen Trauerbegleiter um Rat, und er wird erklären, dass es richtig und falsch nicht gibt. Dass die einen lange brauchen und die anderen nicht so lange, dass manche abgrundtief erschüttert sind und andere scheinbar kaum, und dass niemand vorher sagen kann, wie es sein wird. Doch konsultiert man einen Psychiater, könnte es künftig womöglich passieren, dass er jemanden für gestört erklärt, für depressiv, wenn er mehr als zwei Wochen nach dem Tod seines Partners oder seines Kindes noch immer völlig neben der Spur ist, nicht arbeiten kann oder sich gar danach sehnt, dem geliebten Menschen einfach zu folgen. Gibt es so etwas wie "gesunde" Trauer? Eine Norm, der die Gefühle nach einem schweren Verlust gehorchen sollten? Einen Weg gar, dem man einfach nur konsequent folgen muss, um rasch herauszukommen aus Verzweiflung und Traurigkeit? In den USA ist darüber eine heftige Debatte entbrannt. Denn dort arbeiten Ärzte und Forscher an neuen Diagnose-Richtlinien für psychische Störungen, im Mai 2013 soll die endgültige Fassung erscheinen. Einer der Hauptstreitpunkte ist die Frage, was normale Trauer von einer krankhaften Depression unterscheidet. Während bisher der Grundsatz galt, Depressionen bei Trauernden nicht vor Ablauf von wenigstens zwei Monaten zu vermuten, soll diese Regel in den neuen Richtlinien fallen: Zeigt jemand nach dem Tod eines nahen Menschen zwei Wochen lang schwere depressive Symptome, dann könnten Ärzte die Krankheit schon bei ihm diagnostizieren. Noch ist die Debatte auf die USA beschränkt, da in Europa andere Kriterien für die Diagnostik psychischer Störungen gelten. Doch in den kommenden Jahren sollen die Standards international vereinheitlicht werden. Ein Mittel gegen Verlustschmerz ist nicht bekannt 32 Es könnte der Beginn eines weitreichenden Kulturwandels sein, fürchten Fachleute: Weil einige Symptome bei Depressionen und Trauer sich gleichen, drohe die Gefahr, dass Traurigkeit und seelische Schmerzen nach dem Tod eines geliebten Menschen zu einer Krankheit abgestempelt werden. Dabei ist bisher weder ein Mittel noch eine Therapie gegen den Verlustschmerz bekannt. Sieben Jahre dauerte es, bis die Berlinerin Gabriele Gérard nach dem Tod ihres Sohnes zum ersten Mal das Gefühl hatte, aus einer Art Zwischenwelt herauszutreten, wieder so etwas wie Zukunft zu ahnen. Dann erst im vergangenen Sommer, 4374 Tage, nachdem Florian gestorben war, beschloss sie, seine Gedenkseiten im Internet nicht mehr zu aktualisieren. So verwoben ist der Schmerz nun nach zwölf Jahren mit ihrem Leben, dass er keinen eigenen Ort mehr braucht. Bis zu Florians Beerdigung hatte sie funktioniert wie eine Maschine, die Gefühle schockgefrostet seit der Nachricht vom Tod ihres einzigen Kindes. Am Abend nach der Trauerfeier aber zerschmetterte der Schmerz sie wie ein heranrasender Schnellzug. Sie schrie und weinte, brach zusammen, aß nicht mehr, nahm 20 Kilogramm ab, sah nicht mehr, wie sie weiterleben sollte und warum. Weil der Schmerz unerträglich erschien, suchte sie in einer Klinik nach Hilfe, doch die Ärzte diagnostizierten eine Depression. Gérard war empört, sie kannte die Krankheit, als junge Frau hatte sie damit gekämpft. "Das hier war völlig anders. Der Schmerz und die Sehnsucht waren nicht pathologisch, dafür gab es einen Grund", sagt die heute 65-Jährige, deren Sohn im Juli 2000 mit 23 Jahren am plötzlichen Herztod starb. "Mir war immer klar: Ich bin nicht krank, ich bin einfach nur eine trauernde Mutter." Die Ärzte waren nicht die Einzigen, die hilflos auf ihren Zustand reagierten: Selbst einige gute Freunde vermeiden es bis heute, über Florians Tod zu sprechen, manche tauchten ab und meldeten sich nie wieder. Andere Hinterbliebene erzählen von Bekannten, die die Straßenseite wechseln oder sich hinter dem Supermarktregal verstecken, um eine Begegnung zu vermeiden. Leiden, das keine Krankheit ist, das man nicht wegtherapieren, mit Medikamenten behandeln oder mit genügend Entspannung in den Griff bekommen kann, verstört. "Wir haben verlernt, solche Krisen auszuhalten. Sie gelten als Unterbrechung des Lebens, als etwas Falsches, nicht als Teil des Lebens", sagt die Entwicklungspsychologin Kathrin Boerner, die an der Abteilung für Geriatrie und Palliativmedizin der Mount Sinai School of Medicine in New York über Verluste forscht. Trauer ist ein zutiefst unzeitgemäßes Gefühl, das im Alltag kaum Raum findet. 2. Teil: Die systematische Trauerforschung ist noch jung Wahrscheinlich wäre die Sache einfacher, wüsste man mehr über Trauer und was sie mit einem Menschen macht. Doch obwohl fast jeder im Leben damit zu tun bekommt, gibt es erst seit rund 25 Jahren systematische Forschungen dazu. Auch bei Ärzten, Seelsorgern oder Psychologen halten sich deshalb bis heute einige Annahmen, die auf Spekulationen und nicht auf empirischen Untersuchungen beruhen. 33 Nach einem Verlust sei intensive "Trauerarbeit" nötig, postulierte Sigmund Freud 1915, es gehe darum, die Bindung zum geliebten Objekt völlig zu lösen - als gefährlich für das seelische Wohl galt es daher, wenn jemand gar nicht offensichtlich trauerte oder gar verdrängte. In den siebziger Jahren kam zudem die Vorstellung auf, Trauer verlaufe in immer gleichen Phasen. Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hatte diese Stadien bei Sterbenden entdeckt, man übertrug sie auf die Hinterbliebenen: Einer Zeit, in der man den Tod nicht wahrhaben will, folge ein Abschnitt, in dem die Emotionen durchbrechen, danach gehe es darum, die Realität zu akzeptieren und sich zu lösen, um schließlich mit dem Geschehenen Frieden zu schließen und mit einer neuen Sicht auf sich selbst und die Welt wieder ins Leben zurückzukehren. Die Konzepte sind populär, weil sie so eingängig sind und weil die Vorstellung eines fast gesetzmäßigen Ablaufes, den man durch eigene Anstrengung unterstützen kann, beruhigend ist. Doch sie setzen die Vielen unter Druck, die ihre Trauer anders erleben. "Ist das, was ich fühle, eigentlich normal?", fragte sich Anne Saider ein paar Wochen, nachdem ihr Mann am Ostersonntag 2011 bei einer gemeinsamen Fahrradtour von einem Auto angefahren und tödlich verletzt worden war: Da waren einerseits tiefe Verzweiflung und Schmerz, auch Wut, dass ihr Mann sie allein zurückgelassen hatte. Da waren Schuldgefühle und die Frage, ob sie, die erfahrene Krankenschwester, nach dem Unfall mehr hätte tun können. Aber andererseits lief der Alltag der 54-jährigen Hamburgerin bald schon erstaunlich glatt, nach drei Wochen ging sie wieder arbeiten, registrierte früh auch schöne Momente und fragte sich mit schlechtem Gewissen, ob das denn überhaupt sein dürfe. "Bin ich normal, oder bin ich krank?", sei die häufigste Frage, mit der Trauernde zu ihnen kommen, erzählt Raili Koivisto, Trauerbegleiterin in der Hamburger Trauerberatungsstelle "Charon". Menschen trauern ganz unterschiedlich In den Beratungszimmern mit Blick über die Stadt erzählen sie etwa, dass sie nach einer stabilen ersten Zeit dann doch von massiven Gefühlen eingeholt wurden. Dass es auch nach Monaten im Job noch immer nicht so läuft wie vorher. Dass sie über sich selbst erschrecken, weil sie den Tod eines nahen, schwerkranken Menschen als Erleichterung wahrnehmen - oder weil sie gerade nicht aufatmen können, obwohl sie das doch erwartet hatten. Dass sie manchmal selbst nicht weiterleben möchten. Oder sich fragen, ob sie sich schon wieder freuen dürfen. "Es ist für viele eine ganz große Hilfe, wenn wir ihnen sagen können, dass fast alles fast immer normal ist", sagt Koivisto. Denn so etwas wie den einen, richtigen Umgang mit einem Verlust gibt es nicht. Studien an Betroffenen haben gezeigt, dass der Trauerprozess zumindest in westlichen Kulturen nicht in festgelegten Stadien verläuft, sondern eher wellenförmig: Die meisten Menschen erleben die Trauer als Pendeln zwischen Kummer, Sehnsucht und Leere einerseits - verlustbezogene Prozesse - und Verdrängung, 34 Ablenkung und Nach-vorn-Denken - wiederherstellungsbezogene Prozesse andererseits. Zudem trauern Menschen ganz unterschiedlich, je nach der eigenen Vorgeschichte, dem Verhältnis zum Verstorbenen, der Art seines Todes und auch dem kulturellen Umfeld. Vorhersagen lässt sich das meist nicht. "Die meisten gängigen Annahmen sind haltlos: Selbst eine enge Bindung muss nicht notwendigerweise bedeuten, dass die Trauerreaktion sehr ausgeprägt ausfällt. Verdrängen ist nicht unbedingt schädlich. Und schwierige Beziehungen führen nicht notwendig auch zu einer schwierigen Trauer", sagt die Verlustforscherin Boerner. Ein großer Teil der Betroffenen leidet eine Weile ziemlich heftig, einige Symptome überschneiden sich mit denen einer Depression. Allerdings erholen sie sich mit der Zeit auch ohne Hilfe fast vollständig, wenngleich mit wiederkehrenden Rückschlägen. Verblüffend zahlreich sind aber auch jene, die selbst nach einem schweren Verlust wie dem des Ehepartners eher kurze und milde Trauersymptome entwickeln, fand der amerikanische Trauerforscher George Bonanno bei älteren Ehepaaren heraus er spricht von "Resilienz", einer hohen Widerstandsfähigkeit gegenüber schlimmen Erfahrungen. Nur eine Minderheit trauert chronisch, spürt auch nach Monaten gar keine Veränderung der Gefühlslage und braucht möglicherweise professionelle psychologische Hilfe. Häufig gibt es dann eine Vorgeschichte psychischer Probleme, oder der Todesfall war besonders traumatisch, etwa durch einen Unfall oder wenn ein Kind stirbt. "Es gibt keine Regeln, wie man optimal mit dem Kummer umgeht" Trauerforscher gehen allerdings davon aus, dass man so eine chronische Trauer allerfrühestens nach einem halben Jahr erkennen kann und dass auch erst dann eine Therapie ansetzen sollte - auf keinen Fall jedoch schon nach zwei Wochen. Die Konsequenz aus den neuen Forschungsergebnissen ist befreiend und fordernd zugleich: Es gibt keine Regeln, wie man optimal mit dem Kummer umgeht. Niemand kann sagen, wann man die Kleider des Verstorbenen aus dem Schrank räumen muss, ob man einen Stapel behalten kann. Ob man mit anderen über ihn sprechen oder sich lieber ein ganz eigenes Ritual ausdenken soll. Ob es besser ist, sich einer Trauergruppe anzuschließen, auf Gedenkseiten im Internet zu surfen oder Gedichte zu lesen. Jeder muss selbst herausfinden, was hilfreich ist und was weniger schließlich geht es um den Abschied von einem Menschen, der ebenso einzigartig war wie die Beziehung zu ihm. "Trauer erfordert Mut, sie muss etwas Revolutionäres in einem wecken. Mir hat niemand zu sagen, wie ich trauern soll", sagt Gabriele Gérard. Auch wenn ihr damals jede Idee fehlte, wie ihr Leben weitergehen könnte ohne Florian, war ihr schnell klar, dass sie aktiv werden musste. So nahm sie sich die Briefe vor, die sie über Jahre mit ihrem Sohn gewechselt hatte. Die Aufzeichnungen, die sie nach seiner Geburt gemacht hatte und als er in Irland 35 lebte, schrieb sie ab, schmückte sie mit Fotos, zwölf Bände, ein Dokument seines Lebens und der gemeinsamen Zeit. Im Internet schrieb sie von ihren Erfahrungen und Gefühlen, veröffentlichte Briefe und Gedanken in einem Buch, jedes Jahr an Florians Geburtstag im Oktober lädt sie seine Freunde ein, weil es tröstlich ist, dass noch immer alle an ihn denken. "Trauer ist einsam und individuell, aber wenn ich erst einmal den ersten Schritt gemacht habe, legt sich der Weg wie von selbst unter die Füße", beschreibt es Gérard. Ihre Leidensgefährtin Anne Saider begann nach dem Unfalltod ihres Mannes Tagebuch zu führen, "ganz wichtig, um zu erkennen, wie es mir vor einem Jahr ging und wie sich die Trauer entwickelt hat", sie lief lange Strecken, um dabei nachzudenken, hängte die Fotos der letzten gemeinsamen Radtour mit ihrem Mann im Flur auf und stellte am ersten Todestag gemeinsam mit ihren Töchtern am Unfallort ein Kreuz auf. 3. Teil: Nie wieder so sein wie zuvor Beide Frauen schreiben an die Verstorbenen, zünden täglich eine Kerze an, sprechen mit ihnen, wenn es Schwieriges zu entscheiden gilt oder einfach nur etwas zu erzählen. Auch das weiß man heute: Es geht nicht darum, nur ja loszulassen und die Verbindung zu kappen. Die Beziehung zu Verstorbenen kann weiterhin eng sein, sie ist eben anders als zu Lebzeiten. "Am schwierigsten war es zu akzeptieren, dass so viel auf einmal weggebrochen ist", sagt Anne Saider. Plötzlich stand ihr ganzer Lebensentwurf in Frage: Wer war sie ohne ihn? Was war ihre künftige Rolle, nach 30 Jahren als Ehefrau? Gabriele Gérard fühlte sich fremd im eigenen Leben, als habe sie überhaupt keinen Boden mehr unter den Füßen: "Für mich war es wie eine Sternstunde, als ich realisierte, dass in all dem Wahnsinn ja auch eine Chance liegt: Mein Innerstes liegt in Einzelteilen vor mir, ich darf jetzt ganz neu entscheiden, wer ich sein will und wer und was noch in mein neues Leben passt." Von einer Entwicklungsaufgabe spricht die New Yorker Psychologin Boerner und davon, dass solche Lebensphasen vor allem Zeit brauchen und Geduld. Nicht vier Tage, nicht zwei Wochen, sondern manchmal auch Jahre. Am Ende ist die Trauer nicht weg, sie hat sich verwandelt, ebenso wie der Mensch, der sie durchlebt. Aushalten müssen das nicht nur die Trauernden, sondern auch Freunde und Kollegen. "Ich habe manchmal den Eindruck, als würden Menschen in meinem Umfeld von mir erwarten, dass ich möglichst schnell wieder die Alte werde. Aber das geht nicht - ich werde nie wieder die Frau von vor dem Unfall sein", sagt Anne Saider. Das zu akzeptieren fällt schwer in einer Zeit, in der schon harmlose Kopfschmerzen sofort mit Tabletten betäubt werden und in der für jedes Problem ein Spezialist bereitsteht. "Wir wollen immer etwas tun, um möglichst schnell wieder möglichst gut zu funktionieren. Das geht in diesem Fall nicht", sagt die Trauerbegleiterin Koivisto. Der Tod reißt eine Wunde, die heilen muss und möglicherweise für immer eine Narbe hinterlässt. 36 "Trauer sollte nicht unterdrückt oder ausgeschaltet werden" "Trauer kann bei vielen Menschen eine notwendige Reaktion auf den Verlust sein und sollte nicht unterdrückt oder ausgeschaltet werden", kommentiert das renommierte Fachblatt "The Lancet" die geplanten Änderungen für Depressionsdiagnosen: Ärzte sollten ihnen lieber einfühlsam Zeit, Mitgefühl und Raum für Erinnerungen anbieten statt Tabletten. Manchmal merken aber selbst Fachleute für die Seele das erst, wenn sie es selbst erfahren haben. Als die Amerikanerin Joanne Cacciatore, später Gründerin einer Hilfsorganisation für verwaiste Eltern, 1994 ihre Tochter Chey verlor, konnte sie in den ersten Monaten nicht schlafen, nichts essen, empfand keine Freude mehr. Auf ihrem Blog erzählte Cacciatore, dass ihre besorgte Familie sie zu einem Psychologen schickte, der eine Depression diagnostizierte und Medikamente anriet. Sie weigerte sich, tiefverletzt, fühlte sich unverstanden in ihrer Trauer. Im Jahr darauf bekam sie einen überraschenden Anruf: Der Psychologe wollte sich entschuldigen. Seine Tochter war gestorben. Und er hatte genau die gleichen Gefühle durchlebt. Dieser Artikel stammt aus dem SPIEGEL WISSEN Heft 4/2012 http://www.spiegel.de/spiegelwissen/trauer-wie-viel-verlustschmerz-ist-eigentlichnormal-a-866061-3.html 37 Trauma: Narben der Seele  Belastungen nach dem Trauma  Quälende Flashbacks  Ein Reiz genügt  'Unverdauter' Schrecken  Traumen sind 'unlogisch'  Kinder sind empfindlicher  Reden hilft nicht immer  Symptome erst nach drei Monaten  Gute Erfolge mit Psychotherapie  Kommentar Durch ein Trauma kann es zu Veränderungen im Gehirn kommen. Traumatisierte Menschen haben schwere seelische Verletzungen erlitten. Sie brauchen viel Hilfe und Verständnis, um mit den Schreckensbildern in ihren Köpfen fertig zu werden. Denn nicht immer heilt die Zeit alle Wunden. Die Bankangestellte, die Opfer eines brutalen, bewaffneten Überfalls wird, der Feuerwehrmann, der die Leichenteile eines zerfetzten Unfallopfers einsammeln muss, die Frau, die einem Vergewaltiger in die Hände fällt — für sie alle ist die Welt innerhalb einer Sekunde auf die andere nicht mehr in Ordnung. Sie sind 38 traumatisiert. Am häufigsten entstehen Traumen durch Unfälle, Gewalt, Folter, Vergewaltigung oder Verlust eines Kindes. Eine weitere und oft unterschätzte Ursache ist die psychische Belastung bei einer schweren und plötzlichen körperlichen Erkrankung (zum Beispiel wenn man auf der Intensivstation liegt oder vom Notarztteam behandelt werden muss). Doch nicht immer sind es ganz massive Belastungen, die zu einem Trauma führen. In manchen Momenten haben wir einfach eine dünnere Haut, da können schon "kleinere" Traumen wie eine Scheidung oder eine Kündigung massive Folgen haben. Bei diesen "kleinen" Traumen gerät das Nervensystem im Normalfall nur vorübergehend in Unordnung. Der Schmerz ist groß, doch wir werden damit fertig, indem wir "Trauerarbeit" leisten. Und oft ist es so, dass der Mensch aus den widrigen Umständen sogar gestärkt hervorgeht. Er hat aus den emotionalen Herausforderungen gelernt und kann mit der nächsten bedrohlichen Situation besser umgehen. Belastungen nach dem Trauma Ob großes oder kleines Trauma – bei vielen Menschen, die so etwas erleben, heilt die Zeit tatsächlich alle Wunden. Die Erinnerungen verblassen und die psychische Gesundheit bleibt erhalten. Doch ein großer Anteil – man schätzt 20 bis 30 Prozent – ist dazu nicht in der Lage und entwickelt eine "Posttraumatische Belastungsstörung" (PTBS). Bei ihnen dauern die seelischen Schmerzen an – oft über Jahre und Jahrzehnte. Die emotionale Wunde will einfach nicht verheilen. Die Belastungen treiben viele Betroffene in die Alkoholsucht oder Depression. Ob sich aus einem Trauma eine PTBS entwickelt, kann man nach Univ.-Prof. DDr. Hans-Peter Kapfhammer, Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie der Universität Graz, an Hand von drei Kriterien feststellen: Zum einen entwickeln PTBS-Betroffene massive Abwehrmechanismen. Sie vermeiden alles, was mit dem Trauma zu tun hat. Das kann so weit gehen, dass jemand, der einen dramatischen Autounfall erleben musste, fortan völlig auf das Auto verzichtet. Ein zweites Anzeichen für eine posttraumatische Störung ist eine deutlich spürbare emotionale Betäubung. Die zeigt sich darin, dass sich die Betroffenen von allen Gefühlen abkapseln und den erlebten Schmerz einfach nicht mehr zulassen. Jemand kann mit scheinbar größter Gelassenheit und ohne eine Miene zu verziehen über das Drama seines Lebens berichten. Das hat nichts mit "Herzlosigkeit" oder Abgebrühtheit zu tun, sondern ist ein Zeichen dafür, dass seine Psyche mit dem Erlebten einfach nicht fertig wird. Ein dritter Hinweis auf ein starkes, unverarbeitetes Trauma sind die sogenannten Flashbacks. Quälende Flashbacks 39 Bei einem unbewältigten Schockerlebnis kann die Schreckenserinnerung nahezu unverändert im Nervensystem gespeichert werden. Dort lagern nun die Bilder, frisch wie im ersten Moment und inklusive aller dazugehörenden Geräusche, Gerüche, Emotionen und anderer Empfindungen. Dieses unverarbeitete Informationspaket kann jederzeit wieder aktiviert werden. Sobald uns irgend eine Kleinigkeit, derer wir uns meist gar nicht bewusst sind, an das ursprüngliche Trauma erinnert, wird das Schreckensszenario neu abgespult. Ein Reiz genügt Diese sogenannten Flashbacks sind besonders quälend: Ein auslösender Reiz genügt und die schrecklichen Vorgänge werden immer und immer wieder in Gedanken durchlebt. Alle Gefühle und alle Sinneseindrücke, die Gerüche, Geräusche, selbst der Geschmack im Mund sind so gegenwärtig, als würde das furchtbare Erlebnis gerade jetzt passieren! Gleichzeitig mit diesen übergenauen Erinnerungen können massive Gedächtnisdefizite einhergehen. Der Betroffene ist zum Beispiel gerade beim Einkaufen. Er ist guter Dinge und arbeitet seine Einkaufsliste ab. In dem Moment, in dem er ein Stück Käse in die Hand nimmt, stürmen plötzlich, ohne Vorwarnung und vor allem ohne erkennbare Ursache schreckliche Erinnerungen an eine Gewalterfahrung auf ihn ein. Er sieht sich am Boden liegen, über ihm in der Finsternis nur undeutlich zu erkennen den Angreifer mit einer Flasche in der Hand, die gerade auf ihn niedersaust. Seit diesem schrecklichen Erlebnis sind mehrere Jahre vergangen. Der Verstand weiß, dass der Supermarkt sicher und hell erleuchtet ist. Doch das Innere des Überfallopfers gerät durch die Erinnerung an das Trauma von einer Sekunde auf die andere in Aufruhr: Das Herz klopft wie verrückt, der Puls rast, die Handfläche wird feucht vor Schweiß und das Gesicht wächsern bleich. Traumatisierte Menschen erleben ihre "persönliche Hölle" immer wieder neu. Auch in Alpträumen kann das Horrorszenario auftauchen. Ängste und Schlafstörungen sind mögliche Folgen. Das Selbstwertgefühl kann leiden. Das ganze weitere Leben ist womöglich ganz massiv vom Trauma bestimmt. Die Betroffenen stehen ohne erkennbaren äußeren Anlass gleichsam ständig unter Dauerstress. Arbeitsunfähigkeit und Probleme in der Partnerschaft sind mögliche Folgen. 'Unverdauter' Schrecken Was passiert eigentlich bei der Traumatisierung im Körper? Durch das Trauma kommt es zu neurobiologischen Veränderungen im Gehirn. Seine innere Struktur und Organisation wird massiv gestört. Dadurch verändern sich nachhaltig die neuronalen 40 Verschaltungen des Gehirns, die unser Fühlen, Denken und Handeln steuern. Diese Veränderungen sind um so massiver, je länger der Psychostress dauert. Tatsächlich haben Untersuchungen erwiesen, dass sich nach schweren psychischen Traumen in bestimmten Bereichen des Hirns Nervenzellen zu "Furchtstrukturen" vernetzen. Emotionale Traumen hinterlassen sozusagen Narben im Gehirn. Posttraumatische Belastungsstörungen lassen sich daher durch Aufzeichnungen der Gehirnströme nachweisen (das gelang etwa Forschern von der psychiatrischen Abteilung der Universität Harvard). Das Trauma kann auch den Hormonhaushalt und hier insbesondere das gesamte Stresshormon-System durcheinanderbringen (auch der Anstieg eines bestimmten Stresshormons im Blut lässt sich nachweisen). Dadurch reagiert der Körper unangemessen auf Belastungen. Traumen sind 'unlogisch' All diese Dinge laufen sozusagen automatisch ab und lassen sich nicht willentlich beeinflussen. Verstandesmäßig kann man einem Trauma nicht beikommen. Von einem traumatisierten Menschen zu verlangen, er solle sich "zusammenreißen", ist absolut unsinnig. Ebensowenig kann man Traumen wegerklären oder als "unsinnig" abstempeln. Tatsächlich kümmern sich die Gefühle traumatisierter Menschen nicht um Tatsachen; Verstand und Gefühl klaffen meilenweit auseinander. Das gilt auch für weniger starke Traumen. Wer schon einmal einen Autounfall erlebt hat, kennt vielleicht das unbehagliche Gefühl, das einen noch lange Zeit nach diesem Ereignis begleitet. Man fährt eine vertraute Strecke, alles ist scheinbar in Ordnung, ja der Verstand weiß ganz sicher, dass alles in Ordnung ist. Und trotzdem ist da ein unbehagliches Gefühl, das sich weder von der Realität noch von rationalen Argumenten beeinflussen lässt. Kinder sind empfindlicher Besonders traumagefährdet sind Kinder, da ihre Psyche noch nicht so stabil ist, wie die eines Erwachsenen. Traumatisierung im Kindesalter können sich fatal auf die weitere Hirnentwicklung auswirken und sogar das Volumen bestimmter Hirnstrukturen verringern. Mögliche Folgen sind Verhaltensstörungen, Lernschwierigkeiten, Depressionen und andere psychische Störungen. Darum ist es auch so wichtig, rasch zu reagieren, wenn eine Misshandlung oder ein Missbrauch von Kindern vermutet wird. Denn das was mit ihnen geschieht, verletzt nicht nur den Körper sondern auch die Seele und zwar ganz massiv! Reden hilft nicht immer 41 Wie kann man nun posttraumatischem Stress zu Leibe rücken? Wie kann man diese alten, "verkrusteten" Emotionen, die sich durch das Trauma regelrecht in das emotionale Gehirn eingegraben haben, wieder loswerden? Traumen sind schwer zu behandeln. Gleich nach dem Schock intensiv darüber zu reden, verbessert die Sache oft nicht, wie Professor Kapfhammer weiß. So sei es nicht sinnvoll, bei Katastrophen alle Betroffenen sozusagen programmgemäß über das Erlebte sprechen zu lassen. Dieser Vorgang, der in der Fachsprache als "Debriefing" bezeichnet wird, sei nicht für alle Traumatisierten gleich hilfreich. Sogar das Gegenteil könne der Fall sein: "Es gibt Hinweise", so Dr. Kapfhammer, "dass sich durch ein nicht sorgfältiges Debriefing eine Traumatisierung sogar verschlimmert." Die meisten Menschen würden keine Notfallpsychologen brauchen und alleine viel besser mit dem Trauma umgehen können, erklärt der Grazer Psychiatrieprofessor. Das heißt aber nicht, dass eine helfende Hand in einer derartigen Situation nicht wichtig wäre und sei es nur, um die Hand des Betroffenen zu halten oder ihm eine Tasse Tee zu bringen. Symptome erst nach drei Monaten Ob jemand tatsächlich ein Trauma erlitten hat, lässt sich ohnehin erst nach etwa drei Monaten feststellen und das ist auch der Zeitpunkt, an dem sich Menschen mit einer Traumaerfahrung psychiatrisch untersuchen lassen sollten. Wer zu diesem Zeitpunkt Symptome einer Traumatisierung zeigt – und das sind immerhin bis zu 30 Prozent aller Betroffenen – sollte jetzt mit einer Therapie starten. Zwar kann ein Trauma auch auf "natürlichem" Weg ausheilen und ist dann in etwa zwei bis drei Jahren ausgestanden, aber das ist nicht immer der Fall. Ob jemand ein chronisches Trauma entwickelt oder nicht, lässt sich schwer vorhersagen. Eine "Trauma-Vorsorge" ist daher immer sinnvoll, besonders dann, wenn sich nach den erwähnten drei Monaten erste Symptome zeigen. Gute Erfolge mit Psychotherapie Wie lässt sich eine PTBS nun am besten behandeln? Sehr gute Ergebnisse bringt die kognitive Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze. Sie geben dem Patienten die nötige Sicherheit, um sich intensiv mit dem Trauma auseinander zu setzen. Wer pausenlos von Schreckensbildern überschwemmt wird, lernt, wie er diese am besten abwehren kann. Wer den Schrecken völlig abgekapselt hat, wird ganz behutsam an das Erlebte herangeführt und lernt, sich dem Thema zu stellen. Durch die Beschäftigung mit dem schmerzvollen Erlebnis und das Zulassen der damit zusammenhängenden Gefühle verliert der Schrecken allmählich seine Kraft. 42 Ferner hilft eine relativ junge Methode bei der Traumabearbeitung. EMDR, das ist die Abkürzung für Eye Movement Desensitization and Reprocessing, arbeitet mit Desensibilisierung und Neuorientierung durch Augenbewegungen. Bei dieser Methode ruft sich der Patient das traumatische Ereignis vor Augen und folgt gleichzeitig mit den Augen schnellen rhythmischen Fingerbewegungen des Therapeuten. Wie das eher zufällig entdeckte EMDR letztlich funktioniert, wurde bislang noch nicht erforscht. Ein drittes ergänzendes Standbein der Traumabehandlung bilden Medikamente und hier vor allem Antidepressiva aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). All diese Methoden unterstützen bei der Bewältigung eines Traumas, können es aber nicht "ausradieren". "Besonders schlimme Traumen lassen sich vermutlich nie löschen", weiß Professor Kapfhammer. Dr. Regina Sailer April 2006 Foto: Contrastphoto, privat Kommentar "Eine Traumatisierung kann man grundsätzlich nicht verhindern. Aber man kann einem Betroffenen beistehen, indem man einfach menschlich reagiert. Man sollte den Geschockten umsorgen, ihn trösten und ihm zuhören, wenn er über das Erlebte reden möchte. Man sollte ihn aber nie zwingen, alles rauszulassen. Das kann nämlich mehr schaden als nützen." Univ.-Prof. DDr. Hans-Peter Kapfhammer Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie der Universität Graz Zuletzt aktualisiert am 11. März 2015 http://www.forumgesundheit.at/portal27/portal/forumgesundheitportal/content/content Window?action=2&viewmode=content&contentid=10007.688926 43 Medikamentensucht: Bleiben Sie jetzt bloß nicht ruhig! Zunächst helfen Beruhigungs- und Schlafmittel, dann schaden sie massiv – 1,5 Millionen Deutsche sind süchtig. Die Folgen tragen wir alle. Höchste Zeit, sich aufzuregen. Von Anne Kunze 15. Juni 2015, 16:34 Uhr DIE ZEIT Nr. 24/2015, 11. Juni 2015 60 Kommentare Inhalt 1. 2. 3. 4. 5. 6. Seite 1 — Bleiben Sie jetzt bloß nicht ruhig! Seite 2 — Das Ausmaß der massenhaften Abhängigkeit Seite 3 — Ein regelrechtes Sediersystem, in dem alle Akteure profitieren Seite 4 — Die Tricks der Süchtigen Seite 5 — "Ich danke dem Erfinder von Valium" Seite 6 — Die Z-Substanzen Das Sturmbrausen im Kopf, das Rieselgeräusch in den Ohren nahm zunächst kein Arzt ernst. Als man Melanie Schneiders* Hirntumor schließlich entdeckte, musste es schnell gehen. Die Operation dauerte zwei Stunden. Danach, im Klinikbett, mit Titanplatten in der Schädeldecke, setzte die Angst vor dem Einschlafen ein. "Ich habe", sagt sie, "nur noch von Blut geträumt." Sie sitzt auf einem Holzstuhl, die Hände im Schoß gefaltet, im Fenster hinter ihr stehen die Schweizer Alpen. "Damals", sagt sie, "ging die Krankenschwester abends über die Station und fragte: 'Wer braucht noch was zum Schlafen?'" Das Medikament war herrlich, es breitete sich in Melanie Schneider aus, nahm ihr die Angst, ließ sie einschlafen. Auch Barbara Voss hatte Angst, eine rätselhafte, die sie nicht verstand. Immer wenn ihr Mann beruflich unterwegs war, kroch die Panik in ihr hoch. "Ich weiß noch, wie ich abendelang bei anderen Leuten saß, weil ich nicht allein mit den Kindern zu Hause sein konnte", sagt sie. Sie steht im Zimmer ihres inzwischen verstorbenen Mannes. "Er war Kirchenkantor." Durch die Fenster fällt Sonnenlicht, an der Wand lehnt eine Bratsche, und im alten Holzschrank stehen vergilbte Notenhefte. Auch Barbara Voss, so schien es zunächst, wurde durch ein wunderbares Medikament von ihren Gespenstern befreit. Menschen, die in eine Krise geraten, brauchen Hilfe. Viele suchen sie bei Ärzten. Die Frau, die sich nach ihrer Hirn-OP vor der Nacht fürchtete, bekam das Schlafmittel Stilnox. Die Frau, die Angst hatte, mit ihren Kindern allein zu sein, erhielt das Beruhigungsmittel Adumbran. 1957, ein Labor in Nutley, New Jersey: Ein Helfer räumt auf, auch zur Seite gestellte Versuchsschalen soll er wegwerfen. In einer dieser Schalen erblickt er besonders schöne Kristalle. So viel Anmut will er nicht vernichten und zeigt seinen Fund anderntags den Wissenschaftlern. Die Moleküle, die aus den schönen Kristallen entwickelt werden, sind bald sehr begehrt. Eines davon heißt: C16H13ClN2O. Das Labor gehört der Pharmafirma Roche, und das Molekül wird bald berühmt unter dem Namen Valium. 44 Valium und Adumbran haben eine sehr ähnliche Molekülstruktur, man nennt sie Benzodiazepine. Stilnox ist eine sogenannte Z-Substanz, eine Weiterentwicklung des C16H13ClN2O-Moleküls. Die Stoffe entfalten eine enorme Wirkung, auch gesellschaftlich. Jedes Jahr werden sie millionenfach verschrieben und geschluckt. Allein 2014 wurden in deutschen Apotheken 18,7 Millionen Packungen derartiger Schlaf- und Beruhigungsmittel verkauft. Das zeigt die Auswertung aktueller Daten, die Insight Health der ZEIT exklusiv zur Verfügung stellt. Das Institut sammelt regelmäßig flächendeckend Daten zur Versorgungsforschung in Deutschland. Der Hirntumor von Melanie Schneider, 39, ist bereits seit acht Jahren entfernt. Bei ihrer Entlassung gibt man ihr die Packung mit den Stilnox-Tabletten sicherheitshalber mit nach Hause. "Es kam ein richtiges Freudengefühl auf, wenn ich sie eingenommen habe", sagt sie. Auf den Hirntumor folgt die Scheidung, Schneider bleibt allein mit Tochter Selma, damals zehn Jahre alt. Die Tochter kommt in die Pubertät, zu früh, findet die Mutter. Selma wird schwierig. Gegen den Stress nimmt Frau Schneider Stilnox. Seite 2/6: Das Ausmaß der massenhaften Abhängigkeit Alle paar Wochen, sagt sie, sei es zu solchen Wortwechseln bei der Hausärztin gekommen: "Ich kann nicht schlafen." "Okay, dann drei." "Ich kann nicht schlafen." "Okay, dann vier." "Ich kann nicht schlafen." "Okay, dann fünf." Tabletten nehmen heißt: kein Kopfweh. Kein Kummer. Keine Schmerzen. Keine Angst. Die Angst von Barbara Voss, mit ihren drei kleinen Kindern allein zu sein, ist älter. Sie begann schon vor 45 Jahren. Barbara Voss ist heute 84 Jahre alt, eine Frau mit kurzen weißen Haaren, entschiedenen Bewegungen, wer sie sieht, dem fällt das Attribut "resolut" ein. Trotzdem hat Adumbran sie mehr als vier Jahrzehnte lang Abend für Abend in den Arm genommen und zu Bett gebracht. Wie so viele andere Menschen auch. Die Daten, die der ZEIT vorliegen, illustrieren erstmals öffentlich das ganze Ausmaß einer massenhaften Abhängigkeit, über die nicht gesprochen wird und deren Konsequenzen nicht abzusehen sind. Es gibt 1,2 bis 1,5 Millionen Abhängige in Deutschland. Das hat der auf diesem Gebiet führende Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske errechnet. Glaeske ist Professor für Arzneimittelversorgungsforschung 45 an der Universität Bremen, gibt jährlich den Arzneimittel-Report heraus und saß jahrelang im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. "Ich war überrascht, als ich in den 1980er Jahren zum ersten Mal gesehen habe, wie massenhaft die Mittel verschrieben werden – und dass keiner darüber redet", sagt er. Gegen das Schweigen wertet Glaeske Daten aus. Er nimmt die tatsächlichen Verschreibungsverläufe an und rechnet großzügig, dass die meisten Menschen erst nach drei Monaten täglicher Einnahme abhängig werden und nicht schon nach drei bis sechs Wochen, wie es tatsächlich oft der Fall ist. Glaeskes Zahlen werden auch von anderen Wissenschaftlern und Institutionen wie der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren bestätigt – und es kann sein, dass es in Wirklichkeit noch viel schlimmer ist. Die Zahlen zeigen, dass die Verschreibungen auf Kassenrezept zwar sinken. Seit einigen Jahren verschreiben die Ärzte die Schlafund Beruhigungsmittel aber vermehrt auf Privatrezept, unabhängig davon, ob die Patienten kassen- oder privat versichert sind. Im Jahr 2014 wurden 8,2 Millionen Packungen verkauft. Damit verschwinden die Packungen aus den Statistiken. Wenn Ärzte Privatrezepte ausstellen, geben Apotheken die Daten nicht an die Krankenkassen weiter. So vermeiden die Ärzte auch, dass sie nachzahlen, weil sie zu viel von einem Mittel verschrieben haben. Eine Kontrolle über die Abgabe könnte nur stattfinden, wenn die Ärzte ihre Verschreibungen offenlegen würden. Das Zimmer, in dem Melanie Schneider vor der Alpen-Kulisse sitzt, liegt in einer Entzugsklinik. Wenn sie sich Stilnox als Person vorstellt – wie wäre sie? "Eine liebe Person", sagt Melanie Schneider sofort. "Ich mag alles an ihr. Schon der Name: Stilnox." Gedehnt, fast genüsslich spricht sie es aus. "Ich würde sie anlachen", sagt sie. "Sie hat mir so viel geholfen. Mir die Ängste genommen. Einen Mantel gegeben, wenn mir kalt war." Melanie Schneiders Augen leuchten jetzt. Sie sagt: "Sie ist so zierlich. Wie eine gute Fee." Der Entzug dauert bereits sechs Wochen. Halbzeit. Doch Melanie Schneider ist immer noch verliebt. "So schlank sind die Tabletten, so klein", schwärmt sie. "Und die Packung, so elegant." Dabei kennt Melanie Schneider die dunkle Seite ihrer Freundin längst. Nach der Operation nimmt sie immer mehr Tabletten. "Am Abend war die Stilnox ein Schlafmittel, am Morgen ein Beruhigungsmittel", sagt sie. Sie schluckt sie mit Wasser, abends, schluckt sie mittags und morgens, schluckt sie nachts. "Plötzlich waren es 30 Pillen am Tag." Das war drei Jahre nach der ersten Stilnox. "Wenn ich keine Tabletten hatte, war ich aggressiv schon am Morgen", sagt die Entzugspatientin. Immer öfter muss sie jetzt zur Hausärztin gehen. Die verschreibt ihr eine neue Packung, Melanie Schneider kehrt heim, Freiburger Fachwerk, schwitzend, zitternd, und wirft auf der Stelle zehn Tabletten ein. "Mein Kopf war wie ein Wasserstrudel", sagt sie. "Es gab nur noch die Tabletten." Bald braucht Melanie Schneider täglich ein neues Rezept. Um kurz nach sieben ist sie die Erste in der Apotheke, sagt: "Ich komme meine Diamanten holen." Erst wenn die Tabletten intus waren, beruhigt sich der Wasserfall in ihrem Kopf. Dann erledigt sie rasch alles Notwendige: Haushalt, Einkaufen, Gassi mit dem Zwergspitz. Sie muss ja noch ein bisschen funktionieren, wegen Selma. Den Rest des Tages verdämmert sie. Ein regelrechtes Sediersystem, in dem alle Akteure profitieren Über die Jahre ist ein regelrechtes Sediersystem entstanden, ein pharmakologischer Komplex, der erstens aus der pharmazeutischen Industrie und Forschung, zweitens 46 den staatlichen Behörden und drittens den Ärzten und Apothekern besteht. Die Akteure sind miteinander verwoben, durch ökonomische Anreize, mangelnde Aufklärung, Auftragsstudien und das große Versprechen der allgemeinen Ruhigstellung. Dieses System ist der Grund, warum Schlaf- und Beruhigungsmittel seit Jahrzehnten in einem derartigen Ausmaß verschrieben und eingenommen werden. Wenn die Patienten, einmal abhängig gemacht, ihren Stoff einfordern, profitieren alle Akteure: Die Pharmaindustrie verkauft Bestseller, die Behörden haben ihre Ruhe, die Ärzte genug Patienten. Nicht nur in Deutschland, sondern in allen westlich geprägten Ländern. Es ist, als wiege das Sediersystem die Welt in einen großen Schlaf. Die weitreichenden Konsequenzen für die Menschen scheinen dem System egal zu sein. Da sind die Ängste, die niedergezwungen werden müssen. Und da ist die Tablette, die so vielen hilft – und dabei verschleiert, was ihnen wirklich droht. Obwohl auch sie einen Entzug hinter sich hat, würde Barbara Voss niemals von sich sagen, sie sei drogensüchtig gewesen. Sie hat ein solides Leben geführt, nie geraucht und nur sehr gelegentlich ein Glas Wein getrunken. Sie war fast ihr ganzes Leben mit demselben Mann verheiratet, lange Jahre Grundschullehrerin, immer zuverlässig und pünktlich. Nur jetzt, mit 84 Jahren, stand sie plötzlich morgens unter der Dusche und zitterte. "Na ja, zittern ist ein bisschen wenig", sagt sie. "Geschlottert habe ich!" Ihr fehlte Adumbran, das sie 40 Jahre lang eingenommen hat, nur eine Tablette am Tag. Erst als ihr Mann starb, erhöhte sie die Dosis – auf eineinhalb Tabletten. Sie litt, wie die meisten anderen Süchtigen auch, unter einer sogenannten Niedrigdosisabhängigkeit. Als sie die Tabletten wegließ, hatte sie schlimme Krämpfe, den Entzug nennt sie "die Hölle". Benzodiazepine und Z-Substanzen sind in der Medizin unverzichtbar, für Menschen, die vor Operationen unruhig sind, starke Krämpfe haben, akute Angst- und Panikattacken oder Schlafstörungen. Aber länger als ein bis zwei Wochen sollten die Mittel nicht eingesetzt werden, da sind sich die Experten einig. Nur in Ausnahmefällen wie einer Depression können Patienten die Medikamente drei bis vier Wochen lang nehmen, damit sie zur Ruhe kommen, bis die Antidepressiva wirken, die sie eigentlich schlucken sollten. Bekannt sind Benzodiazepine und Z-Substanzen unter anderem mit folgenden Handelsnamen: Adumbran, Alprazolam, Antelepsin, Bikalm, Bromazanil, Bromazep, Bromazepam, Buccolam, Clonazepam-neuraxpharm, Demetrin, Diazepam, EspaDorm, Lorazepam, Normoc, Oxazepam, Rivotril, Rudotel, Rusedal, Sigacalm, Somnosan, Sonata, Stesolid, Stilnox, Tafil, Tavor, Tolid, Tranxilium, Ximovan, Zolpi, Zolpidem, Zopiclodura, Zopiclon. Die Medikamentenabhängigkeit ist anders als die Heroin- oder Kokainsucht. Medikamente werden selten am Bahnhof vertickt, sondern von Ärzten verschrieben und von Apothekern verkauft. Einer, der seine Sucht überwunden hat, sagt: "Ich habe mich die ganze Zeit so sauber gefühlt. Mein Dealer war der Apotheker, und mit meinem Stoff habe ich noch eine Packung Taschentücher bekommen." Vor allem Hausärzte verschreiben die Medikamente. Schon aus den der ZEIT vorliegenden Daten von Kassenrezepten ist ersichtlich, dass die eigentlich zuständigen Fachärzte für Nervenheilkunde nur 18,5 Prozent der Mittel verschrieben haben. Die Mittel werden auf Kassenrezept zu 70 Prozent von Allgemeinärzten und 47 Internisten verschrieben. Von Hausärzten wie Lore Wegener*, Ärztin in einer Gemeinschaftspraxis in einer deutschen Großstadt. Die 42-Jährige sagt, man nehme die Tablettensüchtigen nicht wahr, obwohl es mehr von ihnen gibt als Alkoholiker. Doch sie torkeln nicht, lallen nicht und erbrechen sich auf niemandes Schuhe. Sie machen weder Lärm noch Probleme, sondern verschwinden still in der Menge. Nimmt der Busfahrer da vorn am Steuer Adumbran? Hilft Stilnox der Lehrerin an der Tafel, dem Arzt im OP-Saal, der Chefin in der Konferenz? Wer unter BenzoAbhängigen recherchiert, dem begegnen alle Berufe: Banker, Lehrer, Ärzte, Verleger, Hausfrauen. Viele wollen gut schlafen, damit sie am nächsten Tag funktionieren können. "Was würden Sie machen, wenn die Praxis voll ist und der Patient jammert, weil er sein Mittel will?", fragt die Hausärztin Wegener. "Würden Sie anfangen, mit ihm seine Sucht zu diskutieren, mit 15 Kranken im Wartezimmer?" Das Verhalten bei Süchtigen sei immer dasselbe: "Erst sind sie verbindlich. Sie suchen eine gemeinsame Ebene. Später werden sie ungemütlich." Diesen Druck auszuhalten sei schwer. Das liege auch daran, dass Ärzte den Menschen gefallen wollten: "Wir wollen Anerkennung." Verweigere man die Tablette, werde der Süchtige laut. Pöble das Personal an. Rede schlecht über die Praxis. "Das ist fatal in Zeiten, in denen alles im Netz bewertet wird", sagt die Hausärztin. Auch sie habe schon schlechte Bewertungen gekriegt – verfasst von Patienten, denen sie keinen Stoff gab. In Deutschland werden besonders viele Arzneimittel verschrieben. In den Niederlanden bekommt nur etwa die Hälfte der Patienten, die einen Arzt aufsuchen, auch ein Medikament. Hier aber verlässt kaum jemand die Praxis ohne ein Rezept. Hier werden Ärzte dafür bezahlt, zu verschreiben. Bei Kassenpatienten sind Gespräche in der Versichertenpauschale enthalten, für zusätzliche Gespräche gibt es ein enges Budget. Die Beratung eines Privatpatienten oder Selbstzahlers kann der Hausarzt mit 4,66 Euro abrechnen, in begründeten Ausnahmefällen für längere Sitzungen mit 8,74 Euro. Tritt der Patient bloß an die Theke und holt sich das Rezept, bekommt der Doktor für Kassenpatienten immerhin 1,23 Euro, für Privatpatienten und Selbstzahler 1,75 Euro. Das Geld kommt regelmäßig, denn der Patient braucht Nachschub. Ein Arzt, der seinem Patienten gegenübersitzt und fragt: "Wie geht es Ihnen wirklich?", verdient also kaum etwas – auch wenn dem Patienten mit dieser Frage vielleicht am meisten geholfen wäre. Gespräche bringen letztlich weniger ein als das massenhafte Ausstellen von Rezepten. So will es unser Gesundheitssystem. Die Hausärztin Wegener sagt: "Als Arzt hat man auch ein Geschäft." Ein Benzo-Süchtiger gilt bei Wegener und ihren Kollegen als "Schein". Man unterschreibt das Rezept, und er geht wieder. Die Tricks der Süchtigen Es gibt jährliche Sitzungen, in denen sich die Ärztevertreter zanken, welche Gruppe für welche Leistung Geld aus dem Topf der Krankenkassen bekommt. Jahr für Jahr werden immer kompliziertere Verteilungsschlüssel ersonnen, die eine einfache Wahrheit verbergen: Medikamente und Eingriffe, auch wenn sie nutzlos oder sogar schädlich sind, halten das milliardenschwere System am Laufen. Auch an den Folgeerkrankungen der Schlafmittelsüchtigen verdient das Sediersystem. Ein Drittel aller Patienten, die mit Oberschenkelhalsbrüchen in Krankenhäuser eingeliefert werden, sind wahrscheinlich unter dem Einfluss von 48 Benzodiazepinen oder Z-Schlafmitteln gestürzt. Die Folgekosten der Medikamentenabhängigkeit, von denen der Großteil den Benzodiazepinen zuzuordnen ist, schätzt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen auf 14 Milliarden Euro im Jahr. Nicht jeder Arzt verschreibt die gefährlichen Medikamente, aber viel zu viele viel zu schnell. Wie schnell, das fand die Stiftung Warentest in einem Feldversuch heraus: Man schickte eine 42-jährige Testerin, die wegen ihres Mannes gerade in eine andere Stadt gezogen war und nicht gut einschlafen konnte, zu zehn verschiedenen Hausärzten. Vier davon verordneten ihr ohne Umschweife die abhängig machenden Schlafmittel. Von vier weiteren Ärzte wollte sie wissen, ob ihr ein Schlafmittel helfen könnte – und bekam sofort ein Rezept. Nur ein einziger Arzt fragte die Patientin, wie oft sie nicht schlafen könne. Er fahndete nach der wahren psychischen Ursache. Kein Arzt zählte ihr die Grundregeln für Schlaflose auf: kein fettiges Essen, kein Alkohol und kein Kaffee vor dem Schlafengehen, kein Wecker neben dem Bett, auf den man dauernd starrt. Hans-Herbert König, 57 Jahre alt, verfiel den Benzos mit 29 Jahren. "Ich bin über die Jahre perfekt geworden", sagt er, wenn er über die Beschaffung spricht. Er kennt die Benzo-Schleudern, jene Praxen also, die hemmungslos verschreiben. "Die Versichertenkarte ist ein Freifahrtschein", sagt er. König nennt die Tricks der Süchtigen: Geh zu einem Arzt, der seine Praxis erst kürzlich eröffnet hat, der braucht Patienten. Wechsle dauernd den Arzt. Sag: Mein Arzt ist im Urlaub/verstorben/krank, der verschreibt mir das immer. Sag: Ich bin erst in diese Gegend gezogen. Auch in großen Systemen gibt es immer ein paar wenige, die nicht mitmachen. Dazu gehört Ernst Pallenbach. Vor acht Jahren, als er Krankenhausapotheker in VillingenSchwenningen war, rief ihn ein Arzt zu einer Patientin: Ob er sich mal ihre Medikamente anschauen könne? Als Pallenbach ins Zimmer der älteren Dame trat, öffnete sie ihre Handtasche, heraus fielen 20 Packungen, darunter Bromazepam, eines der meistverordneten Benzodiazepine. Er fragte sie: "Hat Ihnen das früher geholfen?" "Ja." "Und jetzt?" "Jetzt nicht mehr." Er erklärte der Patientin, dass nach einer Weile die Wirkung des Medikaments nachlässt oder sich sogar umkehrt, bot ihr Beratung an und ging. Fünf Tage später rief sie ihn an: "Was Sie mir erzählt haben, das hab ich nicht verstanden. Können Sie es mir noch mal erklären?" Pallenbach sagt, in diesem Moment habe er eine Idee gehabt: Die Apotheker reden behutsam mit den Abhängigen, führen sie an den 49 Entzug heran, entscheiden muss am Ende der Arzt. Pallenbach probiert es aus. Sagt, um die Menschen nicht zu erschrecken, "Gewöhnung" statt "Sucht". Sagt "runterdosieren" statt "Entzug". Er merkt: Die Abhängigen sind zutraulich, die meisten lassen nach dem langsamen Herunterdosieren die Mittel dankbar weg. Vier Jahre lang kämpfte er um Geld für einen Modellversuch. Wenn die Behörden schon kein Mitgefühl haben mit den Süchtigen, dachte er, sind sie vielleicht offen fürs Sparen: Der stationäre Entzug kostet pro Person 15.000 Euro. Redet der Apotheker mit den Abhängigen, kostet es nichts. Schließlich bekam Pallenbach eine Förderung vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und Unterstützung durch die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände für sein Modell, dreieinhalb Jahre Laufzeit, über hundert Apotheken in Baden-Württemberg machten mit. Die Hälfte der beratenen Patienten setzte die Medikamente ganz ab. Auch nach Monaten wurden sie nicht rückfällig. Weitere 30 Prozent reduzierten die Dosis. Die Patienten fühlten sich besser: Da war die 82-Jährige, die nach Jahrzehnten wieder ins Schwimmbad ging, nachdem sie viele Jahre tranig vor dem Fernseher verbracht hatte. Da waren die vielen, die merkten: Nicht wegen meines Alters bin ich schusselig – sondern wegen der Medikamente. Pallenbach wollte mehr Ärzte und Apotheken einbeziehen. Er scheiterte an Christoph von Ascheraden, dem Vorsitzenden des Ausschusses Sucht und Drogen der Bundesärztekammer. Der gibt zu, dass die dauerhafte Abhängigkeit "ein Riesenproblem" sei. "Die Benzodiazepin-Sucht ist sehr klebrig und der Entzug viel schwieriger als bei Heroin", sagt er. "Aber dass jetzt Apotheker anstelle von Ärzten Gespräche mit den Patienten über die Reduktion der Medikamente führen, das geht nicht. Diagnose und Therapieentscheidung müssen in der Arzthand bleiben." Pallenbach entgegnet, Apotheker könnten viel mehr als nur Medikamente abgeben, von Ascheraden bezeichnet Pallenbach als "ehrenwerten Idealisten". Und so bleibt alles, wie es ist. Wer will etwas wissen von den Ängsten der Melanie Schneider, der Barbara Voss und Tausender anderer? In Deutschland gibt es schon jetzt nicht genug Therapieplätze. Was wäre, wenn Schneider, Voss und die restlichen 1,5 Millionen anrückten? "Viele flüchten sich in die zynische Wahrheit: Es ist für uns alle bequemer, wenn die Ruhiggestellten abhängig bleiben", sagt Gerd Glaeske. "Ich danke dem Erfinder von Valium" Hartmut Berger* arbeitet an einer technischen Universität, in seiner Freizeit fährt er Kajak und Drachenboot, man sieht ihm an, dass er viel Sport treibt, auch wenn er, wie jetzt, in einem Sprechzimmer in Ostwestfalen sitzt. Vor sich ein Blatt mit einem Diagramm, das er selbst erstellt hat. Alle Tage der letzten drei Monate sind da zu sehen, in verschiedenen Farben. Rot: starke Ängste, Panik; Orange: latente Ängste, Bedrücktheit; Grün: bewältigte Ängste, Symptomfreiheit; Schwarz: Einnahme von Valium; 50 Blau: Sport. "Ich danke dem Erfinder von Valium", sagt er. "Valium schirmt alles ab. Ich fühle mich wohlig und aufgehoben." Allerdings folgen in letzter Zeit auf die schwarzen oft rote Tage. Das bedeutet: Panik trotz Valium. "Wenn die Ängste auftauchen, sind sie so bedrohlich, dass sie mir alles zerstören. Was von außen kommt, kann ich ertragen. Vor dem, was in mir ist, graut mir", sagt er. Stilnox und Valium, Benzodiazepine und Z-Substanzen sind Suchtstoffe. Sie sprechen das körpereigene Belohnungssystem an, indem sie, genau wie Alkohol, am GABA-Rezeptor andocken. Der GABA-Rezeptor ist die Beruhigungszentrale des Gehirns. Hier werden Ängste gelöst, Muskeln entspannt und Krämpfe gebremst. Außerdem wird der Schlaf angeregt. Deswegen sind Benzos und Z-Substanzen so hilfreich bei Traumata wie einer Trennung oder einem Todesfall. Man gewöhnt sich schnell an die Mittel, viel schneller als etwa an Alkohol. Die Medikamente unterbinden den Nervenverkehr. Signale erreichen ihr Ziel nicht, das Gehirn beruhigt sich. Viele, die es nehmen, erleben Ruhe vor dem inneren Geschwätz und werden vom Schlaf überwältigt wie Dreijährige im Autositz. Andere überwinden das Schlafbedürfnis und geben sich schummriger Ekstase hin. Manche haben Sex, an den sie sich später nicht erinnern, fahren schlafwandlerisch Auto oder essen den Kühlschrank leer. "Nach wenigen Wochen täglicher Einnahme hat sich der Körper so an das Medikament gewöhnt, dass es zu Absetzeffekten kommt, die zur weiteren Einnahme führen – das Grundmuster jeder Abhängigkeit", sagt der Psychiater Rüdiger Holzbach. Er ist der Arzt, der sich in Deutschland am besten mit Benzodiazepinen und Z-Substanzen auskennt, er hat in Ostwestfalen die einzige Suchtklinik in Deutschland mit einem eigenen Entzugsprogramm für Benzodiazepin-Abhängige aufgebaut. "Die vielen Patienten, die bei einer Tablette täglich bleiben, spüren nicht mehr die Wirkung des Medikaments, sie arbeiten nur noch gegen die Entzugserscheinungen, die sie für wieder auftretende Symptome ihrer Grunderkrankung halten", sagt Holzbach. Es gibt Menschen, die nehmen nur einmal im Monat eine Tablette. Aber eine tägliche, längere Einnahme ist gefährlich. Dass die Benzodiazepine Konzentration, Aufmerksamkeit, Erinnerung und Gedächtnis stören, dass sie gleichgültig machen oder chronisch depressiv, antriebslos oder grundlos euphorisch, dass sie die Belastungs- und Konfliktfähigkeit verringern, dass sie langsam machen, seelisch und mental, verstimmt, reizbar, aggressiv, manchmal richtig feindselig, nervös, unruhig und fahrig, dass sie die Angst, die sie eigentlich bekämpfen sollen, langfristig verstärken und zuletzt hervorrufen – all das ist in zahlreichen Studien bewiesen und steht längst im Beipackzettel. Aber erst seit Kurzem ist klar, wie riskant die Substanzen wirklich sind. Im Herbst 2014 erschien eine Studie im renommierten Fachblatt British Medical Journal, in der kanadische und französische Forscher zum ersten Mal eine Verbindung zwischen Demenz und der Abhängigkeit von Benzodiazepinen sehen: Patienten, die Schlafmittel einnahmen, erkrankten eineinhalbmal häufiger an Alzheimer. Es ist ein erster Hinweis darauf, dass die Schlafmittel ein Grund sein könnten für die Explosion der Volkskrankheit Demenz. 51 Im selben Fachblatt erschien schon vor drei Jahren eine aufsehenerregende Warnung. Der berühmte amerikanische Schlafforscher Daniel Kripke, emeritierter Professor der University of California, hatte die elektronischen Gesundheitsdaten des amerikanischen Bundesstaats Pennsylvania ausgewertet und kam zu dem Schluss, dass Menschen, die regelmäßig Schlafmittel nahmen, innerhalb von sieben Jahren dreimal häufiger starben als die der Vergleichsgruppe. Wer eine höhere Dosis nahm, starb mit einer mehr als fünfmal größeren Wahrscheinlichkeit. Aus den Daten kann man freilich die Todesursache nicht herauslesen, und verstorbene Schlafmittelsüchtige waren oft alt und hatten Krankheiten. Kripke plädiert trotzdem dafür, die Mittel vom Markt zu nehmen: "Niemand stirbt, wenn er keine Schlaftabletten nimmt", sagte er dem amerikanischen Magazin The New Yorker. Der Bremer Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske schlägt vor, die Packungen zu verkleinern und die Medikamente nur noch auf Betäubungsmittelrezepten zuzulassen, wie es etwa bei Ritalin der Fall ist, dem Mittel gegen Aufmerksamkeitsstörungen. Das BGM sagt, es gebe derzeit keine Überlegungen, die Packungsgrößen zu verkleinern. In das ostwestfälische Entzugsprogramm von Rüdiger Holzbach kommen zwischen 50 und 100 Patienten pro Jahr, ambulant betreut Holzbach weitere Abhängige aus dem ganzen Land. "Gute Patienten", sagt Holzbach, "brav und angepasst." Die Mehrheit der Abhängigen ist über 50 Jahre, ein Drittel älter als 70. "Sie haben einfach zu wenig Beschäftigung", sagt Holzbach. "Das Selbst-Strukturieren der Zeit haben die älteren Leute nie gelernt." In all der langen, zähen Weile wollten die Alten zwölf Stunden am Tag im Bett verbringen. "Falsche Schlaferwartung" nennt Holzbach das und erklärt, gesunde ältere Menschen brauchten häufig höchstens sechs Stunden Schlaf. Dahinter erkennt Holzbach ein gesellschaftliches Problem: "Wir haben zu wenig sinnvolle Beschäftigung für Ältere." Was kann man tun? "Wir müssen die Ärzte aufklären." Nur wer die Sucht erkennt, kann sie auch ansprechen. "Es beginnt schon in der Ausbildung. Ich habe im Medizinstudium viele Transplantationspatienten gesehen, aber wie man Husten, Schnupfen oder eben Schlafstörungen behandelt, hat mir keiner beigebracht." In seinen Fortbildungen, sagt Holzbach, sitzen Hausärzte, die glaubten, jemand, der ein bis zwei Tabletten am Tag nimmt, sei nicht süchtig. Genauso oft höre er von Kollegen das Argument: "Wenn eine 75-Jährige das jahrelang genommen hat, soll sie es halt weiter nehmen." Aber, sagt Holzbach, gerade die 75-Jährige gehöre entzogen, weil sich die Alterserscheinungen mit den Benzo-Symptomen ungünstig koppelten. "Seit es Menschen gibt, wollen sie Sedativa", sagt der Medizinhistoriker Matthias M. Weber vom Max-Planck-Institut in München. Die Menschen wollen beruhigt werden, ihre Angst loswerden. Schon in Homers Odyssee kommt das Zaubermittel Nepenthes vor. Es bedeutet auf Altgriechisch "kein Kummer". In der Odyssee erhält die schöne Helena den Stoff Nepenthes von einer ägyptischen Königin, als "Mittel gegen Kummer und Groll und aller Leiden Gedächtnis". Wer es nimmt, dem benetzt "keine Träne die Wangen, wär’ ihm auch sein Vater und seine Mutter gestorben, würde vor ihm sein Bruder, und sein geliebtester Sohn auch mit dem Schwerte getötet". Das Molekül C16H13ClN2O schien Anfang der sechziger Jahre dieses Nepenthes zu sein. "Die Idee, ich nehme eine Substanz ein und bin das los, was mich betrifft", sagt Weber. 52 Leo Sternbach, der Erfinder der Benzos, schrieb, nachdem er sie an Tieren getestet hatte: "Die zähmende Wirkung wurde auch an wilden Tieren beobachtet, wie am Tiger und Luchs, ganz besonders am Affen. Da unser 'Medical Director' gute Verbindungen zum Zoo in San Diego hatte, wurde die Droge auch dort an wilden Tieren geprüft. Dabei erwies sich ebenfalls die außerordentliche Aktivität der Substanz: Ein sonst sehr aggressiver Tiger, der erst kurze Zeit im Zoo war, wurde so gezähmt, dass er ganz unbehelligt berührt werden konnte. Dabei wurde ihm auch eine Blume ins Maul gesteckt, und das wurde fotografiert." Die allgemeine Zähmung war ein Milliardengeschäft. Valium und der Vorgänger Librium waren damals die kommerziell erfolgreichsten Pharmapräparate. Sie wurden noch häufiger verschrieben als heute. Bei Roche machten die Benzos im Jahr 1974 zwei Drittel aller Pharmaerlöse aus. Ein Jahrzehnt lang war Roche allein wegen der Benzodiazepine der größte Arzneimittelkonzern der Welt. Die Z-Substanzen Dabei hatten amerikanische Forscher schon kurz nach der Zulassung herausgefunden, dass Benzodiazepine abhängig machen. Sie verabreichten in Menschenversuchen elf psychisch gesunden Gefängnisinsassen über mehrere Monate 300 bis 600 Milligramm Chlordiazepoxid – eine hohe Dosis. Beim Umstellen auf Placebos entwickelten zehn von elf Patienten Depressionen, Psychosen, Unruhezustände, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Übelkeit. Es kam zu zwei epileptischen Anfällen. Warum passierte nichts? "Die Firma Roche fürchtete, dass die 'Nebenwirkung' Abhängigkeit dazu führen könnte, dass Valium nicht mehr entsprechend häufig verordnet würde", sagt der Gesundheitswissenschaftler Glaeske. "Das hätte das außerordentlich profitable Geschäft gefährdet. Entsprechenden Studien wurde von Roche stets widersprochen, nach dem Motto: Wir haben keine Daten zu dieser angeblichen Nebenwirkung." Roche, mit den Vorwürfen konfrontiert, sagt, die Firma habe sich "aktiv in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht und auf den angemessenen und sicheren Umgang mit Benzodiazepinen hingewiesen". Aber Abhängigkeit taucht erst ein Vierteljahrhundert später in Beipackzetteln und der Roten Liste auf, einem Arzneimittelverzeichnis, das nicht unabhängig ist, sondern von der Pharmaindustrie herausgegeben wird. Die Pharmaindustrie sucht nach einer neuen Droge, die den Menschen die Ängste nimmt. Doch jetzt, Mitte der achtziger Jahre, muss man vor Einführung eines Medikaments Studien vorweisen, denn in Deutschland waren viele Jahre zuvor Babys ohne Arme geboren worden, nachdem ihre schwangeren Mütter Contergan geschluckt hatten. Alle Studien werden von der Pharmaindustrie selbst gemacht. Sie diktiert die Bedingungen. Sie entwickelt: die Z-Drugs, Zolpidem und Zopiclon. Sie haben eine andere chemische Struktur als Benzodiazepine – wirken aber genauso. Sieht man sich heute die Bedingungen an, unter denen die Z-Substanzen eingeführt werden durften, könnte man glauben, die Zulassung habe von vornherein festgestanden: Die Studien waren so angelegt, dass sie Menschen mit Suchtproblemen ausschlossen. Und die Untersuchungszeiträume waren so kurz, dass sie die Entwicklung einer Abhängigkeit gar nicht erfassen konnten. 53 Also konnten die Vertreter der Pharmaindustrie den Ärzten guten Gewissens erklären, die Mittel seien nicht schädlich und machten nicht abhängig. Und viele der Ärzte glauben das noch heute. Zopiclon und Zolpidem sind aktuell die am häufigsten verschriebenen Schlafmittel. In Deutschland werden sie unter anderem unter dem Namen Ximovan oder Stilnox vertrieben – das ist das Mittel, nach dem Melanie Schneider süchtig ist. "Mami, was ist los mit dir?", hat die Tochter sie oft gefragt, "Mami, du bist so komisch." Selma ist jetzt 18 und findet, es sei nicht gerade einfach, unter der Obhut einer Mutter aufzuwachsen, die tablettensüchtig ist. Einmal hat eine neue Apothekerin der Mutter aus Versehen sechs Packungen statt sechs Tabletten ausgehändigt. "Ich wollte sie in den Arzneischrank tun", sagt Schneider, "hab ich auch zuerst." Dann hat sie die Tabletten doch genommen. Jede einzelne. "Es ist wie ein Magnet. Ich hab die Packung eingenommen, eine nach der anderen. Ich konnte nicht anders." Geweint habe sie dabei und ferngesehen. Als sie zu sich kam, hatte sie keine einzige Pille mehr. "Ich hab die leeren Packungen das Klo runtergespült", sagt sie, "damit ich sie nicht sehen muss. Damit keiner sie sieht." Dann habe sie die Handtasche durchwühlt, ob sich noch irgendwo eine Tablette finde. Schneider: "Wie ein Maulwurf habe ich gewühlt." Eines Abends ist Melanie Schneider wieder im Dämmerzustand, als ihre Tochter nach Hause kommt. In der Tür stehend, fragt sie: "Mami, hast du schon gekocht?" Da schmeißt die Mutter ein Glas Nescafé nach ihr. Es zerschmettert an der Wand. Jetzt ist Schneider in der renommierten Privatklinik Meiringen auf Entzug. Es ist ihr dritter. Die Schweizer Klinik ist ihre letzte Hoffnung. Sie weiß nicht, welche Dosis ihr im Moment verabreicht wird, und sie soll es nicht wissen. Das Medikament ist schon aufgelöst in Wasser. "Für Abhängige, die an ihrer Dosis kleben, ist das eine gute Methode", sagt Michael Soyka, der Klinikleiter und Autor mehrerer einschlägiger Fachbücher. Diesmal müsse sie den Entzug schaffen, sagt Schneider, "ich hab’s der Selma versprochen". Die Sucht verläuft schleichend und ist für Betroffene und Angehörige oft schwer zu durchschauen. Es ist nicht so, dass Süchtige über Nacht ihre Persönlichkeit verändern, wie beim Heroin. Sie werden einfach stiller. Keiner erfasst die tatsächliche Zahl der Abhängigen – auch die zuständigen Behörden kennen sie nicht. Zwar befragt das BGM jährlich eine Kohorte, wie oft in den vergangenen Wochen Rauschmittel konsumiert wurden. Befragt werden aber nur Menschen, die jünger sind als 65 Jahre – oft fängt das Problem mit diesem Alter aber erst an. In Deutschland tauchen in den Schlichtungsstellen für Arzthaftungsfragen mitunter Patienten auf, die den Entzug geschafft haben. Sie verklagen ihre Ärzte – wie der Manager aus Bremen, der 2004 von seinem Hausarzt Schadensersatz wollte und 75.000 Euro bekam. Es ist einer der wenigen Fälle, die bekannt wurden. Die meisten Abhängigen sind Frauen. Das liegt daran, dass Frauen mehr über ihre Ängste sprechen als Männer. Männer greifen eher zum Alkohol, Frauen zur Tablette, die Benzos sind "mother’s little helper", wie die Rolling Stones 1966 sangen. Das habe auch mit dem männlichen Blick auf die Welt zu tun, sagt der Gesundheitswissenschaftler Glaeske, er präge die Medizin. Aus diesem Blickwinkel neigen Frauen zu Übertreibung und Hysterie. Frauen sind labil. Sie gehören 54 ruhiggestellt. Glaeske kann viele Fälle nennen, bei denen Männer das wirksame Arzneimittel bekommen und Frauen eines, das sie beruhigt. Nach einem Herzinfarkt zum Beispiel bekämen Frauen deutlich weniger Prophylaxe wie Cholesterinsenker und Blutverdünner als Männer – stattdessen verabreiche man ihnen etwas "zur Beruhigung", sagt Glaeske. Diese Unterversorgung könne Frauen schaden. Die sogenannte Hysterie war im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Sammelbegriff, um weibliches Verhalten zu pathologisieren. Es scheint, als hätten Reste dieser Vorstellung bis heute überdauert. Glaeske erinnert sich noch an eine Werbung für Benzos aus den 1970er Jahren. Der Slogan lautete: "Keine Scheinlösung für Probleme, sondern eine Lösung für Scheinprobleme." Bleiben die Behandelten nach dem Entzug clean? Holzbach sagt: "In der Regel schon. Aber es taucht plötzlich ein anderes Problem auf." Er lacht. "Hier haben schon Ehemänner ehemaliger Patientinnen angerufen. Sie klagen: 'Meine Frau ist plötzlich so rebellisch. Sie widerspricht und macht nur noch, was sie will.' Und dann fragen sie: 'Können Sie da nichts machen, Herr Doktor?'" * Name geändert http://www.zeit.de/2015/24/medikamenten-sucht-beruhigungsmittel-schlafmittel 55 Elektrokrampftherapie (EKT) Die Elektrokrampftherapie (EKT) beruht darauf, dass in Narkose und unter Muskelentspannung durch eine kurze elektrische Reizung des Gehirns ein Krampfanfall ausgelöst wird. Der genaue Wirkmechanismus ist noch nicht geklärt. Nach heutigem Kenntnisstand ist die Wirkung auf neurochemische Veränderungen verschiedener Botenstoffe im Gehirn zurückzuführen. Die Indikation für die EKT stützt sich auf zahlreiche Wirksamkeitsnachweise. Für die Auswahl der Patienten sind maßgeblich: die Diagnose, die Schwere der Symptome, die Behandlungsvorgeschichte sowie die Abwägung zwischen Nutzen und Risiken unter Berücksichtigung anderer Behandlungsoptionen. Dabei wird bei gegebener Indikation auch der Wunsch des Patienten berücksichtigt. Am häufigsten wird die EKT eingesetzt, nachdem Behandlungen mit Psychopharmaka keinen Erfolg gebracht haben. Die EKT ist grundsätzlich dann angebracht (indiziert), wenn     eine Notwendigkeit für eine schnelle, definitive Verbesserung aufgrund der Schwere der psychiatrischen Erkrankung besteht, die Risiken der EKT geringer sind als die anderer Behandlungen, aus der Vorgeschichte ein schlechtes Ansprechen auf Psychopharmaka (Therapieresistenz) oder ein gutes Ansprechen auf EKT bei früheren Erkrankungsepisoden bekannt ist, Unverträglichkeit oder erhebliche Nebenwirkungen der Pharmakotherapie aufgetreten sind. Bei folgenden psychiatrischen Erkrankungen ist die EKT die Therapie der ersten Wahl:    wahnhafte Depression, depressiver Stupor, schizoaffektive Psychose mit schwerer depressiver Verstimmung, Depression mit starker Suizidalität oder Nahrungsverweigerung, akute, lebensbedrohliche (perniziöse) Katatonie. Als Therapie der zweiten Wahl ist die EKT angezeigt bei:   therapieresistenter Depression, somit nach Anwendung von mindestens zwei verschiedenen Antidepressiva möglichst unterschiedlicher Wirkstoffklassen in ausreichender Dosierung und zusätzlichem therapeutischem Schlafentzug, therapieresistenten, nicht lebensbedrohlichen Katatonien und anderen akut exazerbierten schizophrenen Psychosen nach erfolgloser NeuroleptikaBehandlung, therapieresistenten Manien nach erfolgloser Behandlung mit Neuroleptika, Lithium oder Carbamazepin. Seltenere Indikationen können therapieresistente schizophreniforme Störungen, therapieresistente schizoaffektive Störungen, therapieresistente Parkinson-Syndrome und das maligne neuroleptische Syndrom sein. Die nach dem heutigen Standard durchgeführte EKT ist ein sicheres 56 Behandlungsverfahren. Die Risiken der Behandlung sind im Wesentlichen die Risiken der Narkose. Hirnschädigungen sind bisher nach sachgerecht durchgeführter EKT nicht nachgewiesen. Gedächtnisstörungen können als Nebenwirkungen auftreten, zumeist als vorübergehende, diskrete Störung der Orientierung, des Kurzzeitgedächtnisses und der Aufmerksamkeit unmittelbar nach der Behandlung. Während sich die anterograden Gedächtnisstörungen in der Regel rasch (in der Regel nach Stunden bis zu wenigen Tagen, spätestens 4 Wochen) zurückbilden, können die retrograden Amnesien in seltenen Fällen länger bestehen bleiben. Unmittelbar nach der EKT auftretende weitere Beeinträchtigungen wie Wortfindungsstörungen sind vorübergehend und bedürfen keiner spezifischen Behandlung. Kopfschmerzen in Form von Spannungskopfschmerzen treten bei etwa 30 % der Patienten nach EKT auf und können im Bedarfsfall mit Schmerzmitteln behandelt werden. In seltenen Fällen können auch Migräneanfälle durch EKT ausgelöst werden. Übelkeit und Erbrechen nach EKT kommen selten vor. http://www.psychiatrie.med.uni-goettingen.de/de/content/patienten/243.html 57 Fragen zur Nachbereitung: Was ist das Besondere an Musicals? Welche Kunstgattungen treffen aufeinander? Wie hat euch die Musik gefallen? Wie hat euch das Bühnenbild gefallen? Mit welcher Rolle könnt ihr euch am Stärksten identifizieren? Warum? Welche Probleme könnt ihr nachvollziehen? Welche nicht? Wie hat sich das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter im Laufe des Stücks verändert? Wie verändert sich das Verhältnis zwischen Vater und Tochter? Wie unterscheidet dich die Trauer des Vaters mit der Trauer der Mutter? Was für einen Charakter hat der Sohn Gabe? Hat er zwei Seiten? Wenn ja, beschreibe seine zwei Seiten. Wodurch existiert Gabe? Wodurch versucht Henry Natalie zu helfen? Wie verläuft die Liebesgeschichte zwischen den beiden Jugendlichen? Könntet ihr euch ein anderes Ende vorstellen? Was hat euch überrascht oder irritiert? Warum? Gab es Szenen, die euch nicht so gut gefallen haben? Warum? 58 Übungen  Kurze Vorstellung der Hauptfiguren Alle stehen im Kreis und finden eine Geste/Haltung, die zu der jeweiligen Figur passt. Mutter: himmelhochjauchzend-zu Tode betrübt Vater: geduldig, beharrlich Tochter: Natalie ist sensibel, verletzt, herausfordernd Sohn: Gabe ist unsichtbar, in sich gefangen, dringt nicht zu den anderen durch (es gibt ihn nicht) Freund der Tochter: Henry ist locker, ist sehr verliebt und zeigt dies offen  Übungen zu Gefühlen Möglichst viele verschiedene Gefühle sammeln und auf Karten schreiben. - Pantomimisch wird von einer Person ein Gefühl vorgespielt. Die Gruppe darf rate. Wer richtig lag, ist als nächster dran. - Ein Raumlauf, bei dem jeder/jede eine Karte bekommt und versucht, sich in das Gefühl zu versetzen. Der Spielleiter/ die Spielleiterin stoppt, Karten werden getauscht, es geht weiter. Mehrmals wiederholen. Gut ist es ein paar Karten übrig zu haben, um bei Bedarf schnell jemandem eine Karte geben zu können, der nicht tauschen konnte.  Konzepte von Normalität in der Gesellschaft und in der Familie Was ist normal, was nicht mehr? Gesellschaften definieren Normalität. Wer anders ist, als diese Konzepte vorsehen, fühlt sich ausgegrenzt. Vor allem in der Adoleszenz stellen sich Menschen die Frage, wohin sie gehören, wie sind und sein wollen und ob sie in die Gesellschaft passen (wollen). Sind die Dinge, die ihnen widerfahren normal ? Erleben andere Menschen auch solche Momente? Geht es in anderen Familien nicht viel besser zu? Lebendige Diagramme Es werden drei Orte im Raum definiert, die JA, NEIN und UNENTSCHIEDEN heißen. Im Folgenden werden Fragen gestellt oder Feststellungen gemacht und alle müssen sich entscheiden, auf welches Feld sie gehen möchten. So entsteht eine sehr körperliche, sichtbare Abstimmung oder auch Momentaufnahme. Wichtig: Dies ist eine stille Übung, es sollte nichts kommentiert werden. Grundthema: Kennt ihr folgende Themen unter jungen Menschen? - Sich wie ein Außerirdischer fühlen Nicht so werden wollen wie die eigenen Eltern Ist das realistisch? Ängste vor Versagen haben 59 - - Sich eine überglückliche Zukunft basteln Enttäuscht sein über die eigenen Eltern Sich zugleich schämen und wütend sein Ängste vor Trennung der Eltern oder vom eigenen Partner haben Angst vorm übersehen werden Angst davor, enttäuscht zu werden Andere für total verrückt halten Sich für die eigenen Eltern schämen Etc. Begegnung auf der Diagonalen Es werden zwei Gruppen gebildet, die sich in zwei Schlangen im Raum einander gegenüberstehen. Es gehen immer nur die ersten der beiden Schlangen aufeinander zu. Wenn die ersten sich begegnet sind stellen sie sich auf der andren Seite hinten in der Schlange an. Dann erst folgt die nächste Begegnung. Der Spielleiter/ die Spielleiterin nennt jeweils ein Motto für die Begegnung auf der Raumdiagonalen. Dazu ist es wichtig auch die Rollen zu verteilen: Z.B. ist die eine Seite die Mutter, die andre Seite die Tochter und sie sollen einander begegnen, als ob sie sich näher kommen wollten, es aber nicht können. Pro Motto können sich mehrere Paare nacheinander treffen. Beispiele: Sich nicht näher kommen können (Mutter/Tochter) Übersehen werden (Mutter/Tochter; oder Vater/Tochter) 60 - Anhimmeln (Henry/Natalie; Mutter /Sohn) Lieben und Dulden (Vater/Mutter) Sich schämen (Vater/Mutter) Familienstandbilder Es wird eine Bühnensituation geschaffen. Je nach Gruppengröße werden Teams aus drei oder vier Personen gebildet. Diese werden nacheinander aufgerufen und bekommen den Auftrag ein Standbild darzustellen. Sie sollten das Bild ohne sich abzusprechen, aus dem Stehgreif stellen. Beispiele: Liebe, Hoffnung, Unverständnis, Duldsamkeit, Selbstbezogenheit, Ansprüche, Zusammenhalt, Vorwürfe, übersehen werden, Angst vor Verlust, Reue, Nähe zulassen, Nähe herstellen können, Familienglück 61 Quellen: https://de.wikipedia.org/wiki/Next_to_Normal http://de.wikipedia.org/wiki/Musical http://www.psychiatrie.med.uni-goettingen.de/de/content/patienten/243.html http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8617:next-tonormal-fast-normal-die-deutsche-erstauffuehrung-des-broadway-erfolgsmusicals-amstadttheater-fuerth&catid=292&Itemid=100190 http://www.praxisvita.de/bipolare-storung http://www.brigitte.de/gesund/gesundheit/bipolare-stoerung-1206281/ http://www.forumgesundheit.at/portal27/portal/forumgesundheitportal/content/content Window?action=2&viewmode=content&contentid=10007.688926 http://www.spiegel.de/spiegelwissen/trauer-wie-viel-verlustschmerz-ist-eigentlichnormal-a-866061-3.html http://www.zeit.de/2015/24/medikamenten-sucht-beruhigungsmittel-schlafmittel Fotos: Inszenierung „Fast Normal“ Theater Lüneburg: Andreas Tamme 62