Transcript
Masterarbeit im Rahmen des Master Bilingue
Juristische Fakultät, Seminar Migrationsrecht
Frauenspezifische Verfolgung im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention, des schweizerischen Asylgesetzes und der Menschenrechte
Eingereicht bei:
Prof. Dr. iur. Peter Uebersax
Prof. Dr. iur. Stephan Breitenmoser
Eingereicht am:
3. September 2015
Vorgelegt von:
Janine Sert
Münsterstrasse 1a
6210 Sursee
+41 79 486 21 63
[email protected]
11. Semester, Universitäten Genf und Basel
Frauenspezifische Verfolgung
Janine Sert
Literaturverzeichnis .............................................................................................................................................................. IV Materialienverzeichnis ......................................................................................................................................................... IX Publikationsverzeichnis ......................................................................................................................................................... X Rechtsquellenverzeichnis ................................................................................................................................................. XIII Entscheidverzeichnis ........................................................................................................................................................... XVI Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................................................................. XVIII 1. Einleitung ..................................................................................................................................................... 1 2. Grundlagen .................................................................................................................................................. 2 2.1 Rechtsquellen des Flüchtlingsrechts ............................................................................................................. 2 a. Internationale Rechtsquellen ......................................................................................................................... 2 b. Nationale Rechtsquellen ................................................................................................................................... 3 2.2 Rechtsquellen zum Schutze der Frau im Flüchtlingsrecht ................................................................... 3 a. Die Frau im Flüchtlingsrecht .......................................................................................................................... 3 b. Internationale Rechtsquellen ......................................................................................................................... 5 c. Nationale Rechtsquellen ................................................................................................................................... 6 3. Der Flüchtlingsbegriff gemäss Genfer Flüchtlingskonvention und Asylgesetz .................... 7 4. Das Konzept der Verfolgung .................................................................................................................. 8 4.1 Geschützte Interessen und Intensität der Verletzung ........................................................................... 9 4.2 Nichtstaatliche Verfolgung und Schutzfähigkeit .................................................................................... 10 a. Urheberschaft der Verfolgung ...................................................................................................................... 10 b. Adäquater Schutz durch den Heimatstaat .............................................................................................. 11 4.3 Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe .................................................................. 12 a. Weibliche Genitalverstümmelung .............................................................................................................. 13 b. Häusliche Gewalt ............................................................................................................................................... 15 c. Zwangsheirat ....................................................................................................................................................... 16 d. Gesetzliche Diskriminierung ........................................................................................................................ 18 e. Geburtenregulation/Zwangssterilisation/Zwangsabtreibung ...................................................... 19 f. Ehrendelikte ......................................................................................................................................................... 20 g. Sexuelle Orientierung ...................................................................................................................................... 21 4.4 Inländische Fluchtalternative ......................................................................................................................... 21 a. Im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention .......................................................................................... 21 b. Der inländische Zufluchtsort im Schweizer Recht .............................................................................. 22 5. Der Flüchtlingsbegriff gemäss menschenrechtlichem Beurteilungsmassstab .................. 23 5.1 Allgemeine Menschenrechte ........................................................................................................................... 23 5.2 Menschenrechte von Frauen ........................................................................................................................... 24 5.3 Grundrechte der BV ............................................................................................................................................ 25
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Frauenspezifische Verfolgung
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6. Menschenrechtsverletzungen bei frauenspezifischer Verfolgung ......................................... 26 6.1 Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ................................................................................. 27 6.2 Verbot von Folter ................................................................................................................................................. 27 6.3 Recht auf körperliche und geistige Gesundheit ...................................................................................... 29 6.4 Recht auf Gleichheit und Prinzip der Nichtdiskriminierung ............................................................. 30 6.5 Recht auf Freiheit und Sicherheit ................................................................................................................. 32 6.6 Gedanken-‐, Gewissens-‐ und Religionsfreiheit und Meinungsäusserungsfreiheit .................... 32 7. Verfahren ................................................................................................................................................... 33 7.1 In der Schweiz ....................................................................................................................................................... 33 7.2 Im Ausland .............................................................................................................................................................. 34 7.3 Frauenspezifische Besonderheiten im Asylverfahren ......................................................................... 37 a. Nichteintretensgründe .................................................................................................................................... 37 b. Glaubhaftmachung ............................................................................................................................................ 38 c. Befragung durch eine Person des gleichen Geschlechts ................................................................... 39 8. Rechtsfolgen frauenspezifischer Verfolgung ................................................................................. 40 8.1 Asyl ............................................................................................................................................................................. 40 8.2 Wegweisung ........................................................................................................................................................... 40 8.3 Vorläufige Aufnahme .......................................................................................................................................... 40 9. Fazit .............................................................................................................................................................. 41 Selbständigkeitserklärung .................................................................................................................................................. 44
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Frauenspezifische Verfolgung
Janine Sert
Literaturverzeichnis Die nachstehenden Werke werden, wenn nicht anders angegeben, mit Nachnamen des Autors sowie mit Seitenzahlen zitiert. ACHERMANN
Einleitung, in: Achermann Alberto / Hruschka Constantin (Hrsg.),
ALBERTO/HRUSCHKA
Geschlechtsspezifische Verfolgung, Die Schweizerische Praxis vor dem
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Hintergrund der europäischen und globalen Entwicklungen, Persécutions liées au genre, La pratique suisse au regard des évolutions européennes et globales, Bern 2012, S. 1 ff.
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Femmes, enfants et autres groupes de migrants marginalisés, in: Opeskin Brian/Perruchoud Richard/Redpath-‐Cross Jilyanne (Hrsg.), Le droit international de la migration, Genf/Zürich/Basel 2014, S. 244 ff.
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BESSON SAMANTHA/
Art. 5 CEDH, in: Nguyen Minh Son/Amarelle Cesla (Hrsg.), Code annoté de
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droit des migrations, Volume I: Droits humains, Bern 2014, S. 16 ff.
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Art. 14 CEDH, in: Nguyen Minh Son/Amarelle Cesla (Hrsg.), Code annoté
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de droit des migrations, Volume I: Droits humains, Bern 2014, S. 56 ff.
BINDER ANDREA
Frauenspezifische Verfolgung vor dem Hintergrund einer menschen-‐
rechtlichen Auslegung des Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlings-‐
konvention, Basel 2001
IV
Frauenspezifische Verfolgung BOGNUDA CRISTINA
Janine Sert
Die Verletzung des Rechts auf Gesundheit, Indikatoren für die Praxis, in: Schweizer Studien zum Internationalen Recht Band/Nr. 137, 2011, S. 203 ff.
BREITENMOSER
Europarecht , Unter Einbezug des Verhältnisses Schweiz – EU, 2. Aufl.,
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Die Frau im Migrationsrecht, in: Uebersax Peter/Rudin Beat/Yar Thomas Hugi/Geiser Thomas (Hrsg.), Ausländerrecht, Eine umfassende Darstellung der Rechtsstellung von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz, Von A(syl) bis Z(ivilrecht), 2. Aufl., Basel 2009, S. 1379 ff.
BUCHERER JEANINE
Frauen und Flüchtlingsrecht, in: Rudolf Beate (Hrsg.), Frauen und Völkerrecht, Zur Einwirkung von Frauenrechten und Fraueninteressen auf das Völkerrecht, Baden-‐Baden 2006, S. 171 ff.
BUSER DENISE
Gender impact und Ausländerrecht, in: Uebersax Peter/Münch Peter/Geiser
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(Hrsg.),
Ausländerrecht,
Ausländerinnen und Ausländer im öffentlichen Recht, Privatrecht, Strafrecht, Steuerrecht und Sozialrecht der Schweiz, Basel 2002, S. 1073 ff. CARONI MARTINA/
Migrationsrecht, 3. Aufl., Bern 2014
GRASDORF-‐ MEYER TOBIAS D./OTT LISA/ SCHEIBER NICOLE
V
Frauenspezifische Verfolgung
Janine Sert
DE PIETRO JOSEFIN/
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weiblichen Genitalbeschneidung (FGM/C) in der Schweiz, Empfehlungen
HAUSAMMANN
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Krieg – Vergewaltigung – Asyl, Die Bedeutung von Vergewaltigung im
RENATE
Krieg und ihre Bewertung in der bundesdeutschen Asylrechtsprechung, Sinzheim 1997
EGHUNA-‐JOSS ANDREA/ Die Anerkennung als Flüchtling im europäischen und schweizerischen EPINEY ASTRID/
Recht, in: Jusletter vom 26. Mai 2008
OESCHGER MAGNUS/ WALDMANN BERNHARD GEISER THOMAS
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Frauenverfolgung und Flüchtlingsbegriff, Studie zur Auslegung des
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Flüchtlingsbegriffs in der Flüchtlingskonvention und im Asylgesetz, Bern 1992
VI
Frauenspezifische Verfolgung
Janine Sert
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Einleitung, (Geschlechter-‐)Gleichstellung im Migrationskontext: grund-‐
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rechtlicher Hintergrund, in: Hausammann Christina/Kälin Walter (Hrsg.),
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Sexuelle Gewalt als Verfolgungsmethode, in: Eidgenössisches Büro für die
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KÖNIG DORIS
Frauenrechte sind Menschenrechte ... und doch anders? – Die UN-‐ Frauenrechtskonvention (CEDAW), in: Rudolf Beate (Hrsg.), Frauen und Völkerrecht, Zur Einwirkung von Frauenrechten und Fraueninteressen auf das Völkerrecht, Baden-‐Baden 2006, S. 81 ff.
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Frauen im Islam, in: Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau
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VII
Frauenspezifische Verfolgung MONA MARTINO
Janine Sert
Zum neuen Straftatbestand der Verstümmelung weiblicher Genitalien (VwG),
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WALTER ANNE ROEDER TINA SWANTJE Frauen als Flüchtlinge: Entwicklungen im Zusammenhang mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Arbeit von UNHCR, in: Von Schorlemer Sabine (Hrsg.), Die Vereinten Nationen und neuere Entwicklungen der Frauenrecht, Frankfurt am Main 2007, S. 427 ff. SCHEFER MARKUS/
Drohende häusliche Gewalt als Hindernis der Ausweisung und
SMID NICOLE
Auslieferung im Rahmen von Art. 3 EMRK, in: Schweizerische Flüchtlingshilfe (Hrsg.), Schweizerische Zeitschrift für Asylrecht und – Praxis, Asyl 1/07, S. 3 ff.
SCHNEGG BRIGITTE
Geschlechterdimensionen der Migration in der Schweiz, in: Hausammann Christina/Kälin
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(Hrsg.),
Geschlechtergleichstellung
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Migrationsabwehr im Fokus der Menschenrechte, Zürich/St. Gallen 2007
SPESCHA MARC/
Handbuch zum Migrationsrecht, 2. Aufl., Zürich 2015
KERLAND ANTONIA/ BOLZLI PETER WAHDAT-‐HAGH
Der islamistische Totalitarismus, Über Antisemitismus, Anti-‐Bahaismus,
WAHIED
Christenverfolgung und geschlechtsspezifische Apartheid in der „Islamischen Republik Iran“, Frankfurt am Main 2012
WEHLER-‐SCHÖCK ANJA Private Gewalt gegen Frauen aus der Perspektive des Völkerrechts, in: Rudolf Beate (Hrsg.), Frauen und Völkerrecht, Zur Einwirkung von Frauenrechten und Fraueninteressen auf das Völkerrecht, Baden-‐Baden 2006, S. 189 ff.
VIII
Frauenspezifische Verfolgung
Janine Sert
Materialienverzeichnis Asylgesetz Entwurf (Verlängerung der dringlichen Änderungen des Asylgesetzes), BBI 2014 2103; Botschaft des Bundesrates zur Änderung des Asylgesetzes vom 26. Mai 2010, BBI 2010 4455; Botschaft des Bundesrates zur Änderung des Asylgesetzes vom 26. Februar 2014 (Verlängerung der dringlichen Änderungen des Asylgesetzes), BBI 2014 2087; Botschaft des Bundesrates zur Änderung des Asylgesetzes, zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung sowie zur Änderung des Bundesgesetzes über die Alters-‐ und Hinterlassenenversicherung vom 4. September 2002, BBI 2002 6845; Botschaft des Bundesrates zur Totalrevision des Asylgesetzes sowie zur Änderung des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 4. Dezember 1995, BBI 1996 II 1; Dringliche Änderung des Asylgesetzes vom 28. September 2012, AS 2012 5359; Parlamentsgeschäft 10.052, Asylgesetzrevision, Entwurf 1, Analyse zuhanden der Mitglieder der SPK-‐NR vom 13. Januar 2012, erstellt von Demokratische Juristinnen und Juristen Schweiz (DJS-‐ JDS)/Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl-‐ und Ausländerrecht (SBAA)/Solidarité sans frontières (Sosf) (zit. DJS-‐JDS/SBAA/Sosf, Asylgesetzrevisionsanalyse); Parlamentsgeschäft 14.3526, Antwort des Bundesrates vom 27. August 2014 auf die Interpellation vom 19. Juni 2014, eingereicht von Amarelle Cesla, Abschaffung des Botschaftsverfahrens und humanitäre Visa, Kann dem am 9. Juni 2012 geäusserten Volkswillen Rechnung getragen werden? (zit. Amarelle, Interpellation).
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Frauenspezifische Verfolgung
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Publikationsverzeichnis 1. Amtliche Publikationen Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, Dritter Bericht der Schweiz über die Umsetzung des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) (zit. EBG, Dritter Bericht); Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, Fachbereich Häusliche Gewalt, Internationaler Schutz der Rechte der Frau, insbesondere der Schutz vor Gewalt im Rahmen der UNO vom Oktober 2013 (zit. EBG, Schutz der Frauenrechte); Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl-‐ und Ausländerrecht, Entwicklungen im Asyl-‐ und Ausländerrecht, Asylverfahren (zit. SBAA, Asylverfahren) (http://beobachtungsstelle.ch/index. php?id=413; zuletzt besucht am 6. August 2015); Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl-‐ und Ausländerrecht, Entwicklungen im Asyl-‐ und Ausländerrecht, Humanitäres Visum (zit. SBAA, Humanitäres Visum) (http://beobachtungs stelle.ch/index.php?id=415; zuletzt besucht am 6. August 2015); Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl-‐ und Ausländerrecht, Fall 218 vom 19. September 2013 (zit. SBAA, Fall 218) (http://beobachtungsstelle.ch/fileadmin/pdf/Case220.pdf; zuletzt besucht am 6. August 2015); SEM, Artikel D1, Die Elemente des Verfolgungsbegriffs, in: SEM (Hrsg.), Handbuch Asyl und Rückkehr (Stand 1. Mai 2015) (zit. SEM, Artikel D1); SEM, Artikel D2, Die Urheberschaft der Verfolgung, in: SEM (Hrsg.), Handbuch Asyl und Rückkehr (Stand 1. Mai 2015) (zit. SEM, Artikel D2); SEM, Artikel D7, Les persécutions liées au genre, in: SEM (Hrsg.), Handbuch Asyl und Rückkehr (Stand 1. Mai 2015) (zit. SEM, Artikel D7); SEM, Direktionsbereich Zuwanderung und Integration, Weisung Nr. 322.123, Visumantrag aus humanitären Gründen vom 25. Februar 2014 (zit. SEM, Weisung Nr. 322.123).
X
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2. Publikationen Internationaler Organisationen CEDAW, Zwischenbericht der Schweiz zur Umsetzung der Empfehlungen des CEDA Ausschusses im Bereich Gewalt und im Bereich Migration und Minderheiten vom Juni 2012 (zit. CEDAW, Zwischenbericht); Human Rights Watch, „The Power These Men Have Over Us“, Sexual Exploitation and Abuse by African Union Forces in Somalia, 2014 (zit. HRW, Somalia); OHCHR/UN WOMEN/UNAIDS/UNDP/UNFPA/UNICEF/WHO, Eliminating forced, coercive and otherwise involuntary sterilization, An interagency statement, 2014 (zit. WHO, Involuntary Sterilization); Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord (zit. TDF, Ehrenmord); UNFPA, The State of World Population 2000 (zit. UNFPA, World Population); UNHCR, Auslegung von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 vom April 2001 (zit. UNHCR, Auslegung, § xx); UNHCR, Exekutiv-‐Komitee, Beschluss Nr. 98 (LIV) über Schutz vor sexuellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung von 2003 (zit. UNHCR, Beschluss Nr. 98); UNHCR, Guidelines on International Protection: Gender-‐Related Persecution within the context of Article 1A(2) of the 1951 Convention and/or its 1967 Protocol relating to the Status of Refugees vom 7. Mai 2002 (zit. UNHCR, Gender-‐Related Persecution); UNHCR, Guidelines on the Protection of Refugee Women vom Juli 1991 (zit. UNHCR, Refugee Women); UNHCR, Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäss dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Genf 2011 (zit. UNHCR); UNHCR, Principes directeurs sur la protection internationale (n°1): La persécution liée au genre, dans le cadre de l’article 1A (2) de la Convention de 1951 et/ou son Protocole de 1967 relatifs au Statut des réfugiés vom 8. Juli 2008 (zit. UNHCR, Principes directeurs, § xx);
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Frauenspezifische Verfolgung
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UNHCR, Reproductive Health in Refugee Situations, 1999 (zit. UNHCR, Reproductive Health); UNHCR, Sexual and Gender-‐Based Violence against Refugees, Returnees and Internally Displaced Persons, Guidelines for Prevention and Response vom Mai 2003 (zit. UNHCR, Sexual and Gender-‐Based Violence); UNHCR, Stellungnahme vom April 2013 im Zusammenhang mit der Volksabstimmung am 9. Juni 2013 über dringliche Änderung des Schweizer Asylgesetzes (zit. UNHCR, Stellungnahme 2013); UNHCR, Stellungnahme vom August 2011 zum Bericht des Eidgenössischen Justiz-‐ und Polizeidepartements (EJPD) vom Juli 2011 über die Änderung des Asylgesetzes im Rahmen einer Zusatzbotschaft zur Botschaft zur Änderung des Asylgesetzes vom 26. Mai 2010 (zit. UNHCR, EJPD-‐Bericht); UNHCR, Stellungnahme vom Oktober 2010 zur Botschaft zur Änderung des Asylgesetzes (zit. UNHCR, Stellungnahme 2010).
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Frauenspezifische Verfolgung
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Rechtsquellenverzeichnis AEMR
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948
AsylG
Asylgesetz vom 26. Juni 1998, SR 142.31
AsylV 1
Asylverordnung 1 über Verfahrensfragen vom 11. August 1999 (Asylverordnung 1), SR 142.311
AsylV 2
Asylverordnung 2 über Finanzierungsfragen vom 11. August 1999 (Asylverordnung 2), SR 142.312
AsylV 3
Asylverordnung 3 über die Bearbeitung von Personendaten vom 11. August 1999 (Asylverordnung 3), SR 142.314
AuG
Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005 (Ausländergesetz), SR 142.20
BV
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR 173.110
CEDAW-‐
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der
Übereinkommen
Frau vom 18. Dezember 1979, SR 0.108
CEDAW-‐
Fakultativprotokoll vom 6. Oktober 1999 zum Übereinkommen zur
Zusatzprotokoll
Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, SR 0.108.1
Dublin-‐
Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Assoziierungs-‐
Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur
abkommen
Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags vom 26. Oktober 2004, SR 0.142.392.68
EMRK
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, SR 0.101
XIII
Frauenspezifische Verfolgung FK
Janine Sert
Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention), SR 0.142.30
Folterkonvention
Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984, SR 0.105
Istanbul-‐
Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von
Konvention
Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, SEV-‐Nr. 2010
Maputo-‐Protokoll
Protocol to the African Charter on Human and Peoples’ Rights of Women in Africa, Maputo, vom 11. Juli 2003
Massnahmengesetz Bundesgesetz über Massnahmen gegen Zwangsheiraten vom 15. Juni Zwangsheiraten
2012, AS 2013 1035
Protokoll FK
Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967, SR 0.142.301
Qualifikations-‐
Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über
richtlinie
Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie), ABI. L 337 vom 20. Dezember 2011, 9 ff.
StGB
Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937, SR 311.0
TestV
Verordnung über die Durchführung von Testphasen zu den Beschleunigungsmassnahmen im Asylbereich vom 4. September 2013 (Testphasenverordnung), SR 142.318.1
UNO-‐Pakt I
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966, SR 0.103.1
UNO-‐Pakt II
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966, SR 0.103.2
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Frauenspezifische Verfolgung
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UN-‐Charta
Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, SR 0.120
UN-‐Rassen-‐
Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von
diskriminierungs-‐
Rassendiskriminierung vom 21. Dezember 1965, SR 0.104
konvention VEV
Verordnung über die Einreise und die Visumerteilung vom 22. Oktober 2008, SR 142.204
VVWA
Verordnung über den Vollzug der Weg-‐ und Ausweisung von ausländischen Personen vom 11. August 1999, SR 142.281
VZAE
Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit vom 24. Oktober 2007, SR 142.201
Wiener Vertrags-‐
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969,
rechtskonvention
SR 0.111
ZGB
Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907, SR 210
XV
Frauenspezifische Verfolgung
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Entscheidverzeichnis 1. Die frühere Schweizerische Asylrekurskommission EMARK 1993 Nr. 9 EMARK 1996 Nr. 1 EMARK 1996 Nr. 16 EMARK 1997 Nr. 15 EMARK 2004 Nr. 14 EMARK 2004 Nr. 20 EMARK 2006 Nr. 18 EMARK 2006 Nr. 32 2. Bundesverwaltungsgericht Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐4257/2006 vom 14. Juli 2008 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐5327/2009 vom 26. März 2010 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐2002/2010 vom 24. Juni 2010 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐1387/2010 vom 15. Februar 2011 BVGE 2011/51, Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐4935/2007 vom 21. Dezember 2011 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐1714/2009 vom 22. Dezember 2011 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐5408/2012 vom 10. Januar 2013 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐4751/2013 vom 14. November 2013 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐4592/2013 vom 8. Januar 2014 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐5059/2013 vom 10. Januar 2014 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐1135/2014 vom 14. April 2014 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐1560/2013 vom 6. Juni 2014 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐1425/2014 vom 6. August 2014 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐739/2015 vom 25. Juni 2015 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐355/2015 vom 1. Juli 2015 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐6466/2014 vom 2. Juli 2015 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐5491/2014 vom 3. Juli 2015 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐4101/2015 vom 14. August 2015 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐1820/2014 vom 19. August 2015
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Frauenspezifische Verfolgung
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3. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR, Aydin c. Türkei, Urteil vom 25. September 1997, Rec. 1997-‐VI EGMR, Salah Sheekh c. Die Niederlande, Urteil vom 11. Januar 2007, Rec. 1948/04 EGMR, Gäfgen c. Deutschland, Urteil vom 30. Juni 2008, Rec. 22978/05 EGMR, Hirsi Jamaa et al. c. Italien, Urteil vom 23. Februar 2012, Rec. 27765/09 EGMR, Tarakhel c. Schweiz, Urteil vom 4. November 2014, Rec. 29217/12 4. Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ICTY, Prosecutor v. Anto Furundzija, Urteil vom 10. Dezember 1998, IT-‐95-‐17/1-‐T ICTY, Prosecutor v. Dragoljub Kunarac et al., Urteil vom 22. Februar 2001, IT-‐96-‐23-‐T und IT-‐96-‐23/1-‐T 5. Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda ICTR, The Prosecutor v. Jean-‐Paul Akayesu, Urteil vom 2. September 1998, ICTR-‐96-‐4-‐T
XVII
Frauenspezifische Verfolgung
Janine Sert
Abkürzungsverzeichnis Abs.
Absatz
Art.
Artikel
AS
Amtliche Sammlung des Bundesrechts
Aufl.
Auflage
AuG
Ausländergesetz vom 16. Dezember 2005
BBI
Bundesblatt
BVGE
Entscheidungen des Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts
c.
contre
CEDAW
Committee on the Elimination of Discrimination against Women
DJS-‐JDS
Demokratische Juristinnen und Juristen Schweiz
E.
Erwägung
EBG
Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMARK
Entscheide und Mitteilungen der früheren Asylrekurskommission
EU
Europäische Union
f.
und folgende Seite
ff.
und folgende Seiten/Artikel
FGM
Female Genital Mutilation
FN
Fussnote
Hrsg.
Herausgeber
HRW
Human Rights Watch
ibid.
Ibidem
ICTR
Internationaler Strafgerichtshof für Rwanda
ICTY
Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien
ILO
Internationale Arbeitsorganisation
LGBT
Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender
lit.
litera
Nr.
Nummer
P.
Punkt
S.
Seite
SBAA
Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl-‐ und Ausländerrecht
SEM
Staatssekretariat für Migration (ehemals BFM, Bundesamt für Migration)
Sosf
Solidarité sans frontières
SR
Systematische Sammlung des Bundesrechts
TDF
Terre des Femmes XVIII
Frauenspezifische Verfolgung
UNESCO
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization
UNFPA
Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen
UNHCR
United Nations High Commissioner for Refugees
v.
versus
vgl.
vergleiche
WHO
Weltgesundheitsorganisation
zit.
zitiert
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XIX
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1. Einleitung Migration als gesellschaftliche Realität ist von einer sich globalisierenden Welt nicht mehr wegzudenken, die Anzahl migrierender Personen nimmt stetig zu und die Gründe dafür werden immer vielfältiger und komplexer1. Das Bild des typischen Migranten wurde lange Zeit von einer männlichen erwachsenen Person verkörpert, welche im Falle einer Zwangswanderung, meist aufgrund ihrer politischen Aktivität, vor staatlicher Unterdrückung geschützt werden musste2. So erstaunt es auch nicht, dass die ersten rechtlichen Instrumente zum Schutze von Flüchtlingen auf männliche Schutzbedürftige ausgerichtet waren und niemand es als notwendig erachtete, das Geschlecht als möglichen Verfolgungsgrund in die erste Konvention zum Schutze der Flüchtlinge aufzunehmen3. Eine Ausweitung des Flüchtlingsbegriffs in diesem Sinne entspräche allerdings den aktuellen Realitäten im Bereich der Migration: Von einem Total von 3,1% der Gesamtbevölkerung der Welt, welche Migrantenstatus haben, sind 49% Frauen4. Die Darstellung regionaler oder weltweiter Migration als Aktivität von männlichen Erwachsenen allein hat heute weniger Sinn denn je. Dass Migranten, welche nicht in die Kategorie der männlichen Erwachsenen fallen, oft als Randgruppe in einer Kategorie zusammengefasst werden, scheint insofern sinnvoll, als diese sowohl die Vernachlässigung ihrer Rechte als auch die gemeinsame Schutzbedürftigkeit teilen. Zu dieser Randgruppe gehören unter anderem Frauen. In der Schweiz sind die frauenspezifischen Fluchtgründe zwar seit 1998 anerkannt5, aber auch heute noch existieren Diskriminierungen aufgrund der früheren Verkennung eines eigenen Status. Diskriminierung muss dabei nicht zwingend mit schlechterer Behandlung gleichgesetzt werden6. Tatsächlich ist der Anteil Frauen, denen Flüchtlingsstatus gewährt wurde, höher als jener der Männer. Auch wenn das Geschlecht als solches kein eigenständiger Fluchtgrund ergibt, haben Frauen, welche die Möglichkeit hatten, einen Antrag auf Flüchtlingsstatus zu stellen, also keine grundsätzlich schlechteren Resultate erhalten als Männer. Die Möglichkeit, sich Zugang zu einem System zu verschaffen, welches die Flüchtlingseigenschaft anerkennen kann, ist dabei allerdings wesentlich. Das Risiko einer Flucht ist für Frauen weitaus grösser, sie erreichen weniger oft eine Grenze, wo sie einen Antrag auf den Flüchtlingsstatus stellen könnten und
1 SCHNEGG, 11. 2 Vgl. GWERDER, 116. 3 BHABHA, 245. 4 Ibid., 246.
5 ACHERMANN/HRUSCHKA, 3. Vgl. BBI 1996 II 1 ff., 40. 6 BHABHA, 247.
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ihnen fehlt es oft an den nötigen wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Werkzeugen, um eine weiter entfernte Migration zu ermöglichen7. Das Schweizer Asylrecht unterliegt ständigen Veränderungen, die das Asylverfahren vereinfachen, beschleunigen und effizienter ausgestalten sollen. Auch soll die Attraktivität der Schweiz als Zielland verringert und allfällige Missbräuche konsequent bekämpft werden8. Es erweist sich als logische Folgerung, dass sich auch in Bezug auf frauenspezifische Verfolgung einiges getan hat. Die vorliegende Arbeit fokussiert sich speziell auf die frauenspezifischen Fluchtgründe. Auf andere Bevölkerungsgruppen, welche im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Verfolgung auch eingeschlossen werden müssten, so beispielsweise LGBT-‐Personen, wird dabei nicht eingegangen. In einem ersten Teil werden die grundlegenden Rechtsquellen des Flüchtlingsrechts und zum Schutze der Frau dargestellt (Kp. 2). Im zweiten Teil wird der Flüchtlingsbegriff gemäss FK und AsylG ausgelegt (Kp. 3). Bei der darauffolgenden Analyse des Begriffs der Verfolgung werden insbesondere frauenspezifisch wichtige Teilelemente genauer erläutert (Kp. 4). Anschliessend wird eine menschenrechtliche Auslegung des Flüchtlingsbegriffs versucht (Kp. 5) und auf vereinzelte Menschenrechtsverletzungen, die durch frauenspezifische Verfolgung hervorgerufen werden, eingegangen (Kp. 6). Des Weiteren wird das Asylverfahren analysiert, auch hier mit Blick auf frauenspezifisch Wichtiges (Kp. 7). In einem letzten Teil wird ein grober Überblick über die Rechtsfolgen eines Asylgesuchs geschaffen (Kp. 8).
2. Grundlagen 2.1 Rechtsquellen des Flüchtlingsrechts a. Internationale Rechtsquellen Grundlegende
Rechtsquelle
im
internationalen
Flüchtlingsrecht
stellt
die
Genfer
Flüchtlingskonvention von 1951 dar. Sie entstand als Reaktion sowohl auf die Flüchtlingsströme, mit denen Europa während und nach dem 1. Weltkrieg konfrontiert war, als auch auf die Ereignisse während des 2. Weltkrieges und des beginnenden Kalten Krieges9. Durch das selbständige, der FK jedoch trotzdem zugehörige Protokoll von 1967 wurde die ursprüngliche zeitliche und auch geografische Beschränkung der FK aufgehoben, um auch künftigen Flüchtlingen gerecht zu werden10. Die FK ist für die Schweiz seit der Unterzeichnung dieser Konvention im Jahr 1955 verpflichtend. Nebst der Definition des Flüchtlingsbegriffs 7 BHABHA, 248. Dies gilt insb. für transkontinentale Migration. 8 Vgl. BBI 2010 4455, 4456.
9 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 226 f. 10 GOVINDJEE/TAIWO, 382.
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enthält die FK auch die völkerrechtliche Verpflichtung, einen anerkannten Flüchtling nicht in sein Herkunftsland zurückzuweisen11. Neben der FK spielen für die Schweiz auch die bilateralen Verträge mit der EU eine immer wichtigere Rolle, insbesondere das Dublin-‐Assoziierungsabkommen12. Ein wichtiges Instrument des Europarechts bildet die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes13. Sie greift die in der FK genannten Verfolgungsgründe auf und präzisiert diese anhand Kriterien, die sich aus der Auslegungspraxis herausbildeten. Da die Qualifikationsrichtlinie in Bezug auf die Schweiz nicht direkt anwendbar ist, wird im Rahmen dieser Arbeit grundsätzlich nicht weiter auf sie eingegangen. b. Nationale Rechtsquellen Gemäss Art. 121 Abs. 1 BV steht die Gewährung von Asyl dem Bund zu. Konkretisiert wurde die Gewährung von Asyl im schweizerischen Asylgesetz vom 26. Juni 1998, welches auf der FK basiert14. Insbesondere die konventionsrechtliche Definition des Flüchtlingsbegriffs wurde vom AsylG im Wesentlichen übernommen. Darüber hinaus enthält das AsylG Bestimmungen zum Verfahren15, bei welchem die Flüchtlingseigenschaft abgeklärt und der Rechtsstatus festgelegt wird, der einem Flüchtling nach der Asylbejahung zukommen soll16. Das AsylG wird ergänzt durch drei Asylverordnungen17 sowie einer Testphasenverordnung18. Des Weiteren finden sich Teilaspekte des schweizerischen Flüchtlingsrechts in ausländerrechtlichen Bestimmungen wieder, so beispielsweise im AuG, der VZAE, der VEV oder auch der VVWA. 2.2 Rechtsquellen zum Schutze der Frau im Flüchtlingsrecht a. Die Frau im Flüchtlingsrecht Frauen können grundsätzlich aus den gleichen Gründen wie Männer verfolgt werden. Sie können allerdings auch von Verfolgungshandlungen betroffen sein, die ausschliesslich oder zumindest vor allem Frauen treffen. Oft stellen solche frauenspezifischen Verfolgungsformen traditionelle Praktiken dar, die fest in einer Gesellschaft verankert sind. Dazu gehören unter 11 Sog. flüchtlingsrechtliches Non-‐Refoulement Gebot. Vgl. SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 371. 12 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 226. 13 Kurz: Qualifikationsrichtlinie. 14 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 228. 15 Ergänzt durch die AsylV 1. 16 SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 371. 17 AsylV 1, AsylV 2 und AsylV 3. 18 TestV.
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anderem sexuelle Gewalt gegen Frauen, darunter auch Vergewaltigungen; weibliche Genitalverstümmelung; Zwangsabtreibungen oder Zwangssterilisationen; Ehrendelikte oder auch Zwangsverheiratungen19. Dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts speziellen Schutz benötigen, scheint unanfechtbar. Inwiefern Verfolgung wegen des Geschlechts im Asylrecht eine Rolle spielt, wird von der Praxis nach wie vor meist offengelassen20. Um die Bandbreite von geschlechts-‐ oder frauenspezifischer Verfolgung besser verstehen zu können, muss man sich zunächst mit der Wortbedeutung von „Geschlecht“ auseinandersetzen. Der deutsche Begriff für Geschlecht beinhaltet zwei Dimensionen, welche in der englischen Sprache besser zum Ausdruck gebracht werden können. So unterscheidet man zwischen den beiden Begriffen gender und sex. Gender (soziales Geschlecht) bezieht sich auf die Beziehung zwischen Frauen und Männern, basierend auf sozial oder kulturell konstruierten und definierten Identitäten, Status, Rollen und Verantwortlichkeiten, welche einem Geschlecht oder dem anderen zugeteilt werden21. Damit wird also ein soziales und kulturelles Konstrukt beschrieben, welches sich im Verlaufe der Zeit verändert. Gender ist somit kein statischer Begriff. Sex (biologisches Geschlecht) bezieht sich hingegen nur auf die biologische Bestimmung22. Wo sich also das deutsche Wort „Geschlecht“ vordergründig auf das biologische Geschlecht bezieht (sex), so beinhaltet gender die soziale Dimension der Geschlechtszugehörigkeit und bezieht sich folglich auf die den biologischen Geschlechtern gesellschaftlich zugeschriebenen und auferlegten sozialen Rollen23. Im flüchtlingsrechtlichen Kontext umfasst das Konzept der frauenspezifischen Verfolgung24 meist Flüchtlingssituationen, in welchen die sozial definierte Geschlechterrolle der betroffenen Person entscheidend ist25. Zu unterscheiden sind zwei Konzepte. Das erste Konzept betrifft frauenspezifische Formen der Verfolgung, die sich ausschliesslich oder vorwiegend gegen Frauen richten oder von denen Frauen unverhältnismässig stark betroffen sind (gender-‐specific). Das zweite Konzept bezieht
19 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 264 f. 20 Vgl. auch ibid., 265: „Dabei lässt die schweizerische Praxis offen, unter welches Verfolgungsmotiv solche
Verfolgungshandlungen zu subsumieren sind respektive nimmt jeweils eine fallspezifische Betrachtung vor“. 21 ROEDER, 430. 22 UNHCR, Gender-‐Related Persecution, 2. 23 BINDER, 346. 24 Geschlechtsspezifische Verfolgung an und für sich kann natürlich sowohl von Männern als auch von Frauen geltend gemacht werden, vgl. UNHCR, Gender-‐Related Persecution, §3. Miteingeschlossen sind auch LGBT-‐Personen, s. ACHERMANN/HRUSCHKA, 6. Wie allerdings bereits in der Einleitung erwähnt, fokussiert sich diese Arbeit lediglich auf die frauenspezifische Verfolgung. 25 Vgl. EMARK 2006/32, u.a. E. 8.7.3.
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sich auf Verfolgungen, bei welchen ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der Verfolgung besteht, das Verfolgungsmotiv also frauenspezifisch ist (gender-‐related)26. b. Internationale Rechtsquellen Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979 und das fakultative Zusatzprotokoll vom 6. Oktober 1999 stellen die wichtigsten internationalen Instrumente zum Schutz von Frauen dar27. Des Weiteren spielen unter anderem auch die Universelle Deklaration der Menschenrechte, die Genfer Konventionen, die Deklaration zum Schutze von Frauen und Kindern in Not oder bewaffneten Konflikten, die Konvention zur Zustimmung zu Heirat, Minimalalter für Heirat und Registrierung von Heiraten, die Konvention zur Nationalität verheirateter Frauen, aber auch die Konvention zu den Rechten von Kindern eine tragende Rolle28. Gemeinsam mit dem CEDAW-‐ Übereinkommen bilden sie ein Grundgerüst aus internationalen Menschenrechtsstandards, welche zum Schutz und zur Unterstützung von Frauen in einem flüchtlingsspezifischen Kontext beitragen, unabhängig davon, ob ein betroffener Staat all diese Instrumente ratifiziert hat oder nicht29. Zwei erwähnenswerte regionale Instrumente sind zudem die europäische Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und das Protokoll zur Afrikanischen Menschen-‐ und Völkerrechtscharta betreffend Frauenrechte in Afrika. Erstere hat zum Ziel, Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und diese Formen von Gewalt zu verfolgen und zu beseitigen30. Letzteres setzt einen Schwerpunkt unter anderem auf den Schutz von Mädchen und Frauen vor gesundheitsschädigenden traditionellen Praktiken, wie beispielsweise der weiblichen Genitalverstümmelung31. Spezieller Schutz für weibliche Flüchtlinge ist seitens der UNO erst seit 1985 ein Thema32. In einer Richtlinie vom Juli 1991 bestätigte das UNHCR die Wichtigkeit des besonderen Schutzes weiblicher Flüchtlinge, insbesondere vor Manipulation, sexuellem oder physischem Missbrauch oder Ausbeutung, aber auch vor sexueller Diskriminierung bei der Abgabe von Gütern oder Dienstleistungen33. Diese Richtlinien sollten der Umsetzung der sogenannten Policy on Refugee Women dienen, deren Schwerpunkt auf die Berücksichtigung frauenspezifischer Problematiken in bestehenden Programmen und Einrichtungen und die Einbindung der Frauen selbst in 26 BINDER, 348 f. 27 GOVINDJEE/TAIWO,
385. Gleichzeitig stellen sie auch die wichtigsten Instrumente zum Schutze von weiblichen Flüchtlingen dar. Vgl. auch WEHLER-‐SCHÖCK, 194. 28 Vgl. auch EBG, Schutz der Frauenrechte, 2 ff. 29 UNHCR, Refugee Women, §6. 30 Vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. a Istanbul-‐Konvention. 31 Vgl. Art. 2 und 5 Maputo-‐Protokoll. 32 GOVINDJEE/TAIWO, 384. 33 UNHCR, Refugee Women, §3.
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Entscheidungsprozesse zum Inhalt hatte34. Die UNHCR-‐Richtlinien von 1991 können insofern praktische Hilfestellung für die Arbeit vor Ort leisten, als dass sie die besonderen Schwierigkeiten weiblicher Flüchtlinge darlegen, auf besondere Gefahrensituationen und -‐ quellen hinweisen und Wege zur Problemlösung aufzeigen35. In Bezug auf Situationen von gender-‐bezogener und vor allem sexueller Gewalt existiert seitens des UNHCR eine eigene Richtlinie, die seit 2005 den Namen „Sexual and Gender-‐Based Violence against Refugees, Returnees and Internally Displaced Persons – Guidelines for Prevention and Response“ trägt. Damit der Schutz der Frau im Flüchtlingsrecht gewährleistet werden kann, reicht es nicht aus, sich auf die primären internationalen Rechtsquellen des Flüchtlingsrechts, wie die FK und deren Zusatzprotokoll zu basieren. Es müssen weitere internationale Instrumente dazugezogen werden. Mithilfe dieser teils allgemeinen und teils frauenspezifischen rechtlichen Instrumente, die den Frauen gewisse Rechte und Freiheiten einräumen, kann die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer Frau erheblich erleichtert werden. So betonte beispielsweise das UNHCR bereits zu Beginn der 1990er-‐Jahre, dass aufgrund der wachsenden Wichtigkeit des CEDAW-‐Übereinkommens schwere Diskriminierungen, welche die FK missachten, die Anerkennung des Flüchtlingsstatus rechtfertigen können36. c. Nationale Rechtsquellen Die Schweizer Bundesverfassung umfasst einen Katalog von Grundrechten, welche allen Menschen garantiert werden37, unabhängig vom Geschlecht38. Sie können also auch von Frauen geltend gemacht werden. Zu diesen Grundrechten gehören namentlich das Recht auf persönliche Freiheit, das Recht auf Privatsphäre und Familie, die Glaubens-‐ und Gewissensfreiheit und die Meinungs-‐, Versammlungs-‐ und Vereinigungsfreiheit39. Zusätzlich existieren frauenspezifische Schutzbestimmungen, so beispielsweise das Bundesgesetz über Massnahmen gegen Zwangsheiraten oder den Art. 124 StGB, der Genitalverstümmelung strafbar macht. Auch familiäre Gewalt kann strafrechtlich verfolgt werden40. Im Flüchtlingsrecht selbst sind Bestimmungen zum Schutze der Frau weniger präsent, genauso wurde den frauenspezifischen Fluchtgründen während langer Zeit keine Beachtung geschenkt. Erst seit 1999 wird im AsylG die spezielle Schutzsituation von Frauen und Minderjährigen in Art. 17 Abs. 2 AsylG erwähnt. Art. 3 AsylG enthält ausserdem die Formulierung, dass den frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung getragen werden soll. In der Praxis äussert sich dieses „Rechnungtragen“ vordergründig in einigen Verfahrensaspekten. So wird beispielsweise 34 Vgl. ROEDER, 457 f. 35 Ibid., 460. 36 Ibid., 439. 37 Vgl. Art. 35 BV. 38 HAUSAMMANN/KÄLIN, 2. 39 Art. 7 ff. BV.
40 Vgl. u.a. Art. 123 StGB.
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eine asylstellende Person, falls ein Verdacht auf geschlechtsspezifische Verfolgung besteht, von einer Person des gleichen Geschlechts angehört41. Bei einem gemeinsam gestellten Asylgesuch muss die Ehefrau ausserdem ebenfalls angehört werden.42
3. Der Flüchtlingsbegriff gemäss Genfer Flüchtlingskonvention und Asylgesetz Nicht jede Person, die aus ihrem Heimatland flüchten muss, ist ein Flüchtling im juristischen Sinn. Es steht jedoch jeder geflüchteten Person uneingeschränkt und jederzeit zu, ein Asylverfahren einzuleiten, damit geprüft wird, ob die Flüchtlingseigenschaft gegeben ist und demnach Asyl gewährt werden kann43. Kernelement des schweizerischen Asylrechts ist demzufolge der Flüchtlingsbegriff, welcher in Art. 3 Abs. 1 bis 4 AsylG definiert ist. Diese Definition orientiert sich dabei an Art. 1A Abs. 2 der FK44 . So stimmen die Definitionen der FK und des AsylG inhaltlich weitgehend überein. Folglich sind sowohl die Definition in Art. 1A Abs. 2 FK als auch die durch das UNHCR entwickelten Auslegungen der FK für die Interpretation des Flüchtlingsbegriffs nach schweizerischem Recht massgebend 45. Die Flüchtlingseigenschaft, welche sich also aus den Definitionen der FK und des AsylG ergibt46, ist allerdings nicht konstitutiver Natur, die formelle Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat bloss feststellenden Charakter. Wer die Kriterien von Art. 1A Abs. 2 FK und Art. 3 AsylG erfüllt, ist Flüchtling47. Damit die Flüchtlingseigenschaft gegeben ist, müssen die folgenden fünf Kriterien kumulativ erfüllt sein: Erstens darf die betroffene Person sich nicht in ihrem Heimatstaat befinden. Zweitens darf sie nicht die Staatsangehörigkeit des Staates besitzen, den sie als Flüchtling um Schutz ersucht. Drittens muss sie die Beziehungen zum Heimatstaat abgebrochen haben. Viertens muss eine begründete Furcht vor Verfolgung aufgrund eines besonderen Verfolgungsmotivs vorhanden sein. Fünftens darf kein Ausschlussgrund gemäss FK vorliegen48. Weder die FK noch das AsylG erwähnen geschlechts-‐ oder frauenspezifische Verfolgungsgründe explizit49. Art. 3 Abs. 2 letzter Satz AsylG enthält bloss eine vage formulierte Vorschrift, dass den frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung getragen werden solle50. In der schweizerischen 41 Vgl. Art. 6 AsylV 1. Dies gilt auch für die übersetzende Person. 42 BRYNER, 2009, 1382 f. 43 SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 371 44 SEM, Artikel D1, 4. 45 EGHOUNA-‐JOSS/EPINEY/OESCHGER/WALDMANN, 21 f. 46 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 235. 47 KÄLIN, 30. 48 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 236. 49 Auch die Qualifikationsrichtlinie erwähnt das Geschlecht nicht als Verfolgungsgrund. Immerhin äussert
sie jedoch explizit die Möglichkeit, der Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte, einschliesslich der geschlechtlichen Identität, zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe, vgl. Art. 9 Abs. 3 Qualifikationsrichtlinie. 50 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 265.
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Jurisprudenz ist allerdings unbestritten, dass Verfolgung aufgrund des Geschlechts ein flüchtlingsrechtlich relevantes Verfolgungsmotiv darstellen kann
51
. So entschied die
Asylrekurskommission bereits in einem Grundsatzurteil vom 9. Oktober 2006 52 , dass der Flüchtlingsbegriff nicht von einer bestimmten Definition eines Verfolgungsmotivs abhängt, da sowieso nur der Täter Auskunft geben könnte, was seine subjektive Motivation für die Verfolgung sei. Einzig auf dem Geschlecht basierende Diskriminierungen können unter Umständen auch zur Anerkennung des Flüchtlingsstatus führen, insbesondere wenn eine Frau in ihrem Heimatstaat wegen ihres Geschlechts benachteiligt und aufgrund ihrer Verhaltensweise verfolgt wird53.
4. Das Konzept der Verfolgung Im folgenden Kapitel wird auf das für die Flüchtlingseigenschaft notwendige Kriterium der begründeten Furcht vor Verfolgung näher eingegangen. Damit das Konzept der Verfolgung – oder genau genommen das Konzept der begründeten Furcht vor Verfolgung – dem Sinne von Art. 1A Abs. 2 FK entspricht, müssen fünf Teilelemente gegeben sein. Erstens muss die befürchtete oder teilweise bereits erlittene Verfolgungsmassnahme einen bestimmten Grad an Intensität erreichen. Zweitens muss der Herkunftsstaat entweder schutzunwillig oder schutzunfähig sein, indem er keinen wirksamen Schutz gegen die befürchtete Verfolgung bietet. Drittens muss die Verfolgungsmassnahme gezielt gegen die betroffene Person gerichtet sein54. Viertens muss die Verfolgung auf einem der fünf in der FK aufgelisteten Motive beruhen. Und fünftens muss die Furcht vor zukünftiger Verfolgung begründbar sein oder es müssen bei bereits erlittener Verfolgung zwingende Gründe vorliegen, die eine Rückkehr in den ehemaligen Verfolgerstaat unmöglich machen55. Im Folgenden werden einige Elemente genauer erläutert, welche insbesondere auch eine Auswirkung auf die Situation frauenspezifischer Verfolgung haben.
51 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 265. 52 EMARK 2006 Nr. 32. 53 CEDAW, 31. 54 Vgl.
ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 178. Eine Ausnahme bilden sog. Reflexverfolgungen, die dann vorliegen, wenn bspw. Familienangehörige politischer Aktivisten durch den Staat erpresst werden, um an Informationen über die politisch aktive Person zu kommen, wobei die Intensität einer Reflexverfolgung von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängt, vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐ 5059/2013 vom 10. Januar 2014, E. 4.1. oder auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐355/2015 vom 1. Juli 2015. Ist jedoch nicht die Person selbst, sondern lediglich ihre Familienmitglieder von gezielten Verfolgungsmassnahmen betroffen, genügt dies nicht, um ihr im Sinne von Art. 3 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, vgl. bspw. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐5491/2014 vom 3. Juli 2015. 55 BINDER, 51. Vgl. auch CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 236.
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4.1 Geschützte Interessen und Intensität der Verletzung Der Begriff der Verfolgung ist in der FK nicht definiert56. Diese offene Formulierung ermöglicht es, bei der Auslegung auf den aktuellen Stand der internationalen Rechtsprechung einzugehen, ohne gegen den Text der FK zu verstossen. Gemäss der Entwicklung des humanitären Völkerrechts schliesst Verfolgung im Sinne der FK auch Menschenrechtsverletzungen oder andere schwere Nachteile ein. Diese müssen nicht in jedem Fall durch Methode oder Wiederholung gekennzeichnet sein. Damit jedoch eine Diskriminierung als flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung angesehen wird, muss diese eine gewisse Schwere erreichen57. In Bezug auf „blosse“ Diskriminierung, die normalerweise noch keine Verfolgung bedeuten muss, ist eine stetige und anhaltende Diskriminierung durch ihre Kumulierung in der Regel als Verfolgung anzusehen, die internationalen Rechtsschutz erforderlich macht. Im Gegensatz dazu stehen besonders krasse Formen von Diskriminierung, welche zweifellos als Verfolgung im Sinne der FK anzusehen sind58. So erreichen einige Formen von Schaden unbestreitbar den für eine Verfolgung erforderlichen Grad an Intensität gemäss Art. 1A FK. Die Gefährdung des Lebens oder der Freiheit sowie Folter und unmenschliche und erniedrigende Behandlung, miteingeschlossen gewisse Behandlungen, welche sich hauptsächlich gegen Frauen und Kinder richten, unter anderem Vergewaltigung und sexuelle Ausbeutung, Genitalverstümmelung und häusliche Gewalt können hier als Beispiele angeführt werden59. Darüber hinaus sind die Umrisse des Begriffs der Verfolgung eher schwammig und umstritten. Die traditionelle Vorgehensweise, bei welcher von Fall zu Fall nach ungenauen Formeln entschieden wurde, tritt mehr und mehr in den Hintergrund zugunsten einer Vorgehensweise, welche sich in ihrer Analyse von den Menschenrechten inspirieren lässt. Dadurch wird Verfolgung anhand eines Kataloges von objektiven, genehmigten und entwicklungsfähigen Grundrechten ausgelegt und kann von jedem Individuum geltend gemacht werden. Indem also der Begriff der Verfolgung an einem objektiven und universellen Standard festgemacht wird, könnte diese Auslegungsweise ausserdem zur Entstehung eines zukünftigen internationalen Konsenses beitragen60. Art. 3 AsylG verwendet den Ausdruck der „ernsthaften Nachteile“ anstelle des Begriffs der Verfolgung. Obwohl in Art. 3 Abs. 2 AsylG einige Situationen beschrieben werden, in welchen ernsthafte Nachteile als gegeben betrachtet werden, bestehen doch weiterhin Unklarheiten bezüglich der Tragweite dieses Ausdrucks61. Insbesondere in Bezug auf Massnahmen, die einen 56 MAIANI, 24. 57 Vgl. ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 18. 58 UNHCR, Auslegung, § 17. 59 UNHCR, Principes directeurs, § 9. 60 MAIANI, 26. 61 Ibid., 31.
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unerträglichen psychischen Druck bewirken, gibt es keine klaren Richtlinien, welche eine Auslegung erleichtern könnten. Gemäss der Jurisprudenz wird nicht geprüft, ob im vorliegenden Fall eine schwere Verletzung der Menschenrechte gegeben ist, sondern ob die in Frage gestellten Massnahmen es der betroffenen Person objektiv gesehen unmöglich machen, ein menschenwürdiges Leben in ihrem Herkunftsland zu führen62. Die Anforderungen an solche Massnahmen sind grundsätzlich hoch63, sodass manchmal sogar Massnahmen, welche als grobe Menschenrechtsverletzungen durchgehen könnten, als ungenügend schwer beurteilt werden64. Der letzte Satz des zweiten Absatzes des AsylG, welcher sich auf die frauenspezifischen Fluchtgründe bezieht, dient als Anerkennung des ernstzunehmenden Charakters der Übergriffe, bei welchen Frauen typischerweise die Zielgruppe darstellen65. Eine materielle Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs wurde vom Gesetzesgeber jedoch nicht beabsichtigt66. Aber auch wenn frauenspezifische Fluchtgründe nicht als eigenes Verfolgungsmotiv im Gesetz erwähnt werden, so besteht dennoch auch für Frauen die Möglichkeit, eine Verfolgung infolge drohenden oder bereits erlittenen Menschenrechtsverletzungen geltend zu machen, sofern diese als genügend intensiv qualifiziert werden67. Wenn das Konzept der Verfolgung also anhand des Menschenrechtskatalogs ausgelegt wird, können Frauen insbesondere auch ihnen spezifische Rechte vorbringen und in Anspruch nehmen.
4.2 Nichtstaatliche Verfolgung und Schutzfähigkeit a. Urheberschaft der Verfolgung
In Bezug auf die Urheberschaft einer Verfolgung existieren zwei mögliche Theorien. Gemäss der Zurechenbarkeitstheorie gilt eine Verfolgung als flüchtlingsrechtlich relevant, wenn der betroffene Staat unmittelbar oder mittelbar dafür verantwortlich gemacht werden kann 68 . Unmittelbar ist dabei eine Verfolgung, wenn sie vom Staat oder von seinen Organen selber ausgeführt wird, mittelbar, wenn der Staat eine Verfolgung durch Dritte unterstützt, billigt, anregt oder tatenlos hinnimmt, obwohl er schutzfähig wäre69. Die Schutztheorie hingegen macht das Vorhandensein einer Verfolgung nicht vom Verursacher abhängig, sondern wägt ab, ob durch Heimat-‐ oder Herkunftsstaat oder ausnahmsweise durch einen Quasi-‐Staat der verfolgten Person adäquaten Schutz gewährt werden kann70. Insofern 62 Ibid., 33. Vgl. auch ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 171.
63 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐4257/2006 vom 14. Juli 2008, E 4.2.2. 64 MAIANI, 34. 65 Ibid., 31. 66 BINDER,
383. Befürchtet wurde u.a. dass die Schweiz dadurch die Türe für eine Flutwelle an, auf frauenspezifischen Fluchtgründen basierenden Asylgesuchen öffnen würde, vgl. BBI 1996 II 1 ff., 40. 67 Vgl. MEIER, 242. 68 BUCHERER, 177. 69 Vgl. EMARK 2004/14, E. 6. d). 70 Vgl. EMARK 2006/18.
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kann auch nichtstaatliche Verfolgung als flüchtlingsrelevant anerkannt werden, wenn kein adäquater Schutz vor Verfolgung im Heimatstaat besteht71. Gemäss Art. 1A FK ist Flüchtling, wer, basierend auf seiner Furcht, verfolgt zu werden, den Schutz durch seinen Heimatstaat nicht geltend machen kann oder will. Ursprünglich bezog sich dieser Schutz auf einen diplomatischen Schutz, die Tragweite hat sich allerdings im Verlaufe der Zeit verändert und so bezieht sich der Begriff des Schutzes nun auf das Existieren von innerstaatlichem Schutz vor Verfolgung72. Das UNHCR hält an seiner Interpretation fest, dass ein Nichtvorhandensein von innerstaatlichem Schutz gegenüber nichtstaatlicher Verfolgung ein faktisches Element darstellt, um die begründete Furcht vor Verfolgung abzuwägen73. Im Falle von nichtstaatlicher Verfolgung stehen sich also die Fähigkeit des Urhebers der Verfolgung, sein Opfer zu schädigen, und der Wille und die Fähigkeit der Behörden, dies zu verhindern, gegenüber74. Nachdem alle EU-‐Mitgliedstaaten zur Schutztheorie übergegangen waren75, entschied sich auch die Schweiz zu einem Wechsel von der Zurechenbarkeitstheorie zur Schutztheorie 76 . Im Grundsatzurteil vom 8. Juni 200677 kommt die Asylrekurskommission zum Schluss, dass im Sinne einer völkerrechtskonformen Auslegung und Anwendung von Art. 3 AsylG auch nichtstaatliche Verfolgung grundsätzlich als flüchtlingsrechtlich relevant anzusehen sei78. In
Bezug
auf
frauenspezifische
Verfolgung
brachte
dieser
Wechsel
von
der
Zurechenbarkeitstheorie zur Schutztheorie eine grundlegende Veränderung der Möglichkeit auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Verfolgung von Frauen geht oft von Privaten aus, meist sogar von Familienmitgliedern oder dem Ehemann
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. Wo Frauen also unter der
Zurechenbarkeitstheorie grundsätzlich nur aufgrund staatlicher Verfolgung als Flüchtlinge in Frage kamen, so kann Frauen unter der Schutztheorie tatsächlich besserer Schutz gewährt werden, da auch nichtstaatliche Verfolgung als flüchtlingsrechtlich relevant anerkannt ist. b. Adäquater Schutz durch den Heimatstaat Nach dem Wechsel zur Schutztheorie, welche eine Asylgewährung von einem allfälligen adäquaten Schutz im Heimatstaat abhängig macht, galt es, ebendieses Konzept des adäquaten Schutzes in der Rechtsprechung genauer zu definieren.
71 SEM, Artikel D2, 4. Vgl. BBI 2002 6845, 6857. 72 MAIANI, 35. 73 Ibid., 36. Vgl. auch ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 176 f. 74 MAIANI, 37. Vgl. auch UNHCR, Handbuch und Richtlinien, 101. 75 Richtlinie 2011/95/EU. 76 SEM, Artikel D2, 4. 77 EMARK 2006 Nr. 18. 78 Ibid., E. 7.9.
79 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHNEIDER, 266.
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Adäquater Schutz kann durch den Heimat-‐ oder Herkunftsstaat oder unter gewissen Umständen durch einen Quasi-‐Staat, allenfalls auch durch internationale Organisationen, gewährt werden80. Insofern wird irrelevant, ob ein Staat schutzunfähig oder schutzunwillig ist. Als flüchtlingsrechtlich relevant gilt eine nichtstaatliche Verfolgung, sobald kein adäquater Schutz durch den Heimatstaat beziehungsweise einen Quasi-‐Staat besteht81. Bezüglich des Merkmals adäquaten Schutzes hat die Jurisprudenz ein anspruchsvolles Analyseschema entwickelt. Im Heimatstaat wird das Vorhandensein einer funktionsfähigen Schutzinfrastruktur und eines juristischen und gerichtlichen Systems, welches effiziente Strafverfolgungen möglich macht, abgeklärt. Ausserdem wird sowohl die Zugänglichkeit dieses Systems für die betroffene Person untersucht, als auch ob es tatsächlich zumutbar ist, dass sich die betroffene Person in allen Umständen auf dieses System beruft82. Besteht jedoch die Möglichkeit, dass der verfolgten Person in einem anderen Teil des Heimatstaates der notwendige Schutz gewährt wird, so muss diese interne Fluchtalternative in Anspruch genommen werden83. Die relativ anspruchsvollen Kriterien an den adäquaten Schutz, der im Heimatstaat existieren muss, sind für frauenspezifische Verfolgungen von grosser Bedeutung. Es soll ernsthaft abgeklärt werden, ob es einer Frau möglich und zumutbar ist, in einen Staat zurückzugehen, vor welchem sie zu fliehen versuchte.
4.3 Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
Mit der Anerkennung nichtstaatlicher Verfolgung und dem Auftauchen neuer Gruppen von Personen, welche sich auf den Schutz der Flüchtlingskonvention beriefen, veränderte sich im Laufe der Jahre die Tragweite des Flüchtlingsbegriffs. Dies warf vor allem zwei Fragen auf: die nach der Kausalität zwischen der Verfolgung und der fünf Verfolgungsmotive84 und die der Festlegung der Tragweite des vierten Motivs der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, welches oft geltend gemacht wurde von diesen „neuen“ Gruppen85. Gemäss der FK muss die Kausalität zwischen dem konventionellen Motiv und dem Risiko, verfolgt zu werden, bestehen. Die Kausalität ist also gegeben, wenn eines der fünf
80 BVGE 2011/51, E. 7.2. 81 SEM,
Artikel D2, 4. Vgl. SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 374: „Es genügt, wenn die staatliche Polizei-‐ und Justizorgane unfähig sind, eine von privaten Akteuren ausgehende Verfolgung effektiv zu unterbinden“. 82 EMARK 2006 Nr. 18, E. 10.3.2. 83 SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 374. Vgl. infra 4.4. 84 Für Ausführungen zu den verschiedenen Verfolgungsmotiven, vgl. ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 181 ff. oder auch KÄLIN, Asylverfahren, 91 ff. 85 MAIANI, 42. Vgl. bspw. bereits HAUSAMMANN, 28: „Die kanadischen Asylbehörden bejahten die Flüchtlingseigenschaft im Falle einer alleinlebenden türkischen Witwe, die keine engen Verwandten mehr besass und die täglichen Belästigungen, sexuellen Übergriffen und einem Entführungsversuch ausgesetzt war, ohne dass sie vom Staat Schutz erhalten hätte, wegen Zugehörigkeit zu der bestimmten sozialen Gruppe „single women living in a Moslem country without the protection of a male relative““.
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Verfolgungsmotive der FK entweder die Taten des Verfolgers oder die Abwesenheit von Schutz seitens staatlicher Behörden motiviert86. In Bezug auf die zweite Frage gibt es zwei Theorien. Die erste definiert die soziale Gruppe im Sinne der FK als eine Menge von Individuen, welche ein Charaktermerkmal teilen, das unveränderbar ist – so zum Beispiel das Geschlecht – oder das dermassen grundlegend für ihre Würde ist, dass man sie nicht dazu zwingen kann, es zu ändern. Die zweite Theorie setzt den Akzent auf jene Merkmale, unabhängig davon, ob sie unveränderlich und geschützt sind, welche, basierend auf der Wahrnehmung durch die Gesellschaft und der Machtträger, aus deren Trägern eine eigene Gruppe bilden87. Gemäss UNHCR bleibt die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten sozialen Gruppe jedoch divers und veränderbar88. Auch bei frauenspezifischer Verfolgung wird oft auf das Verfolgungsmotiv der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zurückgegriffen. Dieses Verfolgungsmotiv sollte allerdings nur subsidiär in Betrachtung gezogen werden89. Das Staatssekretariat für Migration hat bisher sieben bestimmte soziale Gruppen anerkannt90, die eine asylrelevante Verfolgung begründen können. Die einzelnen Gruppen werden nachfolgend kurz beschrieben.
a. Weibliche Genitalverstümmelung
Weibliche Genitalverstümmelung bezeichnet all jene chirurgischen Eingriffe, welche die Genitalien eines Mädchens oder einer Frau teilweise oder ganz entfernen oder diese in sonst einer Weise schwer verletzen, sei dies aus kulturellen oder anderen nicht therapeutischen Gründen. Sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene gelten solche Praktiken als inakzeptabel. Weibliche Genitalverstümmelung ist irreversibel und besteht in der teilweisen oder gänzlichen Entfernung der äusseren weiblichen Genitalien oder in einer anderen Verletzung der Geschlechtsorgane. Sie ist verbunden mit schweren physischen, psycho-‐ sexuellen und psychologischen Gesundheitsschäden, welche zusätzlich soziale Implikationen mit sich bringen91. 86 MAIANI, 43. 87 Sog. gesellschaftliche Wahrnehmung oder Stigmatisierung. Vgl. MAIANI, 44. und auch ROEDER, 442. 88 BASSEL, 111.
89 SEM, Artikel D7, 6. Frauen bilden per se eine bestimmte soziale Gruppe. Asylgesuche von Frauen sollten also nicht nur unter dem Aspekt der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe geprüft werden. Frauenspezifische Verfolgung aufgrund Verletzung religiöser oder sittlich begründeter Normen bspw. ist primär unter dem Aspekt der politischen oder religiösen Verfolgung zu prüfen, und kann erst dann als Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe qualifiziert werden, wenn die Verfolgung an einen bestimmten sozialen Status oder an ein bestimmtes unveränderliches und geschütztes Merkmal knüpft. Vgl. BINDER, 468 f. und CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 265. Und trotzdem sollte man sich nicht in komplizierten Beschreibungen jeweiliger bestimmten sozialen Gruppen verstricken, die zu eng gefasst sind und schlussendlich nicht allen Schutzsuchenden gerecht werden, sondern akzeptieren, dass oft auch einfach Frauen per se bereits eine bestimmte soziale Gruppe bilden, vgl. HATHAWAY/FOSTER, 439 ff. 90 SEM, Artikel D7, 6. 91 BINDER, 323. Vgl. BOGNUDA, 232: in Bezug auf die physischen, unumkehrbaren Folgen auf die reproduktive Gesundheit der Betroffenen können bspw. Unfruchtbarkeit, Menstruationsbeschwerden oder Schwierigkeiten bei der Entbindung genannt werden.
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Weibliche Genitalverstümmelung wie auch andere traditionelle Praktiken und Bräuche sind Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt und somit unvereinbar mit den grundlegenden Menschenrechten von Frauen92. Rechtfertigungsversuche basierend auf Tradition, Sitte und Brauch, aber auch Religion
93
, (rituelle) Reinigung, Familienehre und Erhöhung der
Fruchtbarkeit94 sind insofern wertlos, als dass sie die universelle Gültigkeit der Menschenrechte nicht in Frage stellen können95. Das CEDAW-‐Übereinkommen verpflichtet die Staaten in Art. 5 lit. a, aktiv beizutragen zur Beseitigung herkömmlicher und sonstiger Praktiken, welche auf einer Unter-‐ oder Überlegenheit eines Geschlechts beziehungsweise der stereotypen Rollenverteilung von Mann und Frau basieren96. Trotzdem reicht ein gesetzliches Verbot weiblicher Genitalverstümmelung allein nicht aus, vielmehr müssten betroffene Staaten eine ganzheitliche nationale Politik zur Bekämpfung und Abschaffung solcher Praktiken verfolgen, um diese wirksam bekämpfen zu können97. In der Schweiz leben schätzungsweise 12’000 Frauen, die aus Regionen stammen, in denen weibliche Genitalverstümmelung praktiziert wird. Davon wurden 6’000-‐7'000 entweder schon beschnitten oder es droht ihnen eine Beschneidung98. Der Schutz betroffener Mädchen und Frauen stellt demnach nach wie vor ein wichtiges Thema für die Schweiz dar. Die weibliche Genitalverstümmelung ist ein schwerer Eingriff in die körperliche Integrität. Solche Eingriffe in die körperliche Integrität können nur dann gerechtfertigt werden, wenn die davon betroffene, urteilsfähige Person in deren Durchführung einwilligt99. Die FGM wird meist an Mädchen im vorpubertären Alter praktiziert, die allgemein als noch nicht urteilsfähig in Bezug auf einen derart schweren Eingriff gelten; eine stellvertretende Einwilligung der gesetzlichen Vertreter kann eine solche Genitalverstümmelung jedoch nicht rechtfertigen100. Die Urteilsfähigkeit beeinflusst das Risiko einer drohenden Genitalverstümmelung, doch auch während der Pubertät101 oder auch mit der Volljährigkeit einer Frau102 bleibt ein Restrisiko bestehen. 92 BINDER, 320.
93 Die weibliche Genitalverstümmelung wird von keiner Religion verlangt und findet weder in der Bibel noch im Koran eine Erwähnung, vgl. MONA, 117 f. 94 BINDER., 270 und 321. 95 BESSON/BREITENMOSER/SASSÒLI/ZIEGLER, 300, P. 12.3.2.: „Der Universalismus vertritt die Ansicht, dass die Menschenrechte jedem Individuum kraft seines Menscheins zustehen, ungeachtet der kulturellen Unterschiede“. 96 BINDER, 324. 97 Ibid., 326 f. Vgl. auch DE PIETRO/GRAF/HAUSAMMANN/SCHNEGG/VOEGELI, 8. 98 EBG, Dritter Bericht, 154. 99 Vgl. infra 6.2. 100 MONA, 134. 101 Vgl. Asylgesuch wegen drohender Beschneidung eines 14-‐jährigen Mädchens aus dem Benin, Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐1560/2013 vom 6. Juni 2014. 102 Vgl. Asylgesuch wegen drohender Genitalverstümmelung einer 21-‐jährigen Frau von der Elfenbeinküste, Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐1714/2009 vom 22. Dezember 2011.
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Massgebend für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist allerdings, ob eine Furcht vor zukünftiger Genitalverstümmelung vorliegt, eine bereits durchgeführte Genitalverstümmelung wird vom Flüchtlingsbegriff nicht miteingeschlossen103. Ob die Flüchtlingseigenschaft gewährt wird, hängt mitunter auch davon ab, ob im Herkunftsstaat angemessener Schutz in Anspruch genommen werden kann104. Wenn Mütter oder Eltern eine drohende Genitalverstümmelung ihrer Tochter oder Töchter geltend machen oder wenn sie ihre Kinder nicht davor schützen können, zieht das Staatssekretariat für Migration meist in Betracht, das Verhalten der Mütter oder Eltern mit einem oppositionellen Verhalten gleichzustellen, welches seinerseits zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führt105.
b. Häusliche Gewalt
Opfer von häuslicher Gewalt als bestimmte soziale Gruppe wird im weiteren Sinne verstanden und beinhaltet sowohl eheliche Gewalt als auch Situationen von Inzest, ausgestossene Drohungen seitens Ehegatten oder anderen Verwandten, sexueller Missbrauch usw. Häusliche Gewalt spielt eine grosse Rolle in Bezug auf frauenspezifische Fluchtgründe. Viele Frauen, welche in der Schweiz Asyl beantragen, kommen aus patriarchalischen Gesellschaften, in welchen der Staat nur selten in interfamiliäre Konflikte eingreift, sei es aus kulturellen, traditionellen oder religiösen Gründen106. Frauen und Mädchen sind am häufigsten Opfer von Vergewaltigungen und anderen Formen sexueller Gewalt, aber auch von Gewalt in Ehe und Familie107. Diese Delikte beinhalten schwere Menschenrechtsverletzungen, namentlich Folter, grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Verletzung des Rechts auf Leben, Freiheit und Sicherheit. Das Kriterium der genügenden Verfolgungsintensität kann in der Regel ohne Schwierigkeiten bejaht werden108. Sexuelle Gewalt zerstört die psychische, physische, aber auch die soziale Integrität von – teils auch politisch aktiven – Frauen. Sie wird auch eingesetzt, um Frauen zu bestrafen, die sich nicht ihrer traditionellen, von der Gesellschaft zugeteilten Rolle entsprechend verhalten. Zudem wird sexuelle Gewalt oft auch als Mittel der Rache, Einschüchterung und Machtdemonstration 103 Der Fall einer drohenden Reinfibulation nach der Geburt eines Kindes, auch wenn die Mutter davor bereits von einer Genitalverstümmelung betroffen war, kann allerdings die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zur Folge haben, vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐1425/2014 vom 6. August 2014, E. 5.7. 104 SEM, Artikel D7, 6. 105 Ibid., 6 f. 106 SEM, Artikel D7, 7. 107 Diese Situation verschärft sich oft zusätzlich aufgrund der Tatsache, dass diese Frauen für andere schutzbedürftige Familienmitglieder die Verantwortung tragen, bspw. Kinder und ältere Menschen, vgl. GOVINDJEE/TAIWO, 389. 108 BINDER, 365. Vgl. WEHLER-‐SCHÖCK, 189 f.: „Nichtsdestotrotz wird Gewalt gegen Frauen oftmals verharmlost. Dies trifft insbesondere auf solche Gewalt zu, die Frauen durch private Akteure erfahren, wie beispielsweise häusliche Gewalt, und die unter dem Deckmantel der Privatsphäre ignoriert wird. Gewalt gegen Frauen wird häufig als „private“ Angelegenheit angesehen, in die sich ein Staat nicht einmischen sollte“.
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gegenüber oppositionellen Familien oder Gruppen verwendet, um gezielt gegen bestimmte familiäre oder ethnische Gruppen vorzugehen. Denn jeder Akt von sexueller Gewalt verletzt nicht nur die Ehre und Würde der Frau, sondern der ganzen Familie oder Bevölkerungsgruppe109. Die Vergewaltigung gilt als Sonderform sexueller Gewalt. Eine allgemein gültige Definition existiert allerdings nicht. In einem Urteil von 1998 befand der ICTY, dass für eine Vergewaltigung die Nötigung durch Gewalt oder durch Androhung von Gewalt gegenüber dem Opfer oder einer dritten Person erforderlich ist110, weitete diese Definition jedoch in seiner späteren Rechtsprechung auf andere Faktoren aus 111 . Gemäss ICTR stellt Vergewaltigung hingegen eine Form der Aggression dar, die als physische Verletzung sexueller Art definiert wird, die eine Person durch Zwang über sich ergehen lässt112. Frauen sind allerdings nicht nur im Heimatland, sondern auch während der Flucht oder im Aufnahmestaat der Gefahr von Ausbeutung oder Gewalt ausgesetzt. Insbesondere wird in Flüchtlingslagern die Schutzbedürftigkeit und das Angewiesensein auf Lebensmittel oder andere Dienstleistungen (beispielsweise ein Visum) von männlichen Flüchtlingen als auch Wachleuten ausgenützt113. Bereits 2003 hat das UNHCR darauf aufmerksam gemacht, dass Flüchtlingslager in einer Weise anzulegen sind, welche die Gefahr sexueller Übergriffe verringert114. Gewalt gegen Frauen stellt eine besonders schwerwiegende Form von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar und verdeutlicht beispielhaft die Unvereinbarkeit frauenspezifischer Gewalt mit den heutigen Menschenrechtsstandards115.
c. Zwangsheirat
Eine grosse Anzahl Asylbewerberinnen stammt aus Kulturen, in welchen eine Heirat gemäss Sitte von der Familie arrangiert wird. Solche arrangierte Ehen, welche nicht grundsätzlich gegen den Willen der Frau geschlossen wurden, sind manchmal die einzige Möglichkeit, einen Mann kennenzulernen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet werden sie teilweise als eine Form der Emanzipation wahrgenommen. Eine arrangierte Heirat muss daher von einer Zwangsheirat unterschieden werden. Zwangsheiraten finden ihren Ursprung in autoritären Familienstrukturen und patriarchalischen Konzepten der Ehre, die den Männern die Verfügungsgewalt über Frauen und Kinder zusprechen. Als Trägerinnen der Männer-‐ und Familienehre haben Frauen diese durch sittliches
109 HUNGERBÜHLER, 112 f. 110 ICTY, Prosecutor v. Anto Furundzija, §185. 111 ICTY, Prosecutor v. Dragoljub Kunarac et al., §436 ff. 112 ICTR, The Prosecutor v. Jean-‐Pau Akayesu, §686 ff. 113 Vgl. bspw. HRW, Somalia, 18 ff.
114 Vgl. UNHCR, Beschluss Nr. 98, 300. 115 Ibid., 296.
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Verhalten zu wahren, während den Männern die Kontrolle über ihr sexuelles Verhalten zusteht116. Die Zwangsheirat ist also ein erzwungener Prozess, basierend auf innerfamiliärer Gewalt, Drohung oder Nötigung, deren Auswirkungen sowohl physischer, psychischer als auch soziokultureller Natur sein können117. Das SEM betrachtet eine Zwangsheirat als gegeben, wenn sich mindestens einer der zukünftigen Ehepartner in einer Zwangssituation im Hinblick auf die geplante Heirat befindet. Wenn der ausgeübte Druck eine strafbare Nötigung darstellt oder wenn mit strafbaren Handlungen gedroht wird, falls die Ehe nicht eingegangen wird, so ist eine Zwangsheirat gegeben118. Zusätzlich basiert die Geltendmachung einer drohenden Zwangsheirat meist auf einer Verweigerung, sich einer solchen Heirat zu unterwerfen und zweitrangig auf anderen Motiven, wie zum Beispiel einer befürchteten Genitalverstümmelung oder der Furcht, Opfer eines Ehrendelikts zu werden119. Gemäss Art. 23 §3 UNO-‐Pakt II darf eine Ehe nur im freien und vollen Einverständnis beider künftigen Ehegatten geschlossen werden120. Das gleiche Prinzip gilt im Schweizer Recht. Das Zivilstandsamt hat im Vorbereitungsverfahren zu prüfen, ob die Ehe dem Willen der zukünftigen Ehepartner entspricht oder ob sich eine oder beide Parteien offensichtlich in einer Zwangssituation befinden121. Dass es jedoch offensichtlich sein muss, dass die Ehe nicht dem freien Willen einer Partei entspricht, schwächt die Prüfungspflicht der Behörde wesentlich ab122. Trotzdem, das eingeführte Klagerecht der Behörde, wenn eine vom Zwang betroffene Partei nicht an der Ehe festhalten will, scheint eine sinnvolle Neuerung, wenn auch noch einige Unklarheiten bestehen123. Die Asylrekurskommission bejahte bereits in einem Urteil vom 7. Dezember 1992 124 die Flüchtlingseigenschaft aufgrund befürchteter Zwangsheirat. Weiblichen Asylsuchenden droht
116 MEIER, 3. 117 Ibid., 19.
118 GEISER, 104. 119 SEM, Artikel D7, 7. 120 Vgl. auch Art. 16 Abs. 2 AEMR. 121 Art. 99 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB, im Zusammenhang mit dem Bundesgesetz über Massnahmen gegen Zwangsehen. 122 Vgl. MEIER, 3: „Obwohl sich die Öffentlichkeit mit dieser Thematik beschäftigt, schweigen die meisten Betroffenen. Die Zwangsverheiratung ist weiterhin ein Tabuthema. Es herrscht kollektives Schweigen – teils aufgrund gerechtfertigter Furcht. Oft sind Sprachbarrieren, Trennung von der Familie, Geldmangel und fehlende Selbständigkeit Hindernisse, welche das Opfer abhalten, sich gegen die Zwangsverheiratung zu wehren. (...) Mit einer Auflehnung gegen das traditionelle Muster riskieren die Frauen, aus der Familie ausgestossen zu werden und dadurch das soziale Netz zu verlieren. Dies hat zur Folge, dass sich kaum eine betroffene Frau für den gerichtlichen Weg entscheidet, da mit dem Ergreifen rechtlicher Schritte der endgültige Bruch mit der Familie wahrscheinlich ist.“ 123 Vgl. GEISER, 108. 124 EMARK 1993 Nr. 9.
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unter anderem eine Zwangsheirat mit einem Cousin125 oder mit einem älteren Mann, um Folter durch die Polizei und Verschmutzung ihrer Ehre durch eine Vergewaltigung zu vermeiden126. Eine der Schutzmassnahmen für Opfer von Zwangsheirat ist das Verbleiberecht der betroffenen Person nach der Auflösung der Ehe, falls diese bereits drei Jahre gedauert hat oder falls wichtige persönliche Gründe für einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz sprechen 127 . Wichtige persönliche Gründe sind unter anderem gegeben im Falle von häuslicher Gewalt oder falls die soziale Wiedereingliederung im Herkunftsland stark gefährdet erscheint128.
d. Gesetzliche Diskriminierung
Oftmals sind es Frauen aus islamischen Ländern129, welche ein Verfolgungsmotiv in Verbindung mit gesetzlicher Diskriminierung geltend machen. Sie führen dabei meist folgende Situation an: aussereheliche sexuelle Beziehungen, Ehebruch, Ungleichheit vor dem Recht (zum Beispiel bei einer Scheidung und der Zuteilung des Sorgerechts für die Kinder) oder diskriminierende Gesetze, welche vom Koran inspiriert wurden etc130. Wo religiöse Normen und ein sozialer Sittenkodex die Grundfreiheiten von Frauen in schwerster Weise einschränken, kann die Intensität einer Verfolgung bereits gegeben sein, unabhängig der im Fall einer Übertretung zu erwartenden Strafe131. Im Prinzip ist die generelle Situation, mit welcher Frauen aus solchen Ländern konfrontiert sind, zwar nicht massgebend im Bereich der Asylgewährung, da eine Frau nicht mehr davon betroffen ist, als alle anderen im selben Land132. Die Flüchtlingseigenschaft kann jedoch trotzdem gegeben sein, wenn besonders schwerwiegende Benachteiligungen im Sinne des Asylgesetzes vorliegen, wenn die Antragstellerin ein oppositionelles Verhalten geltend macht oder wenn die Weigerung ein diskriminierendes Gesetz zu respektieren einer politischen Einstellung gleichgesetzt werden kann133. In der Praxis liegt die begründete Furcht vor Verfolgung jedoch meist in der Drohung oder der Verhängung von Sanktionen für den Fall eines Verstosses gegen jene Gesetze. Insofern gelten nur die Unverhältnismässigkeit oder die Schwere einer Strafe als verfolgungsrelevant.134. Es gilt wiederholt zu betonen, dass die Pflicht zur Einhaltung der Menschenrechte für alle Staaten bindend ist, unabhängig von Religion, Sitte und Kultur und auch unabhängig davon, ob 125 Bspw. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐4592/2013 vom 8. Januar 2014. 126 Bspw. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐5059/2013 vom 10. Januar 2014. 127 Art. 50 Abs. 1 AuG. Vgl. auch SPESCHA, 127: „Angesichts der erfahrenen Fremdbestimmung und der mutmasslichen Konsequenzen im Herkunftsland dürfte die Gewährung eines Verbleiberechts dringend geboten sein“. 128 Art. 50 Abs. 2 AuG. 129 Obschon im Islam Mann und Frau als ebenbürtig gelten, wird die Unterdrückung der Frau in patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen meist mithilfe religiöser Argumente gerechtfertigt, vgl. LENDORFF-‐EL RAFII, 35. 130 SEM, Artikel D7, 7. 131 BINDER, 359. 132 Vgl. GWERDER, 119 f. 133 SEM, Artikel D7, 7. 134 BINDER, 359.
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diese internationale Verpflichtung aus freiwillig eingegangenen Vertragspflichten oder aus den Normen des Völkergewohnheitsrecht, wie zum Beispiel der EMRK und des völkerrechtlichen ius cogens erwächst135. Auch wenn das CEDAW-‐Übereinkommen von vielen muslimischen Ländern ratifiziert wurde, so hat es gleichzeitig auch eine grosse Anzahl an Vertragsreservationen mit sich gezogen. Dies könnte den Trugschluss hervorrufen, dass die Ratifizierung des CEDAW-‐ Übereinkommens nicht die gleiche rechtlich bindende Verpflichtung nach sich zieht, wie dies andere Menschenrechtsverträge tun136. Obwohl dem nicht so ist, sind im Falle der gesetzlichen Diskriminierung zusätzlich zahlreiche Bestimmungen verletzt, welche ausserhalb des CEDAW-‐ Übereinkommens festgeschrieben sind, bei welchen die bindende Wirkung nicht angezweifelt werden kann. Gesetzesnormen, welche gezielt die Bewegungs-‐ und Versammlungsfreiheit von Frauen beschränken
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oder den Zugang zu beruflichen Tätigkeiten, Schuldbildung oder
Gesundheitseinrichtungen erschweren oder unmöglich machen, gelten als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und verletzen zahlreiche Rechte138. Dies gilt auch für geschlechts-‐ diskriminierendes Straf-‐, Ehe-‐, Familien-‐ und Erbrecht139.
e. Geburtenregulation/Zwangssterilisation/Zwangsabtreibung
Ein Staat hat grundsätzlich die Möglichkeit, eine eigene Familienpolitik aufzustellen, welche für seine Bevölkerung obligatorisch einzuhalten ist. Bei diskriminierungsfreier Ausführung einer an die gesamte Bevölkerung gerichteten Familienplanungspolitik kann diese also als legitime Ausübung staatlicher Handlungsmacht angesehen werden und gilt insofern nicht als Verfolgungsmassnahme im flüchtlingsrechtlichen Kontext. Die Ausführungsmethoden einer solchen Familienpolitik können jedoch einen Verfolgungscharakter erreichen, wenn sie in diskriminierender Weise nur bestimmte Teile der Bevölkerung treffen oder wenn sie auf Zwang beruhen und/oder unverhältnismässig sind.140. So haben einige Staaten, allen voran China, Gesetzesdispositionen erlassen zur Einhaltung der staatlichen Kontrolle von Geburten 141 . Diese Massnahmen gelten für die Gesamtheit der Bevölkerung auf dem bestimmten Gebiet142. 135 BINDER., 284 f. 136 Vgl. ibid., 289 f.
Bspw. sog. Sittenwächter/-‐innen im Iran, die kontrollieren, ob sich die Frauen an die Kleidervorschriften halten. Was vordergründig als Schutz der Bürger gerechtfertigt wird, stellt einen schweren Eingriff in die Privatsphäre der betroffenen Personen dar, sind solche Sittenwächter/-‐innen doch sogar auf Sportplätzen oder Hochzeitsfeiern anwesend, vgl. WHADAT-‐HAGH, S. 253 f. 138 Vgl. BINDER, FN 1111. 139 Ibid., FN 1112. Bsp. Im Iran darf ein Mann seine Ehefrau töten, um seine Ehre zu verteidigen. Im Gegensatz dazu, wenn sich eine Frau gegen eine Vergewaltigung wehrt, und der Mann dadurch zu Tode kommt, droht ihr die Todesstrafe, vgl. WAHDAT-‐HAGH, 255. 140 BINDER, 377. 141 Vgl. bspw. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐1387/2010 vom 15. Februar 2011. 142 SEM Artikel D7, 7 f. 137
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Die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft von Opfern einer diskriminierenden Familienplanungspolitik folgt demselben Prinzip wie bereits bei der bestimmten sozialen Gruppe aufgrund gesetzlicher Diskriminierung. Die Asylsuchende, welche diesen Typ Verfolgungshandlung geltend macht, muss aufzeigen können, dass sie aufgrund ihrer Auflehnung gegen solche Massnahmen, durch die Umsetzung der diskriminierenden Gesetze schwerer betroffen ist als andere Personen143. Dass
die
Ausführungsmethoden
von
Geburtenregulation,
Zwangsabtreibung
und
Zwangssterilisation eine Verletzung von Menschenrechten nach sich ziehen, scheint klar. Die Schweiz hat mit der Inkraftsetzung des Art. 264a Bst. g StGB die Zwangssterilisation sogar explizit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit deklariert144.
f. Ehrendelikte
Wie bereits in Bezug auf die Zwangsheirat erwähnt, gelten in traditionellen und/oder patriarchalischen Kulturkreisen Frauen oft als Verkörperung der Ehre des Mannes und tragen die Verantwortung, die Familienehre, die ihnen zufällt, zu retten. Frauen werden freiwillig als weniger wertvolle Menschen betrachtet und haben weniger Rechte als Männer. Jene, welche sich gegen das System auflehnen, stellen die Machtverteilung innerhalb der Familie in Frage, was nicht toleriert wird. Unter diesem Deckmantel der Ehre versteckt sich oftmals das Bedürfnis der Männer, Kontrolle über die Sexualität der Frauen auszuüben und sie in ihrer Freiheit einzuschränken. Gemäss einer Schätzung durch die UNFPA werden jährlich ungefähr 5000 Mädchen und Frauen in mindestens 14 verschiedenen Ländern zu Opfern von Ehrenmorden145. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich beachtlich höher. Delikte 146 , welche in diesem Kontext verübt werden, stützen sich allerdings nicht auf Glaubensüberzeugungen, sondern auf altüberlieferte kulturelle Traditionen. Solche Ehrendelikte sind nicht immer nur durch Liebe, Schande, Eifersucht oder sozialen Druck motiviert, sondern können auch aufgrund wirtschaftlicher oder sozialer Faktoren verübt werden. Die Gründe, welche die Täter zu solchen Delikten veranlassen, sind also vielfältig: von Ehebruch, zu Vergewaltigung, bis zur Verweigerung einer Heirat147, welche von der Familie entschieden wurde, oder auch einfach der Umgang mit einem Mann. Mehrere Länder, in welchen solche Praktiken verbreitet sind, haben in ihren Strafgesetzen Dispositionen verankert, welche den Tätern solcher Ehrendelikte eine Strafmilderung oder gar die Straffreiheit ermöglichen.148 143 SEM Artikel D7, 7 f.. 144 CEDAW, Zwischenbericht, 21. 145 UNFPA, World Population, 29. 146 Ehrendelikte umfassen dabei nicht nur Tötungsdelikte, sondern auch die Unterdrückung, Bedrohung
und Erpressung, Misshandlung, Folter, Verstossung und Zwangsheirat, vgl. TDF, Ehrenmord, 6. 147 Vgl. bspw. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐1135/2014 vom 14. April 2014. 148 SEM, Artikel D7, 8.
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g. Sexuelle Orientierung
Die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität sind grundlegende Elemente der menschlichen Identität, gleich wie die fünf Verfolgungsmotive, welche der Definition eines Flüchtlings zugrunde liegen: die Rasse, die Religion, die Nationalität, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und die politischen Einstellungen. Die Einstellung gegenüber der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität variiert von Staat zu Staat und geht von Toleranz bis hin zur Bestrafung von Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen. Massgebend bei einem Asylantrag basierend auf diesem Motiv ist demnach die Existenz eines effizienten Schutzsystems im Herkunftsstaat und/oder das Vorhandensein konkreter Hinweise, welche eine fundierte Furcht vor Verfolgung belegen können. In jedem Fall muss die tatsächliche Gefahr der betroffenen Person im Anbetracht der individuellen Umstände und der Situation des jeweiligen Herkunftslandes geprüft werden. Die alleinige Existenz eines Gesetzes, welches Homosexualität bestraft, reicht also beispielsweise nicht aus, um als Verfolgung angesehen zu werden. Falls jedoch eine Gefängnisstrafe für homosexuelle Aktivitäten tatsächlich ausgeführt wird, ist eine Verfolgung gegeben. Wichtige Informationen betreffend das Herkunftsland, seine Gesetze und Verordnungen und die Art und Weise, wie diese angewendet werden, miteingeschlossen, müssen für die Beurteilung des Asylantrags betrachtet werden. Ein Asylgesuch darf allerdings nicht abgelehnt werden, indem vom Antragssteller verlangt wird, einen diskreteren oder weniger auffälligen Lebensstil anzunehmen, um sich einer Verfolgung zu entziehen149. Da die Situation sexueller Orientierung im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft meist LGBT-‐Personen betrifft150, wird hier nicht weiter darauf eingegangen.
4.4 Inländische Fluchtalternative
a. Im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention
Eine Person, die einem Risiko von Verfolgung ausgesetzt in einer Region ihres Heimatstaates ist, sich aber diesem Risiko entziehen kann, indem sie sich in einem anderen Teil desselben Landes niederlässt, besitzt die Flüchtlingseigenschaft nicht. Sie muss also landesweit der Verfolgung ausgesetzt sein, damit die Flüchtlingseigenschaft bejaht wird151. Die Abklärung, ob eine inländische Fluchtalternative besteht oder nicht, basiert nicht darauf, ob die antragstellende Person sich in einem anderen Teil ihres Landes hätte niederlassen können anstatt ins Ausland zu flüchten. Sie bezieht sich auf den Moment des Entscheides, in welchem
149 SEM, Artikel D7, 8 f.
150 UNHCR, Principes directeurs, § 16. 151 ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 189.
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sich die Frage stellt, ob jemand in eine sichere Zone seines Landes zurückgewiesen werden kann oder nicht152. Damit eine inländische Fluchtalternative als solche angesehen werden kann, muss es der betroffenen Person möglich sein, sich in die vorgesehene Zone zu begeben. Der als Fluchtalternative angesehene Ort muss also praktisch, juristisch und in aller Sicherheit erreichbar sein. Des Weiteren muss die Niederlassung in der bestimmten Zone den Antragssteller dauerhaft vor Verfolgung schützen. Ausserdem gilt es abzuklären, ob ein Risiko besteht, dass die betroffene Person an den Ort zurückgeschickt wird, wo ihm oder ihr Verfolgung drohte153. Grundsätzlich kann in Fällen befürchteter staatlicher Verfolgung eine innerstaatliche Fluchtalternative meist ausgeschlossen werden. Zusätzlich muss eine solche innerstaatliche Fluchtalternative zumutbar sein. Sie muss also nicht nur ein bewohnbares und sicheres Umfeld frei von drohender Verfolgung bieten, sondern die betroffene Person soll gemeinsam mit ihren Angehörigen unter vergleichbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen wie die restlichen unter normalen Umständen lebenden Bewohner des Landes ein „normales“ Leben führen können. Dies schliesst die Ausübung und Inanspruchnahme der bürgerlichen und politischen Rechte mit ein154. Auch wenn das Kriterium der Zumutbarkeit nicht in der FK festgeschrieben steht, ist es doch ein nützliches juristisches Werkzeug um festzustellen, ob eine inländische Fluchtalternative angemessen scheint oder nicht, um einer begründeten Furcht vor Verfolgung ein Ende zu setzen155. Abschliessend lässt sich jedoch sagen, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne der FK mehr als nur das Wegbleiben einer befürchteten Verfolgung bieten muss156.
b. Der inländische Zufluchtsort im Schweizer Recht
In der schweizerischen Praxis kennt man das Konzept eines möglichen inländischen Zufluchtsortes bereits seit mehr als 20 Jahren. Im Grundsatzentscheid vom 28. November 1995
157
erklärte die Asylrekurskommission, dass das Vorhandensein eines möglichen
inländischen Zufluchtsortes die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Art. 3 AsylG und Art. 1A FK ausschliesst158. Die Anforderungen an einen solchen inländischen Zufluchtsort sind allerdings sehr hoch. So führt das Bundesverwaltungsgericht im Grundsatzentscheid vom 21. Dezember 2011159 aus, dass die Frage nach einer innerstaatlichen Fluchtalternative in zwei Elemente aufgeteilt werden 152 MAIANI, 50. 153 Ibid., 51. 154 UNHCR, Auslegung, § 13. 155 MAIANI, 53. 156 Ibid., 54. 157 EMARK 1996 Nr. 1. 158 Ibid., E. 5b.
159 BVGE 2011/51.
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kann: erstens, ob im Heimatstaat eine funktionierende und effiziente Schutzinfrastruktur vorhanden ist, und zweitens, ob diese Schutzinfrastruktur auch tatsächlich von der von Verfolgung betroffenen Person in Anspruch genommen werden kann160. Ausserdem muss es auch gemäss Schweizer Rechtsprechung der betroffenen Person individuell zuzumuten sein, den am Zufluchtsort erhältlichen Schutz dauerhaft in Anspruch zu nehmen161, wobei sowohl die allgemeinen Verhältnisse am Zufluchtsort und die persönlichen Umstände der Person, als auch der länderspezifische Kontext im Rahmen einer Einzelprüfung zu beachten sind162. Dass der schweizerische Standard restriktiver in Bezug auf die Zumutbarkeit ist als der internationale Standard, kann also nicht mehr behauptet werden163.
5. Der Flüchtlingsbegriff gemäss menschenrechtlichem Beurteilungsmassstab 5.1 Allgemeine Menschenrechte Als Menschenrechte gelten durch internationales Recht garantierte Rechtsansprüche einer Person gegenüber einem Staat oder einem staatähnlichen Gebilde, zum Schutze grundlegender Aspekte des Menschen sowie dessen Würde, und dies sowohl in Friedens-‐ als auch in Kriegszeiten164. Die FK bietet nach geltendem Recht keinen umfassenden Schutz gegen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, trotzdem ist ihr menschenrechtlicher Charakter hervorzuheben. Auch wenn die FK aus vordergründig politischen und strategischen Überlegungen heraus entstand, so kann ein ihr innewohnender humanitärer und menschenrechtlicher Zweck nicht einfach ausgeschlossen werden165. Der Flüchtlingsbegriff an sich und auch seine einzelnen Begriffselemente, so zum Beispiel der Begriff der Verfolgung, sind offen formuliert und somit auslegungsbedürftig 166 . Um dem bereits erwähnten humanitären und menschenrechtlichen Zweck gerecht zu werden, sollte der Auslegungsmassstab für die FK darum in der Menschenrechtspraxis und -‐doktrin gesucht werden 167 . Dies entspricht der teleologischen Auslegungsmethode, welche sich auf Art. 31 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention
160 BVGE 2011/51, E. 8.5.1 f. So muss bspw. auch die Möglichkeit einer sog. mittelbaren Gefährdung, d.h. das Zurückschicken oder Zurückdrängen der betroffenen Person durch die staatlichen Behörden in das Gebiet der Verfolgung, ausgeschlossen werden können, vgl. EMARK 1996/1, E. 5. d). cc). 161 So können bspw. Frauenhäuser in der Türkei eine Frau für höchstens sechs Monate bei sich aufnehmen, wonach diese der Gefahr einer Zwangsverheiratung immer noch ausgesetzt ist, vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐5059/2013 vom 10. Januar, E. 4.3. 162 BVGE 2011/51, E. 8.6. 163 Vgl. MAIANI, 58 f. 164 KÜNZLI/KÄLIN, 34. 165 BINDER, 21. 166 Ibid., 22. 167 Ibid., 21.
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stützt168. Gemäss dieser teleologisch ausgerichteten Auslegungsmethode wird Ziel und Zweck eines Vertrags ermittelt, indem, in Übereinstimmung mit der internationalen Rechtsprechung, der Vertragstext und die Präambel analysiert werden. Sich auf nicht geschriebene Mutmassungen und Unterstellungen in Bezug auf den Parteiwillen zu berufen, ist gemäss dieser Methode nicht erlaubt. Den travaux préparatoires kommt dabei bloss eine ergänzende Auslegungsfunktion zu169. Bezüglich der FK sind vor allem die ersten beiden Absätze der Präambel grundlegend, welche auf die Vereinten Nationen und auf die allgemeine Erklärung der Menschenrechte Bezug nehmen170. Daraus lässt sich ableiten, dass die Normen des internationalen Menschenrechts-‐ schutzes einen zentralen Bestandteil der FK bilden und dass sowohl der Flüchtlingsbegriff als auch die darin enthaltenen Begriffselemente im Sinne der aktuellen, international vereinbarten Menschenrechtstandards ausgelegt und angewendet werden müssen 171 . Menschenrechte spielen auch im Flüchtlingsrecht eine zentrale Rolle. Zu betonen ist, dass das Prinzip der universellen Gültigkeit der Menschenrechte im Asylrecht von besonderer Bedeutung ist. Insofern dürfen kulturelle, religiöse und soziale Traditionen und Normen nicht als Rechtfertigung für menschenrechtswidrige Praktiken dienen, welche zu einer Ablehnung des Flüchtlingsschutzes führen würde172. 5.2 Menschenrechte von Frauen Damit ist geklärt, dass Menschenrechte auch im flüchtlingsrechtlichen Kontext zur Anwendung kommen. Nun stellt sich die Frage, ob in Bezug auf Frauen spezielle Rechte bestehen, welche frauenspezifischen Menschenrechtsverletzungen vorbeugen sollen. Nebst den Verfolgungen aufgrund den gleichen Unterdrückungsformen und Gründen wie bei Männern werden Frauen oft auch Opfer von Verfolgung, welche sich gezielt gegen ihr Geschlecht richtet, so zum Beispiel in Form von Vergewaltigung, von Genitalverstümmelung oder von Zwangsabtreibung. Ausserdem können Frauen auch aufgrund ihres Geschlechts verfolgt werden, wenn sich die Verfolgung auf ihre besondere gesellschaftliche Stellung bezieht 173. Rechtfertigungsgründe wie Religion, Sitte, Tradition und Kultur sind belanglos, wenn geprüft wird, ob frauenspezifische Gewalt oder gesundheitsschädigende Praktiken flüchtlingsrechtlich relevant sind. Flüchtlingsbehörden und Gerichte sind also verpflichtet, die Situation gemäss 168 Vgl. BUCHERER, 173: „Gemäss Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ist
ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Gemäss Abs. 3 gehört zum auslegungsrelevanten Zusammenhang jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht. Internationale Verträge können im Laufe der Zeit also einen Bedeutungswandel erfahren“. 169 BINDER., 26. Vgl. Art. 32 Wiener Vertragsrechtskonvention. 170 BINDER., 23. 171 Ibid., 24. 172 Ibid., 45 f. 173 Ibid., 269.
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eines menschenrechtlichen Massstabs zu bewerten, und dies unabhängig von der kulturellen, religiösen oder geografischen Herkunft der Gesuchstellerin174. Für Frauen, Migrantinnen miteingeschlossen, gelten also die generellen Rechte der Menschenrechtskonvention175, aber auch die Rechte der UNO-‐Pakte I und II. Speziell für Frauen gilt natürlich das CEDAW-‐Übereinkommen von 1979, welches inhaltlich vom Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1965 inspiriert wurde176. So können Frauen, deren Menschenrechte schwer verletzt wurden oder die eine solche Verletzung ernsthaft zu befürchten haben, die Kriterien eines Flüchtlings im Sinne der FK unter bestimmten Umständen erfüllen und somit Anspruch auf die Anerkennung des Flüchtlingsstatus haben
177
. Das CEDAW-‐Übereinkommen gehört zu den vertraglichen
Schutzmechanismen der Vereinten Nationen und übernimmt die Aufgabe, Mädchen und Frauen einen auf ihre spezielle Situation zugeschnittenen Schutz zu gewährleisten178. Wie sinnvoll es ist, dass frauenspezifische Schutzmechanismen auf internationalem Niveau existieren, wird oft kritisch diskutiert. Dass neben den grundlegenden Menschenrechtsorganen auch frauenspezifische Strukturen existieren, hat beispielsweise zu einer Marginalisierung der letzteren geführt
179
. Ein weiterer Kritikpunkt an frauenspezifischen Menschenrechts-‐
instrumenten kommt von Betroffenen in Entwicklungsländern, die solche internationalen Bemühungen um die Förderung von Frauenrechten oft als Versuch, anderen Gesellschaften westliche Wertevorstellungen aufzuzwingen, wahrnehmen 180. Auch wird kritisiert, dass die Internationale Charta bei konsequenter Anwendung den vollen Schutz der Menschenrechte der Frau gewährleisten würde, inklusive den Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, und frauenspezifische Sonderinstrumente somit überflüssig scheinen. Solange Gewalt gegen Frauen nicht explizit als Verletzung der allgemeinen Menschenrechte klassifiziert wird, verbleibt diese auf ihrem Status als minderschwerer Verstoss181. Gegen all diese Argumente steht allerdings die Tatsache, dass Frauen effektiv einen besonderen Schutz benötigen182. 5.3 Grundrechte der BV Auch die Schweizer Bundesverfassung umfasst einen Katalog von Grundrechten, welche allen Menschen garantiert werden, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft
183
. Zu diesen
174 BINDER, 350. 175 BHABHA, 267.
176 Für weitere Ausführungen, s. ibid., 268 ff. 177 BINDER, 345. 178 KÖNIG, 82. 179 So
sind die frauenspezifischen Strukturen mit geringeren Ressourcen und Kompetenzen sowie schwächeren Durchsetzungsmechanismen ausgestattet, vgl. WEHLER-‐SCHÖCK, 205. 180 Ibid., 206. Dieses Argument sollte jedoch nicht dazu missbraucht werden, um Gewalttaten gegen Frauen unter dem Deckmantel der Kultur und Tradition zu rechtfertigen. 181 Ibid., 207. 182 Damit sind sowohl andere körperliche als auch soziale Bedürfnisse als Männer gemeint, vgl. ibid., 208.
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Grundrechten gehören namentlich das Recht auf persönliche Freiheit, das Recht auf Privatsphäre und Familie, die Glaubens-‐ und Gewissensfreiheit und die Meinungs-‐, Versammlungs-‐ und Vereinigungsfreiheit184. Die Zusicherung dieser Freiheiten können vom Staat weder von Herkunft, Geschlecht, Alter, Sprache, sozialer Stellung, noch religiöser oder politischen Überzeugung abhängig gemacht werden185. Im Widerspruch mit den oben genannten Freiheiten kann eine ebenso wichtige rechtstaatliche Forderung nach Gleichbehandlung und Chancengleichheit aller Menschen186 stehen. Besonders für Frauen ist diese von grosser Wichtigkeit, wenn sie sich den traditionellen Vorstellungen von der Geschlechterrolle ihres Herkunftslandes entziehen wollen. Allerdings kann das Gleichheitsgebot auch die Freiheit Einzelner gefährden, weil durch gleiche Regeln für alle eine autonome Lebensgestaltung für Frauen unmöglich gemacht wird, auch wenn diese sich trotz konservativem Rollenverständnis in ihrer Gemeinschaft aufgehoben fühlen187. Ist eine einzelne Person direkt der staatlichen Gewalt unterstellt, so gilt das Gleichheitsgebot und das Diskriminierungsverbot188. Handelt es sich in einem konkreten Fall um die Privatsphäre einer Person, so kann sich ein Individuum immer auf die seiner Person innewohnender Grundrechte berufen, um sich illegitimem Druck der Familie oder der Gemeinschaft zur Wehr zu setzen189. Die Autonomie des Einzelnen oder einer Gemeinschaft endet allerdings dort, wo das Gesetz ein bestimmtes schädigendes Verhalten verbietet, wie zum Beispiel im Falle physischer, psychischer und sexueller Gewalthandlungen, insbesondere auch häuslicher Gewalt190. Die BV deckt also einen Grossteil der Menschenrechte auch mit ihren eigenen Bestimmungen über die Grundrechte ab. Dass Menschenrechten im Asylrecht eine wichtige Rolle zukommen, scheint unbestritten und dies gilt auch in Bezug auf frauenspezifische Verfolgung.
6. Menschenrechtsverletzungen bei frauenspezifischer Verfolgung In diesem Kapitel wird auf einige Menschenrechte eingegangen, die durch frauenspezifische Verfolgung oftmals verletzt werden. Die Auswahl und auch die Argumentation der Menschenrechtsverletzungen orientieren sich an den sieben, durch das SEM anerkannten bestimmten sozialen Gruppen. Die Aufzählung ist jedoch in keiner Weise abschliessend.
183 Vgl. Art. 35 BV. 184 Art. 7 ff. BV. 185 HAUSAMMANN/KÄLIN, 2. 186 Art. 8 BV. 187 HAUSAMMANN/KÄLIN, 2. 188 Vgl. Art. 8 BV.
189 HAUSAMMANN/KÄLIN, 5. 190 Ibid., 6.
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6.1 Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit Gemäss Art. 2 Abs. 1 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf Leben gesetzlich geschützt und niemand darf absichtlich getötet werden191. Im UNO-‐Pakt II wird der gesetzliche Schutz des Rechts auf Leben bestätigt und es wird bekräftigt, dass dieses Recht jedem Mensch angeboren ist192. Auch Art. 10 BV hält das Recht auf Leben fest und schützt in Abs. 2 insbesondere die körperliche und geistige Unversehrtheit. Eine Verletzung des Rechts auf Leben kann grundsätzlich in all jenen Fällen von privater Gewalt gegen Frauen bejaht werden, in denen diese zum Tod des Opfers führt. So kann also bei häuslicher Gewalt je nach Ausmass der Gewaltanwendung das Recht auf Leben bedroht sein. Dieselbe Überlegung kann in Bezug auf Ehrendelikte gemacht werden. Je nach dem, welche Form das befürchtete Ehrendelikt annimmt, ist eine Analogie mit schwersten Fällen von häuslicher Gewalt angebracht. Handelt es sich beispielsweise um eine befürchtete Tötung, so wird klar gegen das Recht auf Leben verstossen193. Zwangsabtreibung betrifft wiederum das Recht auf Leben des noch ungeborenen Kindes. Ausserdem ist frauenspezifische Verfolgung und Gewalt gegen Frauen immer auch als schwerer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von Frauen zu verstehen, die dem Zweck dient, die Herrschaft von Männern über Frauen herzustellen, aufrechtzuerhalten oder für andere Ziele auszunutzen194. 6.2 Verbot von Folter Das Folterverbot in Art. 3 EMRK besagt, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf. Das Verbot von Folter ist zudem in Art. 1 der Folterkonvention verankert und ist sowohl ein Teil des Völker-‐ gewohnheitsrecht als auch eine Norm des ius cogens195. Art. 7 UNO-‐Pakt II stimmt im Wortlaut mit Art. 3 EMRK überein und erwähnt zusätzlich, dass niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden darf. Gemäss Menschenrechtsausschuss ist das Ziel von Art. 7 UNO-‐Pakt II, die körperliche und seelische Integrität sowie die Würde des Menschen zu schützen. Besonders schwere Fälle von Gewalt gegen Frauen, auch wenn diese von privater Seite vorgenommen wurden, können demzufolge als Verletzung des Folterverbots angesehen werden196.
191 Als Ausnahme wird die durch ein Gericht verhängte Todesstrafe genannt. 192 Art. 6 Abs. 1 UNO-‐Pakt II. 193 Vgl. WEHLER-‐SCHÖCK, 210. 194 DIEREGSWEILER, 13. 195 BINDER, 296 f.
196 WEHLER-‐SCHÖCK, 212 f. Der Schutz vor Folter in Art. 3 EMRK gilt für jede Person, unabhängig von ihrem Verhalten, vgl. BESSON/KLEBER, Art. 3 CEDH, 10.
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So sind beispielsweise die Ausführungsmethoden einer Genitalverstümmelung mit dem Verbot von Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung nicht vereinbar 197 . Sie verletzen ausserdem die Würde der Betroffenen, die insbesondere durch Art. 7 UNO-‐Pakt II geschützt ist198. Die FGM stellt eine Form von Folter und erniedrigender Behandlung und eine Verletzung der menschlichen Würde dar199. Auch gemäss Bundesrat ist FGM als unmenschliche Handlung gemäss Art. 3 EMRK anzusehen. Somit darf eine betroffene Ausländerin nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden, wenn sie darlegen kann, dass ihr dort eine entsprechende Behandlung droht200. In der Schweiz wird die FGM unter dem Tatbestand der Verstümmelung von Art. 122 StGB subsumiert201. Auch Formen der häuslichen Gewalt können gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstossen. Insbesondere Vergewaltigungen gelten, gemäss Menschenrechtspraxis202, bezüglich der Intensität des Eingriffs als Folter und stellen deshalb, wenn die menschenrechtliche Verantwortlichkeit des Staates zu bejahen ist203, eine Verletzung des Verbots der Folter dar204. Auch geschlechtsdiskriminierende Gesetze können je nach Schwere der Sanktionsmassnahmen, welche auf den Verstoss gegen solche Gesetze folgen (wobei von Inhaftierung, über Schläge und Auspeitschung bis hin zu Steinigungen alles möglich ist), gegen die ius cogens-‐Normen des Verbots der Folter oder sonstiger unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung 205 verstossen. Ob gewisse Ausführungsmethoden von Zwangssterilisation, Zwangsabtreibungen und Geburtenregulationen allenfalls als medizinische oder wissenschaftliche Versuche qualifiziert werden können, womit sie gegen Art. 7 UNO-‐Pakt II verstossen würden, sei dahingestellt. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder Gruppe, die systematisch gegen Art. 3 EMRK verstossenden Massnahmen ausgesetzt sind, hebt die betroffene Person von der Allgemeinheit 197 BINDER, 325. 198 GOVINDJEE/TAIWO, 391. 199 Ibid., 391. 200 BRYNER, 2002, 1057. 201 Ibid., 2009, 1386.
202 Vgl. EGMR, Aydin c. Türkei, Urteil vom 25. September 1997, Rec. 1997-‐VI. 203 Vgl. BINDER, 337 ff.: So müssen die Staaten, gemäss geltenden Regeln des internationalen Menschenrechtsschutzes, sowohl die von Staatsorganen, als auch die von privaten Dritten ausgehenden Menschenrechtsverstösse verhindern, polizeilich und gerichtlich untersuchen und strafrechtlich ahnden. Dieses Prinzip der Verantwortlichkeit des Staates für die von nichtstaatlichen Dritten begangenen Menschenrechtsverletzungen findet sich unter anderem auch im CEDAW-‐Übereinkommen wieder. Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen entsteht, wenn ein Staat seinen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen ist. Somit kann auch privat verübte Gewalt an Frauen, gegen die der Staat keine angemessenen Präventiv-‐ oder Strafmassnahmen unternommen hat, als Folter qualifiziert werden. Ausserdem kann die menschenrechtliche Verantwortlichkeit für private Gewalt gegen Frauen auch aufgrund der Pflicht, allen Menschen ohne Diskriminierung den gleichen Schutz durch das Gesetz zu gewährleisten hergeleitet werden. 204 BINDER, 297. 205 Art. 7 UNO-‐Pakt II.
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ab206. Damit eine Tat jedoch als Verstoss gegen Art. 3 EMRK qualifiziert werden kann, spielen deren Dauer, die körperlichen und psychischen Konsequenzen, die Absicht des Täters, das verfolgte Ziel sowie die Umstände eine Rolle207. Um festzustellen, ob in einem konkreten Fall ein tatsächliches, konkretes und imminentes Risiko vorhanden ist, muss sowohl die allgemeine Situation des Zielstaates als auch die persönliche Situation der Betroffenen analysiert werden208. 6.3 Recht auf körperliche und geistige Gesundheit Gemäss Art. 12 Abs. 1 UNO-‐Pakt I sind die Vertragsstaaten verpflichtet, jedem das Recht auf das für ihn erreichbare Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit zu anerkennen. Art. 12 Abs. 1 CEDAW-‐Übereinkommen verlangt von den Vertragsstaaten, dass diese alle geeigneten Massnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau im Bereich des Gesundheitswesens treffen. Weibliche Genitalverstümmelung ist nicht nur ein bewusst zugefügter Akt der Gewalt gegen Frauen, sondern stellt eine schwere Diskriminierung gegen Frauen dar. Die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen der Genitalverstümmelung konstituieren eine Verletzung des Rechts auf körperliche und geistige Gesundheit. Mit Art. 124 StGB gibt es seit dem Inkrafttreten am 1. Juni 2012 einen eigenen Tatbestand für weibliche Genitalverstümmelung209. Damit genügt die Schweiz den Anforderungen von Art. 3 EMRK und Art. 7 UNO-‐Pakt II, welche angemessenen Schutz von Mädchen und Frauen vor solchen Praktiken fordern, da diese eine unmenschliche Behandlung und eine Menschenrechtsverletzung darstellen. Die Strafandrohung lehnt sich dabei an die Bestimmung über die schwere Körperverletzung an, Genitalverstümmelung gilt also als Offizialdelikt210. Der Sinn dieser eigenen Strafrechtsnorm bleibt allerdings umstritten211. Durch Geburtenregulation, Zwangssterilisierung und Zwangsabtreibung werden grundlegende Menschenrechte verletzt, so unter anderem das Recht auf Gesundheit212. Zwangssterilisation stellt einen schweren Eingriff in die physische Integrität einer Frau dar und hat mit grosser Wahrscheinlich auch Auswirkungen auf die psychische und psycho-‐sexuelle Integrität der betroffenen Person. Ein Vergleich mit der Menschenrechtsverletzung, wie sie im Falle einer weiblichen Genitalverstümmelung vorliegt, scheint hier angemessen.
206 Vgl. EGMR, Salah Sheekh c. Die Niederlande, Urteil vom 11. Januar 2007, Rec. 1948/04, §148 und EGMR,
Hirsi Jamaa et al. c. Italien, Urteil vom 23. Februar 2012, Rec. 27765/09, §119. 207 Vgl. EGMR, Gäfgen c. Deutschland, Urteil vom 30. Juni 2008, Rec. 22978/05, §65. 208 BESSON/KLEBER, Art. 3 CEDH, 9. 209 MONA, 121. 210 Ibid., 120 f. 211 Vgl. ibid., 141. 212 WHO, Involuntary Sterilization, 1.
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Das Recht auf Gesundheit spielt weiterhin auch in Bezug auf Ehrendelikte eine Rolle. Dies vor allem in Ländern, in welchen solche Delikte aufgrund der Hinnahme ihrer Beweggründe durch die nationalen Gerichte oft nicht angemessen bestraft werden213. 6.4 Recht auf Gleichheit und Prinzip der Nichtdiskriminierung Das Recht auf Gleichberechtigung von Frauen und Männern findet sich bereits in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen. In mehreren Artikeln wird ausgeführt, dass die Verwirklichung der Menschenrechte für alle, ohne Unterschied unter anderem des Geschlechts, das Ziel der Vereinten Nationen darstellt. Solche Gleichbehandlungsgebote und die damit einhergehenden Diskriminierungsverbote finden sich auch in der AEMR214. Auch Art. 14 EMRK besagt, „[d]er Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts (...) zu gewährleisten“. Dieses in Art. 14 EMRK enthaltene Diskriminierungsverbot stellt eine abhängige, autonome, subsidiäre und nicht-‐erschöpfende Bestimmung dar. Dieses Verbot bezieht sich also nur auf die in der EMRK enthaltenen Rechte und Freiheiten215. Dieselbe Bestimmung findet sich in UNO-‐ Pakt I216 und II217 wieder. Die Grundgedanken, die diesen Instrumenten zugrunde liegen, nämlich das Recht auf Gleichheit und das Prinzip der Nichtdiskriminierung, finden sich auch in Art. 1 CEDAW-‐Übereinkommen: „In diesem Übereinkommen bezeichnet der Ausdruck „Diskriminierung der Frau“ jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschliessung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau – ungeachtet ihres Zivilstands – im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder sonstigen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird.“ Art. 5 lit. a derselben Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, geeignete Massnahmen zu ergreifen, die einen Wandel der sozialen und kulturellen Verhaltensmuster von Mann und Frau zur Folge haben, wodurch die auf Vorurteilen oder stereotypischen Rollenverteilungen
213 BOGNUDA, 238. Als traditionelle Praktik mit schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen kann bspw. die sog. Brautverbrennung genannt werden, welche durch den Ehemann oder die angeheirateten Verwandten bei Nichtbezahlung der bei der Heirat vereinbarten Mitgift begangen wird, vgl. ibid., FN 1096. 214 KÖNIG, 83. Weitere internationale Konventionen die genannt werden, sind: die Konventionen der ILO über die Entgeltgleichheit von 1951 und über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf von 1958, das UNESCO-‐Übereinkommen gegen Diskriminierung im Erziehungswesen von 1960 sowie die Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau von 1952 und über die Staatsbürgerschaft der verheirateten Frau von 1957. 215 BESSON/KLEBER, Art. 14 CEDH, 56 f. 216 Art. 2 Abs. 1 UNO-‐Pakt I. 217 Art. 3 Abs. 1 UNO-‐Pakt II.
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basierenden Diskriminierungen beseitigt werden können 218 . Damit eine frauenspezifische Diskriminierung der Definition in Art. 1 des CEDAW-‐Übereinkommens entspricht, muss sie folgende drei Grundelement vereinen: „erstens eine Ungleichbehandlung, die an das Geschlecht anknüpft oder mit ihm begründet wird, zweitens einen damit verbundenen Nachteil für die betroffenen Frauen und drittens die Feststellung, dass die Ungleichbehandlung nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt und/oder dass sie unverhältnismässig ist“ 219 . Das CEDAW-‐ Übereinkommen wird jedoch vorrangig als entwicklungspolitisches Instrument für Frauen angesehen und nicht als klassisches Instrument zum Schutz der Menschenrechte220, was eine Erklärung dafür liefern dürfte, wieso sich die Auswirkungen dieses Übereinkommens in Grenzen halten. Auch auf nationaler Ebene gelten sowohl das Diskriminierungsverbot als auch das Gleichheitsgebot. Gemäss Art. 8 Abs. 1 BV sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Dieses Rechtsgleichheitsgebot in Abs. 1 bezieht sich sowohl auf Schweizer Bürgerinnen und Bürger als auch auf ausländische Personen221. Art. 8 Abs. 2 BV beinhaltet das Diskriminierungsverbot. Unter den aufgezählten Unterscheidungskriterien, die in sich ein grosses Diskriminierungs-‐ potential bergen, findet sich unter anderem auch das Geschlecht222. Die erzwungene Eingehung einer Ehe gilt als Menschenrechtsverletzung223 und verstösst unter anderem gegen das Recht auf Gleichheit zwischen Frauen und Männern224. Sie äussert sich insofern als frauenspezifisch diskriminierend, da Mädchen und Frauen die Träger der Familienehre sind. Weigern sie sich also, eine Zwangsheirat über sich ergehen zu lassen, bringen sie die Ehre ihrer ganzen Familie in Verruf, welche oft durch Ehrendelikte – die sich weder sachlich rechtfertigen lassen noch verhältnismässig ausfallen – wieder hergestellt werden muss. Ebenso gelten Gesetzesnormen, welche gezielt die Bewegungs-‐ und Versammlungsfreiheit von Frauen beschränken oder den Zugang zu sozialen Institutionen erschweren oder unmöglich machen, als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und verletzen somit nicht nur das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung und dadurch das Prinzip der Rechtsgleichheit225. In beiden Fällen besteht eine ans Geschlecht geknüpfte oder gebundene Diskriminierung, die sich insbesondere Ungleichbehandlung, die den betroffenen Frauen einen Nachteil einbringt und
218 Seit 1999 existiert ein Fakultativprotokoll zum CEDAW-‐Übereinkommen, dass Individualbeschwerde-‐
und Untersuchungsverfahren gegenüber Staaten, die das Protokoll akzeptiert haben, ermöglichen, vgl. KÖNIG, 85. Für weitere Ausführungen zum Individualbeschwerde-‐ und Untersuchungsverfahren, vgl. ibid., 94 ff. 219 Ibid., 87. 220 Ibid., 90. 221 BUSER, 1077. 222 Ibid., 1078. 223 MEIER, 241. 224 RATIA/WALTER, 13 f. 225 Vgl. Art. 2 Abs. 1 UNO-‐Pakt II.
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weder durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden kann, noch verhältnismässig scheint. Die Voraussetzungen von Art. 1 CEDAW-‐Übereinkommen sind demnach gegeben. 6.5 Recht auf Freiheit und Sicherheit Art. 5 Abs. 1 EMRK beschreibt das Recht jeder Person auf Freiheit und Sicherheit, welches nur durch rechtmässige Freiheitsentziehung beschränkt werden darf. Art. 5 EMRK betrifft jedoch Fälle von Inhaftierung und nicht von blosser Beschränkung der Bewegungsfreiheit226. Art. 9 Abs. 1 UNO-‐Pakt enthält eine ähnliche Formulierung: „Jedermann hat ein Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit. Niemand darf willkürlich festgenommen oder in Haft gehalten werden. Niemand darf seine Freiheit entzogen werden, es sei denn aus gesetzlich bestimmten Gründen und unter Beachtung des im Gesetz vorgeschriebenen Verfahrens.“ Das Recht auf Freiheit und Sicherheit kann als verletzt angesehen werden, wenn eine private Gewalthandlung die Verletzung der körperlichen Integrität einer Person zur Folge hat 227 . Gleichzeitig kann Gewalt gegen Frauen auch als schweren Eingriff in die persönliche Freiheit von Frauen verstanden werden, wenn dadurch ihre Unterlegenheit gegenüber Männern demonstriert oder aufrechterhalten wird228. Insbesondere in Bezug auf frauenspezifische diskriminierende Gesetzgebungen kann das Recht auf Freiheit und Sicherheit auch eine bedeutende Rolle spielen, wenn Frauen auf willkürliche Art und Weise strengeren Gesetzen unterworfen sind als Männer. Ausserdem stellt die Selbstbestimmung einen wesentlichen Bestandteil der persönlichen Freiheit dar, welche insbesondere bei Geburtenregulationen oder auch Zwangsabtreibungen verletzt wird. 6.6 Gedanken-‐, Gewissens-‐ und Religionsfreiheit und Meinungsäusserungsfreiheit Gemäss Art. 9 Abs. 1 EMRK besitzt jede Person das Recht auf Gedanken-‐, Gewissens-‐ und Religionsfreiheit. Dieses Recht beinhaltet die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln und auch sie einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat zu bekennen229. Diese Freiheit darf im Sinne von Art. 9 Abs. 2 EMRK nur dann eingeschränkt werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Art. 18 UNO-‐Pakt II stimmt sinngemäss mit Art. 9 EMRK überein.
226 BESSON/KLEBER, Art. 5 CEDH, 18. 227 WEHLER-‐SCHÖCK, 210. 228 DIEREGSWEILER, 13.
229 Art. 9 Abs. 1 EMRK.
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Art. 19 UNO-‐Pakt II enthält das Recht von jedermann auf unbehinderte Meinungsfreiheit und auf freie Meinungsäusserung. Auch hier sind die möglichen Einschränkungen an strikte Kriterien gebunden230. Der Inhalt ist mit dem von Art. 10 EMRK soweit deckungsgleich. Dieselben Garantien enthält auch die BV. So schützt sie in Art. 15 BV die Glaubens-‐ und Gewissensfreiheit und in Art. 16 BV die Meinungs-‐ und Informationsfreiheit. Wie dies bereits in Bezug auf das Recht auf Freiheit und Sicherheit gesagt wurde, können diskriminierende Gesetzestexte – insbesondere religiöse Normen, die speziell von Frauen eingehalten werden müssen – auch gegen Gedanken-‐, Gewissens-‐ und Religionsfreiheit und auch auf das Recht der Meinungsäusserungsfreiheit jener Frauen verstossen, welche sich aus politischen, religiösen oder anderen Gründen solchen Normen widersetzen231.
7. Verfahren Obwohl das Asylrecht in der Schweiz primär Bundesrecht darstellt, so fällt doch die Verantwortlichkeit für den Vollzug der Asyl-‐ und Wegweisungsentscheide des SEM den Kantonen zu232. Sowohl die FK als auch insbesondere die bilateralen Verträge mit der EU, vor allem das Dublin-‐Assoziierungsabkommen, gestalten den völkerrechtlichen Rahmen in Bezug auf das Asylverfahren in der Schweiz. Weiterhin gilt es auch hier die menschenrechtlichen Bestimmungen der EMRK233, des UNO-‐Pakts II und der AEMR234 zu beachten. Nachfolgend wird ein grober Überblick über das Asylverfahren im Schweizer Flüchtlingsrecht gegeben. Dabei werden sowohl das humanitäre Visum als auch das der Vergangenheit angehörige Botschaftsverfahren aufgegriffen und aufgezeigt, inwiefern insbesondere die Abschaffung des letzteren sich auf frauenspezifische Verfolgung auswirkt. Ausserdem werden drei Teilaspekte des Asylverfahrens genauer beleuchtet, die im Zusammenhang mit frauenspezifischen Fluchtgründen stehen. 7.1 In der Schweiz Eingeleitet wird das Asylverfahren mit dem Einreichen des Asylgesuchs, welches sowohl mündlich, schriftlich oder in Zeichensprache erfolgen kann235. Gemäss Art. 18 AsylG gilt jede Äusserung, mit welcher eine Person zu erkennen gibt, dass sie die Schweiz um Schutz vor Verfolgung bittet, bereits als Asylgesuch. Ein solches kann, gestützt auf Art. 19 AsylG, bei der
230 Art. 19 Abs. 3 UNO-‐Pakt II. 231 BINDER, 286 ff. 232 Art. 121 Abs. 1 BV. Vgl. CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 225 f. 233 Ibid., 226. 234 Wobei diese keine rechtliche Bindungswirkung entfaltet, vgl. BESSON/BREITENMOSER/SASSÒLI/R.ZIEGLER, 304, P. 12.4.2. 235 ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 59.
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Grenzkontrolle am Flughafen236, an einem geöffneten Grenzübergang oder in einem Empfangs-‐ und Verfahrenszentrum eingereicht werden. Während der Vorbereitungsphase im Empfangs-‐ und Verfahrenszentrum wird die asylsuchende Person erkennungsdienstlich registriert und dazu aufgefordert, ihre Reise-‐ und Identitätspapiere abzugeben. Auf ein erstes beratendes Vorgespräch folgt die summarische Befragung, in welcher die asylsuchende Person Fragen zu ihrer Person, ihrem Fluchtweg und ihren Fluchtgründen beantwortet. Dieses Gespräch dient den Behörden als Entscheidgrundlage für das weitere Verfahren. In der Untersuchungsphase findet sodann eine ausführliche Anhörung der asylstellenden Person statt237. Das Protokoll dieser ausführlichen Anhörung bildet meist die einzige Grundlage bei der Entscheidung über die Asylgewährung238. Gegen den erstinstanzlichen ablehnenden Entscheid des SEM kann sich der abgewiesene Asylsuchende gemäss Art. 108 AsylG beim Bundesverwaltungsgericht beschweren, welches ein endgültiges und sofort rechtskräftiges Urteil erlässt239. Seit Anfang 2014 wird zusätzlich zum normalen Asylverfahren ein sogenanntes beschleunigtes Verfahren in Bundeszentren in einem Testbetrieb in Zürich erprobt240. 7.2 Im Ausland Im Rahmen eines dringlichen Bundesbeschlusses vom 28. September 2012 wurde die Möglichkeit, bei einer Schweizer Vertretung oder auf einer Schweizer Botschaft im Ausland ein Asylgesuch einzureichen, abgeschafft241. Die Schweiz war der einzige Staat in Europa, der über ein solches Verfahren verfügte242, wodurch eine ungleiche Lastenverteilung der Asylgesuche zu Ungunsten der Schweiz befürchtet wurde, was schlussendlich zum Aufheben des sogenannten Botschaftsverfahren führte243. Vorerst wurde dieses Aufheben auf drei Jahre, das heisst bis zum 29. September 2015 befristet. Eine dauerhafte Abschaffung des Botschaftsverfahrens muss in einem ordentlichen Verfahren vom Parlament beschlossen werden244. Am 26. Februar 2014 wurde allerdings ein Gesetzesentwurf durch den Bundesrat verabschiedet, welcher die Frist der Aufhebung auf weitere fünf Jahre, das heisst bis zum 28. September 2019, ausweitet245. 236 Für weitere Ausführungen zum Flughafenverfahren, vgl. CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 301 ff. 237 Vgl. Art. 29 AsylG. 238 SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 383 ff. 239 Ibid., 394 f. 240 Vgl. ibid., 398 ff. und CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 306 ff. 241 AS 2012 5359; vgl. dazu BBI 2010 4455, 4467 f. 242 Diese
Möglichkeit, ein Asylgesuch bereits im Ausland zu stellen, war bereits Teil des ersten Asylgesetzes vom 5. Oktober 1979 und ermöglichte dadurch die Ausreise von Personen aus Ländern, die während dem Kalten Krieg und den Ereignissen in den früheren südamerikanischen Diktaturen keinen Schutz boten, vgl. BBI 2010 4455, 4467. 243 Man erhoffte sich, zusätzlich zu einer Niedrighaltung der Asylgesuche, eine Senkung des administrativen Aufwands, vgl. BBI 2010 4455, 4468. 244 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 228. 245 BBI 2014 2103; BBI 2014 2087, 2089.
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Dies stiess allerdings auch auf Kritik. Unter anderem riet das UNHCR in verschiedenen Stellungnahmen von der Abschaffung des Botschaftsverfahrens ab246 und bekräftigte, dass die Änderung des Asylverfahrens keine wirkliche Entlastung für das Schweizerische Asylsystem zur Folge hätte247. Die Änderung des Asylverfahrens wurde trotzdem durchgeführt. Zurück blieb, zumindest teilweise als Kompensation für das abgeschaffte Botschaftsverfahren
248
, lediglich die
Möglichkeit für Personen, die einer unmittelbaren, ernsthaften und konkreten Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sind, auf einer Schweizer Botschaft ein sogenanntes humanitäres Visum zu beantragen249. Das Botschaftsverfahren bestand aus einer Anhörung der asylsuchenden Person im Ausland, bei Bedarf unter Beiziehung eines Dolmetschers. Das bei der Anhörung geführte Protokoll wurde anschliessend zusammen mit einem schriftlichen Asylgesuch und anderen Unterlagen an das SEM weitergeleitet, welches über eine Einreisebewilligung entschied250. Für diese Entscheidung massgebend waren, nebst der erforderlichen Gefährdung im Sinne von Art. 3 AsylG, die Beziehungsnähe zur Schweiz oder zu anderen Staaten, die Möglichkeit der Schutzgewährung durch einen anderen Staat, die praktische Möglichkeit und objektive Zumutbarkeit zur anderweitigen
Schutzsuche
251
sowie
die
voraussichtlichen
Eingliederungs-‐
und
Assimilationsmöglichkeiten der asylstellenden Person252. Bei Erhalt einer Einreisebewilligung aufgrund Erfüllen dieser restriktiven Voraussetzungen durfte die asylstellende Person legal in die Schweiz flüchten und in Sicherheit das Asylverfahren durchlaufen253. Bei dem Verfahren des humanitären Visums verhält es sich im Prinzip gleich wie beim Botschaftsverfahren. Auch hier wird der Visumsantrag bei einer Schweizer Botschaft eingereicht und die Auslandsvertretung prüft, ob die Voraussetzungen beziehungsweise die humanitären Gründe gegeben sind. Lediglich im Falle von Zweifeln kann die Auslandsvertretung das Gesuch vom SEM überprüfen lassen254. Humanitäre Gründe liegen vor, wenn die betroffene Person an Leib und Leben bedroht ist255 und sich somit in einer besonderen Notsituation befindet, die ein
246 Vgl. UNHCR, Stellungnahme 2010, 4 und auch UNHCR, Stellungnahme 2013, 1 f. 247 UNHCR, EJPD-‐Bericht, 5.
248 Vgl. CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 303. 249 Vgl. AMARELLE, Interpellation. 250 ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 64. 251 Bspw. bei einer NGO zum Schutz der Frauen, vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐4101/2015
vom 14. August 2015, E. 5.6. 252 Vgl. EMARK 2004/20, E. 3. b). 253 Vgl. EMARK 1997/15, E. 2. b). 254 Art. 2 Abs. 4, Art. 3 Abs. 4, Art. 10 Abs. 3 lit. b, Art. 11b Abs. 2 und Art. 12 Abs. 4 VEV. 255 Vgl. DJS-‐JDS/SBAA/Sosf, Asylgesetzrevisionsanalyse, 4.
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behördliches Eingreifen zwingend erforderlich macht256. Seit der Einführung des humanitären Visums bis Mitte Dezember 2013 wurden lediglich 34 Visa aus humanitären Gründen erteilt257. Zusätzlich zu den nur schwer zu erweisenden humanitären Gründen gesellt sich eine weitere Schwierigkeit in jenen Fällen, die Länder ohne Schweizer Botschaft betreffen. Vielen Menschen bleibt dort nur die Möglichkeit, in angrenzende Drittstaaten zu flüchten. Asylgesuche aus ebensolchen Drittstaaten werden jedoch grundsätzlich abgelehnt, weil davon ausgegangen wird, dass für die asylstellende Person keine Gefährdung mehr besteht258. Eine legale Einreise in die Schweiz scheint somit kaum mehr möglich und wirklich Bedrohten wird nicht immer der benötigte Schutz zugesichert. Besonders eindrücklich illustriert werden diese Schwierigkeiten, die vor allem auch Frauen den Zugang zum Asylverfahren erschweren, anhand des Falles einer 23-‐jährigen Eritreerin, die 1997 zuerst nach Äthiopien und von dort aus 2008 nach Libyen floh, bevor sie sich schlussendlich in einem Flüchtlingscamp im Sudan aufhielt. Auf ihrer Suche nach Schutz in diesen verschiedenen afrikanischen Ländern verlor sie ihre Identitätspapiere, wurde unter unmenschlichen Verhältnissen gefangen gehalten und mehrmals sexuell missbraucht259. Ihr Asylgesuch in der Schweiz wurde jedoch sowohl vom SEM als auch vom BVGE abgelehnt, mit der Begründung, „dass die Beschwerdeführerin insgesamt nicht aufzuzeigen vermochte, dass sie auf die Schutzgewährung durch die Schweiz angewiesen sei, beziehungsweise ihr gerade die Schweiz den erforderlichen Schutz gewähren müsse und dass der Beschwerdeführerin der weitere Verbleib im Sudan nach dem Gesagten zuzumuten ist“260. Gemäss SBAA scheint ein solcher Verbleib jedoch nicht zumutbar, da der Sudan Frauen keinen effektiven Schutz gewährt. Insbesondere alleinstehende Frauen sind einem erhöhten Risiko von Zurückführung, Verschleppung, Inhaftierung oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt261. Das Botschaftsverfahren war für Frauen also insofern von spezieller Bedeutung, da diese oft weder die finanziellen noch die sozialen Möglichkeiten besitzen, eine Flucht ins Ausland zu organisieren262. Dass flüchtende Personen tatsächlich ein Land erreichen, in welchem sie ein Asylgesuch stellen können, entspricht eher der Ausnahme als der Norm263. Ausserdem mussten sich Frauen aufgrund des Botschaftsverfahrens nicht den oft extremen Risiken einer Flucht aussetzen. 256 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 304. Vgl. SEM, Weisung Nr. 322.126, 2. 257 Vgl. BBI 2014 2087, 2093. Der Bundesrat scheint jedoch keine Angst davor zu haben, humanitäre Visa
auch im grossen Stile zu gewähren. So hat er beschlossen, dass 1000 Schutzbedürftige aus Syrien ein solches humanitäres Visum erhalten sollen, vgl. https://www.bfm.admin.ch/bfm/de/home/asyl/syrien .html, zuletzt besucht am 6. August 2015. 258 SBAA, Humanitäres Visum. 259 Vgl. SBAA, Fall 218. 260 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐5408/2012 vom 10. Januar 2013. 261 Vgl. SBAA, Fall 218. 262 Vgl. CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 303. 263 BASSEL, 116.
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7.3 Frauenspezifische Besonderheiten im Asylverfahren a. Nichteintretensgründe Seit dem 1. Februar 2014 prüft das SEM grundsätzlich alle Asylgesuche auch auf ihren Inhalt264. Die verschiedenen Situationen, in denen das SEM nicht auf ein Asylgesuch eintritt265, werden in Art. 31a AsylG266 geregelt. Einige der Nichteintretensgründe finden ihren Ursprung im Dublin-‐ Assoziierungsabkommen, welches seit dem 1. Januar 2014 für die Schweiz in Kraft getreten ist 267 . Da diese auf den Art. 7 bis 17 des Dublin-‐Assoziierungsabkommen basierenden Nichteintretensgründe nicht grundsätzlich frauenspezifische Probleme im Asylverfahren hervorrufen, wird in der vorliegenden Arbeit nicht weiter auf sie eingegangen268. Gemäss der sogenannten Drittstaatenregel können in einem beschleunigten Asylverfahren asylsuchende Personen, die den notwendigen Schutz anderswo finden können, in einen sicheren Drittstaat weggewiesen werden269. Ein Drittstaat gilt als verfolgungssicher, wenn die politische Lage auch mittelfristig stabil zu sein scheint und die Menschenrechte respektiert werden270, wenn auch nur in Teilgebieten des betroffenen Staates271. Und trotzdem sind nicht alle Staaten, die objektiv betrachtet genügend Schutz vor Verfolgung bieten, für Frauen auch tatsächlich sicher272. Dass die Realität nicht immer mit der Einschätzung des tatsächlichen Schutzes einer Person in einem Drittstaat übereinstimmt, lässt sich auch auf Rückführungen gemäss Dublin-‐ Assoziierungsabkommen übertragen 273 . Umso gewichtiger scheinen in solchen Situationen Entscheide des EGMR, der von den Schweizer Asylbehörden vor einer Rückführung einer Familie nach Italien die Einholung einer Zusicherung verlangt, dass eine menschenwürdige und gerechte Behandlung der Familie gewährleistet werden kann274. 264 SBAA, Asylverfahren. Zuvor musste geprüft werden, ob ein Nichteintretensgrund vorlag, bevor das
Asylgesuch an das SEM weitergeleitet wurde. Lag ein solcher Nichteintretungsgrund vor, führte dies zu einem Nichteintretensentscheids, vgl. ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 102. 265 Das SEM tritt in solchen Situationen gar nicht auf ein Asylgesuch ein, sondern entscheidet nach der summarischen Befragung mit einer lediglich summarischen Begründung gemäss Art. 37a AsylG. Eine materielle Prüfung der Flüchtlingseigenschaft findet also nicht statt, vgl. SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 387 f. 266 BBI 2010 4455, 4465. 267 SBAA, Asylverfahren. Vgl. bspw. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐739/2015 vom 25. Juni 2015. 268 Für weitere Ausführungen zur Dublin-‐III-‐Verordnung, s. BREITENMOSER/WEYENETH, 318 ff. 269 Art. 31a Abs. 1 Bst. a AsylG i.V.m. Art. 5 Abs. 1 und 6a Abs. 2 Bst. b AsylG. Vgl. BBI 2002 6845, 6849. 270 BBI 2010 4455, 4513. 271 Ob die Bezeichnung von Teilgebieten als verfolgungssicher mit dem Gesetzestext, der von Staaten spricht, vereinbar ist, sei dahingestellt, vgl. ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 135. 272 Vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐2002/2010 vom 24. Juni 2010: Wegweisung einer Asylsuchenden nach Ungarn. 273 Vgl. bspw. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐4751/2013 vom 14. November 2013: Wegweisung einer Asylsuchenden nach Italien. 274 EGMR, Tarakhel c. Schweiz, Urteil vom 4. November 2014, Rec. 29217/12. Gemäss BVGE bezieht sich dieser Entscheid des EGMR grundsätzlich darauf, „dass das Fehlen von systematischen Mängeln die Gefahr nicht ausschliesst, dass dieses System einer grossen Zahl von Asylsuchenden vorenthalten wird, weil es nicht die erforderliche Kapazität aufweist, um grosse Zuströme von Asylsuchenden bewältigen zu können. Es muss folglich stets im Einzelfall eine Prüfung des „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK im Falle einer Überstellung stattfinden“, vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐739/2015 vom 25. Juni 2015, E. 8.3.
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In Bezug auf frauenspezifische Verfolgung scheint die gewissenhafte Abklärung des tatsächlichen Schutzes der Betroffenen bei einer Überführung in einen Drittstaat von zentraler Bedeutung. Besonders alleinstehende Frauen befinden sich oft in kritischen Situationen, was das Zurechtfinden in einer Gesellschaft anbelangt. b. Glaubhaftmachung Wenn keine Nichteintretensgründe vorhanden sind, wird im Asylverfahren geprüft, ob die vorgelegten Gründe der Flucht nachweisbar oder zumindest glaubhaft sind, damit die Flüchtlingseigenschaft gegeben ist275. Gemäss Art. 7 Abs. 2 AsylG gilt die Flüchtlingseigenschaft als glaubhaft gemacht, wenn das SEM „ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält“276. Im Gegensatz dazu gelten insbesondere Vorbringen als unglaubhaft, „die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden“277. Die Schilderungen einer asylstellenden Person während der Befragung sollten also möglichst detailliert und präzise sein, vage Formulierungen erscheinen oft unglaubwürdig278. Asylgesuche werden von der ersten Instanz oft aufgrund als unglaubwürdig qualifizierten Angaben oder Aussagen abgelehnt279. In vielen Fällen ist jedoch das Bundesverwaltungsgericht der Meinung, dass die Schilderungen sehr wohl ausführlich und abschliessend erfolgten und von hinreichender Substanz seien280. Bereits während der Erstbefragung wird erwartet, dass die von der asylstellenden Person gemachten Angaben möglichst detailliert sind. Dies ist insbesondere bei traumatisierten und unter enormen emotionalem Stress stehenden Frauen problematisch281. Die Erinnerung an solche Erlebnisse kann oft nicht ohne weiteres detailliert und fehlerfrei wiedergegeben werden282. Zusätzlicher Druck erzeugt die Verstossung einer missbrauchten Frau durch die eigene Familie und die Gesellschaft, was die Betroffenen meist daran hindert, überhaupt über 275 Vgl. ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 151. 276 Was der Fall ist, wenn die Vorbringen genügend substantiiert, in sich schlüssig und plausibel sind, sich
nicht in vagen Schilderungen erschöpfen, nicht in wesentlichen Punkten widersprüchlich sind oder es nicht an der inneren Logik fehlt, als auch wenn sie nicht den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung widersprechen, vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐6466/2014 vom 2. Juli 2015, E. 5.1. 277 Art. 7 Abs. 3 AsylG. Für weitere Ausführungen zu den verschiedenen Elementen der Glaubhaftigkeit, s. KÄLIN, Asylverfahren, 304 ff. 278 Vgl. ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 163. 279 Meistens handelt es sich um offen gebliebene Ungereimtheiten, vgl. bspw. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐5327/2009 vom 26. März 2010. 280 Vgl. bspw. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐1387/2010 vom 15. Februar 2011, E. 4.2. oder auch EMARK 1996/16, E. 3. f). 281 Erlebte Missbrauchssituationen äussern sich unter anderem in schweren Depressionen, Scham, Schuldgefühlen, Verlust des Selbstwertgefühls und Vertrauensverlust, vgl. UNHCR, Reproductive Health, 37. Bei der Befragung durch die Behörden gilt es zuerst, eine Vertrauens-‐ und Geborgenheitsbasis zu schaffen, vgl. BRYNER, 2009, 1383. 282 So wurde bspw. wissenschaftlich belegt, dass vergewaltigte Frauen oft erst im Nachhinein über ihre traumatischen Erlebnisse berichten können, vgl. GWERDER, 118. Vgl. bspw. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐6466/2014 vom 2. Juli 2015, E. 5.7.
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ihre Erlebnisse zu sprechen283. Um eine sekundäre Viktimisierung zu vermeiden, sollte im Rahmen der Möglichkeiten auf eine erneute Schilderung der Ereignisse der asylstellenden Person verzichtet werden284. Aufgabe der Asylbehörden ist es, eine Gesamtwürdigung aller Angaben vorzunehmen. Diese sollte auch die länderspezifischen Gegebenheiten des Heimatlandes des Asylbewerbers und die allfälligen Kommunikationsschwierigkeiten während einer Befragung miteinschliessen285. c. Befragung durch eine Person des gleichen Geschlechts Asylstellende Frauen sind in der Befragung teilweise zurückhaltend, wenn diese von einem männlichen Befrager durchgeführt wird. Diese Zurückhaltung kann verschiedene Gründe haben: Je nach Kultur sind es sich Frauen nicht gewöhnt, gegenüber ihnen unbekannten Personen persönliche Details zu erzählen – umso weniger, wenn diese unbekannte Person ein Mann ist – oder sie haben in ihrem Heimatstaat schlechte Erfahrungen mit männlichen Beamten gemacht. Stammen die betroffenen Frauen aus Ländern mit besonders starkem Ehrenkodex, so fällt es ihnen meist schwer, über die erfahrene sexuelle Gewalt zu sprechen, da sie die negativen Reaktionen ihrer männlichen Verwandten fürchten. Zusätzlich haben solche Frauen eine Tendenz, die Aussagen ihrer Ehemänner oder Väter zu übernehmen, und somit die eigenen Erfahrungen während der Befragung nicht genügend einzubringen286. Art. 5 AsylV 1 enthält zuerst das Recht eines jeden Familienangehörigen oder Ehepartners auf eine separate Befragung. In Bezug auf frauenspezifische Bedürfnisse noch wichtiger ist jedoch Art. 6 AsylV 1, welcher besagt, dass die Befragung von einer Person des gleichen Geschlechts durchgeführt wird, wenn konkrete Anzeichen sexuellen Missbrauchs vorliegen oder die generelle Situation im Heimatstaat auf eine solche Verfahrensweise schliessen lässt287. Es scheint, als seien den frauenspezifischen Fluchtgründen während den Befragungen im Asylverfahren genügend Rechnung getragen, sofern diese Bestimmungen auch eingehalten werden.
UNHCR, Sexual and Gender-‐Based Violence, 24. Diesen interkulturellen und psychologischen Kommunikationsschwierigkeiten bei einer Befragung Beachtung zu schenken, ist dementsprechend von grösster Wichtigkeit, vgl. KÄLIN, Asylverfahren, 319. 284 Vgl. UNHCR, Sexual and Gender-‐Based Violence, 30. 285 ILLES/SCHREPFER/SCHERTENLEIB, 162. 286 KÄLIN, Gender-‐related Persecution, 113. 287 S. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐739/2015 vom 25. Juni 2015, E. 7.3: „Nach der Bestimmung von Art. 6 AsylV 1 sollte das Prinzip des gleichen Geschlechts bei Hinweisen auf geschlechtsspezifische Verfolgung nach Möglichkeit auch bei der Auswahl der Personen, die zum Dolmetschen und Protokollführen eingesetzt werden, beachtet werden“. 283
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8. Rechtsfolgen frauenspezifischer Verfolgung 8.1 Asyl Asylsuchende Personen, welchen die Flüchtlingseigenschaft zukommt, können nicht ausländerrechtlich weggewiesen werden oder strafrechtlich an den Verfolgungsstaat ausgeliefert werden 288 . Dieses sogenannte flüchtlingsrechtliche Rückschiebungsverbot gilt provisorisch auch für Personen, deren Asylgesuch noch nicht rechtskräftig beurteilt worden ist289 . Das Prinzip des Non-‐Refoulement gewährleistet lediglich einen Mindestschutz 290 . Die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat somit nicht automatisch eine Asylgewährung zur Folge und es besteht auch kein völker-‐ oder verfassungsrechtlicher Anspruch darauf. Wird jedoch Asyl durch den behördlichen Entscheid gewährt, so kommt dem anerkannten Flüchtling der Asylstatus zu, welcher ihm und seinen Familienangehörigen vielerlei Rechte einräumt291. Erfüllt also eine Person die Flüchtlingseigenschaft und liegt kein Asylausschlussgrund vor, so wird ihr Asyl gewährt292. 8.2 Wegweisung Wenn sich eine asylstellende Person als „asylunwürdig“ herausstellt293, wird ihr Asylgesuch abgelehnt und die betroffene Person wird gemäss Art. 44 Abs. 1 AsylG weggewiesen, sofern keine Vollzugshindernisse bestehen 294. 8.3 Vorläufige Aufnahme Ist der Vollzug der Weg-‐ oder Ausweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, wird die asylstellende Person gemäss Art. 83 Abs. 1 AuG vorläufig aufgenommen. Die vorläufige Aufnahme wird der Person, die diesen subsidiären Schutz erhält, und ihren Familienangehörigen bis zum Wegfall der Vollzugshindernisse gewährt295. Der Vollzug gilt als nicht möglich, „wenn die Ausländerin oder der Ausländer weder in den Heimat-‐ oder in den Herkunftsstaat noch in einen Drittstaat ausreisen oder dorthin gebracht werden kann“296. Als unzulässig gilt ein Vollzug, „wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-‐, Herkunfts-‐ oder in einen 288 Vgl. Art. 33 Abs. 1 FK, Art. 5 AsylG und Art. 25 Abs. 2 BV. Es sei denn, ein anerkannter Flüchtling stellt eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Das flüchtlingsrechtliche Rückschiebungsverbot greift in solchen Situationen nicht mehr, es ist also nicht absolut, vgl. SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 375. 289 Ibid., 375. 290 ROEDER, 435. 291 SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 376. Vgl. Art. 51 Abs. 1 AsylG. Für weitere Ausführungen zu den verschiedenen Rechten eines anerkannten Flüchtlings, vgl. bspw. SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 401 ff. 292 CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 326. 293 D.h. wenn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben sind, wenn Ausschlussgründe vorhanden sind oder wenn ein Nichteintretensentscheid vorliegt. 294 Art. 44 AsylG i.V.m. Art. 83 und 84 AuG. Vgl. CARONI/GRASDORF-‐MEYER/OTT/SCHEIBER, 327 ff. 295 SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 379. 296 Art. 83 Abs. 2 AuG.
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Frauenspezifische Verfolgung Drittstaat
entgegenstehen“
297
.
Hier
greift
Janine Sert das
sogenannte
menschenrechtliche
Rückschiebungsverbot, das weiter gefasst ist als sein flüchtlingsrechtliches Pendant und auf den Normen der UNO-‐Folterkonvention und der EMRK gründet298. Dieses Non-‐Refoulement Gebot, welches als Teil des zwingenden Völkerrechts ausnahmslos gilt, schützt jede in der Schweiz anwesende ausländische Person davor, Folter oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt zu werden299. Schliesslich gilt ein Vollzug als nicht zumutbar, wenn die betroffenen Personen „in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage im Heimat-‐ oder Herkunftsstaat konkret gefährdet sind“300. In Bezug auf frauenspezifische Verfolgung und im Fall einer Verneinung der Flüchtlingseigenschaft wird meist lediglich geprüft, ob eine Wegweisung für die betroffene Person zumutbar ist301. Die Überprüfung der Zumutbarkeit einer Aus-‐ oder Wegweisung hat allerdings grundlegende Konsequenzen für die abgewiesene Person. Darum müssen sämtliche wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Umstände bei dieser Überprüfung berücksichtigt werden302.
9. Fazit Ein ausführliches Beispiel der jüngeren Rechtsprechung einer Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund frauenspezifischer Verfolgung findet sich im Urteil vom Bundesverwaltungsgericht vom 6. August 2014303. In diesem Urteil wird die begründete Furcht vor frauenspezifischer Verfolgung unter anderem aufgrund möglicher Vergewaltigung und weiblicher Genitalverstümmelung geprüft und bejaht, indem das BVGE eine umfassende Analyse der Situation innerhalb des Herkunftsstaates der Antragstellerin vorlegt304. Frauenspezifische Fluchtgründe sind nach wie vor ein aktuelles Problem der internationalen Migrations-‐ und Asylpolitik. Obwohl das Asylrecht im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen im Herbst 2015 in den Medien stark thematisiert wird, finden Berichterstattungen zu frauenspezifischen Fluchtthemen noch immer höchst selten den Weg an die Öffentlichkeit. Die Wichtigkeit des besonderen Schutzes von Frauen scheint noch nicht ganz bis zu den zuständigen Behörden durchgedrungen zu sein. Und obwohl das internationale Migrationsrecht eine solide 297 Art. 83 Abs. 3 AuG. 298 Vgl. Art. 3 Folterkonvention und Art. 3 EMRK. 299 SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, 375 f. Gemäss EGMR muss die Beschwerdeführerin eine konkrete Gefahr –
real risk – nachweisen oder glaubhaft machen können, dass sie im Fall einer Rückschiebung Folter oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt sein würde, vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-‐ 1820/2014 vom 19. August 2015, E. 6.1.2. 300 Art. 83 Abs. 4 AuG. 301 Dadurch wird die Asylrelevanz meist von vornherein verneint, was für die betroffenen Frauen zu einer gravierenden rechtlichen Benachteiligung führt, da ihnen dadurch auch die mit der Asylanerkennung einhergehende umfassend gesicherte Rechtsstellung vorenthalten wird, vgl. BINDER, 502. 302 SCHEFER/SMID, 14. 303 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-‐1425/2014 vom 6. August 2014. 304 Ibid., E. 5.3 ff.
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Frauenspezifische Verfolgung
Janine Sert
rechtliche Basis bietet um marginalisierten Bevölkerungsgruppen Schutz zu bieten, können nur sehr langsame Fortschritte verzeichnet werden. Dies wirft die Frage auf, ob es am politischen Willen fehlt. Dieser ist unverzichtbar, um die fortbestehenden Probleme und Unklarheiten anzupacken und die notwendigen Instrumente zur Verfügung zu stellen, um effektive Massnahmen in der Praxis umzusetzen305. Weder FK noch AsylG erwähnen Geschlecht als Asylgrund explizit. Die Verpflichtung in Art. 3 Abs. 2 letzter Satz AsylG, den frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung zu tragen, erweitert die Definition der Flüchtlingseigenschaft bewusst nicht. Zu gross war die Angst der Gesetzesgeber vor einer allfälligen Flüchtlingswelle, welche über die Schweiz hereinbrechen könnte, wenn die Tragweite des Flüchtlingsbegriffs ausgeweitet würde306. Damit wird allerdings die Situation der frauenspezifischen Fluchtgründe nur oberflächlich erwähnt und nicht klar geregelt. In der Praxis wird die Flüchtlingseigenschaft jedoch auch Frauen anerkannt, welche Verfolgungsmotive geltend machen, die teilweise ausschliesslich auf dem Geschlecht basieren. Auch das UNHCR betont, dass – obwohl das Geschlecht an und für sich nicht in der Definition der Flüchtlingseigenschaft erwähnt wird – es allgemein akzeptiert ist, dass geschlechtsspezifische Verfolgung existiert und die FK somit auch geschlechtsspezifische Forderungen miteinschliesst, womit ein dafür zusätzlicher Asylgrund als nicht nötig erscheint307. Um allfällige Unklarheiten definitiv aus dem Weg zu schaffen, wäre es allerdings am einfachsten, das Geschlecht als eines der Verfolgungsmotive im Sinne von Art. 3 AsylG aufzunehmen. Ausserdem würde das Verfolgungsmotiv Geschlecht nicht nur Frauen eine rechtliche Grundlage für den Schutz vor Verfolgung bieten, sondern auch LGBT-‐Personen. Diese Personengruppe, welche zurzeit auch im Verfolgungsmotiv der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe aufgefangen wird, bekommt von internationaler Seite her immer mehr Aufmerksamkeit. Wie lange das Geschlecht als Verfolgungsmotiv noch vermieden werden kann, sei dahingestellt. Im Asylverfahren, insbesondere bei den Befragungstechniken, scheint den frauenspezifischen Fluchtgründen und sonstigen Bedürfnissen allerdings genügend Rechnung getragen zu werden. Bei der Beurteilung von Asylgesuchen, die auf frauenspezifischer Verfolgung basieren, scheint das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich sehr fair und auch nachsichtiger als die erste Instanz. Abschliessend gilt zu sagen, dass Personen nicht nur aufgrund ihres Geschlechts zu einer marginalisierten Gruppe gehören können, sondern dass eine Marginalisierung auch andere Bevölkerungsgruppen betreffen kann, so zum Beispiel Kinder, ältere Menschen oder Personen
305 BHABHA, 274. 306 BBI 1996 II 1 ff., 40.
307 ROEDER, 440. D.h., dass gemäss UNHCR jedes der in Art. 1a FK genannten Merkmale geschlechtssensibel ausgelegt werden kann, vgl. BUCHERER, 175.
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mit einem Handicap308. Diese werden mehr oder weniger stark im Migrationsrecht diskutiert. Der Flüchtlingsbegriff befindet sich also in einem notwendigen, stetigen Wandel, um den neu aufkommenden schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen angemessenen Schutz gewähren zu können.
308 BHABHA, 245 f.
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Selbständigkeitserklärung Ich bezeuge mit meiner Unterschrift, dass meine Angaben über die bei der Abfassung meiner Arbeit benützten Hilfsmittel sowie über die mir zuteil gewordene Hilfe in jeder Hinsicht der Wahrheit entsprechen und vollständig sind. Ich habe § 27 der MLawO gelesen und bin mir der Konsequenzen eines solchen Handelns bewusst. Sursee, 3. September 2015
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