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Quelle: frei04-publizistik.de, 22. November Buchrezension, Architekturgeschichte, Stifter, Rosenhaus, Architekturportraits, Zinsser, Architekturtheorie
Christian Holl
Geschichten von Architektur und Architekten Ein Schlüsseltext der Moderne, ein Architekt der Nachkriegsmoderne aus Hannover, Architektenportraits und die Masterarbeit eines brillanten Denkers: vier Buchempfehlungen
Zu Recht, so Wolfgang Voigt im Vorwort, nenne Uwe Bresan das Buch zum Rosenhaus ein Gründungsdokument der europäischen Moderne. Das „Buch zum Rosenhaus“ ist der Roman „Nachsommer“ von Adalbert Stifter, der 1857 veröffentlicht wurde. In dessen Zentrum steht das Anwesen des Freiherrn von Risach – eben das Rosenhaus. Als Manifestierung und Mittelpunkt guten Lebens wird es ausführlich geschildert und fand Anklang bei vielen Architekten, darunter Theodor Fischer, Heinrich Tessenow, Paul Schmitthenner; im Roman redeten die Personen an manchen Stellen wie die späteren Reformer der Wekbundbewegung, so noch einmal Voigt. Bresan geht in seinem wunderbar gut zu lesenden Buch ausführlich und gründlich diesen Zusammen1/4
Uwe Bresan: Stifters Rosenhaus. Eine literarische Fiktion schreibt Architekturgeschichte Mit einem Vorwort von Wolfgang Voigt. 248 Seiten, 14,8 x 21 cm, broschiert, zahlreiche schwarz-weiße Abbildungen, broschiert, 16,50 € Verlagsanstalt Alexander Koch, Leinfelden-Echterdingen, 2016 Weitere Information: >hier
hängen nach, weist nach, dass sich Stifter mit seinem imaginierten Rosenhaus auf Gothes Weimarer Gartenhaus bezieht, stellt Verbindungen zu Victor Hugo, Friedrich Nietzsche und Thomas Bernhard her und berichtet von der Wiederentdeckung des Romans in der Nachkriegszeit, die sich zunächst mit Stifter schwertun musste, war doch nicht nur der überzeugte Nationalsozialist Paul Schultze-Naumburg Stifters Spuren gefolgt, auch Adolf Hitler selbst schätzte Stifter außerordentlich. Doch mit Rudolf Schwarz, Heinz Bienefeld, Emill Steffann wird Stifter auch unter Architekten wieder rehabilitiert. Bresans Verdienst ist es, diese Linien (wenn auch mitunter etwas spekulativ) nachzuzeichnen. Die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz der Anverwandlung von Stifters Utopie bleiben nicht unerwähnt – weder in den Formen sinnentleerter Hüllen in Fernsehserien noch in der obsessiv zwanghaften Ordnungsvorstellung, die dem Nachsommer zugrunde liegt: „Im ganzen Roman wird weder gescherzt noch gelacht.“ Ob auch das Teil der europäischen Moderne ist?
Hartmut Möller: Ernst Zinsser in Hannover. ArchitekturZeit 2016 Fotos: Hartmut Möller Vorwort: Sid Auffarth 116 Seiten mit 104 farbigen Abbildungen Format 29 x 18 cm. Klappenbroschur, 19,80 € Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen 2016 Weitere Information: >hier
Im Rahmen der von der Architektenkammer Niedersachsens organisierten Veranstaltungsserie Architekturzeit war im Juni und Juli eine Ausstellung über die Bauten von Ernst Zinsser (1904–85) zu sehen. Hartmut Möller hatte sich auf die Spuren dieses wenig bekannten Architekten der Nachkriegszeit begeben und die erhaltenen Bauten fotografisch dokumentiert. Im bei Wasmuth erschienen Katalog ist diese Spurensuche nachvollziehbar gemacht worden. Die vorgestellten Gebäude sind allesamt in Hannover zu finden; ausgenommen wurden die Einfamilien- und Reihenhäuser, aber auch so bliebt eine beeindruckende Sammlung von fast 80 Bauten. Der erste Teil ist ausführlich sieben davon gewidmet, im zweiten Teil werden die weiteren 71 (davon 17 Christian Holl Geschichten von Architektur und Architekten
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von vor 1945) mit je einem Bild vorgestellt; sie zeigen, dass nicht alle Häuser Zinssers jene Qualität aufweisen, die seinen besten Auszeichnungen und Anerkennung eingetragen hatten. Dass für diese freie Arbeit die Beschaffung von Grundrissen oder Schnitten nicht zu leisten war, kann man verstehen, wenngleich man es bedauern muss, auch hätte ein Übersichtsplan geholfen, sich gezielt bei einem Hannover-Besuch das ein oder andere Projekt anzusteuern, auf das der Katalog neugierig macht. Es sei deswegen auf die noch bis zum 12. Dezember laufende Ausstellung der LeibnizUniversität im Laveshaus der Architektenkammer verwiesen, die 16 Bauten Zinssers ausführlich zeigt und in von Studierenden gebauten Modellen vorstellt.
Friedrich Achleitner: Wie entwirft man einen Architekten? Porträts von Aalto bis Zumthor. Herausgegeben von Eva Guttmann, Gabriele Kaiser, Claudia Mazanek. 312 Seiten, 40 schwarz-weiße Abbildungen, Format 16,5 x 23,5 cm, broschiert, 29 € Park Books, Zürich, 2015 Weitere Information: >hier
Den Freunden des Lesens sei die Sammlung von Friedrich Achleitners Architektenportraits empfohlen, die 2015 erschienen ist. Sie basiert auf Vorträgen, Einführungen zu Ausstellungen, Katalogbeiträgen, Nachrufen, Laudationes und bilden keine zusammenhängende Struktur – konsequent wurden sie daher auch alphabetisch geordnet, beginnen also bei Aalto und enden mit Zumthor. Dazwischen finden sich auch weniger bekannte Namen, deren Arbeit zu entdecken lohnt: Eduardo Gellner, Bohuslav Fuchs etwa; oder Johannes Spalt, dem man schon in Bresans Buch begegnen konnte. 86 Texte hoher Qualität, mal nur eine knappe Seite, nie aber länger als sieben Seiten, ergeben ein ganz eigenes Panorama auf die Architektur des 20. Jahrhunderts, bei Achleitner selbstverständlich mit dem Schwerpunkt auf Österreich. Manche der Texte sind hier erstmals veröffentlicht. Bei aller Kenntnis Achleitners bleiben die Portraits frisch und skizzenhaft, sie errichten keine Sockel, leisten sich nicht nur auch Kritik an den Portraitierten, sondern auch die Reflexion des eigenen Tuns: „Denn jeder Text über einen Architekten ist ja mehr oder weniger der Entwurf eines Architekten“, so Achleitner an einer Stelle – und an anderer: „Man soll keinen Architekten entwerfen. Die ersten Striche scheitern schon an der Entwurfsmethode. An der Entwurfsmethode des Architekten? Nein, der eigenen natürlich.“ Selten freilich macht es soviel Freude, ein Scheitern nachzuvollziehen wie in dieser Publikation. Christian Holl Geschichten von Architektur und Architekten
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Jan Turnovský: The Weltanschauung as an Ersatz Gestalt. Eine Happy-open-end-environmental-design-sciencefiction-image-story Mit einem Nachwort von Gabriele Kaiser. Herausgegeben von Eva Guttmann, Gabriele Kaiser und Claudia Mazanek. Text Deutsch und Englisch. 142 Seiten, 59 schwarz-weiße Faksimile-Abbildungen, Format 22 x 28 cm, broschiert, 29 € Park Books, Zürich, 2016 Weitere Information: >hier
Zum Abschluss sei auf eine besondere Preziose hingewiesen: die Thesis, die Jan Turnovsky 1978 an der AA in London vorgelegt hat und die nun zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Turnovsky ist vor allem durch die „Poetik eines Mauervorsprungs“ bekannt, in der er mit unnachahmlicher Präzision, Empathie und Kenntnis Wittgensteins Versuch, sich als Architekt zu bewähren, auffächert und das Scheitern Wittgensteins humorvoll und mit großem Verständnis als prinzipielle Aporie erläutert. In der hier vorgelegten Arbeit wird der Gestaltbegriff von Theoretikern der Gestalttherie abgeleitet und in Zusammenhang mit dem in der deutschen Aufklärung geprägten Begriff der Weltanschauung in Verbindung gebracht. Ausgehend von der Theorie der offenen Systeme Umberto Ecos findet Turnovsky zur Vorstellung der offenen Gestalt, was für ihn bedeutet, dass Gestalt immer als eine Form der Konstruktion zusehen, die auf subjektive Stikmuli und individuelle Weltanschauungen zurückweist. Dies wird an drei in der Architektur der 1970er Jahre wichtigen theoretischen Mustern untersucht – der numerischen Ästhetik, der Ideologie und der Semiologie. „Wir können Architektur machen, in dem wir Gebäude bauen, und wir können Architektur machen, in dem wir deren Bedeutung verändern. Eine andere Interpretation ist eine andere Architektur“, so Turnovsky. Nach der Lektüre dieses Buchs, das der deutschen Übersetzung die sorgfältig aufgearbeiteten Faksimile-Abbildung des englischen Originals gegenüberstellt, wird man verstehen – und diese Einsicht hoffentlich teilen –, dass Turnovsky der Meinung ist, dass es nicht schwer zu verstehen sei, „dass Kunst nicht an bestimmte gesellschaftliche Formen gebunden werden kann. Schwer zu verstehen jedoch ist, warum wir auch Freude daran haben sollten, uns selbst in Eisen zulegen, z.B. in interpretierende Eisen.“
Christian Holl Geschichten von Architektur und Architekten
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