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Gioacchino Rossini L'italiana in Algeri - Die Italienerin in Algier Mit der "Italienerin in Algier" tauchen wir ein in eine ganz andere Welt, in erster Linie in eine Welt der umwerfenden Komik, des schlagenden Humors, in eine Welt der Unterhaltung im besten Sinne. Das könnte als Einführung eigentlich bereits genügen: Es erwartet Sie heute Abend beste Unterhaltung auf höchstem Niveau. Wir tauchen aber auch in anderem Sinne ein in eine ganz andere Welt. Die "Italienerin in Algier" wurde 1813 uraufgeführt. Es war eine völlig andere Welt damals, ein ganz anderes Europa! Kulturell, wie politisch. 1813, am 22. Mai, die erste Aufführung in Venedig. Einen Tag zuvor hatten die vereinigten Armeen bei Bautzen gegen Napoleon verloren, dafür schlugen sie ihn später dann bei Leipzig, noch im gleichen Jahre, vernichtend. In ebendiesem Leipzig wurde am Tag der Uraufführung Richard Wagner geboren! Sie sehen, die "Italienerin" hat eine historische Dimension. Sie hat auch eine politische Dimension: Eine Italienerin trifft in Algier auf Muselmanen, und wenn man hier auch nicht von einer Begegnung des Christentums mit dem Islam sprechen kann, so ist doch die Frage interessant, wie das Fremde und Andersgläubige aufgenommen und behandelt wird. Auf all diese Fragen und Aspekte möchte ich im Laufe meiner kleinen Einführung eingehen. Die Oper des frühen 19. Jahrhunderts ist mit der Oper unserer Tage nicht vergleichbar. Wir verstehen das Opernhaus heute als den Ort der hohen Kunst, als einen Ort der Bildung und der grossen Traditionen. Diese Auffassung ist eine bürgerliche Vorstellung des späten 19. Jahrhunderts, und eine deutsche dazu. Das Theater in Italien war keine „moralische Anstalt“ zur „ästhetischen Erziehung des Menschen“; das ist eine Prägung der Weimarer Klassik und des Bürgertums. Das Opernhaus war auch nicht eine Einrichtung der Gesellschaft einer Stadt oder eines Staates. Die Oper, für welche Rossini komponiert hat, war ein privatwirtschaftliches Unternehmen, man spricht denn auch von der „Unternehmeroper.“ Unternehmen müssen rentieren, sie müssen Gewinn abwerfen, um jeden Preis, bei Defizit und Verlust wird das Haus geschlossen. Ein Verlustgeschäft war sie aber nicht, wenn ein Unternehmer tüchtig und geschickt war, dann konnte er mit einem Opernhaus sehr viel Geld verdienen. Opernhäuser waren wahre Industriezweige. 1890 bot die Mailänder Scala rund 3`000 Leuten Arbeit und ernährte damit wohl etwa 12‘000 Menschen, etwa 5% der Bevölkerung. Die Unterhaltungsindustrie ist keineswegs eine Erfindung unserer Tage! Diese Oper musste rentieren, Rendite ging klar über künstlerische Qualität. Man bot, was das Publikum anzog, blieb es weg, wurde ein Werk sofort abgesetzt. Das Opernhaus war auch kein Ort der Tradition. Es gab eigentlich kein Opernrepertoire, wie heute. Gespielt wurde zur Zeit Rossinis während der sogenannten "Stagione", im Herbst und in der Zeit des Karnevals. Ein Impresario, der Unternehmer, bestellte bei einem Komponisten eine Oper, machte einen Vertrag mit ihm, setzte den Preis fest, den er zu bezahlen gewillt war und den Termin, an dem die Oper abgeliefert werden musste. Meistens bekam der Musiker nicht mehr als ein paar Wochen! Das Textbuch, das Libretto stellt der Impresario dem Komponisten zur Verfügung. Der hatte da kein Mitspracherecht, von der Möglichkeit einen Text, ein Sujet selber zu wählen oder gar zu gestalten, war keine Rede. Einen Verleger gab es nicht, der Impresario war dann der Eigentümer der Oper, trug das Risiko, strich aber auch den Gewinn ein. Dann wurde geprobt, aber wenig. Vor einer Uraufführung gab es etwa sechs, sieben Proben, dann musste es klappen – wochenlange Proben waren viel zu teuer. Erst ein Giuseppe Verdi konnte mehr Proben verlangen. Einen Regisseur, der da
Gioacchino Rossini: Die Italienerin in Algier eine Deutung und Interpretation hätte verwirklichen können, gab es nicht. Dazu war keine Zeit. War die Oper ein Erfolg, wurde sie gespielt, bis sie alle, die sie hören wollten, gehört hatten, dann kam eine andere Oper. Wenn sie ein grosser Erfolg war, dann nahmen andere Opernhäuser sie vielleicht auch auf, aber sonst verschwanden sie in der Versenkung. Vielleicht ist die Situation ein wenig mit Hollywood zu vergleichen. Nicht das künstlerisch Wertvolle und Hochstehende bringt das grosse Geld, oder anders gesagt, wenn man das grosse Geld im Auge hat, kann das Wertvolle und Hochstehende nicht das oberste Prinzip sein. Auch die Aufführung einer Oper war etwas völlig anderes als heute. Das Opernhaus war eine Art Freizeitcenter. Man konnte herumgehen, sich in den Logen besuchen, die Bars aufsuchen und Geschäfte machen. Vielfach hatte der Impresario auch das Monopol für die Glücksspiele. Opernaufführungen dauerten viele Stunden, vielfach wurden zwischen den Akten Ballette eingefügt, in den ernsten Opern auch buffoneske Zwischenspiele. Aber das machte ja nichts, man war nicht an seinen Platz gefesselt. Man musste sich offenbar anstrengen, die Musik durch den Lärm im Theater zu hören. „Die Leute reden, spielen um Geld, dinieren und übertönen erfolgreich das Orchester,“ schrieb ein Zeitgenosse nach einem Opernbesuch. Wenn Oper rentieren muss, dann legt sie das Schwergewicht auf die Effekte. Die Effekte kommen aber nicht vom Komponisten, sondern von den Sängerinnen und Sängern. Sie waren die Künstler, um sie drehte sich alles, der Komponist war bloss der Musiklieferant. Er lieferte die Basis, auf der die Sängerinnen und Sänger ihre Kunst entfalten konnten. Der Komponist galt nicht als Künstler! Das zeigt sich schon bei den Löhnen. Spitzensängerinnen und –sänger bekamen bis zu 10‘000 francs für eine Aufführungsserie, Rossini bekam für die Komposition der "Italienerin" ganze 700 francs. Die Sängerinnen und Sänger erlaubten sich denn auch, die ihnen vorgesetzte Musik zu verändern, vor allem zu verzieren, weil sie damit ihre Virtuosität zeigen konnten. Rossini soll einmal bei der Aufführung einer seiner Opern anwesend gewesen sein. Am Schluss wandte er sich ratlos an die Sänger und fragte: "Vom wem ist denn diese Oper?" Die meisten Komponisten mussten die Sänger gewähren lassen. Rossini ärgerte sich aber derart über diese Verzierungswut, dass er später im Notentext alle erlaubten Verzierungen ausschrieb. Da er der einzige war, der das tat, haben ihm dann spätere Zeiten vorgeworden, er sei ein Verzierungsfanatiker gewesen. Sie können sich den ungeheuren Bedarf an Opern vorstellen, der in Italien befriedigt werden musste. Es wurden um jeden Preis Opern komponiert, am Laufmeter, viele hatten Erfolg, weil die Sänger gut waren, weil sie gutes musikalisches Handwerk darstellten oder einfach gute Unterhaltung waren. Genie war nicht gefragt; viele waren auch ein Fiasko; nach ein paar Monaten waren sie ohnehin vergessen, es gab andere, neue Opern. Es ist wie beim Film. Wer kennt noch die Filme des letzten Jahres? In diesem Rahmen und unter diesen Voraussetzungen ist die "Italienerin in Algier" entstanden. Gioachino Rossini wurde 1792 in Pesaro an der Adria geboren. Sein Vater war der Stadttrompeter, seine Mutter war eine begabte Sopranistin. Ausgebildet wurde Rossini in Bologna vor allem im Kontrapunkt, einer für ihn sehr trockenen Sache. Trotzdem hat er dort das nötige Handwerkszeug erworben. Schon mit sechzehn Jahren arbeitete er als Maestro al Cembalo an diversen Theatern der Stadt. Er studierte dort mit den Sängern die Partien ein und begleitete die Rezitative. Rossini war ein Wunderkind, eine musikalische Hochbegabung. Eine Freundin soll ihn einmal um die Noten einer Arie aus einer Oper gebeten haben. Als der Kopist und der Impresario ihm die Noten nicht geben wollten, hörte er sich die Oper noch einmal an und schrieb dann die ganze Oper im Klavierauszug nieder. Man bezichtigte ihn darauf des Diebstahls, er habe die Noten beim Kopisten entwendet. Rossini schrieb darauf nach nochmaligem Anhören der Oper die ganze Partitur nieder und zwar 2
Gioacchino Rossini: Die Italienerin in Algier unter den Augen derjenigen, die ihn verdächtigt hatten. Als diese sich gar nicht erholen konnten vor lauter Staunen, sagte Rossini nur, es sei ja nicht Mozarts "Figaro" gewesen. Ob's wahr ist, weiss ich nicht, aber möglich ist es durchaus, es zeigt Rossinis Genie! Interessant und ganz den Verhältnissen der Zeit entsprechend ist der Beginn der Karriere Rossinis als Opernkomponist. Musiker-Freunde seiner Eltern waren 1810 in Venedig am Teatro San Moisè angestellt. Aber die Stagione lief schlecht. Die vier Einakter, die gespielt wurden, waren alle ziemlich erfolglos, und als ein deutscher Komponist die fünfte Oper nicht termingerecht ablieferte, kam der Impresario in echte Schwierigkeiten. Das war die Stunde Rossinis. Die Freunde überredeten den Impresario, es mit Rossini zu versuchen. Der kam sofort nach Venedig und bekam ein sehr mittelmässiges Textbuch eines Einakters in die Hand gedrückt, ein Text, der nicht besser und schlechter war als Hunderte von Libretti dieser Zeit. Rossini komponierte die kurze Oper in ein paar Tagen und der Impresario entschloss sich zu einer Aufführung. Der Text war schlecht, aber Rossinis Musik dazu war umwerfend. So etwas hatte man in Venedig noch nie gehört. Bereits in dieser Jugendoper zeigte sich die Genialität Rossinis, vor allem aber zeigte sich ein besonderer Stil: Rossini interessierte sich in der Komposition nicht in erster Linie für die Charaktere seiner Figuren, sondern ihn beschäftigte die Frage, wie man die Leute zum Lachen bringen kann. Der Trick, der sich durch alle Opere buffe Rossinis zieht, ist der folgende: Man nimmt auch die absurdeste Handlung einer Szene zum Schein ernst, entlarvt dann aber die ganze Sache durch die Musik. Er war auf Wirkung bedacht, nicht auf Gefühl. Zwei kleine Beispiele: In seiner zweiten Oper komponierte Rossini die sogenannte Fruchteisarie, "aria del sorbetto", sie musste von einer schlechten Sängerin vorgebracht werden und sollte dem Publikum Gelegenheit geben, sich mit Fruchteis zu erfrischen. Oder als er – auch bereits in seiner ganz frühen Zeit – in der Truppe eine Sängerin vorfand, von der er fand, dass sie nur einen einzigen Ton anständig singen konnte, komponierte er ihr eine Arie nur auf diesem Ton und legte alle Kunst ins Orchester. Solcherlei war neu in der Oper und so hatte "La Cambiale di matrimonio", so hiess sein Erstling, denn auch einen durchschlagender Erfolg. Jemand hat diese Technik verglichen mit den Erfolgen der Komiker in den ersten Stummfilmen. Wir lachen da ja auch nicht über die Figuren, die immer sehr ernst sind, sondern über das Ungemach, das ihnen dauernd widerfährt. Der Grundstein zu einer steilen Karriere als Opernkomponist war gelegt. Bald folgte Oper auf Oper für Ferrara, für Rom, dann der erste Auftrag für die Mailänder Scala, dann wieder Venedig. Im Alter von zwanzig Jahren hatte Rossini bereits zehn Opern komponiert, nicht alle waren erfolgreich, was aber meist nicht an der Musik lag. Diese grosse Zahl ist aber nicht nur auf sein Genie zurückzuführen, sondern hatte auch ganz simple Gründe. Der Komponist war so schlecht bezahlt, dass er Oper über Oper komponieren musste, damit er überhaupt von seiner Arbeit leben konnte. Weltruhm erwarb Rossini mit "Tancredi" einer Oper nach Voltaire und Torquato Tasso. Sie wurde im Januar 1813 im Teatro Fenice in Venedig aufgeführt. Interessant ist es, dass Rossinis Weltruhm nicht mit einer komischen Oper begründet wurde, sondern mit einer Opera seria. Obwohl der "Tancredi" bald auf der ganzen Welt aufgeführt wurde, erhielt Rossini für die Komposition nach heutiger Kaufkraft nur gerade vielleicht etwa 2000 Franken. Zwischen der Uraufführung im Januar 1813 und der Uraufführung unserer Oper Ende Mai 1813, liegen nur knapp vier Monate. Rossini musste aber noch den Tancredi in Ferrara aufführen und war erst Mitte April wieder in Venedig. Das Teatro San Benedetto war auch in den uns schon bekannten Schwierigkeiten. Die Opern, die in Auftrag gegeben worden waren, waren erfolglos. Der Impresario griff sogar zu ganz drastischen Mitteln, um die Saison 3
Gioacchino Rossini: Die Italienerin in Algier zu retten. Er liess einfach Akte verschiedener Opern aneinander reihen, damit ihm das Publikum nicht davon lief. Rossini rette die Situation. Er unterschrieb den Vertrag für die "Italienerin in Algier". Der Zeitdruck erlaubte es nicht, ein neues Libretto herzustellen. Man nahm daher einfach einen Text, der schon vertont worden war, 1808 an der Scala. Es gibt also zwei Italienerinnen in Algier. Rossini komponierte das Libretto in 27 Tagen. Es blieben gerade noch wohl etwa vierzehn Tage, die Oper einzustudieren. Man darf nicht vergessen, dass zuerst immer noch die Stimmen ausgeschrieben werden mussten. Kopisten mussten, natürlich von Hand, für jeden Musiker und Sänger die Noten abschreiben. Der Erfolg war ausserordentlich! Rossini war selbst überrascht. Nach der Premiere soll er gesagt haben: "Ich glaubte, dass die Venezianer mich für verrückt halten würden, nachdem sie meine Oper gehört haben. Nun stellt sich heraus, dass sie noch verrückter sind, als ich!" Wenden wir uns nun der Geschichte zu, die uns heute Abend erwartet. Wir befinden uns in Algier, etwa um 1800, also in der damaligen Gegenwart. Das Gebiet von Algerien gehörte damals zum Osmanischen Reich, also gleichsam zur Türkei, deswegen ist in der Oper immer wieder von Türken die Rede. Die osmanischen Ländereien in Nordafrika lebten vor allem von der Piraterie, man nannte sie deswegen Barbareskenstaaten. Regiert wird die osmanische Provinz von der einen Bey, dem Vertreter des Sultans von Konstantinopel. Dieser Bey, mit Namen Mustafa, hat eine schöne Gattin, mit Namen Elvira. Am Hofe herrscht Trübsinn, weil Mustafa seiner Frau überdrüssig ist und sie loswerden möchte. Elvira liebt ihren Mann aber sehr und möchte unter allen Umständen bei ihm bleiben und so klagt sie ihrer Lieblingssklavin Zulma ihr Leid. Dem Mustafa ist das aber alles gleichgültig. Er will jetzt einfach eine andere Frau. Er ist der Chef hier, ein Despot; was er befiehlt, hat man zu tun. Zudem hat er ja, als ein Muselmann, ein Recht auf viele Frauen. Er befiehlt Haly, dem Hauptmann der Korsaren und seinem Vertrauten, er solle sofort den italienischen Sklaven Lindoro, der seit ein paar Monaten in Algier festgehalten wird, herholen. Mustafa hat nämlich eine glorreiche Idee: er will seine Elvira mit diesem Lindoro auf der Stelle verheiraten und beide dann unverzüglich nach Italien schicken. Er wäre damit seine Gattin los und Lindoro hätte bestimmt nichts gegen diese Art von Freilassung. Zugleich befiehlt er Haly, er solle ihm eine Italienerin beschaffen, er habe Verlangen "nach einer dieser süssen, kleinen Damen, die ihren Freunden die Liebe etwas würzen." Er hat gehört, wie selbstsicher die Italienerinnen mit ihren Männern umgehen, und er will zeigen, dass man das mit ihm nicht machen kann. Wenn Haly nicht innert acht Tagen seinen Wunsch erfüllt, wird er gehängt. Nun tritt Lindoro auf und besingt seine ferne Geliebte Isabella, die aber - das kann er nicht wissen - gar nicht mehr so fern ist. Mustafa kommt, macht ihm seine Elvira schmackhaft und verspricht ihm neben der Freiheit und der Rückkehr nach Italien auch noch Reichtum. Lindoro ist hin und her gerissen, er fühlt sich an Isabella gebunden, macht Ausflüchte, stellt höchste Ansprüche. Mustafa versichert ihm aber, dass die Dame unwiderstehlich sei. Zu gleicher Zeit ist ein Schiff, vom Sturm getrieben, auf ein Riff aufgelaufen. Die Korsaren haben es gekapert und bringen nun die Passagiere als Sklaven an Land. Unter den Passagieren ist Isabella, die Geliebte Lindoros. Sie hat sich auf die Suche nach ihm gemacht und nun Schiffbruch vor der Küste Algiers erlitten. Begleitet wird sie von Taddeo, einem alternden Liebhaber, der sich an ihre Fersen geheftet hat und ihr folgt wie ein Hund. Sie will aber nichts von ihm, sie liebt nur ihren Lindoro. Isabella ist eine sehr schöne Frau, vor allem aber ist sie raffiniert! Sie findet sich mit ihrer neuen Situation sofort ab und nimmt sich vor, das Beste daraus zu machen. Weiss sie doch, dass ihre Reize und Intrigen noch keinen Mann kalt gelassen haben. Solange sie die Männer um den Finger wickeln kann, wird 4
Gioacchino Rossini: Die Italienerin in Algier nichts Ernsthaftes passieren. Lästig ist ihr allerdings dieser Taddeo, sie möchte ihn gerne abschütteln, aber in dieser speziellen Situation ist sie doch einverstanden, dass Taddeo bei ihr bleibt und sich als ihr Onkel ausgibt. Haly, der Hauptmann, ist natürlich überglücklich, dass ihm der Sturm eine schöne Italienerin gleichsam ins Haus gespült hat. Unterdessen haben Lindoro und Elvira beschlossen, zum Schein das Angebot Mustafas anzunehmen und nach Italien zu gehen. Später wird man weitersehen. Haly bringt dem Bey die Nachricht, dass er eine wunderschöne Italienerin gefunden habe. Mustafa will sie sogleich sehen und befiehlt, dass alle sich im Festsaal versammeln. Elvira und Lindoro sollen jetzt gefälligst vorwärts machen und endlich abziehen. Mustafa ist von Isabella vollständig hingerissen, sie von ihm weniger. Sie schätzt ihn auch sofort richtig ein: Es wird ihr gelingen, ihn zahm zu machen, so dass er nach ihrer Pfeife tanzen muss. Da treten Elvira und Lindoro hinzu. Isabella und Lindoro erkennen einander, sie können nicht glauben, einander gefunden zu haben. Isabella erkennt sofort, dass sie Lindoro gleich wieder verlieren könnte und geistesgegenwärtig rettet sie die Situation: Sie verlangt von Mustafa, ihr Lindoro als Sklave da zu lassen, da sie ja nicht ohne Personal sein könne. Mustafa protestiert, aber er kann nichts ausrichten, er ist Isabella bereits hörig. Der Akt endet in einer gewaltigen Verwirrung, in einem der verrücktesten Finale der Oper überhaupt. Isabella ist aber von diesem Moment an entschlossen, mit Lindoro nach Italien zu fliehen, Mustafa an der Nase herum zu führen, Elvira und den Bey wieder zu versöhnen und Taddeo endlich loszuwerden. Das ist der erste Akt. Zweiter Akt: Mustafa befiehlt, dass Isabella ihn in einer halben Stunde zum Kaffee zu empfangen habe. Isabella und Lindoro benützen einen unbewachten Augenblick, um einen Fluchtplan zu schmieden. Mustafa versucht alles, um Isabella zu beeindrucken. Er befördert deshalb den Onkel Taddeo zu einem hohen Offizier, zu einem Kaimakan. Dieser ist in der türkischen Tracht aber sehr unglücklich und fühlt sich lächerlich gemacht. Unterdessen macht sich Isabella für den Besuch des Bey bereit. Sie macht sich schön und besingt die Liebe. Alle drei Männer, die sie anbeten, hören draussen zu, Mustafa, Lindoro und Taddeo und alle drei beziehen den Gesang natürlich auf sich. Mustafa stürzt herein, zusammen mit Lindoro und dem neuen Kaimakan. Er will Isabella den Onkel als türkischen Offizier präsentieren, will aber dann mit der Italienerin allein sein und schärft Taddeo ein, wenn er niese, müsse er sich augenblicklich davon machen. Doch Mustafa kann niesen soviel er will, Taddeo geht nicht weg. Isabella versucht beim Kaffee, Mustafa zu überreden, sich wieder mit Elvira zu versöhnen und Haly singt dazu ein Lied über die Unzuverlässigkeit der italienischen Frauen. Mustafa kriegt einen Wutanfall. Nun beginnt Isabellas Plan abzulaufen. Lindoro verkündet Mustafa, da er Taddeo zum Kaimakan gemacht habe, werde man nun Gegenrecht halten und ihm zum Pappataci befördern. Mustafa fühlt sich hochgeehrt, hat aber keine Ahnung, was das bedeutet. Lindoro und Taddeo erklären ihm nun, dass in Italien standhafte und ausgeglichene Liebhaber in den Orden der Pappataci aufgenommen werden. Sie müssten ein Gelübde ablegen, nur zu essen, zu trinken und zu schlafen und ihre grosse Konzentrationsfähigkeit unter Beweis stellen, indem sie alles ignorieren, was um sie herum geschieht. (Ein Pappataci ist übrigens eine Stechmücke). Mustafa ist geschmeichelt und mit den Bedingungen selbstverständlich noch so gerne einverstanden. Die Aufnahme in den Orden soll gross gefeiert werden. Isabella bereitet alles vor, vor allem aber kümmert sie sich um ihre Flucht.
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Gioacchino Rossini: Die Italienerin in Algier Mustafa legt den Pappataci-Eid ab und wird sofort einem Test unterzogen. Er muss essen, während Lindoro und Isabella laut ihre Liebe verkünden. Als Mustafa eingreifen will, erinnert ihn Taddeo an seinen Eid, nur zu essen und zu trinken und nichts um ihn herum wahrzunehmen. Mustafa verspricht, sich zu bessern und ein echter Pappataci zu werden. So schweigt er denn nun zu allem, was um ihn herum geschieht. Dann geht alles schnell. Das Schiff kommt und alle Italiener gehen an Bord, auch Lindoro und Isabella. Taddeo merkt endlich, was gespielt wird, dass man ihn hier lassen will. Er versucht mit allen Mitteln, Mustafa zum Handeln zu bewegen, aber ohne Erfolg. Der Modell-Pappataci isst und schweigt. Taddeo sieht ein, dass es besser ist, ungeliebt zu sein, als ein Sklave und er rennt schnell an Bord. Kaum ist das Schiff fort, stürzen Elvira, Zulma und Haly herein und erklären dem Bey, dass er betrogen worden ist. Alle Wutausbrüche nützen nichts mehr. So wendet er sich eben wieder seiner Elvira zu – und will nichts mehr von den Italienerinnen wissen. Was sagen Sie, meine Damen und Herren, zu so einer Handlung. Würde man das Stück als Schauspiel aufführen, ohne Musik, ginge das Publikum bestimmt in der Pause nach Hause. Ich bin überzeugt, dass dies Ihnen heute Abend nicht im Traume in den Sinn kommt. Rossinis Musik verhindert das - Oper ist ein Mysterium, auch die banalste Handlung kann eine tiefe Bedeutung bekommen durch die Musik. Bevor wir uns zum Schluss dann noch der Musik zuwenden, der Kompositionstechnik Rossinis, möchte ich noch einige kulturgeschichtliche Überlegungen anstellen. "Gottes ist der Orient, Gottes ist der Occident", heisst es bei Goethe im "Westöstlichen Divan“, nur wenige Jahre später entstanden. Der west-östliche Divan, wie die Italienerin in Algier, wie die spätere Rossini-Oper "Der Türke in Italien", wie Lessings "Nathan der Weise", wie vor allem Mozarts "Entführung aus dem Serail" sind Zeugen der Auseinandersetzung zwischen Ost und West, zwischen dem Abendland und der Morgenland und dem Orient. Seit dem Mittelalter durchzieht diese Auseinandersetzung die abendländische Kultur. Auch fast immer sind "eroticis" Gegenstand dieser Auseinandersetzung, das Verhältnis von Mann und Frau spielt darin immer eine Rolle. Der Orient erscheint dem abendländischen Mann als ein Freiraum für erotische Träume, Träume jenseits der abendländischen, christlichen Verhaltensregeln, als Ort, wo die Frauen ihm noch Untertan sind und dies gleich im Harem in grosser Zahl. Die Spannung zwischen den Geschlechtern wird projiziert auf die Spannung zwischen Orient und Abendland. Das ist die männliche Seite heute Abend. Aber das ist nicht alles. Der Orient – und das ist im 19. Jahrhundert immer die Türkei, d.h. das Osmanische Reich – ist auch ein Ort, in dessen Spiegel man die Missstände im eigenen Land erkennen kann, wenn man sie in einem märchenhaft orientalischen Rahmen präsentiert. Das wäre die weibliche Seite: Die Italienerin zeigt, wie die Frauen sich mit ihren Mitteln zu wehren wissen und wie die orientalischen Exoten dem nicht gewachsen sind. Faszination von Harem und Polygamie einerseits und Empörung über die Behandlung der Frauen andererseits. Kritik an den Verhältnissen im eigenen Land werden projiziert auf den Orient, wo alles exotisch und märchenhaft und farbig und wunderbar fremd ist! Gelöst wird das Problem – wie heute Abend – durch Entführung und Flucht aus dem Serail, die anständigen abendländischen Verhältnisse werden wieder hergestellt, aber die Faszination vom Fremden bleibt. Entführungen aus dem Serail gibt es bereits in der griechischen Tragödie und in den Komödien der Römer. Zweideutigkeit zeichnet die Haltung dem Orient gegenüber aus – Faszination und Ablehnung. Faszination wohl vor allem von den vermeintlich lockeren Sitten und der angeblich fehlenden Moral. Zweideutigkeit und fehlende Moral zeichnen auch unsere Oper aus. Isabella ist eine tief zweideutige Figur und das Finale des ersten Aktes denkt in keiner Weise über Recht und Unrecht nach. 6
Gioacchino Rossini: Die Italienerin in Algier Die Türkenmode im 19. Jahrhundert ist nicht zuletzt auch eine Ästhetisierung der Angst vor dem Fremden, der Angst vor dem Islam und seiner so völligen anderen Lebensart. Auch das scheint heute Abend immer wieder durch, allerdings im Gewande des Klamauks. Aber die Art und Weise, wie der Bey von Algier als lüsterner Trottel dargestellt wird, ist durchaus auch eine Form der Abwehr des Fremden. Immerhin standen die Türken nur gerade etwas mehr hundert Jahre vor der "Italienerin" noch vor den Toren Wiens. Es gab aber auch die andere Sicht auf den Orient, die nicht unerwähnt bleiben darf. Die Aufklärung in ihrer Hochschätzung menschlicher Vernunft hat die Türken auch idealisiert. Denken Sie an Lessings "Nathan" oder eben auch an Mozarts "Entführung". Bassa Selim verzichtet am Schluss auf seine Rechte, weil Grossmut den Menschen mehr erfreue als Rache. Goethes "Iphigenie" stammt auch aus dieser Zeit. Die Kritik an der Gesellschaft und den Verhältnissen seiner Zeit darf bei Rossini nicht unterschätzt werden. Venedig befindet sich zur Zeit der Uraufführung der Italienerin unter französischer Herrschaft, zwei Jahre danach 1815 ging es im Wiener Kongress an Österreich, seit 1892, dem Geburtsjahr Rossinis, wechselt in Venedig dreimal die Herrschaft. Wenn Rossini durch Italien reiste, reiste er durch unzählige Staaten und Königreiche. Kurz: Italien war ein zerstückeltes und von Fremdherrschaft unterdrücktes Land. Erst 1861 nach vielen Kämpfen entstand der italienische Staat, wie wir ihn heute kennen. Kurz: In Italien herrschte totalitäres Regime. Kritik an den Verhältnissen war nur indirekt möglich! Und Rossini und seine Textdichter nützten das aus: In den Opere buffe Rossinis werden die Machthaber immer als Trottel dargestellt und am Schluss entweder übertölpelt oder kalt gestellt. Den Bey von Algier als lüsternen Trottel darzustellen, war ungefährlich, aber das Publikum von Venedig hat auf alle Fälle verstanden. Heinrich Heine hat dies erkannt, er nennt die Kritik an der Obrigkeit und an den politischen Verhältnissen "den esoterischen Sinn der Opera buffa. Es ist viel Zeitbedingtes in dieser Oper. Vielleicht können wir auch diese Einweihungsszene zum Pappataci als eine Verspottung der Freimaurer und ihrer Einweihungsrituale verstehen. Jene Aufklärer, die im Exotischen die edlen Wilden gesehen haben, waren alles Freimaurer: Lessing, Mozart und auch Goethe hatte Beziehungen zum Orden. Wenden wir uns zum Schluss der Musik zu. Man kann Musik nicht erzählen, man kann sie beschreiben, aber man muss sie dann natürlich vor allem hören. Wir haben gesehen, dass Rossini die Italienerin in 27 Tagen komponiert hat. Er selbst spricht sogar von 18 Tagen. Wie dem auch sei, eine abendfüllende Oper in dieser Zeit zu komponieren, ist eine Leistung, die uns heute ganz unglaublich vorkommt. Puccini hat mehrere Jahre an einer Oper gearbeitet. Es liegt auf der Hand, dass dieses Tempo nur möglich ist, wenn der Musik und der Komposition ein Schema zugrunde liegt. Zudem musste ein Komponist auch berücksichtigen, dass nur ganz wenig Zeit für die Einstudierung eines Werks zur Verfügung stand. Er war in der Regel vertraglich verpflichtet, die Uraufführung und die erste Serie der Aufführungen selber zu leiten, dies vor allem darum, weil er oft nicht eine ganz fertige Oper ablieferte, sondern während der wenigen Proben noch Veränderungen vornahm, vor allem, um seine Musik den Sängern, die ihm gestellt wurden, anzupassen. In dieser Atmosphäre musste Rossini komponieren. Die Opera buffa geht aus von der Opera seria, sie entwickelt sich quasi aus komischen Intermezzi, die man zwischen diesen ernsten Opern eingefügt hat. Die Opera seria hat musikalisch ein klares Schema: Rezitativ und Arie. Das Rezitativ war musikalisch einfach, oft auch nur improvisiert, der Komponist gab die Harmonien an, mehr nicht. Begleitet wurde das Rezitativ vom Cembalo. Diese Rezitative nennt man Secco-Rezitative, secco heisst „trocken“, also ohne Orchester. In diesen Rezitativen findet die Handlung der Oper statt. Hier wird agiert, hier 7
Gioacchino Rossini: Die Italienerin in Algier herrscht Bewegung hier „geht es weiter.“ Nach dem typischen Rezitativschluss Dominante – Tonika beginnt die Arie. Die Arie steht in der Seria ausserhalb der Handlung. Der Sänger tritt an die Rampe, verlässt also gleichsam das Spiel und singt seine Arie, wie ein Instrumentalsolist. Die Arie handelt von hohen Leidenschaften, von tragischen Verwicklungen, von Liebe und Tod und menschlicher Grösse. Wenn sie fertig ist, tritt er wieder zurück in die Handlung, ins Spiel zum nächsten Rezitativ. Dieses Schema ist geeignet für mythologische Stoffe, wenn Götter und Könige agieren und musikalisch über das Leben nachdenken. Die Buffa nun aber will unterhalten, ihr Stoff stammt aus dem Alltag, sie nährt sich von der Commedia dell’ arte mit ihren Typen: dem vertrottelten Alten, dem listigen Diener, der raffinierten Magd. Mit diesen Figuren ein einleuchtendes Stück zu machen, da ist die Form Rezitativ und Arie völlig ungeeignet. Da muss man die Arie und die hohe Tragik, die darin zum Ausdruck gebracht wird, ernst nehmen können. Wenn der vertrottelte Alte eine Arie im Stil der Seria singt, kann das nur noch einen komischen Zweck haben. Die Entwicklung, die nun beginnt, ist klar: die Buffa löst das starre Schema, Rezitativ und Arie = Handlung und Kontemplation, allmählich auf. D.h. die Handlung zieht sich in die Musik hinein, sie geht über das Rezitativ hinaus. Das ist in der Musikentwicklung ein gewaltiger Schritt. Konnte die Musik in der Seria einfach schön und eindringlich sein, musste sie in der Buffa selber gleichsam zu handeln beginnen! Sie muss sich der Situation auf der Bühne anpassen, sie muss das, was da geschieht, direkt einbeziehen, kommentieren, ausdrücken. Die Arie verliert damit mehr und mehr an Bedeutung, auch die Arie wird in die Handlung einbezogen, ist nicht einfach mehr reflektierend, obwohl sie diesen Charakter behält. Die Oper wird als Ganzes dynamisch, das ist der grosse Schritt von der Seria zur Buffa. Die Seria stellt das Gefühl dar, die Buffa ist das Gefühl. Rossini entwickelte dazu ein Schema, man nennt dieses Schema heute den Rossini-Code: Eine Nummer beginnt mit einem einleitenden Rezitativ, einer sogenannten Scena. Diese steht meist im 4/4 Takt und die Sängerin oder der Sänger wird nur "secco“, d.h., nur vom Cembalo begleitet. Die Scena hat die Funktion, die Handlung voranzutreiben. Ein neuer Handlungsschritt, eine Entwicklung, ein neues Handlungselement wird vorgetragen. Die Länge der Scena ist unterschiedlich, je nach Problem. Dann folgt der erste Ariensatz – die Italiener nannten das PRIMO TEMPO – meist ein langsamer Satz in lyrischer Stimmung – im Cantabile. Der Protagonist denkt in diesem Ariensatz über die Sache nach, die er in der Scena soeben berichtet hat. Und jetzt sind wir an einer problematischen Stelle: Die Bewegung hält an, sie läuft aus, die Handlung gerät ins Stocken. Jetzt muss wieder Tempo in die ganze Sache kommen Der tote Punkt wird meist überwunden, indem ein zweit- oder drittklassierter Sänger herein stürzt und eine Neuigkeit bringt, um den ersten Sänger wieder in Bewegung zu versetzen. Dieser dritte Teil einer Nummer, der nun folgt, nannte der Italiener „TEMPO DI MEZZO“. Er ist meist schnell, ein Duett oder ein Ensemble; auch kann der Chor beteiligt sein. Die Stimmung wechselt, wird wieder dramatisch. Die Handlung wird vorangetrieben. Im vierten Teil – der CABALETTA – singt nun der erste Sänger den zweiten Teil der Arie. Dieser ist aber nun nicht mehr lyrisch sondern sehr affektgeladen, schnell, maestoso. Manchmal tritt der Chor hinzu, damit wird die Dramatik gesteigert, die CABALETTA endet oft mit einer STRETTA, einem Schlussteil, der höchste Gefühle und bedingungslose Hingabe an die Sache zum Ausdruck bringt. Das ist der Rossini-Code und damit der Grundaufbau der Opernnummer in der Nummernoper. Rezitativ – lyrische, kontemplative Einleitung – dann gesteigerte Aktivität und zum Schluss die Cabaletta. Darin konnte der Sänger dann auch sein 8
Gioacchino Rossini: Die Italienerin in Algier ganzes Können vorführen, er konnte die Musik virtuos ausschmücken! Eine Mischung aus Handlung und Kontemplation, eine Steigerung zum Schluss hin, welche einen neuen Handlungsschritt fordert, der in der nächsten Nummer wieder durch eine Scena eingeleitet wird. Der Komponist kann dieses Grundschema nun abwandeln, nicht alle vier Teile bringen in einer Nummer, nur die Scena und das Primo Tempo. Oder er kann das Schema erweitern. Achten Sie heute Abend auf die Auftrittsarie des Lindoro: Zuerst das Rezitativ zwischen Mustafa und Haly. Wir werden darin ins Bild gesetzt, dass Mustafa seine Elvira dem Lindoro verheiraten will. Dann das "primo tempo". Hier ist es ein reiner Orchestersatz, ein Hornsolo, ohne Gesang. Dann tritt Lindoro auf und besingt seine Qualen, weil er von Isabella getrennt ist. Die Arie steigert sich – eingeleitet durch eine kleine Fanfare – in ein Allegro, in dem Lindoro seinem Entschluss Ausdruck verleiht, alles zu unternehmen, um wieder mit Isabella vereint zu werden. Damit ist der Code zu Ende, es folgt das nächste Rezitativ. Dieser Code bestimmt die ganze Oper. Wenn Isabella sich vorbereitet auf den Besuch des Bey, läuft das nach dem gleichen Schema ab. Im Tempo di mezzo erscheint Mustafa und die Sache kommt in Bewegung. beschlossen wird die Nummer durch einen schnellen vierstimmigen Satz. Auch die Szene, in der dem Mustafa erklärt wird, was ein Pappataci ist, folgt diesem Schema. Es wird später übernommen werden von Donizetti, aber auch von Verdi. Noch in Verdis Trovatore ist diese Kompositionstechnik nachweisbar. Das Schema ist ausserordentlich konstituierend: Es gewährt den Sängerinnen und Sängern die Möglichkeit, ihre Gesangskunst unter Beweis zu stellen. und damit das Publikum an sich zu binden. Vor allem aber: Wir im Publikum werden restlos in die Handlung hineingezogen, weil wir wissen, was jetzt dann kommt. Damit lässt sich die Dramatik ungeahnt steigern, weil alle mitgehen. Ein zweites Element zeichnet Rossinis Musik aus. Es ist das berühmte RossiniCrescendo, achten Sie vor allem in der Ouvertüre darauf. Ein Thema, das 8 oder 16 Takte umfasst, wird mehrfach wiederholt und jedesmal in der Lautstärke, in der Dynamik und der Instrumentierung gesteigert. Die Wiederholung im Crescendo reisst das Publikum regelmässig innerlich von den Sitzen. Das wird auch heute Abend nicht anders sein. Ich habe Ihnen jetzt den Rossini der Opera buffa vorgestellt. Den Rossini der "Italienerin", des "Türken in Italien", vor allem aber dann den Rossini des "Barbiers von Sevilla". Das ist aber keineswegs der ganze Rossini! Den Durchbruch als Komponist erlebte Rossini mit einer Opera seria, mit dem "Tancredi", dies nur gerade drei Monate vor der Italienerin. Ich weiss nicht, wie Rossini sich selbst gesehen hätte, ob als Komponist von Opere buffe oder von ernsten Opern. Lange vor Verdi gibt es auch einen "Otello" von Rossini. beschlossen hat er sein Werk als Opernkomponist mit einer Oper, welche die Grand opéra in Paris wesentlich mitbestimmt hat, mit dem "Wilhelm Tell". Man hat zu seiner Zeit Rossini einen zweiten Mozart genannt. Wir lernen heute Abend den komischen Rossini kennen. Aber wenn wir genau hinhören, werden wir ohne weiteres wahrnehmen, dass die Komik in einer absoluten Beherrschung der Mittel und der Präzision ihrer Anwendung besteht. Und wir werden unschwer auch erkennen, dass all der Klamauk, all die Unmoral und die Verulkung der Figuren jeden Moment umschlagen könnte ins Tragische. Die echte Komödie ist nie weit von der Tragödie entfernt. Und es gibt keinen anderen Komponisten, der in der Oper musikalisch dieser Erkenntnis besser gewachsen war und sie besser verwirklicht hat als Rossini! Gartenoper 2014
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