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Im Horizont der Schriften Israels. Die Bibel Alten und Neuen Testaments als Grundlage christlicher Theologie und Kirche Jens Schröter Christliche Theologie und Verkündigung sind fest in den Schriften Israels und des Judentums verwurzelt. Das ist schon an den vielen Zitaten aus dem Alten Testament erkennbar, die sich im Neuen Testament finden. Die Denk- und Sprachwelt des Christentums ist aber weit darüber hinaus von der Israels und des Judentums geprägt. Das zeigt sich etwa daran, dass viele Begriffe im Neuen Testament – wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Bund, Gnade – ihre Bedeutung der Übersetzung hebräischer Worte ins Griechische verdanken und so Teil der christlichen Tradition geworden sind. Die sprachliche, religiöse und ethische Prägung des frühen Christentums muss deshalb in ihrem israelitisch-jüdischen Kontext interpretiert werden. Dieser Horizont ist in der bibelwissenschaftlichen Forschung der vergangenen Jahrzehnte herausgearbeitet worden. Dabei wurde nicht zuletzt der jüdische Hintergrund der Bezeichnungen „Christus“, „Sohn Gottes“ und „Menschensohn“ für Jesus deutlich, ebenso wie die Einbindung der Theologie des Paulus und anderer Autoren des Neuen Testaments in jüdische Traditionen. Der Glaube an Jesus Christus wurde demnach von Beginn an im Horizont der Schriften Israels erschlossen, die ihrerseits durch den Christusglauben eine neue Bedeutung erlangten. Die Schriften Israels sind jedoch keineswegs nur für den historischen Entstehungskontext des Christentums von Belang, sodass an deren Stelle zu anderen Zeiten auch andere Texte treten könnten. Vielmehr sind die in diesen Schriften anzutreffenden Vorstellungen über Gott, Welt, Mensch und Erlösung konstitutive Bestandteile des christlichen Glaubens geworden. Jesus setzt bei seiner Verkündigung den jüdischen Gottesglauben voraus; Paulus lässt bei seiner Mission keinen Zweifel daran, dass Nicht-Juden, die sich zu Jesus Christus bekennen, sich auch zum Gott Israels bekehren müssen. Das Bekenntnis zum Gott Israels wurde so zur unverzichtbaren Grundlage des christlichen Glaubens. Christlicher Glaube betrachtet die Welt als Gottes Schöpfung, den Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes. Das Bekenntnis zur Auferweckung Jesu Christi von den Toten, wie der Glaube an die Auferweckung der Toten überhaupt, verdankt sich dem antiken Judentum, in dem die Überzeugung von der Macht Gottes über den Tod entstand. Die gerade für lutherische Theologie grundlegende Überzeugung von der Gerechtigkeit Gottes als seiner Gnade gegenüber dem Sünder ist ohne die Schriften Israels und des Judentums nicht denkbar. Wesentliche Inhalte der christlichen Theologie finden sich demnach in den israelitischjüdischen Schriften. Die Theologen des antiken Christentums haben diese Einbindung des Christusglaubens philosophisch bedacht. Dabei wurde der biblische Gottesglaube durch philosophische Reflexionen tiefer durchdrungen. In dieser Gestalt hat er sich auch in Liturgie und Glaubenspraxis niedergeschlagen. Das Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer, die Betrachtung der Stellung des Menschen vor Gott in den Psalmen, die Auslegung prophetischer und anderer Texte des Alten Testaments, etwa in Predigten, gehören unverzichtbar zum christlichen Gottesdienst. Die Schriften Israels wurden so als „Altes Testament“ konstitutiver Bestandteil des Christuszeugnisses. Sie reden selbstverständlich nicht unmittelbar von Jesus Christus. Sie enthalten jedoch für den Christusglauben grundlegende Begriffe und Überzeugungen. Altes und Neues Testament stehen sich demnach nicht als zwei „Blöcke“ gegenüber, von denen man Letzteres auch ohne Ersteres haben könnte. Es handelt sich vielmehr um eng aufeinander bezogene Textsammlungen, die gemeinsam den Traditions- und Deutungsraum des Christusglaubens bilden. Darum wurden sie miteinander zur christlichen Bibel und erschließen den christlichen Glauben an den Gott Israels, der sich in Jesus Christus offenbart hat. Dass dabei nicht alle biblischen Schriften zu allen Zeiten dieselbe Bedeutung besaßen
und in spezifischen historischen Situationen bestimmte Texte besondere Erschließungskraft erlangten, liegt auf der Hand. Es trifft auf Altes und Neues Testament in gleicher Weise zu. Dass sich das Christentum auf verbindliche, „kanonische“ Schriften bezieht, bedeutet jedoch, dass sie gemeinsam den Maßstab darstellen, an dem sich christlicher Glaube orientiert. Altes und Neues Testament bilden deshalb die verbindliche, „kanonische“ Grundlage des Christentums, die im je aktuellen Kontext zur Geltung zu bringen ist. Daraus folgt weiter: Christentum und Judentum sind im Glauben an den Gott Israels verbunden. Im Judentum wird dieser Glaube durch die Auslegung von Thora, Propheten und weiteren Schriften für die eigene Geschichte angeeignet. Im Christentum wird er durch das Bekenntnis zu Jesus Christus erschlossen, in dem Gott seine Macht über den Tod erwiesen und durch den er allen Menschen den Weg zum Heil eröffnet hat. Die Geschichte des Christentums ist deshalb eine spezifische Fortsetzung der Geschichte Gottes mit Israel. Sie vollzieht sich seit der Entstehung des Christentums auf zwei Wegen: dem des jüdischen Volkes und dem der christlichen Kirche. Die Schriften Israels sind so zur Grundlage des jüdischen und des christlichen Glaubens geworden. Im Christentum wurden sie zum „Alten Testament“, neben das das Zeugnis von Jesus Christus als „Neues Testament“ trat. Das „Neue Testament“ bildet dabei zugleich den Schlüssel für die Auslegung des „Alten Testaments“. Im Judentum sind sie dagegen als „Tanach“, als dreiteilige Bibel aus Thora, Propheten und Schriften, Grundlage des Selbstverständnisses des jüdischen Volkes geworden. Das spiegelt sich auch in den jeweiligen Anordnungen des christlichen und des jüdischen Kanons wider. Der christliche Kanon mit den Prophetenbüchern am Ende ist offen für die Fortsetzung des Alten Testaments durch das Neue Testament, der jüdische Kanon, der die „Schriften“ am Ende hat, blickt voraus auf die Erlösung Israels. Die Schriften Israels bilden demnach die Grundlage für das Judentum wie für das Christentum. In beiden Gemeinschaften müssen sie immer wieder neu angeeignet werden, denn sie sprechen weder unmittelbar zu dem gegenwärtigen Judentum noch zu dem gegenwärtigen Christentum. Diese doppelte Rezeption stellt zugleich die Basis für den Dialog zwischen Juden und Christen dar. Dieser Dialog ist fruchtbar, weil die je eigene Aneignung gemeinsamer Schriften und Traditionen anerkannt wird. Die Überzeugung von der Wahrheit des eigenen Gottesglaubens verbindet sich dabei mit dem Respekt vor der jeweils anderen Glaubensüberzeugung. Darin liegt ein großer Gewinn des christlich-jüdischen Dialogs.