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Ins Blaue Hinein - Volkswagenstiftung

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Impulse Das Wissenschaftsmagazin der VolkswagenStiftung 01 16 Ins Blaue hinein Ozeane, Küsten, Inseln: der größte Lebensraum auf unserer Erde im Fokus der Forschung Vorwort Es ist erst wenige Monate her, da ließ ein Urteil die Weltgemeinschaft aufhorchen: Neuseeland erkennt als erster Staat den Klimawandel und die Zerstörung der Umwelt als berechtigten, also „rechtmäßigen“ Anlass für Migration und damit als Asylgrund an. Eine Familie von der Pazifikinsel Tuvalu, deren Zuhause, so wertete es das neuseeländische Gericht, nachweislich Opfer des allmählich steigenden Meeresspiegels geworden war, erhielt in letzter Instanz dauerhaftes Bleiberecht zugesprochen. Es dauerte nicht lange, und die Vereinten Nationen meldeten sich mit dem Hinweis: Sollte sich an der Situation nichts ändern, dann erwarte man bis zum Jahr 2050 weltweit bis zu 500 Millionen Menschen, die allein aufgrund von klimatischen Veränderungen und Umweltzerstörung ihre Heimat fliehen. Impressum Herausgeber VolkswagenStiftung Kastanienallee 35 30519 Hannover Telefon: +49 511 8381-0 Telefax: +49 511 8381-344 E-Mail: [email protected] www.volkswagenstiftung.de Vertreten durch Kuratorium VolkswagenStiftung, vertreten durch den Generalsekretär Dr. Wilhelm Krull Redaktion (Text- und Schlussredaktion, Heftkonzept) Dr. Christian Jung (cj) Bildredaktion Ina-Jasmin Kossatz Kommunikation VolkswagenStiftung Jens Rehländer (Leitung) Gestaltung Medienteam-Samieske, Hannover Korrektorat Cornelia Groterjahn, Hannover Druck gutenberg beuys feindruckerei gmbh Hans-Böckler-Str. 52 30851 Hannover/Langenhagen Schon etwas länger beschäftigen sich fünf Forscherteams unterschiedlicher Expertise in einem von der Stiftung geförderten Projekt gemeinsam mit der Frage, inwieweit ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen massiven Umweltveränderungen und dem Bedürfnis von Menschen, ihre Heimat – teils unter großen Gefahren für ihr Leben und das ihrer Liebsten – für immer zu verlassen. Der spezielle Blick gilt dabei Küstenregionen, schließlich werden dort offenkundig schneller als anderswo global wirkende klimatische Veränderungen manifest: ob schleichend etwa durch steigende Wasserspiegel der Meere oder schlagartig aufgrund extremer Wetterereignisse. Und damit sind wir, das aktuelle Weltgeschehen vor Augen, mitten in dieser Ausgabe 1_2016 unseres Magazins „Impulse für die Wissenschaft“ angekommen. Ein Heft zum Schwerpunktthema „Meer“ – kein als solcher explizit formulierter Förderbereich der Stiftung, aber doch einer, der sich in vielen Projekten abbildet, wie wir festgestellt haben. Dass „das Meer“ in seinen unzähligen Facetten in recht unterschiedlicher, überaus vielfältiger Weise Gegenstand von Forschung ist, überrascht letztlich kaum. Schließlich gibt es nicht umsonst das geflügelte Wort vom „blauen Planeten“ und seinen Geheimnissen, die er noch birgt. Und über diesen möchten wir Ihnen viele Geschichten erzählen – kleine und große. Die großen führen Sie jeweils drei Mal zunächst zu verschiedenen Küstenregionen dieser Welt, dann zu Inseln – oder solchen, die Wissenschaftler dafür halten –, und zuletzt geht‘s dann drei Mal direkt hinaus auf die Ozeane. In vielen der Beiträge über die geförderten Projekte, die ja den Kern der Erzählungen bilden, schwingt immer auch der Gedanke der Nachhaltigkeit mit. Dieser ist zunehmend von Bedeutung auch bei jenen gemeinsam von Land und Stiftung vergebenen Fördermitteln, die explizit den niedersächsischen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen zugute kommen. Gleich drei Mal blättern sich in diesem Heft Beiträge zu solchen im „Niedersächsischen Vorab“ geförderten Vorhaben auf: angefangen bei einem Projekt zur Ökosystem- und Biodiversitätsforschung vor der Insel Spiekeroog über die an der hiesigen Küste teils vor Anker liegende deutsche Forschungsflotte bis hin zu neuen Offshoretechnologien – allesamt Wissensfelder, in denen nicht nur deutsche, sondern oft gerade niedersächsische Forscherinnen und Forscher weltweit die Nase vorn haben. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung Die Stiftung ist ja bekanntlich ein verlässlicher Partner von Forschung und Wissenschaft in diesem Bundesland und möchte es auch künftig in bewährter Stabilität und Standfestigkeit bleiben. Immerhin hat sie in den ersten beiden Ausschreibungsrunden zur Nachhaltigkeitsforschung 15 Projekte mit insgesamt rund 25 Millionen Euro bewilligt, darunter auch solche zur Meeresforschung. Wir hoffen, dieses Heft bietet reichlich Anregung, sich mit den Wundern am, im, auf dem und unter Wasser zu beschäftigen. Ich wünsche viel Vergnügen und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre. Ihr Impulse 01_2016 3 Inhalt Küsten 32 Küsten Grob geschätzt leben weltweit über zwei Milliarden Menschen an den Gestaden der Meere. Für sie verbindet sich vieles mit dem Lebensraum am Wasser. Die Meere vor ihrer Tür sichern Überleben und wirtschaftliche Existenz, sind Fluchtpunkt in ein neues Leben – bedrohen aber auch durch steigenden Wellenspiegel in Zeiten des Klimawandels. Und sie spucken immer mehr Müll aus. Ein Landgang. ➞ Seiten 32-69 Ein Recht auf Meer Wer vor Südafrikas Küste fischt, den reguliert der Staat – gerade auch die „kleinen Fischer“. Und hier beginnen die Probleme … 42 Ozeane Das offene Meer ist der größte Lebensraum unserer Erde und einer, der noch viele Geheimnisse birgt. Die Ozeane beheimaten eine faszinierende Tier- und Pflanzenwelt und bieten uns Nahrung und Energie. Sie speichern große Mengen Kohlendioxid und regeln das globale Klimasystem. Algenwolken sorgen als „grün-blaue Lunge“ für Sauerstoff in der Atmosphäre. Jeder fünfte unserer Atemzüge stammt aus dem Meer. Einmal Durchatmen, bitte. ➞ Seiten 114-151 4 Inselleben im Zeitraffer Zwölf kleine Inseln entstehen vor der Insel Spiekeroog mitten im Wattenmeer: Wer besiedelt sie zuerst? 88 Treibgut Mensch Umweltschäden und Klimawandel als Anlass für Migration? Forscher haben Menschen an Küsten Ghanas und Indonesiens befragt. Eiland der Riesenmäuse Wie Tierarten auf Inseln in kurzer Zeit immer größer werden oder in wenigen Generationen schrumpfen: über Riesenwachstum und Inselverzwergung. Herrscher der Meere Angsteinflößend, zerstörerisch, gefürchtet. Aber auch: gute Konstrukteure und geschickte Händler. Ein Besuch bei den Wikingern. Inseln der Evolution Ein Blick in Kraterseen und zu Inseln, die eigentlich Berge sind. Wie neue Arten entstehen – ohne scheinbar triftigen Grund. 54 Inseln Reif für die Insel? Dann nichts wie los. Aber nicht auf Urlaubs-, sondern auf Forschungsreise. Dorthin, wo Tiere übergroß werden, wo neue Arten entstehen und Leben sich vom Wasser zum Land hin entwickelt und umgekehrt. In ihren Erzählungen bilden viele Inselvölker Eilande als hinter dem Horizont liegende Gärten Eden ab, als die wahren Paradiese der Erde mit unzähligen faszinierenden Lebewesen. An künstliche Inseln aus Metall haben sie dabei vermutlich nicht gedacht. Doch auch die gibt es. Eine Reise ins Unbekannte. ➞ Seiten 78-103 Inseln 78 96 Ozeane 114 Ein Schiff muss zur Kur Ein Tag am Marine Science Center in RostockWarnemünde auf der Spur von Seehund, Seebär, Seelöwe und Sepia. 128 Mit der Sonne unterwegs Freie Fahrt für die neue SONNE, der Star in Deutschlands achtzügiger Forschungsflotte. Das schwimmende Hightechlabor macht Furore. 140 Brise für die Steckdose Windräder oder deren Komponenten unter Offshorebedingungen prüfen: In Hannover eröffnete das Testzentrum für Tragstrukturen. Kooperationsmodul Europaförderung Die Stiftung hat von 2013 bis Ende 2015 Forscher in den von der Wucht der Finanzkrise betroffenen Staaten Europas mit einem auf sie zugeschnittenen. Angebot unterstützt. Ziel war es, Wissenschaftlern in ihrem Heimatland auch unter schwierigen Bedingungen weiterhin substanziell Forschung zu ermöglichen. Voraussetzung war die Anbindung eines solchen Projekts an ein von der Stiftung bewilligtes Vorhaben. Es wurden 21 dieser „Kooperationsmodule Europaförderung“ auf den Weg gebracht: elf in Spanien, sieben in Portugal, zwei in Griechenland und eins in Irland – fünf davon finden Sie in diesem Heft vorgestellt. Ein kleiner „Stempel“ macht darauf aufmerksam. Die Stiftung hofft, so einen bleibenden Beitrag geleistet zu haben zum Erhalt der Vielfalt der Wissenschaftskulturen Europas. Rubriken 26 Kompakt: zum Schwerpunktthema 70 Spektrum: zur Wissenschaftsförderung 104 Forum Förderung: Auszeichnungen / Bewilligungen 152 Publikationen 158 Veranstaltungen 162 Die Stiftung im Netz 163 Die Stiftung in Kürze 166 Vorgestellt! 167 Impressum Allianz für das Meer Eine Fotoreportage ➞ S. 6-25 Impulse 01_2016 5 Allianz für das Meer Das Deutsche Meeresmuseum in Stralsund. Hier treffen sich zwei Geschichten, die eigentlich nur eines verbindet: der Lebensraum Wasser, das Meer. Die eine Geschichte erzählt davon, wie – oft vom Menschen verursachte – Belastungen den größten Meeresbewohnern vor unserer Küste zu schaffen machen. Die andere beäugt Verwandtschaftsverhältnisse – unter Fischen. Eine Geschichte über die Qual des Wals und das Silber des Meeres. Willkommen in Stralsund – und an ein paar anderen Schauplätzen. 6 Impulse 01_2016 7 Professorin Ursula Siebert, Leiterin des Instituts für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover (TiHo), bei einer Ausfahrt mit der „Seeeule“. Das Schiff liegt am Standort Büsum des Instituts vor Anker. Die Wissenschaftler suchen mit Klickdetektoren nach Schweinswalen. Das Gerät nimmt durch hochsensible Unterwassermikrofone die typischen Laute der Meeressäuger auf, verarbeitet und speichert diese. Schweinswale nutzen zur Orientierung eine Art Sonar – eben jene Klicklaute, deren Echo sie wieder auffangen. Dessen Muster zeigt ihnen Beutefische an oder lässt sie Hindernisse erkennen. Mitarbeiter des TiHo-Instituts beladen die „Seeeule“ mit dem Klickdetektor. Am Ende der Fahrt (rechts) warten bereits zwei neue Totfunde – eine Robbe und ein Schweinswal – im Büsumer Sektionsraum auf Ursula Siebert und ihr Team. Viele Tiere sterben als „Beifang“. Sie verheddern sich in den Maschen der in der Ostsee nach wie vor üblichen Stellnetzfischerei oder enden in sogenannten Geisternetzen, die von Fischern aufgegeben wurden und noch jahrzehntelang im Meer treiben können. Die modernen Netze sind zudem aus solch feinem Nylongarn geknüpft, dass die Tiere sie weder sehen noch akustisch mit ihrem wichtigsten Orientierungssinn, der Echoortung, rechtzeitig wahrzunehmen in der Lage sind, da der Schall nicht ausreichend reflektiert wird. 8 Impulse 01_2016 9 Mitarbeiterinnen des TiHo-Instituts für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung im Sektionsraum am Standort Büsum. Die beiden toten Meeressäuger werden vor der Sektion zunächst gewaschen (oben). Dann entnehmen die Wissenschaftler verschiedene Gewebeproben (Mitte). Ganz typisch für die Meeressäuger: das Fettgewebe, hier eines Schweinswals (unten). Vor allem dort lagern sich viele Schadstoffe und Umweltgifte ab und reichern sich an. Auch Parasiten nisten sich ein, nach denen hier gerade gesucht wird. Rechte Seite: TiHo-Mitarbeiterin Dr. Kristina Lehnert koordiniert das Forschungsvorhaben „Meeressäuger in einer sich verändernden Umwelt“ mit sieben Projektpartnern an acht Hochschul- und Museumsstandorten. Hier sucht sie mit einem Binokular im Büsumer Sektionsraum nach Parasiten (oben). Im toten Seehund findet sie unter anderem einen Herzwurm; hier das „Korkenzieherende“ des Männchens (unten links). Unterdessen stellt Institutsdirektorin Ursula Siebert gerade Gewebeproben für weitergehende Analysen sicher (unten rechts). 10 Impulse 01_2016 11 Schauplatzwechsel: hinüber an die Ostsee ans Deutsche Meeresmuseum (DMM) in Stralsund. Drei engagierte Forscher diskutieren in der Trockensammlung des DMM über frisch identifizierte Spuren an Knochen von Robben und Zahnwalen: Dr. Michael Dähne, Kurator für Meeressäugetiere; Anja Gallus, zuständig für das Schweinswal-Monitoring an der Ostsee – sowie Dr. Timo Moritz, Leiter Wissenschaft und Kurator für Fische (auch: mittleres Bild). Mit den drei Wissenschaftlern treffen hier in Stralsund im Deutschen Meeresmuseum auch die beiden von der Stiftung geförderten Projekte zu den Meeressäugern sowie zu möglichen Verwandtschaftsbeziehungen verschiedener Fischgruppen aufeinander. Unten: Blick in die Schausammlung auf Modelle von Delfinen. Linke Seite: An den toten Meeressäugern werden standardisierte Messungen vorgenommen bis hin zum Körperumfang und zur Dicke der Fettschicht. Oben, links: ein Stück Fettgewebe eines Schweinswals und eine Schieblehre zur Bestimmung der Dicke des Gewebes. Unten: der Schädel einer Kegelrobbe. Ob aus Nord- oder Ostsee: Der Vergleichbarkeit halber konzentrieren sich die Forscher des an Partnern reichen „MeeressäugerVerbundprojekts“ auf Untersuchungen an ausgewählten Knochen, und zwar vor allem des Unterkiefers, vereinzelt aber auch auf Schädel, Brustbein, Becken- und Schulterknochen (siehe auch Text ab Seite 20). Abbildungen nächste Doppelseite: Von den Meeressäugern zu den Fischen: Timo Moritz präsentiert die an Beständen reiche Sammlung konservierter Fische im Deutschen Meeresmuseum in Stralsund. Einen Eishai, der für die Sammlung auf Dauer haltbar gemacht werden soll, übergießt er routiniert in einem Glasbehälter mit Alkohol. 12 Impulse 01_2016 13 14 Impulse 01_2016 15 Die Bilder faszinieren: mit der Clearing-and-Double-Staining-Methode angefärbte Fische. Das Tier wird transparent gemacht; Nächste Doppelseite: Während Timo Moritz sich auf die Morphologie der Fische Knochen und Knorpel werden mit spezifischen Farbstoffen gefärbt. Dazu benötigt man die beiden Lösungen Alcyanblau und konzentriert, übernimmt Projektpartner Dr. Nicolas Straube (linke Seite) von der Alizarinrot (oben). Darunter: Aufgehellte Fische werden dann in Glycerin aufbewahrt. Auch die Fische unten wurden so behandelt (von links nach rechts): Western Galaxia (Galaxias occidentalis); junger Nagelrochen (Raja clavata); Schwarzkopf (Normichthys operosus); Süßwasser-Kugelfisch (Carinatetraodon travaricoricus); Stint (Osmerus eperlanus) mit Beute; junge Forelle (Salmo trutta). Bild rechts: Timo Moritz füttert mit Tochter Ylva und Doktorand Matthias Mertzen die Fische seiner Zucht. 16 Zoologischen Staatssammlung München die molekularbiologischen Analysen (hier ein Probenglas mit Stinten). Die Münchner Sammlung hält einen Großteil der benötigten Gewebeproben und viele der die Forscher interessierenden Fische konserviert vor – unten rechts ein Blick in die Sammlung karpfenartiger Fische. Impulse 01_2016 17 18 Impulse 01_2016 19 Nach der Sektion ist vor der Sektion: Ursula Siebert ist viel gefragt und viel unterwegs – und das nicht nur, weil das von ihr geleitete TiHo-Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung mit Hannover und Büsum an der Nordsee zwei Standorte hat. Text: Christian Jung // Fotos: Daniel Pilar Ü ber tausend tote Schweinswale habe sie bestimmt schon vor sich auf dem Untersuchungstisch liegen gehabt. „Und dabei vieles gesehen, was beunruhigt.“ Ursula Siebert blättert im Schnelldurchgang die Ergebnisse jahrelanger Forschung auf, während sie sich in ihrem Institut in Büsum auf eine weitere Sektion eines tot angelieferten Meeressäugers vorbereitet. Die Direktorin des Instituts für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover (TiHo) schüttelt leicht sorgenvoll den Kopf bei der Erinnerung daran, wie viele gestrandete und „beigefangene“, also durch Fischerei getötete Schweinswale bei ihr und ihrem Team im vergangenen Jahrzehnt auf dem Seziertisch gelandet sind.   20 Was dort zu liegen kommt, schauen sich die Forscher genau an. Sie nutzen inzwischen standardmäßig zum Beispiel computergestützte Röntgenaufnahmen, untersuchen etwa den Gehörbereich von Schweinswalen und dabei explizit die Ohrknochen. Vor allem interessieren sie sich für Schäden, die im Verdacht stehen, durch Lärm verursacht worden zu sein. „Im Innenohr werden die Schwingungen des Schalls auf winzige Haarzellen übertragen und dann als elektrisches Signal an das Gehirn weitergeleitet“, erläutert Professorin Dr. Ursula Siebert und verdeutlicht zugleich, wie leicht das überlebenswichtige und sensible Organ verletzt werden kann. Sind die Schwingungen zu stark, können sie das empfindliche Gewebe regelrecht zerstören. „Letztlich müssen wir in der Gesamtschau ganz klar festhalten, dass sich Schäden und Veränderungen am Hörapparat in den vergangenen Jahren in einem weit höheren Maße fanden als erwartet“, betont die Biologin.   Insgesamt stellten die TiHo-Forscher fest, dass der Gesundheitszustand vor allem jener in der Ostsee lebenden Schweinswale deutlich schlechter ist im Vergleich zu den Artgenossen in anderen Weltmeeren. Der Schweinswal ist der typische Wal der deutschen Gewässer und ihrer Anrainer und die einzige in der Ostsee heimische Walart. „Die Untersuchungen an rund tausend dieser toten Meeressäuger belegen, dass die Tiere häufiger an Lungenentzündung, Störungen des Hormon- und Immunsystems und Parasitenbefall leiden als Schweinswale anderswo“, bündelt Siebert zehn Jahre intensiver Forschung. Sie erklärt dies mit einer übermäßig starken Belastung und Nutzung des Meeres. Faktoren wie eine zunehmende Schadstoffanreicherung und Verschmutzung der Meere, Öl-Havarien und Erdölförderung, die Erwärmung der Meere, Gefahren durch die Fischereimethoden ebenso wie der Rückgang der Beutetiere aufgrund von Überfischung, stetig zunehmender Schiffsverkehr, Lärmverschmutzung, der Bau von Windparks, seismische und militärische Aktivitäten und in diesem Kontext auch die Anreicherung schwer abbaubarer Schadstoffe aus der Chemie im Meerwasser: Die akuten Bedrohungen tragen viele Namen.   Ursula Sieberts Fazit aus jahrelanger facettenreicher Forschung zu den Meeres­säugern: „Den Schweinswalen in den heimischen Gewässern geht es nicht gut.“ Denn vieles, was für die Ostsee gilt, treffe – wenngleich abgeschwächt – auf die Nordsee ebenfalls zu. Und es sind nicht nur die Schweinswale, die leiden: Auch andere in Nordund Ostsee lebende Meeressäuger sind gefährdet – Seehunde und Kegelrobben beispielsweise.     Meeressäuger in einer sich über die Jahrzehnte verändernden Umwelt   Damit ist der Rahmen gesteckt für das umfangreich angelegte Kooperationsvorhaben „Meeressäuger in einer sich verändernden Umwelt“, an dem sich unter Federführung von Ursula Siebert seit Mitte 2015 sieben Projektpartner an acht Hochschul- und Museumsstandorten beteiligen. Neben dem TiHoInstitut mit seinen beiden Standorten und dem Deutschen Meeresmuseum sind die Zoologischen Institute und Museen der Universitäten Hamburg und Kiel, die Universität Hildesheim sowie die beiden Naturkundemuseen in Kopenhagen, Dänemark, und Stockholm, Schweden, eingebunden. Die Stiftung fördert das Vorhaben in der Initiative „Forschung in Museen“ mit 420.000 Euro.   Ist aber die bedrohte Tierwelt überhaupt ein Thema für Museumsforscher? „Sicher“, antwortet Anja Gallus entschieden. Die Biologin ist seit 2010 für das Schweinswal-Monitoring an der Ostsee zuständig und koordiniert verschiedene Projekte zu den Meeressäugern. „Auch und gerade anhand von Sammlungsbeständen können wir im Blick über große Zeiträume Entwicklungen aufzeigen.“ Dr. Kristina Lehnert vom TiHo-Institut ergänzt: „Die Projektpartner verfügen über einzigartige Sammlungen. Dazu gehören Skelette, gefrorene und in Formalin archivierte Materialien und Parasitenproben der marinen Säugerspezies aus Nordund Ostsee.“ Das Material wurde jahrzehntelang bewahrt und ergänzt. Eine einmalige Chance für die Wissenschaftler, denen diese Sammlungen unzählige vergleichende Analysen ermöglichen.   „Ziel ist es unter anderem zu erfassen, wie stark die Belastung der Tierbestände durch die verschiedenen Stressoren ist“, erläutert Dr. Michael Dähne, seit Herbst 2015 Kurator für Meeressäugetiere am Deutschen Meeresmuseum Stralsund. „Der Vergleichbarkeit halber konzentrieren wir uns mit den anderen Museumspartnern im Verbund auf Untersuchungen ausgewählter Knochen, und zwar vor allem auf Unterkieferknochen, vereinzelt ziehen wir aber wohl auch Schädel, Brustbein, Becken- und Schulterknochen für Analysen hinzu.“ „Wir versprechen uns dabei viel vom Einsatz neuer Untersuchungsmethoden“, übernimmt Kristina Lehnert wieder. Bei der Mitarbeiterin von TiHoInstitutschefin Ursula Siebert laufen die Fäden der vielgliedrigen Kooperation zusammen.   „In Kombination mit dem sehr facettenreich vorhandenen Fachwissen durch die zahlreichen Partner im Verbund sollte es im Ergebnis möglich sein, die Belastungen, denen Schweinswale, Seehunde und Kegelrobben über den betrachteten Zeitraum ausgesetzt waren und sind, differenziert zu analysieren“, ergänzt Gallus. „Ganz konkret wollen wir herausarbeiten, wie sich der Gesundheitsstatus, die Zusammensetzung der Nahrung sowie die Belastung mit Schadstoffen beziehungsweise mit Parasiten oder Viren bei den drei Säugetierarten in Nord- und Ostsee unterscheiden – und zwar sowohl zwischen den drei Arten als auch bei ein und derselben Art im Abgleich über die Jahrzehnte“, fasst Dr. Kristina Lehnert zusammen. In Kerteminde, Dänemark, beschäftigen sich Wissenschaftler auch mit lebenden Schweinswalen; der einzige Standort an der Ostsee, an dem mit den Meeressäugern gearbeitet wird. Dr. Jörg Driver sehen wir hier bei audiometrischen Untersuchungen. Impulse 01_2016 21 Auch Wissenschaftler der Universität Hildesheim steuern beim Meeressäuger-Projekt ihre Expertise bei: Sie identifizieren kleinste Schäden an Knochen und Zahnmaterial bis in den Zahnschmelz hinein und sind in der Lage, Rückschlüsse zu ziehen auf Umwelteinflüsse und Nahrungsangebot. Die Schäden im Zahnschmelz der Backenzähne eines Hausschweins (oben) beziehungsweise Wildschweins (unten) sind hier ausgesprochen markant und gut zu erkennen.   Im Detail geplanter Untersuchungen sieht das dann so aus: Die Wissenschaftler werden an Präparaten aus mehreren Jahrzehnten zunächst Knochendichte und Knochenstruktur vergleichend analysieren. Knochen und Fell untersuchen sie auf Spurenelemente und Schwermetalle; wo es das Material hergibt aber auch auf Verletzungen, Veränderungen oder sonstige Auffälligkeiten. Standardmäßig testen sie auf Gifte und Umweltschadstoffe wie beispielsweise Quecksilber, Blei und Selen. Weiter schauen sie nach Veränderungen im Nahrungsspektrum und suchen nach Anzeichen dafür, ob und inwieweit sich die Umweltbedingungen im Laufe der Zeit geändert haben. Ferner gilt das Interesse Krankheitserregern: Gelingt es womöglich, Viren nachzuweisen? Wie differenziert lassen sich Parasiten in den Präparaten der drei Säugetierarten über die Jahrzehnte kategorisieren? „Jeder trägt sein spezifisches Know-how bei“, sagt Kristina Lehnert: etwa über neueste molekularbiologische und morphologische Techniken oder moderne Analytik, mit deren Hilfe sich sogar 22 Krankheitserreger detektieren lassen – im Optimalfall auch in der Rückblende. Ebenso lasse sich aus Ergebnissen modernen Methodeneinsatzes ableiten, welche Auswirkungen bestimmte chemische Schadstoffe auf den Gesundheitszustand mariner Säuger gehabt hätten. „Hinzu kommen Experten wie die Kollegen von der Universität Hildesheim, die in der Lage sind, anhand von Knochen und Zahnmaterial Rückschlüsse auf die Umwelteinflüsse und das Nahrungsangebot zu ziehen und die morphologische Stressmarker im Zahnschmelz zu analysieren vermögen“, sagt Siebert.   Ursula Siebert fasst zusammen: „Am Ende des Projekts werden wir hoffentlich aus den Ergebnissen so viele Erkenntnisse destillieren, dass wir klare Aussagen machen können über den Gesundheitszustand unserer marinen Säugetiere, wie er sich über eine längere Zeitspanne darstellt. Und vielleicht gelingt es sogar, Entwicklungsszenarien aufzuzeigen.“ Die Ergebnisse und Interessantes mehr sollen am Ende als Wanderausstellung aufbereitet in den beteiligten Museen gezeigt werden. Insgeheim hofft man, dass solch eine Schau nicht nur angedacht verharrt, sondern denkwürdig wird und so viel Aufmerksamkeit erfährt, dass andere Anrainer von Nord- und Ostsee ihr Interesse bekunden.     Hering, Lachs und Karpfen – alte Bekannte mit unbekannter Verwandtschaft   Eine Ausstellung am Ende des Projekts: Da bekommt auch Dr. Timo Moritz leuchtende Augen. Und das versteht man sofort, sieht man all die Bilder von transparent gemachten und angefärbten Fischen. Der Biologe ist der Kopf des zweiten Projekts, dessen Herz nun unzweifelhaft im Deutschen Meeresmuseum in Stralsund schlägt. Dort beschäftigt sich der Leiter Wissenschaft und Kurator für Fische am DMM mit drei alten Bekannten, denen er eine mögliche, bislang jedenfalls ungeklärte Verwandtschaft nachsagt: Hering, Lachs und Karpfen. Auf den ersten Blick scheint es dem flüchtigen Betrachter so, als hätten diese Fische – zumal teils in Salz-, teils in Süßwasser beheimatet – so gar nichts miteinander zu tun. Außer, nun ja, dass man als Fischesser sie wohl alle drei schon mal auf dem Teller hatte. Und dass sich mit jedem von ihnen auch jenseits der Wissenschaft für viele etwas Besonderes verbindet: mit dem Karpfen der Jahreswechsel, mit dem Lachs der mühsam erscheinende Fortpflanzungsreigen – und der Hering, der galt eh gemeinhin lange Zeit als König der Fische; wurde jahrhundertelang mit Gold aufgewogen, nährte als Silber des Meeres die Massen, begründete Handelsimperien, löste Kriege aus und inspirierte Künstler und eben Köche.   Greifen wir kurz den Hering heraus, über den Timo Moritz auch am meisten erzählt: „Der Hering an sich, oder vor allem auch die ganzen Heringsverwandten wie Sardellen, Sprotten und andere mehr, sind extrem wichtig für die Nahrungskette im Meer, nicht zuletzt, weil sie in großen Mengen vorkommen. Sie sind wichtige Nahrungsfische nicht nur für uns, sondern auch für Seevögel und Meeressäuger.“ Je mehr man also über den Hering und seine – möglichen – Verwandten wisse, umso besser.   Neben Sprotte und Sardelle zählen außerdem die mittelmeertypische Sardine, die Finte oder der Maifisch, der Wolfshering und weitere Arten zur Familie der Heringe. Der Hering selbst ernährt sich überwiegend von Plankton, kleinen Krebstie- ren und Fischlarven. Typisch für den 30 bis 40 cm langen Fisch ist sein eher schlichtes Erscheinungsbild in schillerndem Schuppenkleid. Einmal pro Jahr laicht er: Je nach Art im Frühjahr, im Sommer oder im Herbst. Die Eier, 20.000 bis 50.000 an der Zahl, legt das Heringsweibchen in küstennahen, wärmeren Gewässern ab. Die zu erreichen, überwindet der Hering in riesigen Schwärmen – und das erinnert an den Lachs – unglaubliche Distanzen: bis zu 4.000 Seemeilen liegen zwischen den Fressplätzen im Nordatlantik und den Laich- und Überwinterungsplätzen in der Nordsee.   „Im Schwarm ist er durch seinen besonders gut ausgeprägten Hör- und Sehsinn in Gefahrensituationen in der Lage, Fressfeinde rechtzeitig zu erkennen, und durch eine besondere Art der akustischen Kommunikation hat er eine Chance, der Bedrohung auszuweichen“, erläutert Moritz und macht auf eine Besonderheit aufmerksam: „Ganz typisch für die ganzen Heringsverwandten ist, dass sie eine Verbindung zwischen ihrer Schwimmblase und dem Innenohr haben – und darüber kann der Hering sehr gut hören.“ Die Fische kommunizieren auch untereinander, machen Geräusche. Man nimmt an, dass das vor allem in der Nacht wichtig ist, um den Schwarm zusammenzuhalten, oder generell, um sich gegenseitig etwa vor Räubern zu warnen. Vier für die Meere: Michael Dähne, Anja Gallus und Timo Moritz vom Deutschen Meeresmuseum Stralsund – und Ursula Siebert Impulse 01_2016 23   Solch ein Heringsgeräusch kann ohne Unterbrechung bis zu zehn Sekunden andauern und ist immerhin noch in zehn Metern Entfernung wahrnehmbar, auch vom menschlichen Ohr. Allerdings gelang es lange Zeit nicht, diese Laute zu erkennen und zuzuordnen. Statt­dessen hielt man sie in Schweden sogar für Geräusche sowjetischer Atom-U-Boote. Erst in den 1960er Jahren gelangen Forschern in unmittelbarer Nähe großer Heringsschwärme Unterwassertonaufnahmen des von Seeleuten so bezeichneten Heringsfurzens.   Heringslaute, Verbindung zwischen der Schwimmblase und dem Innenohr: Sind hier Spezifika erkennbar, die helfen könnten, die nächsten Verwandten des Herings auszumachen und unter Umständen auch den Bogen Richtung Lachs und Karpfen zu schlagen? Den generellen gedanklichen Ansatz kann Timo Moritz verstehen, sein Projekt ist aber doch etwas anders angelegt.     Die Kombination von Morphologie und Molekularbiologie: Viele Methoden wirken zusammen   „Das Problem bei der Aufklärung von Verwandtschaftsbeziehungen ist, dass man sich leicht täuschen kann“, sagt Moritz. „Zum einen sagt die bloße Sequenzanalyse von Abschnitten des Genoms mehrerer betrachteter Spezies im Vergleich allein zu wenig aus. Zum anderen können sich bei ähnlicher Lebensweise ähnliche Merkmale ausprägen, die zwei Tierarten fälschlicherweise als näher miteinander verwandt erscheinen lassen.“ Moritz umschifft diese Untiefen, indem er zwei Ansätze kombiniert: Er bringt morphologische und molekularbiologische Methoden zusammen. Das überzeugende Potpourri an Verfahren und Analysen und die valide Wissenschaft dahinter mündeten unmittelbar in eine Förderung der Stiftung über 550.000 Euro in der Initiative „Forschung in Museen“.   Weg Nummer eins der Annäherung erfolgt über die Morphologie mittels vergleichender Ontogenese. Moritz betrachtet also, wie sich der einzelne Organismus quasi vom Stadium weniger Zellen 24 an entwickelt. „Oft ist die Organisation des Skelettapparates und von Muskulatur und Nervensystem gerade in den frühen Entwicklungsstadien besser vergleichbar als im Laufe der allmählich fortschreitenden Differenzierung“, sagt Moritz. „Damit liefert die Ontogenese häufig erste gute Hinweise über echte oder aber auch bis dato gegebenenfalls falsch angenommene Verwandtschaftsverhältnisse.“ Für den Vergleich über die Entwicklungsstadien hinweg kommt Moritz dabei die umfangreiche Fischsammlung des Deutschen Meeresmuseums in Stralsund zugute sowie zur selektiven Fischzucht sein eigener „Forschungsaquarienraum“.   Interessant ist die Kombination des Methodenarsenals, das den morphologischen Ansatz grundiert: Moritz arbeitet mit Aufhellpräparaten, Antikörperfärbungen und CT-Scans. Das Spannendste vorweg: die Clearing-and-Double-Staining-Methode zur Untersuchung von Skelett, also Knochen- und Knorpelelementen bei Wirbeltieren (siehe Fotos auf den Seiten 16/17). Dabei wird das Tier transparent gemacht, Knochen und Knorpel werden jedoch mit spezifischen Farbstoffen gefärbt. „So lassen sich selbst kleinste Skelettelemente von Fischlarven untersuchen und somit Strukturen in ihrer Entwicklung“, bringt es Moritz auf den Punkt.   Weitere Erkenntnisse liefert die Antikörperfärbung. „Inzwischen können wir in kleinsten Fischen und Fischlarven Muskel-, Knorpel- oder Nervengewebe mithilfe von Antikörpern untersuchen“, erläutert der Biologe. „Ohne dass wir zeitaufwändig Schnittserien anfertigen.“ Über das Verfahren lassen sich spezifisch bestimmte Merkmalskomplexe betrachten. Hier profitiert das Projekt von der Erfahrung der Arbeitsgruppe um Dr. Lennart Olsson vom Phyletischen Museum der Universität Jena. Ebenso ist man dort versiert in computertomografischen Scans und 3-D-Rekonstruktionen. Diese Techniken kommen zum Einsatz, um gleichermaßen Hartsubstanzen wie Knochen darzustellen oder auch Muskelstränge, also Weichgewebe. „Diese Methode, bei der ja kein Material beschädigt wird, nutzen wir vor allem, um seltene Exemplare zu untersuchen“, betont Moritz.   Der zweite Weg führt über molekularbiologische Methoden Richtung Ziel. Durch eine neue Next Generation Sequencing-Technik lassen sich geeignete Gene des Zellkerns in großem Umfang auf gewünschte, passgenaue Weise analysieren. Voraussetzung für den Einsatz dieser Technik ist es, hochqualitative DNA der zu untersuchenden Arten in Händen zu halten. Hier kommt die Expertise von Moritz’ Hauptprojektpartner Dr. Nicolas Straube von der Zoologischen Staatssammlung München zum Tragen. Der Biologe, der gerade erst von einem längeren wissenschaftlichen USA-Aufenthalt am College of Charleston nach Deutschland zurückgekehrt ist, beherrscht zum einen die Technik, zum anderen steht an seiner Wirkstätte ein Großteil der benötigten Gewebeproben bereit.   Ursprünglich umfasste das Set der für die molekulargenetische Fragestellung zu sequenzierenden und analysierenden Gene etwa 1200 Kandidaten. Das Know-how und die technischen Möglichkeiten von Kooperationspartner Professor Dr. Chenhong Li von der Shanghai Ocean University führten jedoch dazu, dass inzwischen über 14.000 Kandidatengene im Kontext der Verwandtschaftsanalysen für weitergehende Betrachtungen interessant erschienen. Die Analysen laufen.   Schauen wir abschließend aber noch einmal auf den Hering. Faszinierend an ihm ist nicht nur die besondere Art und Weise sich zu verständigen – Vergleichbares kennt man bei Meeresbewohnern bislang nur von hoch spezialisierten Arten wie Walen und Delfinen. Auch die Erscheinung der riesigen Heringsschwärme ist ein einzigartiges Naturschauspiel. Denn obwohl der einzelne Fisch eher unscheinbar aussieht: In der Masse ist die Wirkung der unzähligen glänzenden Schuppen, die je nach Einfall des Sonnenlichtes in einem Spektrum von stahlblau bis violett schimmern, äußerst beeindruckend. Die riesigen, das Mondlicht reflektierenden Schwärme vor den Küsten kündigten den Fischern von jeher den Beginn der Fangsaison an. Doch der schillernde Glanz des Herings ist nicht für den Menschen gemacht, sondern einzig Zauber des Fisches und allein ihm zu eigen.  Blick auf das Ozeaneum, den neuesten Standort des Deutschen Meeresmuseums in Stralsund, im Oktober 2010 Impulse 01_2016 25 Kompakt Nachrichten zum Schwerpunktthema „Ins Blaue hinein“ Lichtenberg-Professor Georg Pohnert von der Universität Jena neuer Max Planck Fellow Wie organisieren sich Einzeller im Meer, und wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Zur chemischen Ökologie von Planktongemeinschaften und Algenpopulationen forscht Georg Pohnert – künftig auch am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena. Der Chemiker Georg Pohnert (oben) vom Institut für Anorganische und Analytische Chemie der Universität Jena überprüft Algenkulturen, die in einem speziellen Container der Einrichtung gehalten werden. Der Lichtenberg-Professor hat gemeinsam mit seinem Team und Kollegen der Universität Gent in Belgien aufgeklärt, wie bei Kieselalgen die Einzeller miteinander wechselwirken und welche chemischen Prozesse dabei eine Rolle spielen. Algen sind Teil der Planktongemeinschaften unserer Meere (mittlere Bildleiste: zwei Planktonproben); unten: Mitarbeiter Dr. Thomas Wichard forscht am „Meersalat“ (Ulva lactuca), einer mehrzelligen Grünalge, die besonders viele Spurenelemente und Vitamine enthält. 26 Professor Dr. Georg Pohnert, Inhaber des Lehrstuhls für Instrumentelle Analytik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wurde zum Max Planck Fellow ernannt. Mit dem 2005 ins Leben gerufenen Fellow-Programm soll die Zusammenarbeit zwischen exzellenten Wissenschaftlern der Max-Planck-Gesellschaft und an Hochschulen gefördert werden. Der mit einer LichtenbergProfessur der VolkswagenStiftung ausgestattete Forscher erhält damit für zunächst fünf Jahre die Möglichkeit, als Leiter einer Arbeitsgruppe am Jenaer Max-Planck-Institut für chemische Ökologie (MPI-CE) mit dem Status eines Gastwissenschaftlers eigenständig zu forschen. Pohnerts Interesse gilt der chemischen Ökologie von Planktongemeinschaften. Mit diesem Begriff fasst man die zahlreichen, in Ozeanen und Seen frei schwebenden, oft mikroskopisch kleinen Organismen zusammen. Wenn Algenpopulationen „blühen“, können sie riesige Teppiche im Meer ausbilden. Das komplexe Gebilde vieler miteinander in Wechselwirkung stehender winziger Lebewesen ist dabei hochdynamisch und ändert sich permanent. Man könnte diese Gemeinschaft als eine Art „Superorganismus“ verstehen. Bereits die einzelnen Zellen scheinen sich individuell von den anderen zu unterscheiden. Sicher ist, dass sie mithilfe chemischer Verbindungen miteinander kommunizieren und interagieren können. Das gilt unter anderem für durch Pheromone ausgelöste sexuelle Fortpflanzung, Räuber-Beute-Beziehungen oder die natürliche Regulierung bei mikrobiellen Infektionen. Die Arbeitsgruppe um Georg Pohnert untersucht nun, wie heterogen Algenpopulationen sind und wie sich die chemischen Eigenschaften einzelner Zellen auf die Wechselwirkungen innerhalb von ganzen Populationen auswirken. Dazu nutzt sie unter anderem neueste bildgebende Verfahren der Massenspektrometrie, um chemische Profile für einzelne Zellen zu erstellen. Pohnert greift dabei auf seine Erfahrungen bei der Gewinnung und Manipulation solcher Zellkulturen zurück und verbindet dieses Know-how mit den Möglichkeiten, die das Max-Planck-Institut bietet. Die chemische Charakterisierung einzelner Zellen bildet die Grundlage für weitergehende ökologische Untersuchungen wie beispielsweise Experimente mit markierten Zellen im Mesokosmos – einer Art künstlicher und vereinfachter Umwelt, in der sich das Schicksal dieser Zellen innerhalb einer Planktongemeinschaft genau verfolgen lässt. Der Chemiker Georg Pohnert befasste sich bereits in seiner Doktorarbeit mit der Pheromonchemie von Braunalgen. Nach einer Postdoc-Zeit in den USA untersuchte er von 1999 bis 2005 als Leiter einer Max-Planck-Nachwuchsgruppe die dynamischen Verteidigungsprozesse von Algen, folgte dann einem Ruf an die ETH in Lausanne, bevor er als Lichtenberg-Professor nach Jena wechselte. Er erhielt zahlreiche renommierte Auszeichnungen. ➞ Zur Forschung von Georg Pohnert siehe auch das daran angebundene „Europa-Modulprojekt“ auf der nächsten Seite. Christian Jung Kompakt Schwerpunktthema „Ins Blaue hinein“ Schwamm drüber – oder: Wie „kommunizieren“ diese Tiere mit ihren einzelligen „Mitbewohnern“? Plastikkonglomerate: eine neue Lebensform? Ein junger Forscher begibt sich auf die Suche Auf der Suche nach Naturstoffen als Grundlage möglicher Therapeutika: Rodrigo da Silva Costa vom Zentrum für Meereswissenschaften der Algarve-Universität in Portugal forscht mit einem „Kooperationsmodul Europaförderung“ der Stiftung. Was geschieht, wenn der Mensch durch seine Hinterlassenschaften zum größten Verursacher atmosphärischer, geologischer und biologischer Veränderungen auf der Erde wird … ? – Die Stiftung bewilligt erste Projekte in der Initiative „Originalitätsverdacht?“. Die Plastikpest: ein Problem Im Kampf ums Überleben globalen Ausmaßes. Forscher haben Schwämme (hier: suchen nach Wegen, den in den Spongia Azores) verschiedene Weltmeeren flottierenden Müll Verteidigungsstrategien aus- in den Griff zu bekommen. gebildet; etwa das Ausscheiden wachstumshemmender oder toxischer Substanzen. Die Naturstoffe dieser „chemischen Kriegsführung“ haben sich für pharmakologische, medizinische und (bio)technologische Anwendungen als wertvoll herausgestellt. Zahlreiche Tiere im Meer leben vergesellschaftet mit Mikroorganismen – in sogenannter Symbiose. Korallen etwa beherbergen Algen, die ihren Wirt mit wichtigen Nährstoffen versorgen. Auch Schwämme – sie gelten als frühe Entwicklungsform der Vielzeller – enthalten große Mengen an Mikroorganismen in ihrem Gewebe, die bis zu 40 Prozent der Biomasse ausmachen können. Schwämme kommen in allen Meeresgewässern der Erde vor, nur wenige Arten allerdings im Süßwasser. Über das Zusammenleben mit ihren Untermietern sowie beider Abhängigkeiten voneinander ist kaum etwas bekannt. Das will Rodrigo da Silva Costa vom Zentrum für Meereswissenschaften der Universidade do Algarve in Portugal ändern. Sein „Europa-Modulprojekt“ adressiert die chemische Kommunikation zwischen marinen Schwämmen und ihren Symbionten. Vor allem die sogenannte Chemotaxis, inwieweit also die Fortbewegung von Lebewesen oder Zellen in Richtung auf höhere oder niedrigere Konzentrationen eines Stoffes beeinflusst wird, sowie das Quorum Sensing will der junge Forscher untersuchen. 28 Als Quorum Sensing wird die Fähigkeit von Einzellern bezeichnet, über chemische Kommunikation die Zelldichte der Population messen zu können. Sie erlaubt es den Zellen einer Lösung, spezifische Gene nur dann zu aktivieren, wenn eine bestimmte Zelldichte über- oder unterschritten wird – ein junges, ausgesprochen spannendes Forschungsfeld, auf dem sich der portugiesische Wissenschaftler bereits anerkannt bewegt. Sein Vorhaben ist damit gut in das übergreifende Thema der Lichtenberg-Professur von Georg Pohnert eingebettet, greift aber ein neues Modellsystem auf. Mit der Fülle ihrer Naturstoffe stellen Meeresmakroorganismen wie Schwämme ebenso wie Mikroorganismen ein gewaltiges Reservoir für technologische und medizinische Anwendungen dar. Die große Vielfalt an biologischen Aktivitäten jedenfalls und das Wissen darüber, dass in marinen Entwicklungsprozessen Jahrmillionen an evolutiven Prozessen zur Entstehung hochwirksamer Substanzen geführt haben, machen für Pohnert wie da Silva Costa die Faszination der interdisziplinären Forschungsgebiete Marine Chemie, Mikrobiologie und Chemische Ökologie aus. Die zunehmende Ansammlung von Plastik in den Weltmeeren ist eines der größten ökologischen Probleme unserer Zeit. Zuletzt landeten jährlich nach Schätzungen über 30 Millionen Tonnen davon im Meer – Tendenz weiter steigend. Viele Kunststoffe sind erst nach mehr als hundert Jahren zersetzt, und die dann verbleibenden feinsten Nanopartikel treiben umher und sammeln sich in bestimmten Zonen der Ozeane an. Lässt sich gerade ein neues Phänomen beobachten – die Entstehung von Plastik-Naturen-Kulturen?   Diese Frage stellt Dr. Sven Bergmann, der Ende 2015 mit einer darauf aufsetzenden Projektidee einer jener war, die erfolgreich aus der ersten Wettbewerbsrunde der neuen Förderinitiative „Originalitätsverdacht?“ der Stiftung hervorgingen. Er unterfüttert die Frage mit einem interessanten Ansatz: „Wenn Hinterlassenschaften des Menschen wie etwa der Kunststoffmüll dazu führen, dass – wie neuere Forschung zeigt – in den Ozeanen durch und mit Plastik neue Ökosysteme und Lebensformen entstehen, dann stellt dies die Kategorien und die Unterscheidung von Natur und Kultur infrage“, sagt er. Und eben das fordere einen Sozial- und Kulturwissenschaftler wie ihn dazu heraus, einen neuen analytischen Umgang mit diesen hybriden Gegenständen zu finden.   Was also steht auf dem Spiel, wenn die Konzentration von Plastik im Salz- wie im Süßwasser immer mehr steigt? Das ist es im Detail, was ihn bewegt und interessiert. Zur Beantwortung dieser Fragen bedient er sich aus der Werkzeugkiste sozialanthropologischer und ethnografischer Methoden. Zudem biete der „Forschungsgegenstand Plastik“ die Möglichkeit, auch unerwartete Akteurskonstellationen, Bezüge und Beziehungen sowie Abzweigungen in den Blick zu nehmen. i Im Jahr 2014 hat die Stiftung mit „Originalitätsverdacht?“ eine weitere themenoffene Small Grants-Förderinitiative auf den Weg gebracht mit Fokus auf den Geistes- und Kulturwissenschaften. Die Initiative hält zwei Förderlinien bereit: „Komm! ins Offene …“ bietet dem einzelnen Forscher die Gelegenheit, ein Thema explorierend zu bearbeiten und in einem Essay oder Traktat darzulegen. Förderlinie 2 „Konstellationen“ soll es kleinen Projektteams ermöglichen, die Tragfähigkeit einer neuen Forschungsidee in einer Explorationsphase zu erkunden und gemeinsam auszuloten. Zum ersten Stichtag im Mai 2015 lagen insgesamt 388 Anträge vor, von denen jetzt 13 bewilligt wurden. Kompakt Schwerpunktthema „Ins Blaue hinein“ Inselleben – oder: Wie beeinflusst das soziale Miteinander die Übertragung von Krankheiten? Auch sie finden den Weg über das Meer: Zugvögel können das Navigieren noch nachträglich lernen Dr. Julia Schroeder vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen und der ­spanische Forscher Dr. Jordi Figuerola liefern wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der Übertragung von Infektionskrankheiten bei Vögeln – weiteres „Europa-Kooperationsmodul“. Zweite Chance im Leben – oder: Ich bin dann jetzt doch mal weg! Forscherinnen und Forscher der Universität Oldenburg um Lichtenberg-Professor Dr. Henrik Mouritsen verblüffen mit weiteren Erkenntnissen über den Orientierungssinn von Rotkehlchen. Er löst mit seinem Team ein Geheimnis nach dem nächsten zum Navigationsvermögen von Zugvögeln: Lichtenberg-Professor Julia Schroeder wies unlängst an Spatzen-Nachkommen Dr. Henrik Mouritsen. Am Beispiel von Rotkehlchen zeigte er jetzt, auf einer kleinen Insel vor dass sie auch später im Leben der Südwestküste Englands noch lernen können, den Weg den Lansing-Effekt nach über das Meer zu finden. (s. Impulse, 2015_2; Seite 46). Zehn Jahre lang beobachtete sie die Vögel auf dem 19 Kilometer entfernt vom Festland gelegenen Eiland. Manche Tierarten besiedeln als Einzelgänger Territorien enormen Ausmaßes und treffen Artgenossen sehr selten. Wieder andere leben in großen Herden oder Schwärmen auf engem Raum. Manche brüten in Kolonien dicht an dicht; insbesondere auf Inseln oder an felsigen Küsten. Einige Arten wiederum sind sozial monogam und wechseln selten den Partner, während andere sich mit vielen verschiedenen Partnern fortpflanzen. Dr. Julia Schroeder vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in See­wiesen und Dr. Jordi Figuerola vom Department of Wetland Ecology des spanischen Nationalparks Donana interessierte nun, ob ein Zusammenhang besteht zwischen der Sozialstruktur und der Häufigkeit, mit der Krankheitserreger von einem Tier auf ein anderes übertragen werden. Ihre Untersuchungsobjekte: vier Arten von Regenpfeiffern, die in unterschiedlich organisierten Sozialverbänden leben – in zwei Regionen Südspaniens, auf den Kapverdischen Inseln und an der Küste Mexikos. Aktuell integrieren sie in das Untersuchungssample des deutsch-spanischen „Europamodul-Kooperationsvorhabens“ noch eine Population der Kanarischen Inseln. 30 Vor Ort sammelten die Forscher Vogelkot und nahmen Blutproben, die sie dann auf fünf verschiedene Erreger testeten: Salmonellen und Plasmodien ebenso wie Campylobacter, Chlamydia, Haemoproteus. Die Werte von vielen Hundert Vögeln haben sie bereits erfasst, und es zeigte sich zunächst grundlegend, dass Salmonellen, Chlamydien und Campylobacter unerwartet häufig vorkommen. Zurzeit laufen detaillierte molekularbiologische Tests. Parallel holte Julia Schroeder Kollegen der Universität in Sheffield, Großbritannien, mit ins Boot. Jene übernehmen die Genotypisierungen und genetisch fundierten Analysen des Materials Tausender Vögel. Aus den so ermittelten Verwandtschaftsgraden der Tiere lässt sich auf die Sozialstruktur rückschließen. Die Evolutionsbiologin hat reichlich Erfahrung mit solchen Forschungsansätzen und -kontexten. Im Frühjahr 2015 (s. Impulse, 2015_2; Seite 46) machte Julia Schroeder mit einer Veröffentlichung auf sich aufmerksam, als sie erstmals bei wildlebenden Wirbeltieren den „Lansing-Effekt“ nachwies, demzufolge Kinder älterer Eltern vergleichsweise weniger Nachkommen haben und oft kürzer leben. Wie schaffen es Zugvögel, ihren Weg zu finden? Damit befasst sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt der von der VolkswagenStiftung im Rahmen einer Lichtenberg-Professur geförderte Biologe Dr. Henrik Mouritsen, Direktor des Instituts für Biologie und Umweltwissenschaften der Universität Oldenburg. Nach und nach kommt seine Arbeitsgruppe den vielen Geheimnissen hinter dem perfekten Navigationsvermögen der Vögel auf die Spur. So fanden sie bisher bereits heraus: Zugvögel orientieren sich unter anderem an den Feldlinien des Erdmagnetfelds, die an den Polen senkrecht zur Erdoberfläche stehen und am Äquator fast parallel sind. Diese können sie wahrnehmen und wissen so ziemlich genau, auf welchem Breitengrad sie sich gerade befinden und wohin sie fliegen. Außerdem nutzen sie den Stand der Sonne, um sich zu orientieren. Und bei Nachtflügen ist das Sternenbild eine wichtige Navigationshilfe. All diese Fähigkeiten entwickeln Rotkehlchen bereits in ihren ersten Lebensmonaten und bauen sich daraus ihren nahezu perfekten Orientierungssinn für ihren Flug im Herbst zusammen. Doch was ist mit Jungvögeln, die den Himmel gar nicht sehen können, weil sie beispielsweise wegen einer Verletzung in einem geschlossenen Raum gepflegt werden? Haben Sie die Chance verpasst? Davon ist die Wissenschaft bisher ausgegangen. In mehreren Experimenten mit Rotkehlchen haben Mouritsens Doktoranden Bianca Alert und Andreas Michalik herausgefunden, dass dies nicht immer der Fall ist. Zugvögel können das Navigieren auch später noch lernen – selbst dann, wenn sie im ersten Lebensjahr keine Sterne gesehen haben. Ihren Studien zufolge ist die Fähigkeit von Zugvögeln, ein Navigationsvermögen aufzubauen, zeitlich weitaus flexibler angelegt als bisher gedacht. Wie lange nachträglich, wie groß also das Zeitfenster dafür ist: Das ist noch unklar. Damit haben ausgewilderte Vögel eine bessere Chance zu überleben. Die Ergebnisse wurden online in den Scientific Reports der „Nature“-Verlagsgruppe veröffentlicht (Scientific Reports 5, Article number: 14323 (2015)). Link zur Publikation:  www.nature.com/articles/srep14323. Impulse 01_2016 31 Schwerpunktthema Ins Blaue hinein | KÜSTEN Ein Recht auf Meer Wo das Meer den Tisch seiner Anrainer reich zu decken vermag, gibt es traditionell eine Fischerei­ wirtschaft. Diese bedarf häufig Regulierungen von staatlicher Seite, wie die Überfischungen der Welt­­meere zeigen. Doch wie steht es um Vorgaben für gewachsene nachhaltige, kleine, nur lokal verortete Fischereien? Und: Werden die Fischer dort in politische Ent­scheidungs­ prozesse eingebunden? Die ­ süd­afrikanische Nachwuchs­ wissenschaftlerin Dr. Samantha Williams sucht nach Antworten. Südafrika, Western Cape, Lamberts Bay: Dr. Samantha Williams von der Universität Kapstadt begutachtet eine Hummerfalle im Boot von Fischer David Shoshola. Mit ihm und seiner Mannschaft ist sie gerade unterwegs zu guten Fanggründen. Impulse 01_2016 33 Text: Melanie Gärtner // Fotos: Felix Seuffert E Samantha Williams versucht im Gespräch mit heimischen Fischern herauszufinden, wie die Männer die Ressource Meer nutzen und inwieweit die Vorgaben des Staates sie behindern oder nicht. Hier befragt sie David Shoshola vor dessen Wohnhaus im südafrikanischen Lamberts Bay. s dürfte eins der meistgezeigten Motive Südafrikas sein – ob es als Illustration von Reiseberichten in Zeitungen dient, weil es uns als Touristenschnappschuss vor Augen gehalten wird oder einem aus Werbematerial von Reiseveranstaltern malerisch entgegenfunkelt: das Western Cape mit seinen vielen kleinen Fischerbooten, von denen (fast) immer welche auf See zu sein scheinen. Beinahe so, als wollten sie sicherstellen, dass das Motiv für Auge oder Kamera stets das pittoreske ist, dass man kennt. Damit bloß kein anderes Bild von diesem fast unwirklich schönen Fleckchen Erde entstehen kann. Eben dieses Bild, das den meisten Betrachtern wohl so das Herz weitet, zeigt letztlich harte Arbeit. Denn für die, die es entstehen lassen, heißt es tagtäglich: früh aufstehen, auf die See hinaus, Netze auswerfen. Das Meer an der Küste entlang des Western Cape ist traditionelles Fischereigebiet. Seit Jahrtausenden schon bieten die Fanggründe den Fischern in dieser Region eine dauerhafte Beschäftigung und den Menschen an Land Samantha Williams i eine verlässliche Nahrungsgrundlage. Reich an Leben ist das Meer hier durch das Benguela Upwelling Ecosystem, einen Auftrieb nährstoffbeladener Wasserschichten aus der tiefen See, der quasi in seinem Sog zahlreiche Fische in die Nähe der Küste zieht. Und so gibt es viel zu tun und viel zu fischen, und die Tage der Fischer werden schnell lang – so lang eben, dass sie als Nebeneffekt eine bezaubernde Wasserlandschaft von scheinbarer Dauerhaftigkeit entstehen lassen. Zwei typische Ortschaften an diesem Abschnitt der südafrikanischen Westküste sind Elands Bay und Lamberts Bay, rund 220 Kilometer nördlich von Kapstadt gelegen. Hier hat die Fischerei eine lange Tradition und ist tief in der Geschichte, der Kultur und der Identität der Menschen verankert. Ob Meeräschen, Hechtmakrelen, Hummer oder die als Delikatessen begehrten Seeohrschnecken: Wo und zu welcher Zeit des Tages die See die besten Fänge hergibt, das haben die Fischer noch von ihren Vätern und Großvätern gelernt – und die wiederum von ihren Vätern und Großvätern. Bis heute bestreiten sie mit dem, was in ihren Netzen hängen bleibt, ihren Lebensunterhalt. Doch wer in südafrikanischen Gewässern was fischen darf, wird vonseiten des Staates reguliert – und hier beginnen die Schwierigkeiten. Denn den Vorgaben, Regelungen oder Entscheidungen von politischer Seite fehlt nach Meinung der Fischer vor Ort oft das Bemühen um ein nachhaltiges Wirken, das zudem auch ihnen gerecht wird. „Womöglich ändert sich das gerade“, zeichnet Dr. Samantha Williams einen leichten Silberstreif an den Horizont. Sie ist allerdings auch Realistin genug zu wissen, dass das politische Ringen um den Umgang mit einer natürlichen Ressource nicht einfach ist und es immer wieder schnell zu Rückschritten kommen kann – schließlich sind oft viele Akteure im Spiel mit teils recht unterschiedlichen Interessen. Die südafrikanische Wissenschaftlerin ist inzwischen ausgewiesene Fachfrau zu dem Thema. Sie erwarb ihren PhD an der Environmental Evaluation Unit (EEU) der University of Cape Town in Südafrika und forscht seit nunmehr acht Jahren zu und in den Fischerdörfern an der Westküste. Bislang beschäftigte sie sich vor allem mit den Methoden und Strategien, die sich die Männer zur See seit Jahrhunderten zu eigen gemacht haben, um mit ihren Familien vom Meer zu leben. Ein großer Einschnitt in ihrem wissenschaftlichen Engagement kam um den Jahreswechsel 2013/14. Damals gelang es ihr, eines der begehrten Postdoktoranden-Fellowships für afrikanische Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler zu ergattern, die die VolkswagenStiftung in ihrer Förderinitiative zum sub-saharischen Afrika vergibt (siehe auch Kasten auf den Seiten 38/39). Und so kann Samantha Williams das im Zuge ihrer Doktorarbeit herausgeschälte Wissen vertiefen und, angereichert um zahlreiche neue Erkenntnisse, fundiert weitergeben. In dem mit rund 100.000 Euro geförderten Projekt „Sustainability of marine social-ecological systems – linking fisheries livelihoods strategies and multilevel governance in the Benguela Upwelling Ecosystem“ setzt sie sich mit den nachhaltigen Strategien der Fischer im Umgang mit der Ressource Meer auseinander und den Einflüssen, die vonseiten des Staates und seiner Institutionen auf das gesamte System wirken. Benachteiligt bei Gesetzgebung und Lizenzvergabe: Die „kleinen“ Fischer haben’s schwer Williams verfolgt ein ganz grundlegendes Ziel: Sie möchte die Fischer zum einen darin bestärken, den Zugang zu den Gewässern vor ihrer Haustür als Arbeits-, Lebens- und Nahrungsgrundlage immer wieder mit Nachdruck vom Staat einzufordern. Zum anderen sollen die Männer zur See nicht nachlassen in ihrem Bemühen, an relevanten politischen Entscheidungsfindungsprozessen beteiligt zu werden – etwa, wenn es um die Zu­teilung von Fischereilizenzen geht. Ein Blick zurück und zur Seite zeigt, dass solch eine Haltung, ein solches Auftreten absolut nicht selbstverständlich sind. „Die VolkswagenStiftung ist in Südafrika äußerst bekannt und ihre Stipendien sind sehr gut angesehen“, betont Samantha Williams im Gespräch immer wieder. Im Jahr 2002 machte sie zunächst ihren BA (Honours) und 2005 ihren Master an der University of the Western Cape in Südafrika. Danach wechselte die Geografin an die University of Cape Town an das Department of Environmental and Geographical Sciences; dort ist auch ihr von der Stiftung gefördertes Junior-Fellowship-Projekt verankert. Von Beginn an arbeitete Williams in der unabhängigen Forschungseinheit Environmental Evaluation Unit (EEU) mit. Ihren PhD erwarb sie bereits mit einer Arbeit über Zugangsstrategien lokaler Fischer zu den Ressourcen des Meeres. Derzeit vertieft sie ihre Forschungsergebnisse wie im Text vorgestellt im Rahmen des Post­ doktorandenprogramms der VolkswagenStiftung. Das Western Cape ist durch den Benguela-Auftrieb eines der am stärksten befischten Seegebiete Südafrikas. Die Trawler der großen Fischereikonzerne können mit ihren Langleinennetzen dabei so viel aus dem Wasser ziehen, wie es sich die Fischer in ihren kleinen Booten nicht einmal zu träumen wagen. Obwohl sie derselben Tätigkeit nachgehen wie die große Konkurrenz, wurden sie über Jahrzehnte hinweg nicht als bestehender Impulse 01_2016 35 Sektor der Fischindustrie anerkannt und bei der Vergabe von Fischereilizenzen nicht bedacht. Vor allem in den Jahren der Apartheid tat man sie als Selbstversorger ab, die entsprechend in der Fischereigesetzgebung nicht zu berücksichtigen sind, in der Konsequenz dieses Denkens dann aber auch keine Ansprüche zu stellen haben. Erst mit dem Entstehen der ersten demokratischen Regierung 1994 wurden die Fischerfamilien an den Küsten als Unternehmer und damit als Teil des Fischereisektors eingestuft. Samantha Williams’ Interesse rund um ihr Thema ist weitgreifend: Hier lässt sie sich von Fischer Brian Anderson eine Angelschnur mit Haken und Senkblei zum Fangen von Hottentot (Pachymetopan) zeigen. Besondere Fangmethoden und ganz allgemein kulturelle Eigenheiten gehören ihrem Verständnis nach dazu, will man sich ein umfassendes Bild davon verschaffen, was nachhaltige Fischerei ausmacht. 2007 setzte das National Department of Fisheries, die nationale Fischereibehörde, ein neues Gesetz in Kraft. Es spricht den Fischern das Recht zu, Lizenzen zu erwerben – eine Entscheidung, die bitter notwendig und überfällig war. Immerhin rund 28.000 Haushalten in Südafrika sichert die kleinteilige Fischerei zwar offiziell das wirtschaftliche Überleben, doch obwohl die südafrikanische Verfassung den Zugang zu natürlichen Ressourcen als grundlegendes Menschenrecht anerkennt, kann sich nur jeder zweite Fischerhaushalt von dieser Arbeit tatsächlich noch ausreichend ernähren. Für Samantha Williams ist das neue Gesetz daher ein großer Fortschritt in Richtung Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit. „Der Text weist viele gute Ansätze auf; insbesondere jene Passagen, die den Fischern mehr Mitbestimmung und mehr Eigenverantwortung zusprechen“, sagt sie. „Leider verläuft der Prozess, in dem diese neue Politik umgesetzt wird und in den Köpfen ankommt, sehr langsam. Das zu verbessern, ist die entscheidende ­Herausforderung.“ Zwar hatte die Regierung mehrfach in der Vergangenheit Anläufe unternommen, den Fischern „einen Weg zu ihren Rechten zu ebnen“, doch diese Offerten schlugen weitgehend fehl. In einem der Versuche hielt man die Fischer dazu an, für den Erwerb einer Fischereilizenz einen Antrag zu stellen. „Viele wussten aber nicht, was sie genau tun sollten oder hatten neben der täglichen Arbeit schlicht keine Zeit dafür“, sagt Samantha ­Williams. „Dieses Vorgehen drängte viele in die Illegalität – und zwar nur, weil sie keinen Antrag für das auszufüllen vermochten, was schon ihr ganzes Leben lang ihre Profession war.“ Dr. Samantha Williams ist eine vielversprechende Nachwuchswissenschaftlerin. Auf ungewöhnliche Weise und beinahe „in sich“ interdisziplinär kreist sie zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen ihren Untersuchungsgegenstand ein, indem sie Fragen des Zugangs zu natürlichen Ressourcen und Aspekten von Nachhaltigkeit oder Nahrungs­ mittelsicherheit aufwirft, dreht und wendet und darüber als Dach das Ziel von mehr sozialer Gerechtigkeit spannt. Damit steht die Geografin in Interesse und Engagement beispielhaft für die Stiftungsinitiative „Wissen für morgen – K ­ ooperative Forschungsvorhaben im sub-saharischen Afrika“. Die aktuelle Strategie der Regierung besteht nun darin, Rechte nicht individuell, sondern an Kollektive in den Kommunen zu vergeben. Die Fischer wurden daher dazu aufgefordert, sich in ihren Dörfern in Vereinen oder Gewerkschaften zu organisieren. An diesem Punkt setzt das Forschungs­vorhaben von Dr. Samantha Williams an. Sie analysiert, welche politischen Parameter sich gemessen an den Gegebenheiten des Alltags der Fischer als sinnvoll und wirksam erweisen. Und sie schaut, ob die Fischer sich in der Tat hinreichend einzubringen vermögen. Eine Forschungsförderung, die in ihrer internationalen Ausrichtung wie die Initiative zum sub-saharischen Afrika angelegt ist, erfüllt im Optimalfall viele sinnvolle Zwecke – Samantha Williams ist dafür das beste Beispiel. So wie sie können sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Schwellen- und Entwicklungsländern auf sonst kaum mögliche Weise qualifizieren: Mit der Unterstützung der Stiftung im Gepäck forschen sie vor Ort zu Themen, die für ihr Land oder ihre Region von Bedeutung sind. Einer der Kerngedanken, den die Stiftung mit ihrer internationalen Wissenschaftsförderung verfolgt, ist dabei nicht zuletzt Nachhaltigkeit. Am Anfang steht eine gute Idee, ein lohnenswertes Projekt. Gerät es in Schwung, kann sich die Stiftung nach einiger Zeit zurückziehen. Samantha Williams und David Shoshola (großes Bild, Mitte) lauschen Ernest Titus, der den Gebrauch einer Hummerfalle demonstriert. Oben: Mehrere Spulen Mit dem Herzen bei der Sache: Die „Afrika-Fellows“ engagieren sich für die Zukunft ihres Landes Indem sich der umfassend geförderte akademische Nachwuchs in Afrika oder anderswo mit fortschreitender Dauer der Projekte dann länderübergreifend nach und nach vernetzt, stärkt sich wechselseitig die Expertise: bei dem Einzelnen, in dessen Heimat und in der Zielregion insgesamt. Derart gestützt, empfiehlt sich die Wissenschaft­ lergeneration von morgen dann nicht zuletzt in globaler Perspektive für die Zusammenarbeit mit Kollegen aus allen Kontinenten. All diese Ziele verfolgt auch die VolkswagenStiftung mit ihrem Förder­bereich „Internationales“ im Großen, mit den einzelnen Angeboten für bestimmte Regionen dieser Welt im Speziellen. Angelschnur mit großen Haken zum Fangen von Snoek (Thyrsites atun) liegen neben Seilen und anderem Fischereibedarf in Brian Andersons Boot, das gerade wieder den Hafen von Lamberts Bay mit seinen zahlreichen vertäuten Fischerbooten anläuft (unten). Im Hintergrund: eine ehemals zur Fischverarbeitung genutzte Fabrik, in der jetzt Pommesfrites produziert werden. Impulse 01_2016 37 LAMBERTS BAY Wieder zurück an Land: Samantha Williams (vorne) und die Fischer (von links) Ernest Titus, David Shoshola, Alfonso Smith und Brian Anderson CAPE TOWN Hintergrund Die Entwicklung des Förderangebots zum ­­ sub-saharischen Afrika Die 2003 gestartete Initiative „Wissen für morgen – Kooperative Forschungsvorhaben im sub-saharischen Afrika“ soll vor allem jungen afrikanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in ihren Heimatländern Perspektiven eröffnen. Dabei verfolgt die Stiftung über ein dreistufiges Karrieremodell einen langfristigen und nachhaltigen Weg, der dem dortigen Forschernachwuchs Anreize bieten soll, auch nach der Promotion längerfristig in afrikanischen Institutionen zu arbeiten. In der inzwischen abgeschlossenen ersten F­ örderphase der Initiative waren Doktoranden und Masterstudierende eingebunden in internationale Kooperationsvorhaben, die bewilligt wurden im Zuge der folgenden acht thematischen Ausschreibungen:  Political, Economic, and Social Dynamics in Sub-Saharan Africa  Communicable Diseases in Sub-Saharan Africa – from the African Bench to the Field  Resources, their Dynamics and Sustainability – Capacity Development in Comparative and Integrated Approaches  Violence, its Impact and Coping Strategies 38 beziehungsweise stehen den Postdoktorandinnen und Postdoktoranden offen:  Negotiating Culture in the Context of ­Globalization  Resources, Livelihood Management, Reforms, and Processes of Structural Change  Sustainable Value Chains – Integrated ­Technologies for Sustainable Use of ­ Resources in Africa  Neglected Tropical Diseases and Related Public Health Research  Neglected Tropical Diseases and Related Public Health Research  Resources, their Dynamics, and S ­ ustaina­bility – Capacity Development in C ­ omparative and Integrated Approaches  Ingenieurwissenschaften  Sozialwissenschaften  Geisteswissenschaften  Livelihood Management, Reforms, and P ­ rocesses of Structural Change Derzeit läuft noch die zweite Förderphase, in der junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über sechs Postdoktorandenprogramme die Möglichkeit erhalten, eigene Projekte zu beantragen. Diese sind an den afrikanischen Heimatinstituten verankert. Die Postdoktorandenförderung umfasst auch die Schulung sogenannter Soft Skills: Wie manage ich beispielsweise ein Projekt, wie verfasse ich einen Antrag oder erstelle eine Publikation – oder auch: Wie plane ich meine Karriere? Können die Junior-Postdoktoranden Erfolge vorweisen, sollen sie in einer dritten Förderphase möglichst eigenständig ihren Weg als Senior-Postdoktoranden machen. Folgende sechs Themenfelder standen Zwei Säulen tragen aktuell die Afrika-Initiative. Zum einen hat die Stiftung bereits vier der sechs Postdoktorandenprogramme – zu den „Vernachlässigten Tropenkrankheiten“ und den „Natürlichen Ressourcen“ sowie zu den Sozial- und den Ingenieurwissenschaften – über die erste Unterstützungsphase hinaus weitergeführt mit jeweils mindestens einer zweiten Ausschreibungsrunde. Dieser zweite Durchgang wurde für die Sozial- und die Ingenieurwissenschaften mit Auswahlkonferenzen im Frühjahr 2015 abgeschlossen. Hier konnten sich bereits geförderte Junior-Postdoktoranden im offenen Wettbewerb mit neuen Interessenten um ein dreijähriges „Senior Fellowship“ bewerben. e rr Cu i Dr. Samantha Williams hat als Partner die Biologin und Politologin Dr. Milena Arias Schreiber von der Universität Göteborg gewinnen können. Die gebürtige Peruanerin hat bis vor Kurzem anderthalb Jahrzehnte in Deutschland gearbeitet und geforscht, zuletzt mehrere Jahre am Zentrum für Tropenökologie in Bremen. Sie unterstützt das Forschungsvorhaben mit einer institutionellen Analyse der Zugangsstrategien der Fischer zur Ressource Meer und dokumentiert, welche der Gesetzgebungen, die explizit „kleine Fischereien“ adressieren, tatsächlich einen – möglicherweise bleibenden – Effekt auf die Lebenswelt der Fischer haben. Im Frühjahr 2016 wird sie für insgesamt drei Monate zu Feldforschungsaufenthalten nach Südafrika reisen. la ue ng Be Das Herzstück des Angebots zum sub-saharischen Afrika sind seit einigen Jahren Postdoktorandenprogramme zur Unterstützung junger afrikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an ihren Heimatuniversitäten den drängenden Fragen unserer Zeit nachgehen. Das Afrika­ Engagement der Stiftung funktioniert als ein mehrstufiges Modell, bei dem sich junge Forscher nach der Promotion einem Auswahlverfahren um ein Junior- oder Senior-Fellowship stellen können (siehe Kasten auf dieser Seite). Durch die Förderung erhalten nicht nur die Nachwuchskräfte selbst einen deutlichen Schub in ihrer wissenschaftlichen Karriere; über die Bewilligungen an junge, engagierte Spitzenleute brechen allmählich auch die akademischen Strukturen an den jeweiligen Heimathochschulen auf und sortieren sich neu. Um langfristig ein internationales Netzwerk für ihre künftige akademische Karriere zu entwickeln, kooperieren die Geförderten jeweils mit einem deutschen Partnerinstitut, das die Projekte begleitet, wissenschaftlich mitbetreut und auch darüber hinaus mit Rat und Tat zur Seite steht. nt Arias Schreiber hat bereits über Fischereien in Peru gearbeitet und einen internationalen Zugang zu dem Thema. „Im Umgang mit natürlichen Ressourcen gibt es keine allgemeingültigen, global anwendbaren Lösungen“, sagt die Biologin. „Alles hängt von Umweltbedingungen vor Ort ab, von der Geschichte, der Kultur und den gesellschaftli- Die Karte zeigt jenen Teil der südafrikanischen Westküste, der die Forscherin interessiert: Elands Bay und Lamberts Bay, 220 Kilometer nördlich von Kapstadt gelegen. Ziel der Stiftung ist es, im Zuge eines mehrstufigen Förderverfahrens besonders talentierte junge Forscherinnen und Forscher über einen längeren Zeitraum zu unterstützen und damit in Afrikas Wissenschaftslandschaft zu verankern. Hierzu erhalten seit dem Jahr 2015 die geförderten Fellows auch – eingebettet in die Projektphase – die Gelegenheit zu einem maximal viermonatigen Forschungsaufenthalt am Stellenbosch Institute for Advanced Study in Südafrika. Ein zwischen Institut und Stiftung vereinbartes Memorandum of Understanding bildet dafür die Grundlage. Andererseits ist die gelegentlich so bezeichnete „Exit-Strategie“ für das Themenfeld der „Vernachlässigten Tropenkrankheiten“ angelaufen. Hierfür hat ein Konsortium europäischer Stiftungen der European Foundation Initiative for African Research into the Neglected Tropical Diseases (EFINTD) im Jahr 2015 Mittel bewilligt für den Aufbau eines innerafrikanischen Netzwerks zum Themenfeld: das African Research Network for Neglected Tropical Diseases (ARNTD). Im Optimalfall entwickelt sich daraus ein Modellszenario für weitere Exit- und Transferstrategien, auch wenn sich sicherlich nicht alles eins zu eins auf die anderen Programme übertragen lässt.  Christian Jung Impulse 01_2016 39 acht Fellows wissenschaftlich, die bei der Ausschreibung um eine Postdoktorandenförderung im Bereich „Livelihood Management“ erfolgreich waren. Samantha Williams führt zahlreiche Interviews mit Fischern entlang der Küste chen wie politischen Rahmenbedingungen sowieso. Lösungen müssen daher immer in lokaler Perspektive entwickelt werden.“ Nur so könne eine Umsetzung von Strategien erfolgreich sein. zwischen Elands Bay und Lamberts Bay. Hier nehmen sich die Sprecher der Fischervereinigung Masifundise Development Trust Nico Waldeck (Bild links, Mitte) und Brian Anderson Zeit für sie. Rechts: Fischer David Shoshola demonstriert weiteres Angel- und Fischereiwerkzeug und erläutert die jeweils erforderlichen Handgriffe. 40 Aushandlungsprozesse sollten von unten nach oben verlaufen – ausgehend von den Fischern Nichtsdestotrotz scheinen im Management des Zugangs zu und des Umgangs mit natürlichen Ressourcen Muster auf, aus denen sich durchaus Handlungsempfehlungen für ähnliche Fälle ableiten lassen. So hat sich neben ökosystembasierten Ansätzen, die bei der Ausrichtung des Fangs nicht nur den Fisch, sondern auch die anderen Lebewesen im Meer einbeziehen, als Partizipationsmodell das Ko-Management bewährt. Bei diesem Modell von Aushandlungsprozessen nach dem Down-totop-Prinzip werden die Fischer vor Ort am politischen Prozess beteiligt – und genauso soll es auch in Elands Bay und Lamberts Bay geschehen. „Menschen versuchen, das Meer anhand von Institutionen zu reglementieren, und tendieren dazu, Ressourcen zwischen den Nutzern aufzuteilen“, sagt Milena Arias Schreiber. „Das Ökosystem Meer besteht aber aus aufs Engste miteinander verwobenen Einheiten, und es ist nicht absehbar, welche Auswirkungen es hat, die Ressourcen einfach aufzuteilen oder einzelne Teile durch deren Verschwinden dem Meer für immer zu entziehen.“ Durchgesetzt hat sich die Einsicht, dass es hilfreich ist, das über Generationen gewachsene Wissen der Fischer vor Ort anzuerkennen, zu berücksichtigen, zu gewichten und es schließlich einfließen zu lassen in den von staatlicher Seite zu gestaltenden Rahmen, der die Fischereiwirtschaft ja durchaus nachhaltig aufstellen will. Ob die Regierung die Menschen in Elands Bay und Lamberts Bay tatsächlich erreichen wird und ihre Beschlüsse und Gesetze künftig eher im Positiven greifen oder negativ wirken, muss sich zeigen. Die Fischer haben jedoch bereits begonnen, sich in Kollektiven zu organisieren und den Prozess von ihrer Seite aus zu begleiten und auf einen guten Weg zu bringen. Milena Arias Schreiber und Samantha Williams wirken aber in jeder Sekunde so, als wissen sie, was zu tun ist und was sie erreichen wollen. So möchten sie die Ergebnisse ihrer Forschung nicht nur für die akademische Welt veröffentlichen, sondern sowohl in Vorträgen den politischen Entscheidungsträgern im zuständigen Ministerium nahebringen als auch über Workshops mit den Fischern in deren Dörfern verbreiten. Für die Basisarbeit dort wollen sie alsbald Booklets mit den Projektergebnissen produzieren einschließlich daraus abgeleiteter Empfehlungen für die politische Arbeit. Die engagierten Nachwuchskräfte hoffen, dass die Kommunen das Material dann auch nutzen. Und damit zudem der wissenschaftliche Nachwuchs an der University of Cape Town nicht zu kurz kommt, ermöglicht es Samantha Williams einem Studierenden, im Rahmen ihres Projekts eine Bachelorarbeit zu schreiben. Was der politische Prozess für die Fischer bedeutet, wird sich zeigen müssen; ebenso, inwieweit es durch die Forschung gelingen kann, ein Bewusstsein zu schaffen für eine bessere Gestaltung der Prozesse mit dem Ziel angemessenerer Rahmensetzungen für die lokale Fischerei – eben unter Beteiligung der Fischer vor Ort. „Ich hoffe, dass schon bald greifbare Veränderungen kommen und Effekte auch sichtbar werden“, sagt sie. Ein Ergebnis aber steht schon fest: Samantha Williams hat durch das Projekt eine Entscheidung für ihre eigene berufliche Zukunft getroffen. Die inzwischen gut ausgebildete Geografin möchte zumindest mittelfristig der Wissenschaft erhalten bleiben. „Die Förderung erlaubt es mir, weiter an meinem Thema zu arbeiten und meine Expertise auszubauen“, stellt sie fest. Sie will sich auch weiterhin mit Fragen zum Umgang mit natürlichen Ressourcen beschäftigen. Denn das sei ein Arbeitsfeld, das nicht an Bedeutung verlieren werde und für das gut ausgebildete Experten in Afrika dringend benötigt würden. „Eine davon möchte ich sein – auch auf Dauer!“  Vorträge im Ministerium, Booklets für die Fischer­: Die Forscherinnen haben die Zielgruppen im Blick Samantha Williams hat bei dem auf insgesamt drei Jahre angelegten Projekt noch bis Mai 2017 Zeit für ihre wissenschaftlichen Analysen. Und Milena Arias Schreiber startet jetzt, im Frühjahr 2016, ihre begleitenden Feldphasen vor Ort. Beide wissen sich zudem in jedem Fall gut gesichert, falls sie einmal mit Projekt oder Kooperation nicht weiterkommen. Denn im Hintergrund gibt es, sofern erforderlich, noch die helfende Hand der Professoren Nikolaus Schareika und Eva Schlecht von der Universität Göttingen. Sie begleiten jene Fischer wohnen wie anderswo in der Welt auch in dieser Region meist unter sich. Im Hintergrund eine kleine Ansiedlung nahe der südafrikanischen Lambert’s Bay mit ausrangierten Fischerbooten ringsumher. Impulse 01_2016 41 Schwerpunktthema Ins Blaue hinein | KÜSTEN Treibgut Mensch Bilder von Stürmen, überschwemm­ ten Gebieten und eingestürzten Häusern verknüpfen wir inzwischen fast automatisch mit dem Gedanken an Umweltveränderungen und Klimawandel. Häufig sind es Küsten­ regionen, die von solchen Extrem­ ereignissen besonders betroffen sind – jene Regionen, die ebenso im Fokus globaler Aufmerksamkeit stehen als Orte von Zu- und Abwanderung. Bestehen womöglich gar Zusammenhänge zwischen Umwelt­ veränderungen und Migration? Warum verlassen Menschen ihre Heimat, und warum bleiben andere selbst in unbewohnbar gewordenen Gegenden? Fünf Forscherteams haben Männer, Frauen und Heranwachsende an Küstenregionen Ghanas und Indonesiens befragt. Im Bild die Fischersiedlung Totope nahe der Voltamündung, angrenzend an das Untersuchungsgebiet in Ghana. Durch den steigenden Meeresspiegel versinkt das Dorf langsam im Sand. 42 Impulse 01_2016 43 Text: Heidrun Riehl-Halen // Fotos: Nyani Quarmyne I m Jahr 2015 versetzt eine steigende Zahl an Flüchtlingen Europa mehr und mehr in Unruhe. Viele kommen über Land, doch besonders bedrücken die Bilder von jenen, die es über die Meere versuchen, oft kentern und viele Stunden in den Wellen um ihr Leben kämpfen. Viel zu viele schaffen es nicht; und doch versuchen es immer mehr gerade auch auf diesem Weg. Lange schon vor den Ereignissen vom Spätsommer und Herbst 2015 brennen sich vor allem die Bilder von jenen Frauen, Männern, Jugendlichen und Kindern ein, die Nordafrika auf dem Seeweg verlassen und manchmal Tage später völlig erschöpft vor den Küsten Südeuropas aus dem Wasser gezogen und erst einmal in – für sie zumeist trügerische – Sicherheit gebracht werden. Und so sind es lange Zeit eben jene Regionen, die als Orte im Fokus sichtbarer globaler Ab- und Zuwanderungsbewegungen stehen. Ebenso sind es Küsten, an denen offenkundig schneller als anderswo global wirkende klimatische Veränderungen manifest werden – ob schleichend etwa durch steigenden Wasserspiegel des Meeres oder schlagartig aufgrund extremer Wetterereignisse. Gibt es womöglich einen Zusammenhang zwischen Migration und Umweltveränderungen, der in Küstenregionen besonders augenfällig wird? Trotz der Aktualität des Themas weiß man wenig darüber, ob und gegebenenfalls wie klimatische und ökologische Veränderungen zu Flucht und Abwanderung aus der Heimat führen. Offiziell gibt es den Begriff Klima- oder Umweltflüchtling nicht – ein Begriffskonstrukt, das impliziert, dass Menschen allein aufgrund klima- und umweltbedingter Veränderungen ihre Heimat verlassen. Andererseits ist Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) zufolge bis zum Jahr 2050 mit weltweit fünfzig bis 500 Millionen Umweltflüchtlingen zu rechnen. Damit ist der Rahmen gesteckt für eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern aus Bremen, Berlin und Essen, die sich hochschul- und fachübergreifend zu diesem Thema zusammen­ gefunden haben. 44 Warum also gehen Menschen weg aus ihrer Heimat, und warum bleiben andere selbst in unbewohnbar gewordenen Gegenden? Das ist eine der Kernfragen, die die fünf beteiligten Wissenschaftlerteams interessiert. Beispielhaft konzentrieren sie sich auf zwei Untersuchungsregionen in Ghana und Indonesien, die hinsichtlich Lage und genereller Lebenssituation durchaus vergleichbar sind. So ist die Region der Millionenstadt Semarang auf Indonesiens Hauptinsel Java von starker Landsenkung und wiederkehrenden Hochwassern betroffen. Auch der Küstenabschnitt im Osten Ghanas um den Ort Keta mit seinen rund 100.000 Einwohnern erlebt seit einiger Zeit eine intensive Landerosion. „Beide Regionen sind seit Jahrzehnten raschen Veränderungen in ihrer Umwelt ausgesetzt“, erläutert Projektkoordinator Dr. Johannes Herbeck vom artec Forschungszentrum Nachhaltigkeit der Universität Bremen das Verbindende. „Hier lassen sich für uns Forscher jahrelange Prozesse sowohl retrospektiv als auch aktuell gut nachvollziehen“, sagt der Geograf. „Wenn es um Umweltveränderungen geht, ­blicken wir entweder auf ganz große oder ganz kleine Dimensionen“, meint Professor Dr. Michael Flitner. Der Leiter des artec Forschungszentrums in Bremen ist einer von fünf Wissenschaftlern, die mit ihren jeweiligen Teams die Eckpfeiler des Verbundvorhabens bilden. Als Beispiel denkt Flitner an die medialen Diskussionen zum globalen Klimawandel und den Anstieg des Meeres­ spiegels. Globale wie lokale Analysen erhielten viel Aufmerksamkeit; hingegen gehe der Blick verloren „für die Ebene dazwischen“ – von Flitner als „regionale Formationen“ bezeichnet. Unter diesem Begriff, der zunächst recht sperrig daherkommt, versteht der Geograf eine Verknüpfung aus einerseits sozialen Prozessen und andererseits natürlichen Abläufen von Umweltveränderungen innerhalb einer sich permanent wandelnden Region. Die Forscher vermuten, dass die Anpassung an raschen Umweltwandel in solch „regionalen Formationen“ abläuft und gleichzeitig zu deren Veränderung beiträgt. Was jedoch meint er genau damit, und wie lässt sich diese Hypothese überprüfen? Und vor allem: Wie nähern sich die fünf Forscherteams aus ihren jeweiligen disziplinären Blickwinkeln und mit ihren unterschiedlichen Methoden und Vorgehensweisen einer Antwort auf die Fragen, die sich daraus ergeben? Teilprojekt eins: Wie hat sich die Küstenlinie über die Jahrzehnte verändert? Bleiben wir zunächst noch in Bremen. Dort untersucht die Direktorin des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenökologie (ZMT), Professorin Dr. Hildegard Westphal, mit ihrem Team die Veränderungen der Küstenmorphologie. Mithilfe aktueller Satellitendaten und Luftbilder, die es von den beiden Regionen seit dem frühen 20. Jahrhundert gibt, ermittelt etwa Geologe Dr. Thomas Mann Veränderungen der Küstenlinie über die Zeitläufte. Er erfasst Daten über saisonale Schwankungen des Meeresspiegels, von Stürmen und Monsunen. Diese werden aufbereitet und ermöglichen so neue Modellierungen und Computersimulationen. Unterstützung erhalten die Geologen von Dr. Alessio Rovere, der im Rahmen des Exzellenzclusters Meeresforschung an der Universität Bremen die kooperative Nachwuchsgruppe „Sea Level and Coastal Changes“ leitet. Der Meeresforscher setzt Flüge mit Kameradrohnen ein, um den aktuellen Küstenverlauf und feinste Änderungen zu dokumentieren. Außerdem sammeln die Wissenschaftler laufend GPS-Daten und Sedimentproben vom Strand. „Anhand von mineralogischen Bestandteilen können wir Landerosionen und den historischen Verlauf der Küste nachweisen“, erläutert Westphal. Momentaufnahmen am Rand der Siedlung Totope nahe der Voltamündung. Fischer Joshua Onyame (unten, links), der noch dort wohnt, will den steigenden Sand- und Wassermassen auch künftig trotzen. Adjawutor und Miyorhokpor Anikor schauen aus ihrem Haus auf der Insel Azizakpe, die in der Voltamündung liegt. Der steigende Meeresspiegel setzt das kleine Eiland inzwischen ein Mal pro Monat unter Wasser – mindestens. Impulse 01_2016 45 brauch in der Stadt; zudem wird Erdgas gefördert. Dies führt dazu, dass der Boden kontinuierlich absinkt. Demgegenüber steigt der Meeresspiegel. „Während das im globalen Durchschnitt derzeit wenige Millimeter im Jahr ausmacht, sind es in Semarang bereits sechs bis zwanzig Zentimeter“, betont die Bremer Forscherin. Häufige Überschwemmungen sind eine Folge. Teilprojekt zwei: Wie reagieren die Menschen in den Küstenregionen auf Umweltveränderungen? Wenn die Geologen bei den Workshops in naturwissenschaftlicher Präzision ihre Daten präsentieren, ist Professor Dr. Volker Heins jedes Mal beeindruckt. „Ich kann leider nicht mit einer Schaufel im Sand nach Ergebnissen graben“, lacht er anerkennend. Der Bereichsleiter am Kultur­ wissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen setzt auf „narrative Interviews“: Erzählungen von Einwohnerinnen und Einwohnern in den betroffenen Gebieten. Ihn und sein Team interessieren „Risikokulturen“. Heins erläutert umgehend: „Es geht um die Einstellungen der Menschen vor Ort insbesondere dazu, wie sie Risiken einschätzen, die durch Umweltveränderungen drohen – vor allem unmittelbar ihnen selbst.“ In der Regel handele es sich um kollektive Interpretationen, die das Verhalten ganzer Gruppen beeinflussen. Daraus ergäben sich dann, und das ist das Interessante, bestimmte Strategien des individuellen Umgangs und der jeweiligen „Anpassung“ des Einzelnen an ­Umweltveränderungen. Die steigenden Wasser der Ozeane versalzen die Ufergebiete. Viele Bäume tolerieren den erhöhten Salzgehalt nicht und gehen ein. Aus der Küstenregion wird eine Schlammund Modderzone. Zudem kann das Team auf spezielles Archivmaterial zurückgreifen. „Wir wussten, dass es Verbindungen zwischen Ghana und Bremen aus der kirchlichen Missionarsarbeit gibt, und fanden tatsächlich Material für unser Projekt“, freut sich die Sedimentologin über die seltenen Funde. Auf historischen Stadtplänen und Fotos sieht man, welche Gebäude im Vergleich zu heute weggeschwemmt wurden: „Die Küstenlinie verlief vor einhundert Jahren noch etwa 200 Meter weiter seewärts.“ 46 Vor wenigen Jahren entstand die „Sea Defence“, eine Küstenschutzanlage, ähnlich wie es sie an der Nordsee gibt. „Dadurch ist Keta besser vor Erosionen geschützt; nun ist die Küste im benachbarten Togo aber stärker betroffen“, weiß die Wissenschaftlerin. Insgesamt spräche jedoch vieles dafür, dass die Küstenlinie natürlichen Schwankungen unterliege. Anders verhält es sich im indonesischen Semarang: Aufgrund des rapiden Bevölkerungszuwachses steigt der Grundwasserver- Um die Deutungen der Ghanaer genauer zu verstehen, hat Doktorand Jan Schuster bei der Feldforschung in Keta bereits mehr als hundert Einheimische befragt: „Wie war es mit den Überschwemmungen früher, wie ist es heute?“ Auch Polizisten, Fischer, Künstler oder Leute an der Bushaltestelle hat der Kulturanthropologe interviewt, sich mit Predigten und traditionalistischen Naturbildern befasst. Zudem durchsuchte er Zeitungen, Volkslieder und Hiphop-Texte nach Hinweisen. Im Ergebnis ließen viele Aussagen immer wiederkehrende Fingerzeige auf kulturelle Muster erkennen, fasst Heins zusammen. Und daraus leitet er wiederum Erklärungen ab für Resultate von anderer Seite: „Wir waren alle überrascht, dass in Keta weniger Menschen als vermutet wegen der Umweltveränderungen abwandern“, erklärt er. Viele akzeptierten offenbar die Naturgewalten und lernten mit den Widrigkeiten umzugehen. Und eben dafür fänden sich Entsprechungen in den Untersuchungsergebnissen: So besagt das Wort für Überschwemmung in der lokalen Sprache übersetzt: „Das Meer hat sich mit dem Menschen vermählt.“ In den Köpfen der Einheimischen mischten sich Erfahrungen aus Christianisierung, moderner Informationsgesellschaft und traditionellen Vorstellungen von einer Symbiose mit dem Meer, sagt Kulturwissenschaftler Heins. Teilprojekt drei: Warum migrieren Menschen, und was hält sie andererseits ab? Mit kulturellen Aspekten beschäftigt sich auch Migrationsforscherin Professorin Dr. Felicitas Hillmann vom Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner bei Berlin. Die Geografin spricht gleich ein Grundproblem der Migrationsforschung an. Die auslösenden Faktoren für Migration seien nicht immer klar zu benennen, denn: „Migration ist zunächst ein individuelles, biografisches Projekt. Sie findet nicht in einem abstrakten Raum statt, sondern ist an konkrete zeitliche und regionale Bedingungen gebunden.“ Diese Bedingungen könnten ökonomischer, sozialer, politischer und eben ökologischer Natur sein. Es sei meist schwer zu klären, welche Antriebsfaktoren wie ineinander griffen und was letztlich den Entschluss des Einzelnen auslöse zu migrieren. Sie spricht daher auch etwas vorsichtiger von „umweltinduzierter Migration“ statt von Klimaflüchtlingen. Um dem komplexen Geschehen so gut es geht gerecht zu werden, untersuchen Felicitas Hillmann und ihre Mitarbeiterinnen mittels aus­ Impulse 01_2016 47 Mancherorts, wie hier in der Untersuchungsregion in Semarang in Indonesien, arrangieren sich die Bewohner mit den Überschwemmungen, indem sie als Reaktion auf die Landsenkungen die Fußböden ihrer Häuser regelmäßig höher setzen. gefeilter Methodik die Migrationsbewegungen in Raum und Zeit. Im Kern erforschen sie auf der Basis von Bevölkerungsdaten und einer eigenen Erhebung jene Wege, die Migranten nehmen: sogenannte Migrant Trajectories. Und zwar Migrant für Migrant. So differenziert das eben möglich ist. „Migrationen verlaufen oft entlang bestimmter Korridore – das nennen wir Trajecto­ries“, erläutert Hillmann. „Das sind kollektive soziale und räumliche Migrationsmuster, die in regionale und globale Regime eingebettet sind.“ Soll heißen, die Forscherinnen betrachten zum Beispiel die sozialen Netzwerke von Migranten sowie die Migrationsmythen: also jene Geschichten, die erzählt werden von einem besseren Leben. Die wenigsten Migranten planten schließlich ihre Auswanderung allein; vielmehr kontaktierten sie vorher Freunde oder auch Ämter, von denen sie sich Unterstützung versprächen. Mehrfach fällt der Begriff „Migrant Industries“; er fokussiert gut jenes Bündel an informellen und formellen Dienstleistungen, die den Migrationsprozess fl ­ ankieren. 48 Felicitas Hillmann und ihre Kolleginnen haben schon reichlich Material aus ihren Befragungen vorliegen. Um die quantitativen Daten aus inzwischen über 600 Haushaltsbefragungen richtig zu interpretieren, führt Doktorandin Usha Ziegelmayer zusätzlich qualitative Leitfadengespräche. Sie befragt Bewohner, Wissenschaftler und Experten vor Ort, beobachtet – und kartiert zudem ­Migrationsrouten. Erste Auswertungen zeigen, dass es in Ghana gute internationale Kontakte und eine große Bereitschaft zur Migration gebe. Dies könne – das ein Hinweis aus den Befragungen – in der langen Tradition der mobilen Küstenfischerei wurzeln. Die Diaspora, also das soziale Netz aus Verwandten und Freunden an den Zielorten, sowie der „Einsatz vieler kleiner Helfer“ auf dem Weg dorthin spielen nach Hillmanns Ansicht eine große Rolle. Als Helfer versteht sie sowohl Agenturen in der Heimat, die in Ghana den „Mythos Migration“ anheizen, als auch Kontaktpersonen auf den R ­ outen unterwegs oder Jobvermittler an den Zielorten. In Indonesien zeigten sich mehr Wanderungsbewegungen innerhalb des Landes. Generell arrangierten sich die Bewohner mit den Überschwemmungen; sie setzen einfach als Konsequenz auf die Landsenkungen die Fußböden ihrer Häuser regelmäßig höher. Trotz der Umweltveränderungen gebe es sogar einen Zustrom, wundert sich Hillmann: „Zuwanderer ziehen in eigentlich unbewohnbare Stadtteile.“ Ein Behördenmitarbeiter fand dafür eine bildhafte Erklärung: „Die Lichter der Stadt scheinen hell und überstrahlen die Flut.“ Die Neuankömmlinge versprächen sich in der rapide urbanisierenden Region trotz der Umweltveränderungen mehr Erfolg als anderswo; ein besseres Leben halt, trotz allem, sagt Ziegelmayer. Teilprojekt vier: Wie unterscheiden sich Migranten und Daheimbleibende in ihrem Risikoverhalten? Um dieses „Trotz allem“ besser zu verstehen, steht die in Berlin bei Felicitas Hillmann arbeitende Doktorandin häufig im Austausch mit ihrer Kollegin Carina Goldbach. Mit ihr landen wir bei den Wirtschaftswissenschaftlern in dem Verbundvorhaben und sind zugleich zurück in Bremen. Die Doktorandin Carina Goldbach nutzt ebenfalls das Instrument der Befragung: Sie ist gleichermaßen vor Ort im Einsatz und interviewt ergänzend per Telefon. Goldbach interessiert sich weniger für Einstellungen als für das konkrete Verhalten der Einzelnen – soweit sich das trennen lässt. Die zentrale Frage: Wie unterscheiden sich Migranten und Daheimbleibende in ihrer Risikobereitschaft? Um hier belastbare Antworten zu finden, führt sie vor allem verhaltensökonomische Experimente durch – mit Migranten und Migrierenden insbesondere per Telefon. Dabei werden den Teilnehmern Risikoszenarien beschrieben. Durch Anreize wie kleine Geldbeträge, die über das Handy verbucht werden, soll die Entscheidungssituation im Experiment realistischer sein. Außerdem werden Zeitpräferenzen abgefragt: „Wollen Sie das Geld jetzt ausgezahlt haben oder in zwei Wochen das Doppelte?“ So erhalten die Forscher eine Einschätzung über die Risikobereitschaft ebenso wie über Geduld oder Kooperationsverhalten der Befragten. Numour Puplampo steht an der Tür seines Fischerhauses, das nach und nach vom Strand begraben wird. Den Kampf gegen den Sand hat er aufgegeben. Das Meer mit seinen höher steigenden Wellen raubt an anderer Stelle aber auch Land und schafft immer größere Abbruchkanten (links). Impulse 01_2016 49 Ein Beispiel: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden in einem Szenario vor die Wahl gestellt, alle Fische aus einem Teich allein zu essen oder mit anderen zu teilen. Hier zeigte sich, dass Migranten offenbar „egoistischer“ agieren als Daheimgebliebene – sie teilen weniger gern. Die Annahme, dass viele die Zuwanderung in ein anderes Land als gute Investition in die Zukunft sähen, habe sich bestätigt, sagen die Forscher: Diejenigen, die sich durch das Auswandern mehr Verdienst versprachen, beziehungsweise ein neues Leben mit mehr Gewinn, zogen eher weg. „Wer sprichwörtlich mit dem ‚Spatz in der Hand‘ zufrieden sei, bleibe eher in der Heimat“, fasst Goldbach zusammen. Sie Weitere Projekte i Afrikas großes Problem: die Ressource Wasser Kaum ein Ressourcenthema ist inzwischen weltweit, seit Langem aber vor allem in Afrika so konfliktbehaftet wie die Situation der Wasserversorgung und der Umgang mit dem „Rohstoff Wasser“ – die sachgerechte Entsorgung der Abwässer eingeschlossen. Mit Fragen dazu und dem Erlernen des erforderlichen wissenschaftlichen Handwerkzeugs zur Erforschung des skizzierten Konfliktfelds beschäftigten sich in den ersten beiden Oktoberwochen 2015 in Norduganda zwanzig afrikanische und deutsche Doktorandinnen und Doktoranden im Rahmen einer von der VolkswagenStiftung geförderten Field School. Den Teilnehmern sollte das Wissen und die Kompetenz vermittelt werden, empirische Forschungen selbst entwerfen, durchführen und analysieren zu können – zunächst am Beispiel Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, aber durchaus auch davon losgelöst. Die jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler aus dem Südsudan, Uganda, Malawi und Niger sowie aus Deutschland erhielten zunächst ein praktisches Training in sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden, wie sie in der Kultur- und Sozialanthropologie, der Politikwissenschaft und den Wirtschafts- und 50 gehört zum Team von Professor Dr. Achim Schlüter, Leiter der Abteilung Sozialwissenschaften am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie (ZMT) in Bremen. Es sind die Küsten dieser Welt, an Teilprojekt fünf: Wie agieren die Politik und andere Einrichtungen und Institutionen? denen offenkundig schneller als anderswo globale klimati- Der Kreis schließt sich wieder bei Professor Dr. Michael Flitner und seinem Team. Während zuvor eher Einstellungen, Verhalten und Reaktionen Einzelner im Vordergrund standen, nimmt er mit seinen Mitarbeitern die Vielzahl involvierter Sozialwissenschaften zur Anwendung kommen. Ein wichtiges Ziel war es, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu vermitteln, wann ein Einsatz welcher Methodik passend zu welchem Forschungsdesign geboten und sinnvoll erscheint – und wann nicht. Dabei hangelte man sich im Laufe der zwei Wochen durch unterschiedliche Fragestellungen und Projektdesigns rund um das Themenfeld „Post-Konfliktgebiete“. Eingebettet in die zweiwöchige International Field School “Water Governance and Interdisciplinary Research Techniques in Post-Conflict Areas” waren zahlreiche intensive ­Feldforschungsübungen. Beispielhaft erhoben die Teilnehmer Daten über Afrikas Wassermanagement und hatten dann die Aufgabe, vor dem Hintergrund spezifischer Fragestellungen mit der richtigen Methodik sinnvoll weiterzuarbeiten. Dabei sei es spannend gewesen zu beobachten, wie die Doktoranden auf der Basis ihrer unterschiedlichen fachlichen Expertise die jeweiligen methodischen Ansätze ihrer Disziplinen eingesetzt hätten, sagt Projektkoordinatorin Dr. Birthe Pater vom Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Nach und nach hätten die jungen Forscherinnen und Forscher die Stärken, aber auch die Schwächen und Unzulänglichkeiten mancher Ansätze erkannt und sich von dort aus anderen Ideen geöffnet, die auch aus ihnen fremden Fächern stammen konnten. sche Veränderungen manifest werden. Die Menschen lernen das auszuhalten – oder fliehen. Dabei zeigte sich nicht zuletzt, dass der wissenschaftliche Disput und Diskurs, der unabdingbar ist auf dem Weg zum Erfolg in der Forschung, gelernt und geschult sein will. dem Südsudan und Uganda ist solch ein Angebot zugleich eine Chance, sich durch gemeinsame Forschungsarbeiten beim Wiederaufbau zu engagieren“, hofft der Mainzer ­Wissenschaftler. Ursprünglich sollte die Field School im Süd­sudan stattfinden. Aufgrund der zeitweilig extrem schlechten Sicherheitslage wurde der Veranstaltungsort jedoch in die Universitätsstadt Gulu in Norduganda verlegt; beide Länder pflegen ausgeprägte, historisch gewachsene Verbindungen. Für die Erhebung der Daten und die exemplarische Lehre zu den Feldforschungsmethoden habe sich nach Meinung von Field School-Initiator Professor Dr. Thomas Bierschenk Norduganda aufgrund einer soziostrukturell relativ gut vergleichbaren Post-­Konfliktsituation regelrecht angeboten. „Für Forscher in ehemaligen Konfliktgebieten wie „Darüber hinaus beziehungsweise von diesem Projekt ausgehend möchten wir die interregionale wissenschaftliche Zusammenarbeit innerhalb Afrikas selbst ankurbeln“, erklärt die Mainzer Projektkoordinatorin Birthe Pater. „Längerfristiges Ziel der Zusammenarbeit ist es, einen Beitrag zum Aufbau der südsudanesischen Hochschullandschaft zu leisten und die Strukturen für höhere Bildung im Südsudan zu entwickeln“, ergänzt sie. Zu diesem Zweck arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Universität Mainz unmittelbar vor Ort mit dem Institute of Peace and Strategic Studies (IPSS) der Gulu-Universität in Norduganda zusammen, der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der KfW Entwicklungsbank, die mit einem Büro in der Hauptstadt Kampala vertreten ist.  Christian Jung Geoffrey Okullo aus Uganda erläutert den angehenden Wissenschaftlern während der „Field School“ in Norduganda, wo die Schwierigkeiten des Wassermanagements in vielen Ländern Afrikas liegen. Impulse 01_2016 51 Verantwortungsträger in den Blick sowie die politischen Rahmensetzungen und ähnliche Koordinaten. Seine Bremer Forschergruppe untersucht, welche Konsequenzen zum Bespiel bestimmte Maßnahmen haben, die nationale Regierungen, regionale Verwaltungen, inter- und transnationale Institutionen wie die Vereinten Nationen oder verschiedene Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ergreifen. Dabei hinterfragen die Forscher: Wie hat die Politik bisher auf akute ebenso wie drohende Umweltveränderungen reagiert? Was wäre vor Ort zu tun, um gegebenenfalls mit Auswirkungen des Klimawandels umzugehen? Und inwiefern werden Entscheidungen, die in den Regionen oder ganz lokal vor Ort gefällt werden, beeinflusst – etwa gestützt oder konterkariert? Darüber hinaus, ebenso wichtig: Inwieweit wird die Bevölkerung an den Entscheidungen beteiligt? Feldforschung in Afrika: Jan Schuster zu Wasser im Dzita-MangrovenGebiet in Ghana. Rauf und runter fuhr er die Küste und fragte die Einheimischen: „Wie war es mit den Überschwemmungen früher, wie erlebt ihr sie heute?“ „Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass politische Entscheidungen seit Jahrzehnten das regionale Migrationsgeschehen beeinflussen“, sagt Johannes Herbeck. Mit Blick auf die Region Keta in Ghana sieht er da insbesondere die seit Jahren voranschreitende Verschlechterung der regionalen Infrastruktur. Ein dort lange geplanter Hafen wurde plötzlich woanders gebaut, die regionale Verwaltung verlegt und der grenzüberschreitende Handel mit Togo zeitweise behindert. Umge- kehrt agiere die Politik kaum positiv gestaltend, schon gar nicht in langfristiger Perspektive, wie gerade auch der Umgang mit Umweltproblematiken ­zeige. „Entscheidungen werden eher nach Gelegenheitsfenstern getroffen“, ergänzt Michael Flitner. „Wenn beispielsweise ein Förderprogramm läuft, wird ein Staudamm gebaut oder in eine Küstenschutzmaßnahme investiert.“ Was halt gerade so komme und passe. Dabei würden zudem selten die negativen Konsequenzen bedacht, die sich etwa, um bei dem Beispiel Staudamm zu bleiben, aus der Umsiedlung der Bevölkerung ergäben. Erkenntnisse aus den untersuchten Regionen sind keine stumpfe Blaupause für andere Orte der Welt „Mit unserem Blick auf die regionale Ausrichtung analysieren wir eine bislang wenig beachtete Ebene“, beschreibt Flitner das Besondere an dem Projekt. Dies könne nur in der fachübergreifenden Zusammenarbeit gelingen. Da sind sich alle Beteiligten einig. Volker Heins würdigt insbesondere das Engagement der VolkswagenStiftung, die das Vorhaben in der Förderinitiative „Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft“ über drei Jahre noch bis Ende 2016 mit insgesamt rund einer Million Euro unterstützt: „Unsere Teilnahme als Kulturwissenschaftler an dem Projekt war ausdrücklich erwünscht, um den interdisziplinären Fokus noch breiter auszurichten.“ Eine derart starke multidisziplinäre Förderung sei außergewöhnlich. „Die Zusammenarbeit in diesem Projekt ist zwar eine besondere Herausforderung, aber auch ein ertragreicher Ansatz für die Forschung“, ist Michael Flitner überzeugt. Auch über das Projekt hinaus seien neue Vernetzungen mit Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern und zu anderen Fachgebieten entstanden, ergänzt Hildegard Westphal. Davon könnten künftig alle Seiten profitieren. So seien Gastwissenschaftler aus Ghana und Indonesien bereits mehrfach zu Besuch gekommen. Außerdem wirkten Wissenschaftler aus Togo an der 52 Regionalkonferenz im November 2015 in Ghana mit. Die Tagung war für alle Projektbeteiligten ein wichtiges Ereignis, bei dem sie erstmals Ergebnisse im Dialog mit den Verantwortlichen der Region erörtern konnten. Allein der Titel des Verbundvorhabens „Neue regionale Formationen: Rascher Umweltwandel und Migration in Küstenregionen Ghanas und Indonesiens“ sorge immer wieder für interessierte Nachfragen, so ungewöhnlich scheine vielerorts noch der Ansatz einer Annäherung an das komplexe Themenfeld über die Betrachtung „regionaler Formationen“. Gefragt ist die Expertise aus dem Projekt auch überregional: Felicitas Hillmann hielt auf Anfrage der Weltbank einen Vortrag, bei dem vor allem die Methodik interessierte. Doch sie warnt: „Man kann die Lösungen aus unseren Modellregionen nicht als Blaupause auf andere übertragen.“ Flitners Appell an die Entscheidungsträger lautet daher: „Wir müssen die vorherrschende globale Perspektive dringend differenzieren. Die Rolle der Regionen sollte in jedem Fall stärker beachtet und unterstützt werden.“ Nachklapp: Mitten in der Laufzeit des Forschungsprojekts untermauert ein Gerichtsurteil die Brisanz dieses Thema. Im Herbst 2014 erkennt Neuseeland als erstes Land weltweit den Klimawandel und die Zerstörung der Umwelt als Asylgrund an. Sigeo Alesana und seine Familie von der Pazifikinsel Tuvalu, die wie auch andere Eilande in den Weltmeeren durch den steigenden Meeresspiegel spürbar in Mitleidenschaft gezogen wird, erhalten nach hartem Kampf ihrer Anwältin in letzter Instanz endgültig das Bleiberecht in Neuseeland zugesprochen. Ein Jahr zuvor waren die Mitglieder einer Familie aus dem Inselstaat Kiribati noch nicht als Klimaflüchtlinge anerkannt worden. Die Pazifikstaaten nutzen seitdem gerade dieses Aufsehen erregende Urteil, um ob des steigenden Meeresspiegels die Länder weltweit zu einem noch stärkeren, vereinten Kampf gegen den Klimawandel aufzufordern. Sollte sich nichts ändern, dann erwartet nun inzwischen auch das deutsche Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (früher: Ministerium für Entwicklungshilfe) bis zu 200 Millionen Klimaflüchtlinge bis Mitte dieses Jahrhunderts.  Sie formen das Projekt „Küstenregionen“ (von links): Professor Dr. Michael Flitner, Universität Bremen; Jan Schuster, M.A., vom KWI in Essen; Dr. Thomas Mann und Professorin Dr. Hildegard Westphal, beide Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie ZMT in Bremen; Johannes Herbeck, Universität Bremen; Professor Dr. Achim Schlüter vom ZMT in Bremen; Usha Ziegelmayer M. A. und Professorin Dr. Felicitas Hillmann, beide Freie Universität Berlin – sowie Carina Goldbach vom ZMT in Bremen. Impulse 01_2016 53 Schwerpunktthema Ins Blaue hinein | KÜSTEN Ein Schiff wird kommen Sie plündern und morden. Aber sie treiben auch Handel bis in den Orient und erkunden unbekannte Küsten: die Wikinger. In einer Epoche, in der mit Karl dem Großen zeitweilig ein einziger Herrscher über halb Europa gebietet, setzen sie im Norden des Kontinents den Kontrapunkt. Die Sphären der Macht teilen sich am Grenzwall der Wikinger, bei Haithabu, nahe der heutigen Stadt Schleswig. Wir befinden uns im 11. Jahrhundert, am Vorabend von Haithabus Untergang und Schleswigs Aufstieg. Auf historischem Grund der einstigen Siedlung Haithabu befinden sich heute das Wikinger-Museum und das nachgebaute Wikingerdorf mit einem halben Dutzend rekonstruierter Häuser, in denen man auch auf „Wikinger-Darsteller“ trifft. Die Schausammlung des Museums informiert anhand archäologischen Fundmaterials unter anderem über die Ergebnisse der von der Stiftung geförderten Forschung. Impulse 01_2016 55 Text: Christian Jung // Fotos: Johannes Arlt Kurz vor 700 Das im heutigen nördlichen Schleswig-Holstein gelegene „Danewerk“ entsteht, ein komplexes Befestigungssystem, das am Ende aus Erdwällen mit Wehrgräben, einer viele Kilometer langen Ziegelsteinmauer, zwei mittelalterlichen Wallburgen und einem Seesperrwerk besteht. Um 700 Die Wikinger gründen Ribe, die älteste Stadt Dänemarks. 700-730 Fortlaufender Ausbau des „Danewerks“: Die Befestigungen sind angelegt in der Schleswiger Landenge zwischen der Ostseeförde Schlei und den Niederungen von Treene und Rheider Au. 737-750 Die Wikinger verstärken das „Danewerk“ massiv: Es entstehen zum einen der 7,5 Kilometer lange Kograben und der Verbindungswall. Der Osterwall bezieht die Ostseebucht Windebyer Noor in das Verteidigungssystem ein. Errichtet werden auch die Waldemarsmauer, die Burg Rothenkrug und die Thyraburg. Besonders beachtlich: der Bau des Seesperrwerks in der Großen Breite der Schlei zur Kontrolle durchfahrender Schiffe. Um 770 Haithabu wird gegründet. 793 Der erste große Überfall der Wikinger; sie plündern das Kloster Lindisfarne an der Nordostküste Englands. 795 Der Beginn zahlreicher Wikingerüberfälle auf Siedlungen in England, die über Jahre anhalten. 56 V on Kälte gestählt, groß und stark von Statur, furchteinflößend, Achtung gebietend. Kurz: ein Auftritt wie ein Donnerhall. Und dieser eilt ihnen als Ruf auch voraus. Wohl kaum ein Volk der europäischen Geschichte steht geschlossen in solch einem schlechten Leumund wie sie, die Wikinger. Zwischen 800 und 1050 nach Christus überfallen die Männer aus dem hohen Norden gleich reihenweise die Küstenstädte Europas, das allerdings längst nicht das Europa ist, das wir heute vor Augen haben. Bei ihren Raubzügen plündern sie nach Belieben, brandschatzen und verbreiten Angst und Schrecken – ob an den Gestaden der Nordsee oder den Siedlungen entlang der Küste des Mittelmeeres. Sogar weit die Flüsse hinauf bis ins Binnenland dringen sie vor, erobern Städte wie Bourges, Clermont-Ferrand, Toulouse oder Périgueux. Ganz Irland und weite Teile Englands suchen sie heim, und selbst in Vorderasien sind die unerschrockenen Seefahrer gefürchtet und berüchtigt, gelten als wenig zimperlich und morden bei ihren Überfällen oft mit leichter Hand. Sie töten Männer, entführen Frauen und Kinder und nehmen immer wieder auch Sklaven, denn die lassen sich schließlich gut zu Geld machen. Eine Begegnung mit ihnen ist stets eine mit weitreichenden Folgen. Auf wen die Nordmänner treffen, dessen Leben sieht hinterher meist anders aus als vorher. Ganz anders. Wenn man es denn überhaupt überlebt. Doch das ist nur die eine Seite. Die Wikinger eint eine gemeinsame Sprache: von ihren Siedlungen entlang der Fjorde der Nordsee bis zu den Schären der Ostsee. Sie sind kluge Händler und geschickte Handwerker – und: hervorragende Schiffskonstrukteure. Sie entwickeln lange, schlanke, in vielerlei Hinsicht handliche Boote, ausgerüstet mit nur einem einzigen Rahsegel, und dabei äußerst seetauglich und robust. Die Konstruktion erlaubt es ihnen, weite Strecken über das offene Meer zu fahren, schnell vor Küsten aufzutauchen, zügig einzuholen – und später ebenso rasch wieder nach ihren Beutezügen zu verschwinden. Auch ist es möglich, kleinere Schiffe wie jene, die das Gesicht der Kriegsarmada prägen, ruckzuck auf rollierende Baumstämme zu hieven und mit Manneskraft zig Kilometer über Land zu bewegen. Als geniale Seeleute steuern sie zielgenau und offensichtlich kenntnisreich durch den „norwegen“, den Nordweg, in arktische Gewässer, über den Atlantik bis nach Grönland und landen als erste Europäer um 1000 in Amerika, an der Küste Neufundlands. Sie kolonisieren Island und andere Inseln im Nordatlantik. Und das in Zeiten, in denen es ansonsten in den Kulturen Europas allenfalls eine vage Vorstellung gibt von der Gestalt des Kontinents und insbesondere dessen nördlichen Rändern, geschweige denn von ferneren Gegenden dieser Welt. Und dann kommen die Schicksalsjahre 1050 und 1066 nach Christus. Sie werden für den U ­ ntergang der Wikingerkultur von enormer Bedeutung sein. Im Jahr 1050 nach Christus findet die damals größte Wikingerstadt des Nordens, die im heutigen Schleswig-Holstein gelegene Siedlung Haithabu, ihr erstes Ende im Feuer. König Harald der Harte von Norwegen (König von 1047 bis 1066) unternimmt den entscheidenden Angriff auf den Ort; der dänische König Sven Estridsen (König von 1047 bis 1074) ist an anderer Stelle gebunden und kann nicht eingreifen. Haithabu wird sich von diesem Zusammenbruch nicht mehr erholen. 1066 dann eine zweite folgenschwere Plünderung. Die Stadt wird erneut gebrandschatzt, diesmal von Westslawen, die damals in den Gebieten östlich der Kieler Förde leben. Die Einwohner Haithabus verlegen die Siedlung daraufhin nach Schleswig, direkt gegenüber an das andere Ufer der Schlei, und bauen Haithabu nicht wieder auf. Gemeinsam mit der Schlacht von Hastings in England im selben Jahr markiert die Zerstörung und Aufgabe Haithabus das Ende der Wikingerzeit. In Schleswig hingegen entsteht eine große Hafenanlage als neues „Logistikzentrum“ zwischen Ostsee und Nordsee – einer der bedeutendsten Fernhandelsplätze seiner Zeit. Ein Jahrtausend später: Die Ereignisse setzen den Rahmen für ein Forschungsprojekt, das 2012 startete: „Zwischen Wikingern und Hanse: Kontinuität und Wandel des zentralen Umschlagplatzes Haithabu/Schleswig im 11. Jahrhundert“. Ausgestattet mit 570.000 Euro, untersuchten Forscher der Universität Kiel und des in Schleswig ansässigen Archäologischen Landesmuseums Schloss Gottorf vier Jahre lang das Ende Haithabus und die Phase seiner „Ablösung“ durch die Stadt Schleswig. Jetzt liegen die Ergebnisse vor. Haithabu und Schleswig: zentrale Handelsplätze und Kommunikationsknotenpunkte ihrer Zeit „Zwar war bekannt, dass der Hafen Haithabus im 11. Jahrhundert allmählich verlandete und beladene Schiffe ihn kaum noch anlaufen konnten; dennoch ließen archäologische Spuren schon einige Zeit vermuten, dass dort länger als bislang gedacht Handel getrieben wurde und Handwerker aktiv waren“, sagt Dr. Ralf Bleile, Leiter des Landesmuseums. „Ziel war es, das zu konkretisieren und so das Ende der Wikingerzeit detaillierter und zeitlich genauer zu fassen.“ Um zwei zentrale Ergebnisse vorwegzunehmen: „Jetzt, nach Abschluss der Forschung, gehen wir davon aus, dass Schleswig und Haithabu etwa noch eine Generation lang nebeneinander als Siedlungen existiert haben“, sagt Bleile, einer der beiden Initiatoren des Projekts. „Ebenso kann man sagen, dass Schleswig einige Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte älter ist als bislang angenommen“, fügt Ko-Projektinitiator Professor Dr. Ulrich Müller vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel hinzu und nennt 1070/1071 als bislang gültiges Gründungsdatum Schleswigs, das nun infrage zu stellen sei. Dr. Volker Hilberg beschäftigt sich mit Silbermünzen und anderen Silbergegenständen jener Zeit. Der Archäologe am Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum fungiert als Leiter der Forschergruppe und bündelt die Kontakte zu den vielen „Analytikpartnern“ in Deutschland. Unstrittig ist, dass beide am inneren Ende der Schlei nahe beieinander liegende Stätten als die zentralen Kommunikationsknoten und Warenumschlagplätze Nordeuropas ihrer Zeit gelten mit den jeweils größten Häfen: Haithabu vom 8. bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts und Schleswig am Anfang seiner Blütezeit, die auf die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts datiert. Das Bemerkenswerte aus Sicht beider Forscher: Trotz des gravierenden Bruchs in der politischen Bedeutung sei der Übergang von Haithabu nach Schleswig so gut gelungen, dass die Wirtschafts- und Infrastruk- Impulse 01_2016 57 Der Kieler Archäologe Ulrich Müller umreißt die Eckpfeiler des Projekts: „Zum einen erfolgte eine Digitalisierung der Siedlungs- und Hafenbefunde der ‚Altgrabungen‘ und auf dieser Basis die Analyse und Auswertung der Objekte mithilfe neuer Verfahren. Die Zeichnungen und Fotos der Grabungen wurden dann zu einem dreidimensionalen Modell zusammengefügt. All das mündete in entsprechende 3-D-Visualisierungen“, erläutert er. Mit ihrer Hilfe lasse sich etwa die räumliche Situation an bestimmten Punkten eines Siedlungsabschnitts besser darstellen. So entsteht ein recht genaues Bild von der damaligen Bebauungsstruktur. „Spannend wird es, wenn man in entsprechende Computermodellierungen dann die vermuteten historischen Wasserstände über Berechnungen einfließen lässt. Solche Simulationen sind ja recht komplex und noch gar nicht so lange möglich!“ Darüber hinaus seien dann und wann ergänzend systematische, flächendeckende Begehungen mit Metalldetektoren erfolgt, um kontinuierlich weiterhin Funde aus den Schichten des fokussierten 11. Jahrhunderts zusammenzutragen. Michaela Schimmer, Doktorandin an der Universität Kiel, begutachtet eine Christusfibel im Museum Schleswig (unteres Bild: Großaufnahme). Fibeln sind tur im Gebiet der inneren Schlei recht bruchlos weiter funktioniert habe. „Die ganz Nordeuropa umspannende Bedeutung der Region als Tor zwischen Nord- und Ostsee sowie als Umschlagplatz zwischen Ost- und Westeuropa hat auch nach der Mitte des 11. Jahrhunderts noch eine Zeit lang Bestand gehabt“, halten sie fest. von ihrer Funktion her heutigen Broschen vergleichbar; sie dienten dem schmückenden Verschließen von Kleidung. 58 Doch worauf gründen diese Erkenntnisse im Kleinen? Im Archiv und im Magazin des Archäologischen Landesmuseums in Schleswig befinden sich aus zahlreichen früheren Grabungen – insbesondere der 1970er und 1980er Jahre – Dokumente und Funde beider Orte, die jene entscheidende Phase zwischen dem Ende der Wikingerzeit und dem Beginn friesisch dominierten Handels erhellen können. Ein Postdoktorand, zwei Doktoranden und eine technische Mitarbeiterin haben sich mit den beiden Projektinitiatoren an die Arbeit gemacht, unter Zuhilfenahme neuester Methoden und Techniken solche Leuchtfeuer zu suchen. Doch wie konkret lässt sich nun belegen, dass die Region um Schleswig wichtiger Umschlagplatz blieb im Warenverkehr zwischen Nord- und Ostseeraum – auch nach der Verlagerung von Siedlung, Hafen und Markt von Haithabu an das nördliche Schleiufer infolge schwerer zweifacher Verwüstung? „Zeugnis für weitreichende Kontakte in alle Teile der bekannten Welt sind neben den historischen Quellen vor allem Importgüter im Fundmaterial“, sagt Müller. Und die fänden sich durchaus in den Schleswiger Altstadt-Grabungen. Zwar lägen Stücke, deren geografische Herkunft sich klar benennen lässt, oft nur als Einzelfunde oder in geringer Stückzahl vor, was eine Aussage über die Handelsverbindungen und Fernkontakte Schleswigs nicht zulasse – doch: „Es gibt Ausnahmen wie etwa importierte Keramik.“ Mit unter anderem rund 5000 Keramikscherben einer Ausgrabung des Jahres 2007 im Hafengang 11 in Schleswig beschäftigte sich Doktorandin Michaela Schimmer. Wenn sie zu erzählen beginnt, erwachen die jahrhundertealten Objekte zum Leben. „Über die Analyse der Funde wissen wir, dass im 11. und 12. Jahrhundert rege Handelsbeziehungen in den westeuropäischen Raum bestanden“, wartet sie gleich mit einer wichtigen Erkenntnis auf. Schimmer kennzeichnete die Funde zunächst hinsichtlich Warenart und Fragmenttyp sowie nach der Rand- und Bodenform der Scherben. Besonderes Interesse galt auch – sofern vorhanden – den Verzierungsmustern. „Ergänzen lässt sich jetzt, dass es neben den Kontakten in Richtung Westeuropa ziemlich sicher auch regelmäßigen Warenaustausch mit dem westslawischen Raum gab.“ Auch manches an der Fundsituation spräche eindeutig für zumindest eine teilweise Einfuhr an Keramiken – als Handelsgut selbst, Ausstattung der Schiffsmannschaften oder als Transportbehälter, die beim Anlanden der Schiffe oder Verkauf des Inhaltes als defekt oder unbrauchbar vor Ort entsorgt wurden und sich jetzt wiederfinden. Handelsbeziehungen in alle Regionen Europas – und darüber hinaus In der neuen Siedlung Schleswig sei „besonders bei den Dingen des täglichen Bedarfs eine praktisch bruchlose Weiterführung der aus Haithabu bekannten Formen und Herstellungstechniken festzustellen“, platziert Michaela Schimmer ein weiteres zentrales Ergebnis, das sie aus ihren Untersuchungen ableitet. Beinahe spielerisch gleiten die Objekte durch ihre Finger, während sie fortfährt: „Das gilt für das umfangreiche heimische Keramikmaterial ebenso wie für Holz- und Eisenfunde.“ Zum einen liege diese Kontinuität wohl sicherlich in der funktionsbestimmten Formgebung der Objekte begründet, „zum anderen handelt es sich aber eben auch um Produkte, die sich weitgehend aus den im Umland vorkommenden Rohstoffen fertigen ließen“. sie insgesamt bis heute erfasst, katalogisiert und ausgewertet: die meisten davon Objekte aus Eisen, einige Hundert aus Kupfer, Kupferlegierungen, Blei und/oder Zinn – aber auch seltene Funde wie sieben Gussformen oder -fragmente aus Gestein sowie elf Gusstiegelfragmente aus Keramik. Als äußerst aufschlussreich erwiesen sich zwanzig besondere Gegenstände aus Glas, darunter Fingerund Glasringe, Ringperlen sowie eine Silberfibel und ein silberner Ohrring. „Für Haithabu lässt sich die Herstellung von Glasobjekten recht sicher nachweisen, in Schleswig fand dieses Handwerk offenbar allenfalls in geringem Umfang eine Fortsetzung; auch kommt dort die Formgebung deutlich weniger vielfältig daher“, stellt Schimmer mutig fest. Zumindest lasse sich bis jetzt nichts anderes belegen. „Die Funde legen die Vermutung nahe, dass vergleichsweise mehr importiert wurde.“ Auch das – rohstoffimportabhängige – Bunt- und Weißmetallhandwerk in Schleswig weist Unterschiede auf zu den aus der Spätphase Haithabus bekannten Formen, Techniken und Legierungszusammensetzungen. Spannend ist vor allem der Blick auf die Schmuckobjekte aus Weißmetall, und hier insbesondere auf die Herstellung von Kleidungsbestandteilen, zu denen sogenannte Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kieler Institut für Ur- und Frühgeschichte fand reichlich Unterschiede hinsichtlich Formen, Techniken und Legierungszusammensetzungen zwischen den in Schleswig und den in Haithabu hergestellten Fibeln. Interessant ist, dass auf Schleswiger Grund vermehrt christliche Elemente wie Kreuze erstmals als Verzierung auftauchen. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man den Blick auf Preziosen aus jener Zeit richtet. Michaela Schimmer nahm sich aus der alten Schleswiger Hafengang-Grabung unter anderem Glas- und Metallfunde vor. Nahezu 3000 Einzelfunde hat Impulse 01_2016 59 Um 800 Karl der Große lässt eine Küstenabwehr nördlich der Mündung der Seine gegen die Wikinger errichten. 806 Schwedische Wikinger gründen Siedlungen am Ladogasee im heutigen Russland. 808 Haithabus große Konkurrenz, der slawische Handelsort Reric in der Nähe von Wismar, wird durch den dänischen König Gudfred zerstört. 809 Durch die Zwangsumsiedlung der Kaufleute von Reric nach Haithabu entwickelt sich die Stadt zur Handelsmetropole, noch bevor Dänemark Einheit erlangt. Um 810 Haithabu ist jetzt die größte Stadt Nordeuropas und Zentrum des Wikingerreichs. Ab 811 Die einige Kilometer südlich Haithabus fließende Eider markiert die Grenze zum Frankenreich, was die Bedeutung Haithabus noch vergrößert. 841 Die Wikinger gründen Dublin. Um 848 Wohl in diesem Jahr errichtet Erzbischof Ansgar von Hamburg die erste christliche Kirche in Haithabu. Um 860 In Haithabu leben jetzt mindestens tausend ständige Einwohner; der Ort ist ein wichtiger, überregional bekannter Handelsplatz, an dem auch eigene Münzen geprägt werden. Um 870 In Island entstehen erste Wikingersiedlungen. 885 „Danelag“ entsteht, eine weite Teile des heutigen Südenglands umfassende Wikingerenklave. 60 Fibeln zählen. Sie ähneln von der Funktion her heutigen Broschen und dienten dem schmückenden Verschließen von Kleidung. Solche Fibeln gibt es in verschiedenen Ausführungen, etwa als Buckel- oder Scheibenfibeln. „An der Art und Weise, wie die Fibeln ausgestaltet wurden, lässt sich einiges ablesen“, erläutert Schimmer. Vor allem sei erkennbar, dass sich über die Zeit eine eigene Formensprache entwickle. „Die Gestaltung der Weißmetallobjekte setzt sich deutlich ab von jener der Edelmetallfibeln.“ Interessant sei auch, dass auf Schleswiger Grund vermehrt christliche Elemente wie Kreuze als Verzierung auftauchten. Als Glücksgriff fällt immer wieder der Name eines engagierten Doktoranden dort: Stephen William Merkel. Der junge US-Amerikaner analysierte unter anderem 243 Bunt- und Weißmetallobjekte auf die Zusammensetzung der jeweiligen Legierung. Die Entdeckung einer seltenen und damit besonders charakteristischen Kupfer-Zink-ZinnBlei-Legierung führte zur Untersuchung weiterer rund fünfzig Funde aus drei anderen Grabungsorten in der Schleswiger Altstadt. Zudem wurden je zehn Proben von Blechen aus der Kupfer-ZinkZinn-Blei-Legierung und von Weißmetallobjekten (Blei, Zinn und Blei-Zinn-Legierungen) zur Bleiisotopenanalyse hinzugenommen. Unterstützung durch moderne Prüfverfahren – ob Röntgenfluoreszenz- oder Bleiisotopenanalyse Fasst man die Untersuchungen auch über verschiedene Objektklassen hinweg einmal etwas generalisiert zusammen, lässt sich im Vergleich der Funde aus Haithabu und der Schleswiger Altstadt anhand der Röntgenfluoreszenzanalyse sagen: Die verwendeten Metalle und ihre Legierungen unterscheiden sich deutlich. „Während in Haithabu überwiegend Blei oder bleireiche BleiZinn-Legierungen verwendet wurden, dominiert bei den Schleswiger Funden Zinn als Werkstoff; Blei-Zinn-Legierungen treten am nördlichen Schleiufer häufiger und vor allem mit hohem Zinnanteil auf“, geben die Wissenschaftler einen ersten zusammenfassenden Überblick. Um im Detail zu erkennen, wie sich das Spektrum verschiedener Materialien zwischen den Fundorten unterscheidet, knüpften die findigen Forscherinnen und Forscher ein Netz in alle Richtungen zu ausgewiesenen Experten für bildgebende oder auch andere analytische Verfahren. Als etwa bei Michaela Schimmer die Vermutung wuchs, dass sich die Glasfunde von Haithabu in ihrer Materialzusammensetzung von jenen in Schleswig unterscheiden könnten, ließ sie Objekte beider Fundorte von Spezialisten des Geowissenschaftlichen Zentrums der Georg-August-Universität Göttingen auf die chemische Zusammensetzung hin untersuchen. Die Grundglastypen wurden dann gleich mit analysiert. Zahlreiche Materialuntersuchungen erforderten hingegen eine Röntgenfluoreszenzanalyse. Die entsprechende Expertise für umfangreiche archäometallurgische und chemische Analysen fand man in Bochum am Deutschen BergbauMuseum. Die Projektpartner dort untersuchten das ihnen weitreichend vorgelegte Ausgrabungsmaterial zunächst einmal generell auf Metalle, die im skandinavischen Raum zu jener Zeit typischerweise bevorzugt verwendet wurden: Silber, Kupfer, Blei/Zinn und Messing – und zwar hinsichtlich der Herkunft sowie der Verarbeitung. Und während sie so ein Ergebnis nach dem anderen präsentieren, wird zugleich sichtbar, wie vielfältig vernetzt die Forschergruppe ist: ein Kooperationspartner nach dem nächsten scheint auf. Die eingebundenen Standorte sind klug gewählt und die Zusammenarbeit greift vielschichtig ineinander. So ist es gelungen, das „Kooperationsvorhaben Haithabu/Schleswig“ über eine Promotionsarbeit einzubinden in die neue Graduiertenschule „Rohstoffe, Innovation und Technologie alter Kulturen (RITaK)“ – ein Verbundangebot von Ruhr-Universität Bochum und Deutschem Bergbau-Museum. Die Dissertation zum Thema „Silber und Silberwirtschaft in Haithabu“ ist Teil des dort verankerten Forschungsclusters „Nordmitteleuropa zwischen römischer Kaiserzeit und Mittelalter“. Die Wikinger: harte Krieger, gnadenlose Eroberer – oder doch: kluge Händler und ehrbare Kaufleute? Silber ist einer der begehrten Rohstoffe in der Hochphase Haithabus um das Jahr 1000, als die Stadt zentrale Metropole im Wikingerreich ist. Woher aber stammt es? Immerhin reicht das Einflussgebiet der Nordmänner von Neufundland in Nordamerika bis in die Steppen Zentralasiens und von Grönland bis ans Mittelmeer. Sie befahren die nördlichen Gewässer vom Labradorstrom bis zum Eismeer und die europäische Atlantikküste bis Gibraltar. Sie dringen über die Flüsse Großbritanniens und des Kontinents bis ins Herz Westeuropas vor. Außerdem gelangen sie über Wolga und Dnjepr ins Schwarze und Kaspische Meer; von dort aus bedrängen die Wikinger Byzanz. Und immer geht es um Waren, Menschen, Geld, Profit. Manches Gut wird gehandelt, doch vieles holen sie sich – oft mit Gewalt. Um an gleich welche Objekte ihrer Begierde zu kommen, scheuen sie keine Auseinandersetzung. Gefürchtet sind die Blitzkriege und ihre Taktik dabei – sofern man von Taktik reden kann. Denn die ist eigentlich immer gleich. Die Schiffe rasen auf die Küste zu, die Mannen werfen sich von Bord, rennen brüllend an Land, stürmen Wohnhäuser, schrecken auch nicht davor zurück, Klöster abzufackeln und Mönche zu massakrieren. Kurzgefasst: plündern, morden, Feuer legen, Beute machen, zurück aufs Boot, in See gestochen – so der Ablauf.   Doch das Bild bedient auch ein Klischee; es hat eine Unwucht und bildet nur einen Teil der Wikingerkultur ab. Denn die Nordmänner treten auch anders auf, wie ein genauer Blick zeigt. Ebenso brillieren sie als frühe Entdecker, Kapitalisten – und eben Händler. Und als solche hinterlassen sie Eindruck in Russland, Spanien oder Byzanz. Über die Gründung einer Art frühmittelalterli- Im Wikinger-Museum in Haithabu ausgestelltes Reitzubehör: Zaumzeugund Steigbügelbeschlag (oben links) sowie ein weiterer in Haithabu gefundener Steigbügelbeschlag (oben rechts). Unterdessen fertigt Museumszeichner Gert Hagel-Bischof von einem ebenfalls aus Haithabu stammenden Gewicht eine Skizze an, während Volker Hilberg ein paar Meter weiter einen Zaumzeugbeschlag vermisst. Impulse 01_2016 61 der Feingehalt an Silber bei Münzen dänischen, deutschen und englischen Ursprungs anfangs noch bei 80 bis 90 Prozent, so sinkt er bis zu den 1080er Jahren auf Feingehalte von lediglich 50 bis 60 Prozent. Kreuz und quer durch die Republik: Jedes Objekt reist zu „seinem“ Experten Das Interesse von Doktorand Felix Rösch gilt der wissenschaftlichen Aufarbeitung Zehntausender Holzfunde jener Zeit. Hier vermisst er Tröge im Archäologischen Landesmuseum Schloss Gottorf in Schleswig. chen Hanse kurbeln sie gleichsam als Pioniere der Globalisierung den Welthandel an. Und der dreht sich um Pelze, Schwerter, Schmuck – aber auch um Waren wie Honig. Sie handeln mit Salz aus Frankreich, Speckstein von den Shetlandinseln, Wein aus dem Rheinland, Seide aus Byzanz. Sie sind ehrbare Kaufleute. Und als solche haben sie Interesse an allen edlen Dingen – so auch an Silber, das ein besonderes Gut ist, dient es doch zugleich als Zahlungsmittel für all die anderen Waren. Im 10. Jahrhundert kommt Silber vor allem aus dem Harz, im 11. Jahrhundert wird es knapp Zurück im 21. Jahrhundert treffen wir erneut auf Stephen William Merkel in Bochum, der sich mit den Silberfunden des Forschungsvorhabens beschäftigt und diesmal versucht, anhand von Bleiisotopenanalysen die genaue Herkunft des in Haithabu bekannten Edelmetalls zu ermitteln. „Die Analysen zeigen, dass im Verlauf der 960er und 970er Jahre das aus Zentralasien ins Ostseegebiet einströmende Silber in den Münzen immer stärker durch Silber ersetzt wird, das aus deutscher Produktion stammt; später womöglich 62 – wobei das bislang nur eine Vermutung ist – auch aus englischer“, sagt Dr. Volker Hilberg. Als heimische Quellen nachgewiesen seien Lagerstätten im rheinischen Schiefergebirge und vor allem im Harz. Der Archäologe Volker Hilberg fungiert als Leiter der Forschergruppe und Kopf der kleinen „Jungen Akademie auf Zeit“, in die die beiden Doktoranden und fallweise Studierende eingebunden sind. Er selbst bearbeitet die Sammlungen „Ausgrabungen Haithabu 2005-10“ und die Ergebnisse der „Detektorbegehungen Haithabu“. Er koordiniert die am Archäologischen Landesmuseum sowie am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Kiel vorhandene Expertise für das Projekt, bündelt die Kontakte zu den Analysepartnern vor allem in Bochum und Göttingen – dort begleitet er auch die archäometallurgischen und chemischen Untersuchungen – und hält die Vernetzungen zu vergleichbaren Sammlungen einschließlich jener im Ausland am Leben. 214 Fundmünzen nahm Hilberg bisher auf. „Die Münzanalysen zeigen: Haithabu verfügt mit fast hundert nach 983 geprägten Münzen über das bislang größte bekannte Münzspektrum, das von einem Fundplatz dieser Zeit zwischen spätem 10. bis Ende des 11. Jahrhunderts bekannt ist. Zudem förderten die Detektorbegehungen dort annähernd 500 wikingerzeitliche Gewichte zutage. Viele wurden für das genaue Abwiegen beim Bezahlen mit Silber benötigt, sind damit vor allem Beleg für Handel und geschäftliche Transaktionen. „Auch dies ist ein Ausmaß an Funden, das seinesgleichen sucht“, sagt Hilberg und fügt hinzu, dass als Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse jener Münzen und Gewichte sowie von ergänzend gut hundert Proben diverser Silber- und Buntmetallobjekte und 28 Blei-Schmuckobjekten sich übergreifend alles in allem festhalten lasse: „Haithabu hat bis zuletzt seine Stellung im internationalen Fernhandelsnetz behauptet.“ Hilberg nutzte für die Analytik der Silberobjekte neben Know-how und Gerätepark der Bochumer Forscher auch die Erfahrung der Wissenschaftler am Institut für Anorganische Chemie der Leibniz Universität Hannover. Dort wurden darüber hinaus von Dr. Robert Lehmann 158 Münzen und 15 Schmuckgegenstände auf Bleiisotope untersucht. 28 weitere Objekte wiederum, im Wesentlichen Silberbarren und Hacksilberfragmente, reisten mit Stephen Merkel zur Universität Frankfurt am Main und erlebten, was moderne Analytik zu leisten vermag. Und die Identifizierung und Bestimmung von Münzen islamischer Herkunft übernahm Dr. Lutz Ilisch von der Forschungsstelle für Islamische Numismatik an der Universität Tübingen; dort lagert die in Deutschland größte Sammlung von Münzen islamischer Provenienz. Teamleiter Dr. Volker Hilberg begutachtet eine Kampfaxt, die in Haithabu gefunden wurde. Dem Archäologen gelang es, für detaillierte Analysen der bei den Fundobjekten verwendeten Materialien Experten zu gewinnen am Deutschen BergbauMuseum in Bochum sowie an den Universitäten Hannover, Göttingen, Frankfurt am Main und Tübingen. Um auch hier den Vergleich zwischen beiden Siedlungen zu haben, unterzog Hilberg den umfangreichen Bestand an Fundmünzen aus der „Grabung ‚Schleswig Hafengang‘“ ebenfalls einer detaillierten Analyse. Er bestimmte von 73 Münzen die Zusammensetzung des Feingehalts an Silber. „Im Ergebnis zeigt sich, dass es im Laufe des 11. Jahrhunderts zu einer spürbaren Silberverknappung kam“, sagt der Projektleiter. Liegt Impulse 01_2016 63 907 Die Wikinger fallen mit ihren Drachenbooten in Konstantinopel ein. 934 Der ostfränkisch-sächsische König Heinrich I. besiegt die Dänen unter König Knut I. in der „Schlacht von Haithabu“ und erobert die Stadt – damit fällt das Gebiet zwischen der Eider und der Schlei zunächst an das Ostfränkische bzw. Römisch-Deutsche Reich. 945 Der dänische König Gorm erobert den wichtigen Handelsplatz zurück. 948 Nach einem Besuch Kaiser Ottos I. wird Haithabu Bischofssitz. Um 950 In Haithabu leben etwa zu dieser Zeit mindestens 1500 Einwohner; der Ort hat seine Blütezeit und ist mit der bedeutendste Handelsplatz für den Ostseeraum. 965 Der arabisch-jüdische Gelehrte Ibrahim Ibn Yacub besucht Haithabu. 974 Gorms Sohn König Harald Blauzahn verliert Haithabu 974 zunächst wieder an Heinrichs Sohn Otto I. 983 König Harald Blauzahn, einer der bedeutendsten Herrscher der Wikinger, erobert Haithabu zurück. 983 Erik der Rote wird verbannt und siedelt nach Grönland über, auch dort entstehen nun Siedlungen der Wikinger. Um 998 Die Wikinger erreichen Nordamerika. 64 Gegenstände aus Keramik, Metall, Glas, Silber, Legierungen: All das zu untersuchen ist schon eine Menge. Doch fehlt eine entscheidende Substanzklasse, die wesentliche Erkenntnisse liefert: Holz. Und in der Tat: Vieles, was man jetzt weiß, stammt aus der Aufarbeitung von über zehntausend Holzfunden. Allein 1500 Hölzer wurden akribisch dendrochronologisch untersucht, ein Drittel davon konnte exakt datiert werden. „Durch solch eine breite Basis lassen sich kurzphasige Siedlungsprozesse differenziert abbilden“, sagt Felix Rösch, der sich mit Unterstützung der technischen Mitarbeiterin Kerstin Greve diesen Werkstoff und damit die Bautätigkeiten jener Zeit vorgenommen hat. Die Erfassung Tausender Hölzer macht es möglich: Die Bebauungsstruktur wird sichtbar Inzwischen hat das Zweierteam sämtliche 19.683 Hölzer der Baubefunde vollständig digital erfasst, die Daten aufbereitet und dreidimensional kartiert. Damit nicht genug: In die Analyse flossen auch Bodenverfärbungen ein, die in die Simulationen eingespeist wurden; sogar die Position markanter Steine nebst Profilen und ausgewählten Oberflächen wurde aufgenommen. Ziel war es, all das in ein räumliches Verhältnis zueinander zu setzen und so ein Modell von den untersuchten Grabungsorten zu erhalten, das die damalige Bebauungs- und Grundstückssituation abbildet und in einem weiteren Schritt etwa über die Einspeisung historischer Wasserstände noch weitergehende Simulationen ermöglicht. „Unerlässlich war es dafür, die digitalisierten Hölzer mithilfe eigens entwickelter GIS-Shapes zu vermessen und anhand dieser Daten die Befunde dreidimensional zu kartieren. Zeitgleich liefern diese Messungen die letzten benötigten Informationen für die Befunddatenbank, ohne die im Hintergrund eine Analyse und Beschreibung der einzelnen Objekte, die sich dann nach und nach zu einem großen Ganzen zusammensetzen, nicht möglich sind“, erläutert Rösch, der mittlerweile seine Doktorarbeit eingereicht hat. Er hat dieses große Ganze nun mithilfe neuer Darstellungsverfahren am Rechner dreidimensional rekonstruieren können: unter Einspeisung jeder einzelnen getrennt erfassten Grabungsschicht – und das sind alles in allem immerhin 4000. Man staunt, und der Blick in plötzlich sich öffnende Tiefen auf dem Computerbildschirm lässt den Betrachter in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts eintauchen und ihn zunächst eine Reihe rechtwinklig zur Schlei ausgerichteter Parzellen wahrnehmen. „Die durch Freiräume oder einfache Bohlenwegkonstruktionen voneinander getrennten rechteckigen Strukturen weisen Breiten zwischen sieben und zwanzig Metern auf“, erklärt Rösch mit geübtem Blick und macht auf weitere Details aufmerksam, die sich dem ungeübten Betrachter erst nach und nach offenbaren. Man erkennt: Die Parzellen sind umgrenzt von Flechtwandzäunen, die im Südteil bis zu sieben Phasen aufweisen können. „Diese Mehrphasigkeit lässt sich unserer Meinung nach nur durch den stark schwankenden Wasserspiegel der Schlei erklären – das wechselfeuchte Milieu erzwang eine häufige Erneuerung der Zäune“, sind Rösch und Müller sich einig. Der Doktorand sieht auch bei einigen identifizierten Baumaßnahmen den Grund darin, dem schwankenden Wasserspiegel der Schlei etwas entgegenzusetzen. So erklärt er sich, warum einige der Befunde zeigen, dass in seinem Untersuchungsareal in den späten 1070ern und zu Beginn der 1080er Jahre Flechtwandzäune durch eine Reihe massiver, spundwandartig aneinandergesetzter Spaltbohlen ersetzt wurden. Da zudem die in mehreren Phasen gebauten Parzellenbegrenzungen stratigrafisch unter den datierten Holzausbauphasen lägen, könne als gesichert gelten, dass es in Schleswigs Kern bereits vor den 1070er Jahren umfangreiche Siedlungstätigkeiten gegeben habe, ergänzt Rösch. „Die dürften spätestens Mitte des 11. Jahrhunderts eingesetzt haben.“ Die parzellenartigen Einteilungen der Grundstücke wurden inzwischen an vielen Stellen in Schleswigs Altstadt durch Ausgrabungen dokumentiert. „Das Bild einer Stadtentwicklung, das sich hier zeigt, ist durchaus typisch für das ausgehende 11. Jahrhundert“, erläutert Wissenschaftler Müller. „Die systematische Unterteilung von Flächen ist ein epochenübergreifendes Phänomen, das sich in entstehenden Siedlungen des Frühen Mittelalters und der Wikingerzeit genauso beobachten lässt wie bei Städten, die im Hochmittelalter gegründet wurden.“ Das sei gut zu sehen bei vergleichbaren Gründungen jener Zeit wie etwa Dorestad, Ribe, Sigtuna, Trondheim und Lübeck – „auch wenn Details und Entwicklungsverläufe natürlich von Fall zu Fall variieren“, fährt der Archäologe fort. Die Blütezeit: wichtigster Seehandelsplatz mit modernem Hafen und organisierter Müllentsorgung Gerade die Städte Skandinaviens zählen zu dieser Zeit zu den wichtigsten Handelszentren. Haithabu, gelegen zwischen Nord- und Ostsee am Fuße der Halbinsel Jütland, ist in seiner Hochphase nicht nur wichtigster Seehandelsplatz Nordeuropas und Skandinaviens Tor zur Welt, sondern auch – eins folgt dem anderen – Schmelztiegel der Kulturen. Um das Jahr 1000 leben hier Franken, Slaven, Sachsen und Byzantiner mehr oder minder fried- lich mit Wikingern und versprengten Vertretern weiterer Völker zusammen. In all diesen Gruppen wiederum finden sich Zimmerleute, Schmiede, Fischer, Töpfer, Glasmacher und Landwirte. Im Jahr 965 lebt der maurische Gesandte Achmed al-Tartuschi einige Zeit in der Stadt. Er hält viele seiner Eindrücke schriftlich fest. So ist er nicht nur überrascht davon, dass eine Art Müllentsorgung festgeschrieben ist – nun ja, man hat sich darauf verständigt, allen Unrat im Hafenbecken zu versenken –, ausgesprochen beeindruckt zeigt er sich von der Stadt mit ihren angelegten Gräberfeldern und der Hafenanlage mit den Landungsbrücken.   Auch lässt sich bei ihm nachlesen, wie in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts die Bewohner nach und nach einen mehrere Meter hohen, halbkreisförmigen Wall aufschichten, um sich gegen Angriffe landseitig abzuschirmen. Gibt es bei den Menschen in Haithabu ein womöglich kollektives diffuses Gespür, dass sich erste Schatten auf die Blütezeit zu legen beginnen, eine noch nicht näher fassbare Gefahr droht? Noch jedenfalls sind die Wikinger hier und anderswo auf dem Höhepunkt ihrer Macht – und die bildet sich nirgends besser ab als in dem massiven Ausbau der Hafenanlage. Die rund 20.000 Hölzer der Grabungen im Schleswiger Hafenareal wurden digital erfasst, aufbereitet und dreidimensional kartiert – und um weitere Daten angereichert. Man erkennt die immer weiter in die Schlei hineingetriebenen Bautätigkeiten (Näheres auf Seite 66f). Bei der grünen Fläche handelt es sich um die historischen Ausmaße der Schleswiger Altstadthalbinsel vor dem Ausbau der Besiedlung, bei der gelben um Erweiterungen durch Sand aus der Schlei. Der Wasserstand ist bei dieser Darstellung auf 0,25 Meter simuliert. Impulse 01_2016 65 Die Boote bringen Waren, schaffen Raum, bedeuten Freiheit – ein echter Kerl ist nur, wer zur See fährt Ob in Haithabu oder Schleswig: Das Leben in dieser Zeit dreht sich vor allem um Schifffahrt und Handel. Die Chroniken überliefern: Nur wer auf große Fahrt geht, ist im mittelalterlichen Skandinavien sozial geachtet. Die Helden der Ozeane sind die Helden daheim – fünfzig verschiedene Bezeichnungen kennt das Skandinavische dieser Zeit allein für das Wort Meer. Die beiden Initiatoren des Verbundvorhabens: Museumsdirektor Dr. Ralf Bleile (links) und der Kieler Archäologe Professor Dr. Ulrich Müller. Er steht im heutigen Schleswiger Hafen auf historischem Grund – eine jener Ausgrabungsstätten, die reichlich Zeugnisse der Vergangenheit preisgegeben haben. Ein Jahrtausend später zeigt die Fülle an Erkenntnissen: Rösch hat die Möglichkeiten der Dendrochronologie derart umfassend ausgeschöpft, dass die jahrhundertealten Hölzer wohl kurz vorm Glühen waren. „Mit dem Jahr 1087 muss in Schleswig ein ‚Bauboom‘ eingesetzt haben“, sagt er. Zumindest würde man es heute so bezeichnen. „Innerhalb kurzer Zeit wurden vor den Parzellen Dämme erbaut: U-förmige Konstruktionen, errichtet aus eng gesetzten Spaltbohlen und verfüllt mit Reisig, Mist und Erde.“ Im Abstand von wenigen Jahren wurden diese Dämme in die Schlei hineingetrieben – bis etwa ins Jahr 1100. „Die Akteure haben so ihre Grundstücke in den Flachwasserbereich ausgedehnt.“ Es geht noch genauer: Wann konnten bei welchem Wasserstand die Schiffe wo anlegen? „Bisher dachte man, dass es sich bei diesen Anlagen wegen ihrer Beschaffenheit und Lage um feste Landebrücken einzig für das Anlegen von Schiffen handelt“, erläutert Ulrich Müller. Doch dagegen sprächen die in den Profilen aufgearbeiteten Daten einschließlich der in die Simulationen eingespeisten historischen Wasserstände, 66 die deutliche Schwankungen für die Zeit zeigen, inklusive der ebenfalls berücksichtigten Seesandschichten in der Schlei. „Der Wasserspiegel der Schlei befindet sich im ausgehenden 11. Jahrhundert etwa 20 bis 30 Zentimeter unter dem heutigen Mittelwert; bei einem solchen Wasserstand beträgt die Tiefe vor den ersten Phasen der Dämme gerade einmal 30 Zentimeter und vergrößert sich mit den weiteren Ausbauten“, versucht Rösch eine Erklärung. „Dies bedeutet, dass mittelgroße Transportschiffe mit einem Tiefgang von einem Meter frühestens etwa im Jahr 1095 im Untersuchungsareal anlegen konnten.“ Wozu also feste Landebrücken? Inzwischen scheint es den Forschern plausibler, von multifunktionalen Einrichtungen auszugehen. Rösch favorisiert die Idee, dass es sich bei den meisten Dämmen um Anlagen professioneller Händler handelt, die sich dadurch ein Grundstück in Poleposition im Schleswiger Hafen sichern wollten. „In Schleswig wurde der Handel schließlich anders als in Haithabu nicht mehr überwiegend von Nebenerwerbshändlern getragen, demzufolge entwickelte sich eine professionellere Infrastruktur.“ Und so sind es denn auch zwangsläufig die Boote, in deren Bau alle Energie, alles Wissen, alles Können fließt. Kein Schiff kann es mit den schnellen, wendigen Drachenbooten aufnehmen. Und immer weiter perfektionieren die Wikinger den Schiffbau. Dabei experimentieren sie viel, verzichten etwa bei ihren bis zu dreißig Meter langen und vier Meter breiten „Langschiffen“ auf Tiefgang, um sie schneller und wendiger zu machen. So versuchen sie, diesen Bootstyp für ihre Beutezüge und kriegerischen Überfälle zu optimieren. Hundert Krieger haben Platz in solch einem Boot, das gesegelt oder gerudert wird – in extremer, von Schiffen anderer Völker bei Weitem nicht erreichter Geschwindigkeit. An der Bordwand angebracht die Schilde, stets sofort griffbereit für die nächste Auseinandersetzung, den nächsten Gegner. Etwa drei Zentimeter dick sind die Klinkerplatten, die sie wie Dachziegel verbauen. Die Rahsegel fertigen sie aus Schafwolle und imprägniert wird alles mit Pferdefett. Und auch die Frachtflotte wird kontinuierlich verbessert. Die Handelsschiffe sind so gebaut, dass sie sehr viel Ladung aufnehmen können und dennoch äußerst wendig und seetüchtig sind – auch dieser Bootstyp sucht seinesgleichen auf den Weltmeeren. Ihr Erkennungsmerkmal: ein ausgesprochen breites Deck und ein offener Laderaum. So ist auch das Be- und Entladen der Schiffe schnell und effektiv möglich. Es sind für lange Zeit unerreichte Konstruktionen, an denen permanent gefeilt wird. Es sind die Boote der Seemacht einer ganzen Epoche. Der umfassende Ausbau des Schleswiger Hafens im 11. Jahrhundert in nur kurzer Zeit – Ergebnis der Forschung – spiegelt letztlich die aufstrebende Handelsmetropole. „Vermutlich siedelten sich zeitgleich mehr und mehr Menschen dort an“, meint Müller. „Das sich verschärfende Platzproblem auf der Altstadthalbinsel erzwang dann die Dammbauten.“ Immerhin war das historische Altstadtareal Schleswigs mit einer Fläche von seinerzeit rund 12,5 Hektar nur halb so groß wie das Gebiet innerhalb des Halbkreiswalls von Haithabu. Da in fast allen Bodenaufschlüssen Siedlungsnachweise des späten 11. Jahrhunderts zu finden sind, könne man für diese Zeit von einer enormen Verdichtung und damit der Notwendigkeit für Landgewinnungsmaßnahmen ausgehen, um einfach Platz zu schaffen für die Bevölkerung Schleswigs. Von den Details zum großen Ganzen: ein Blick in die Stadtentwicklung im Mittelalter Landgewinnung? Stadtwerdung? Da ist Ulrich Müller bei „seinem“ Sujet, der Gründung von Städten und Stadtentwicklung im Mittelalter. Und flugs startet ein spannender Ausflug über planerisches Vorgehen und Aushandlungsprozesse, über Interessen und Aktionen unterschiedlicher Akteure und die Prozesshaftigkeit bei der Entwicklung urbaner Strukturen – ein eigenes Thema. Mit seinen Doktoranden ist er sich jedenfalls einig: Schleswig stellt beispielhaft eine ebenso rare wie herausragende „Quellengrundlage“ für die Erforschung frühester Stadtgründungen im skandinavischen Raum dar. „Wir wissen das jetzt, da wir die alten Ausgrabungen und deren Funde neu sichten und begreifen können“, betont Müller. Die Ergebnisse belegten das eindrucksvoll. „Gerade Altgrabungen wie in unserem Fall die Befunde der flächigen Stadtkerngrabungen in den 1970er und 1980er Jahren neu zu betrachten unter Zuhilfenahme moderner Techniken und Methoden: Darin liegt eine große Chance auch für viele ­unserer Kolleginnen und Kollegen in ihren Arbeits- und Forschungssituationen!“ Impulse 01_2016 67 Um 1050 König Harald der Harte von Norwegen erobert und brandschatzt Haithabu. 1066 Haithabu wird zum zweiten Mal niedergebrannt, diesmal von slawischen Angreifern. Der normannische Herzog Wilhelm der Eroberer siegt über Harald II. in der Schlacht von Hastings und wird zum englischen König gekrönt. Die Herrschaft der Wikinger neigt sich dem Ende zu. 1070/71 Vermeintliches Gründungsdatum Schleswigs; wie die Forschung nun gezeigt hat, ist die Stadt wohl älteren Ursprungs. Hintergrund i Museumschef Dr. Ralf Bleile, dessen Blick immer mehr auf Haithabu denn auf Schleswig ruht, ist zu Recht stolz auf das Zusammenwirken aller Akteure. „Die Vernetzung mit den zahlreichen Experten: Das war der Schlüssel zu der Vielzahl neuer Erkenntnisse über die beiden Städte, die damals Nordeuropas Kommunikations- und Handelsknoten waren – am Vorabend der Hanse, von der und deren Protagonisten wir doch so ein ganz anderes Bild in unseren Köpfen haben als von den Wikingern.“ Und doch: Es sind die zur See fahrenden Pioniere, die auch heute noch sogar außerhalb Ende im Feuer – Neuanfang als UNESCO-Weltkulturerbe? Haithabu, seit über neun Jahrhunderten verlassen, gilt gemeinsam mit dem Danewerk als bedeutendstes archäologisches Bodendenkmal in SchleswigHolstein. Gegründet wurde die Siedlung um 770 nach Christus von Dänen, die wie die Jüten in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts von Norden bis zur Schlei und zur Eckernförder Bucht vordrangen. Die Lage des Ortes war günstig, denn die Schlei, ein 42 Kilometer langer Arm der Ostsee, war schiffbar, und zugleich verlief hier die uralte Nord-Süd-Route zwischen dem Fränkischen Reich und Skandinavien. In West-Ost-Richtung gab es eine jahrhundertealte Seehandelsroute zwischen Nord- und Ostsee: Dabei gelangten die Handelsgüter jedoch nicht nur zu Wasser ins jeweils andere Meer – rund 18 Kilometer ging es über Land. Zunächst konnten Schiffe über Eider und Treene bis nach Hollingstedt fahren. Danach schafften kleinere Schiffe es noch, die Rheider Au zu nutzen. Manche Forscher halten es für möglich, dass von dort an Boote bis fast nach Haithabu über Land gezogen werden konnten, um in die Schlei zu gelangen – Ralf Bleile allerdings ist der Ansicht, dass das allenfalls für Kriegsschiffe vereinzelt möglich gewesen sei; die hätten schließlich über entsprechende Manpower verfügt. Anderen Theorien zufolge kann der Kograben knapp südlich des Danewerks als Schifffahrtskanal gedient haben. 68 Europas diesem Kontinent ein Gesicht geben. Wer könnte diesen Symbolgehalt besser bekräftigen als die „globalisierte“ Hillary Clinton. Sie bezeichnete die Wikinger, die im Zuge ihrer Reisen auch Menschen und Orte verbanden und dabei über große Entfernungen Informationen, Erfahrung, Wissen und Kultur transportierten, als „Internet des Jahres 1000“. Und über die erste Begegnung mit ihrem späteren Ehemann Bill Clinton 1970 schreibt sie in ihrer Autobiografie: „Ich sah seinen sexy roten Bart und die langen rötlich-blonden Haare – er war ein Wikinger aus Arkansas.“  Wegen dieser Lage an den jahrhundertealten NordSüd- und Ost-West-Handelswegen war Haithabu als einzigartiger Knotenpunkt ohne Zweifel einer der Haupthandelsplätze seiner Zeit. Bis Nordskandinavien und in das Byzantinische Reich fuhren Schiffe. Waren aus der gesamten damals bekannten Welt wurden in Haithabu gehandelt: aus Norwegen, Schweden, Irland, dem Baltikum, Konstantinopel, Bagdad und dem Fränkischen Reich. Weine wurden aus dem Raum Koblenz importiert, aus dem Harz kamen begehrte Metalle wie Silber und Kupfer, aus Skandinavien andere Rohstoffe wie Wetzsteine, Specksteingefäße, Hirschgeweihe oder Walrosselfenbein, aus den entfernteren Gebieten eher Luxusgüter. So ist belegt, dass Handelsverbindungen bis nach Samarkand bestanden im heutigen Usbekistan; dort gab es Anschluss an die Seidenstraße nach China. Mindestens tausend ständige Einwohner hatte der Ort vom 9. bis ins 10. Jahrhundert; auch eigene Münzen wurden hier geprägt. Besonders die Herstellung und Bearbeitung von Tonwaren (Geschirr), Glas und Werkzeug wurden wichtig für die Bedeutung Haithabus, das auch von dem arabisch-jüdischen Reisenden Ibrahim Ibn Yacub besucht und beschrieben wurde. Im 10. Jahrhundert erreichte Haithabu seine Blütezeit und war mit mindestens 1500 Einwohnern der bedeutendste Handelsplatz für den Ostseeraum. Historischer Grund, der Jahr für Jahr viele Besucherinnen und Besucher anzieht: Umgeben von einem baumbestandenen halbkreisförmigen Wall grenzt die Wikingerstadt Haithabu – bestehend aus Museum und Schaudorf – in ihren einstigen Ausmaßen auf der anderen Seite an die Schlei. Im Hintergrund zu erkennen die Stadt Schleswig mit Altstadt samt Dom. Vom Wikinger-Museum zum Weltkulturerbe Heute befindet sich an der Stätte des historischen Ortes nahe des halbkreisförmigen Begrenzungswalls das Wikinger-Museum Haithabu. Die Sammlung informiert anhand archäologischen Fundmaterials unter anderem über die Ergebnisse der Forschung. Entlang der Grabungsobjekte erzählt die Schau eine atmosphärisch dichte Geschichte über die Lebensverhältnisse in der frühen Stadt. Originalfunde, Modelle und moderne Medien lassen die Siedlungsgeschichte und den Alltag der Bewohner Haithabus lebendig werden: ob es um den Haushalt oder um Zeremonien bis hin zu Bestattungsritualen geht, um Handel und Handwerk – oder um Schifffahrt, Kampf und Verteidigung. Zahlreiche Fundobjekte werden erst seit Kurzem gezeigt.   Spektakulärstes Ausstellungsstück im Wikinger-Museum ist das in der Schiffshalle wieder aufgebaute Langschiff „Haithabu 1“, das im Hafengrund der alten Siedlung im Schlick gefunden wurde. In der Schiffshalle kann der Besucher in das frühmittelalterliche Hafenleben eintauchen und das Wrack eines wikingerzeitlichen Kriegsschiffs bestaunen, einst das schnellste Gefährt auf der Ostsee. Das rekonstruierte Langschiff „Haithabu 1“, gefunden im ehemaligen Hafengrund der historischen Stadt, ist das wohl spektakulärste Ausstellungsstück. Das Bootkammergrab gewährt Einblicke in die kostbare Bestattung eines mächtigen Kriegsherrn. Viele der in der Schau gezeigten Stücke zeugen von der aktuellen Wikingerforschung. Nicht weit entfernt vom Museum entstanden zwischen 2005 und 2008 sieben aus Befunden rekonstruierte Wikingerhäuser: das Wikingerdorf. 2009 dann wurde auf der Museumswerft in Flensburg ein sechseinhalb Meter langes Wikingerboot nachgebaut, das seit seiner Fertigstellung in Haithabu an der Landebrücke liegt.   Gemeinsam mit dem Danewerk und weiteren für die Kultur der Wikinger bedeutsamen Orten in Nordeuropa war Haithabu im Rahmen des transnationalen Projektes „Wikingerzeitliche Stätten in Nordeuropa“ Teil der insbesondere von Island federführend vorangetriebenen Bewerbung als UNESCOWeltkulturerbestätte. Der Vorschlag scheiterte im ersten Anlauf bei der Entscheidungsrunde 2015. Wenngleich das Konzept der fünf beteiligten Länder als zu vage und vor allem zu unausgewogen zwischen den Partnern kritisiert wurde, lehnte ihn das UNESCO-Komitee nicht gänzlich ab. Die Bewerber dürfen wiederkommen. Christian Jung Impulse 01_2016 69 Spektrum Nachrichten aus der Wissenschaftsförderung der VolkswagenStiftung Gigantische Spuren von Raubsauriern gefunden: Verdrängten die Riesen kleinere Verwandte? Sind große Raubsaurier Schuld am Aussterben des zwergenhaften Europasaurus vor 154 Millionen Jahren? Versteinerte Dinosaurier-Fußspuren, nahe der niedersächsischen Stadt Goslar entdeckt, weisen zumindest auf gemeinsame Lebensräume hin. Blick in den Langenberg-Steinbruch (oben) im Harz nahe der niedersächsischen Stadt Goslar. In dem Gebiet, seinerzeit vermutlich eine Insel im flachen Meer, lebte vor gut 150 Millionen Jahren der Europasaurus – bis eines Tages Raubsaurier in das abgeschottete Gebiet vordrangen. Das ermittelten Forscher jetzt anhand der Analyse versteinerter Fußspuren; diese waren beim Gesteinsabbau zutage getreten. Die beiden Bilder in der Mitte zeigen Dinosaurierspuren – dreidimensional rekonstruiert und im Original. Das Panorama unten skizziert, wie es nach Meinung der Forscher in der heutigen Harzregion während der späten Jurazeit ausgesehen haben könnte. 70 Wieso starb vor rund 154 Millionen Jahren der Europasaurus aus? Neue Erkenntnisse dazu liefert jetzt eine im niedersächsischen Langenberg-Steinbruch im Harz gefundene Platte mit Abdrücken riesiger Fußspuren von Dinosauriern. Forscher aus Hannover und Bonn haben die versteinerten Spuren ausgewertet. Jens Lallensack, Paläontologe am Steinmann-Institut der Universität Bonn, und Dr. Oliver Wings vom ­Niedersächsischen Landesmuseum Hannover kommen zu dem Schluss, dass große Raubsaurier in den Lebensraum des vergleichsweise zwergenhaften Europasaurus eindrangen und die Art verdrängten. Die Raubsaurier-Spuren stammen aus einer Gesteinsschicht, die sich nahe der Schicht mit Europasaurus-Spuren befand und etwas jünger datiert. Mithilfe der FotogrammetrieTechnik – sie kombiniert Messdaten und Fotografien – gelang es den Forschern, die ursprüngliche Anordnung der Fußspuren als dreidimensionales Modell zu rekonstruieren und auszuwerten. Wie aber konnten die dreizehigen Fußspuren der Raubsaurier in den Lebensraum des Europasaurus gelangen? Hier helfen weitere Forschungserkenntnisse. So deuten viele ebenfalls in Langenberg gefundene marine Fossilien wie Schnecken, Muscheln oder Seeigel darauf hin, dass sich die Kalksteine des Steinbruchs, in denen die Spuren des Europasaurus gefunden wurden, innerhalb eines flachen Meeresbeckens gebildet haben. „Möglicherweise gab es in diesem Zeitraum eine Absenkung des Meeresspiegels und in der Folge ein zeitweises Trockenfallen des Gebiets; so konnten die festländischen Raubsaurier zu der vormals auf einer Insel geschützt lebenden kleineren Gattung vordringen“, fasst Wings zusammen. „Wir vermuten, dass damit auch das Ende dieser spezialisierten Inselzwerge besiegelt war“, resümiert Lallensack. „Noch vor fünf Jahren wäre eine solche Rekonstruktion der Fundstelle technisch nicht machbar gewesen.“ Die Funde fossiler dreizehiger Fußspuren ließen die Forscher auf große, räuberisch lebende Dinosaurier schließen. Diese Theropoden hatten eine Körperlänge von etwa acht Metern. Der seinerzeit im gleichen Gebiet vorkommende Europasaurus gehörte zwar zur Gruppe der langhalsigen, pflanzenfressenden Sauropoden, die mit bis zu 30 Metern Länge zu den größten Landtieren aller Zeiten zählten – er allerdings brachte es als kleiner Vertreter der Gruppe auf lediglich sechs bis acht Meter Länge. Wahrscheinlich ist, dass sich der Dino-Zwerg mit seiner Körpergröße dem begrenzten Nahrungsangebot seines Lebensraums, einer kleinen Insel, angepasst hatte. Nach wie vor ungeklärt ist, wie Europasaurus in die große Familie der Dinosaurier einzuordnen ist. Fußabdrücke und Skelettfunde auch anderswo erlauben es nun, die Verwandtschaftsverhältnisse dieser DinosaurierSpezies weiter aufzuschlüsseln. Damit befasst sich im Rahmen eines angedockten „Kooperationsmoduls Europaförderung“ Dr. Emanuel Tschopp von der Universidade Nova de Lisboa, Facuidade de Ciencias e Tecnologia in Portugal. Tina Walsweer Spektrum Wissenschaftsförderung der VolkswagenStiftung Zielgenaue Tumortherapie: ein neuer Hebel, um Krebs zu stoppen? Neuer Ansatz zur Behandlung von Schlaganfällen Lichtenberg-Professor Dr. Christian Reinhardt von der Universität zu Köln und sein Nachwuchsforscherteam haben herausgefunden, wie sich das Wachstum bestimmter Tumore bremsen lässt. Die Entwicklung von Medikamenten läuft bereits. Forscher der Universität Duisburg-Essen untersuchen alternative Behandlungsoptionen für Patienten nach einem Schlaganfall: „Extrazelluläre Vesikel“ sind offenbar ebenso wirksam wie die Stammzellen, von denen sie produziert wurden – aber risikoärmer. Zielgenaue Tumortherapie: ein neuer Hebel, um Krebs zu stoppen? Ein Forscher bei der analytischen Betrachtung eines DNA-Gels. Er sucht nach Auffälligkeiten im genetischen Mehrere neue Ansätze machen Profil eines Patienten. derzeit bei der Behandlung von Schlaganfällen von sich reden. Hier schaut eine Ärztin in einer „Stroke Unit“, einer Spezialstation, sich die ComputertomografieAufnahme eines Patienten an. Krebs zählt zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland und in der westlichen Welt. Eine zielgerichtete Tumordiagnostik und -therapie ist für die Patienten von großer Bedeutung. Forscher aus Deutschland, Dänemark und England haben jetzt einen neuen Hebel identifiziert, der helfen könnte, Tumore zu bekämpfen. Beteiligt an den Arbeiten war das Team von Lichtenberg-Professor Dr. Christian Reinhardt von der Universitätsklinik Köln. Publiziert sind die Ergebnisse im renommierten Fachjournal Cell vom 2. Juli 2015. Die Forscher identifizierten zwei Enzyme (Chk1 und MK2), die offenkundig das Tumorwachstum beschleunigen. Und zwar immer dann, wenn im Erbgut der Tumorzellen das sogenannte KRASGen eine Mutation aufweist. Man weiß inzwischen, dass dies eine der in menschlichen Tumoren am häufigsten vorhandenen Mutationen ist, die bei fast allen Krebserkrankungen der Bauchspeicheldrüse sowie in rund einem Drittel aller ­Bronchial- und Dickdarmtumore vorkommt. Sie führt zu einem enorm gesteigerten Zellwachstum, das mit Komplikationen einhergeht: Denn die Verdopplung ihrer DNA, die die Zellen vor jeder 72 Teilung durchlaufen, ist unter den beschleunigten Wachstumsbedingungen nur erschwert möglich. Wie die Kölner Forscher herausgefunden haben, helfen die Enzyme MK2 und Chk1 den Tumorzellen bei der fehlerfreien Verdopplung ihrer DNA. Gesundes Gewebe hingegen benötigt die Funktion beider Enzyme weitgehend nicht. Dieser Unterschied zwischen Tumorzellen und normalen Zellen könnte für Therapien nützlich sein. Die Forscher konnten bereits zeigen, dass Tumorzellen und Tumore mit KRAS-Mutationen sehr gut auf eine Kombinationstherapie mit Chk1und MK2-Hemmstoffen ansprechen, wobei das gesunde Gewebe die Kombinationstherapie ohne entscheidende Nebenwirkungen toleriert. Eben das gibt Ärzten in naher Zukunft möglicherweise ein Werkzeug zur effektiven Behandlung von Tumoren mit KRAS-Mutation an die Hand. Aktuell liegt noch keine Zulassung sogenannter MK2-Hemmer vor, Forschungen zur Entwicklung solcher Medikamente laufen aber bereits seit einiger Zeit. Die Arbeiten an dem aktuellen Projekt haben die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Deutsche Krebshilfe und die VolkswagenStiftung gefördert. In den westlichen Industrieländern ist der Schlaganfall die dritthäufigste Todesursache und häufigster Grund für schwere Behinderungen. Ist die Blutversorgung unterbrochen, sterben die betroffenen Nervenzellen innerhalb weniger Stunden ab. Nach einem Schlaganfall muss das Gehirn daher möglichst schnell und nachhaltig regeneriert werden. Große Hoffnungen verbinden sich dabei mit dem regenerativen Potenzial von Stammzellen – allerdings können diese sich nach einer Transplantation auch unkontrolliert verhalten und zum Beispiel Tumore bilden. Wissenschaftler der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen konnten nun im Tierversuch zeigen, dass extrazelluläre Vesikel nach einem Schlaganfall genauso wirksam sind wie die Stammzellen, von denen sie produziert wurden. Extrazelluläre Vesikel sind winzige Bläschen, die von einer Membran aus Proteinen umschlossen sind. Sie übertragen biologische Signale zwischen den Zellen und lenken viele Prozesse im menschlichen Körper. Beide Therapieformen – der Einsatz extrazellulärer Vesikel und adulte Stammzellen – aktivierten die Reparatur neurologischer ­Schäden im Gehirn von Mäusen vergleichbar gut und nachhaltig. Die motorischen Leistungen der betroffenen Versuchstiere verbesserten sich deutlich. Dies geht vermutlich darauf zurück, dass die extrazellulären Vesikel kurzfristig Reaktionen des Immunsystems verändern. So können die Hirnstrukturen vor weiteren Schädigungen geschützt und die gehirneigene Regeneration gefördert werden. Die möglichen therapeutischen Vorteile gegenüber potenziellen Stammzelltherapien liegen auf der Hand: „Die Behandlung mit extrazellulären Vesikeln ist weniger riskant, weil sie sich nicht vermehren können und einfacher zu handhaben sind“, erläutern PD Dr. Thorsten R. Döppner von der Klinik für Neurologie und PD Dr. Bernd Giebel vom Institut für Transfusionsmedizin am Universitätsklinikum Essen. Die Wissenschaftler forschen nun daran, wie sie Betroffenen helfen könnten. Gefördert wurden ihre Arbeiten von der VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderinitiative „Offen – für Außergewöhnliches“. Die Ergebnisse sind im Fachjournal Stem Cell veröffentlicht:  http://stemcellstm.alphamedpress.org/content/ early/2015/08/31/sctm.2015-0078.short?rss=1 Impulse 01_2016 73 Spektrum Wissenschaftsförderung der VolkswagenStiftung Angriff auf der Mikroebene: auf dem Weg zu einer neuen Therapie gegen Hepatitis B? Eine molekulare Pinzette gegen das HI-Virus. – Erfolge auch bei Viren wie Herpes und Hepatitis C Verläuft eine Infektion mit dem Hepatitis-B-Virus chronisch und wird die Krankheit ­dauerhaft, können Betroffene meist nicht vollständig geheilt werden – bislang. Neue Erkenntisse Hamburger Forscher beruhen auf Genome-Editing-Methoden. Multifunktionale Substanz: Wissenschaftler der Universitäten Ulm und Duisburg-Essen nutzen ein zuvor entwickeltes Molekül zum unmittelbaren Angriff auf den Viruserreger – einerseits. Andererseits blockiert die Mehrzweckwaffe zugleich im Sperma enthaltene Infektionsverstärker. . Forscher haben zwei DNABereiche des HepatitisB-Virus identifiziert, die für die Funktion des Virus essentiell sind. Mithilfe neuer Methoden können sie jetzt die spezifischen DNA-Abschnitte zielgenau erkennen und gleich zerschneiden. Jan Münch vom Institut für Molekulare Virologie der Universität Ulm ist mit der „molekularen Pinzette“ etwas Bedeutendes gelungen: Sie bricht unter anderem die Virenmembran auf – dadurch ist der Erreger nicht mehr infektiös. Weltweit leiden rund 350 Millionen Menschen an einer chronischen Infektion mit dem HepatitisB-Virus (HBV), früher eher als Gelbsucht bekannt. Bei der Infektion von Leberzellen mit HBV wird zum einen das Erbgut des Virus, also dessen DNA, direkt in das Erbmaterial der infizierten Zellen integriert. Zum anderen liegt nach der Infektion die DNA des Virus als ringförmiges Molekül in den Leberzellen vor. Um eine Infektion vollständig zu heilen, muss die Virus-DNA zerstört werden, ohne dabei die Leber nachhaltig zu schädigen. Zwar gibt es durchaus hilfreiche Behandlungsansätze, jedoch sind diese meist teuer, erfordern eine Therapie über lange Zeit oder gehen mit schwerwiegenden Nebenwirkungen einher. Daher suchen Forscher seit Jahren nach alternativen Methoden, die eine vollständige Heilung zum Ziel haben. Wissenschaftler verschiedener Einrichtungen – vom Universitäts­klinikum Hamburg-Eppendorf, dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung und vom Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie (Heinrich-­Pette-Institut) – haben nun Wege gefunden, das Virus bei seiner verhängnisvollen Tätigkeit grundlegend zu stören. 74 Um die Virus-DNA aus den Leberzellen zu entfernen, bedienen sie sich sogenannter Genome-Editing-Methoden. Dabei werden mithilfe bestimmter Proteine (sogenannten Nukleasen) spezifische DNA-Abschnitte exakt erkannt und zerteilt. Diese Proteine bringen jedoch die Gefahr mit sich, auch an unerwünschten Stellen DNA zu zerschneiden. Das Forscherteam hat nun zwei DNA-Bereiche des Virus identifiziert, die für dessen Funktion essenziell sind und die durch eine bestimmte NukleaseVariante zielgenau zerschnitten werden können. „Unsere Erkenntnisse lassen hoffen, dass durch die Weiterentwicklung von Designer-Nukleasen in absehbarer Zeit eine vollständige Heilung chronischer HBV-Infektionen möglich ist“, resümiert Professor Dr. Joachim Hauber, Leiter der Abteilung „Antivirale Strategien“ am Heinrich-Pette-Institut, dessen Arbeiten von der Stiftung im Rahmen der Förderinitiative „Experiment!“ unterstützt wurden. Er hat mit seinen Kollegen die Erkenntnisse in der Fachzeitschrift Scientific Reports publiziert (Scientific Reports 5:13734. doi:10.1038/srep1373; CRISPR/Cas9 nickase-mediated disruption of hepatitis B virus open reading frame S and X). Mikrobizide, also chemische Substanzen, die Virus-Infektionen verhindern, gelten als Hoffnungsträger im Kampf gegen HIV/AIDS. Als Vaginalgele sollen sie es vor allem Frauen in Entwicklungsländern ermöglichen, sich auch dann vor einer Infektion zu schützen, wenn ihr Partner kein Kondom verwendet. Allerdings haben bisherige Mikrobizide in der Praxis versagt. Nun stellen Forscher einen neuen Ansatz vor: eine „molekulare Pinzette“, die nicht nur das HI-Virus und andere sexuell übertragbare Viren angreift, sondern auch im Sperma enthaltene Infektionsverstärker blockiert. Ihre Studie ist im Journal eLife erschienen. Wissenschaftler um Jan Münch und den amerikanischen Fibrillen-Forscher Professor James Shorter setzen nun eine „molekulare Pinzette“ ein, die die HIV-verstärkende Wirkung der Klebestäbchen blockiert, indem sie die Bildung von VirionAmyloid-Komplexen verhindert und reife Fibrillen zerstört. Dabei greift die „Pinzette“ Reste der Aminosäuren Lysin und Arginin an. Zudem bricht das Molekül CLR01 die Virenmembran auf – dadurch ist der Erreger nicht mehr infektiös. Die Forscher konnten diesen Effekt nicht nur bei HIV nachweisen, sondern auch bei weiteren sexuell übertragbaren Viren wie Herpes und Hepatitis C. Ein Großteil der Neuinfektionen mit HIV kommt durch Geschlechtsverkehr zustande. Dabei scheinen Eiweißbruchstücke, die stäbchenartige Fibrillen im Sperma ausbilden, eine große Rolle zu spielen. Die von den AIDS-Forschern Professor Jan Münch und Professor Frank Kirchhoff vom Institut für Molekulare Virologie der Universität Ulm 2007 entdeckten „Klebestäbchen“ binden Erregerpartikel und erleichtern die Anheftung von Viren an die Zielzelle. So sind nur wenige Viruspartikel erforderlich, um eine Zelle zu infizieren. Ein auf CLR01 basierendes Mikrobizid würde also gegen das Virus selbst wirken und andererseits die Amyloidfibrillen blockieren. „Aufgrund dieser Doppelstrategie dürfte CLR01 effektiver sein als bisherige Mikrobizide“, hofft Münch. Für klinische Tests lässt sich CLR01 einfach und kostengünstig synthetisieren. Als einer der Entdecker der molekularen Pinzette gilt Professor Thomas Schrader von der Universität Duisburg-Essen. Beider Arbeiten wurden von der Stiftung unterstützt. Weitere Informationen unter  http://biophysik.charite.de/. Impulse 01_2016 75 Spektrum Wissenschaftsförderung der VolkswagenStiftung Blick in die Zelle live: faszinierende Bilder von Ribosomen in Aktion „Was ist Leben?“ – Stiftung startet neue Förderinitiative für Projekte aus den Natur- und Lebenswissenschaften Freigeist-Fellow Dr. Elmar Behrmann und Wissenschaftlerteams von der Charité in Berlin und vom Bonner Forschungszentrum caesar gelingt die räumliche Abbildung menschlicher Ribosomen in Aktion – unmittelbar bei der Proteinproduktion. Ziel des neuen Angebotes ist es, Prozesse des Lebens in künstlichen Systemen nachzuahmen und diese besser zu verstehen oder zu versuchen, solche Systeme an der Schnittstelle zwischen Naturund Lebenswissenschaften gemäß den Grundprinzipien des Lebens zu entwickeln. Dr. Elmar Behrmann betrachtet Proteine bis in kleinste Details. Das genaue Zusammenspiel verschiedener Moleküle im Organismus zu kennen ist zum Beispiel entscheidend, soll ein Medikament passgenau im Körper wirken. Der FreigeistFellow will ein Experiment ent- Maximal durchleuchtet: wickeln, mit dem sich die Reak- Probe unter dem extrem tionen verschiedener Proteine zenzmikroskop am European im Vorfeld testen lassen (Bild Neuroscience Institute der rechts: ein Ribosom). Ein dreidimensionales Bild eines aktiven Proteins oder Proteinkomplexes zu erhalten, stellt Forscher vor ein schwer lösbares Problem: Der Aufbau der Makromoleküle ist nicht nur äußerst komplex, die Moleküle sind zudem ständig in Bewegung und nehmen dabei verschiedene räumliche Anordnungen ein je nach Aktivität und Funktion eines Proteins. Bislang ließ sich nur über eine chemische Fixierung der räumliche Aufbau von Proteinen untersuchen. Nachteil: Die Chemikalien können die Struktur des Proteins beeinflussen, die dann eventuell nicht mehr der Konformation im lebenden Organismus entspricht. Wissenschaftlern der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Bonner Forschungszentrums caesar ist es jetzt gelungen, mithilfe einer neuen Methode die Struktur von Proteinkomplexen im aktiven Zustand zu untersuchen. Dafür haben sie eine Probe mit menschlichen Polysomen – also Ribosomen, die zur Proteinsynthese an einem mRNA-Molekül aufgereiht sind – in flüssigem Ethan schockgefroren und deren dreidimensionale Struktur anschließend mittels Kryo-Elektronenmikroskopie rekonstruiert. 76 hochauflösenden Fluores- auf zahlreiche Medikamente Die Forscher identifizierten dadurch bislang unbekannte funktionelle Zustände. Zudem erstellten sie das erste hochaufgelöste atomare Modell eines aktiven menschlichen Ribosoms. Ein solch detaillierter Bauplan hilft, dessen Funktion besser zu verstehen und könnte nicht zuletzt die Entwicklung neuartiger Medikamente befördern. Publiziert wurden die Ergebnisse in Cell (doi: 10.1016/j. cell.2015.03.052. PubMed PMID: 25957688). „Aktive Proteine sind in der Regel in Bewegung. Um ihre Struktur zu ermitteln, werden sie häufig inaktiviert. Dieses ist bei unserem Ansatz nicht der Fall“, sagt Elmar Behrmann, der als FreigeistFellow der Stiftung eine Arbeitsgruppe am Bonner Forschungszentrum caesar leitet. „Allerdings musste die Probe zur Vorbereitung eingefroren werden, es fehlt also eine zeitliche Auflösung der verschiedenen Zustände.“ Wie sich eben diese zeitliche Dynamik von Proteinen untersuchen lässt, das erforscht Behrmann aktuell; nachzulesen in dem Interview „Tanzende Proteine verstehen“.  www.volkswagenstiftung.de/aktuelles/aktdetnewsl/news/detail/artikel/tanzende-proteine-verstehen/marginal/4592.html Universität Göttingen „Was ist Leben?“ – diese Frage stellt sich die Menschheit seit Jahrhunderten. In jüngster Zeit haben sich besonders an der Grenze zwischen Natur- und Lebenswissenschaften Forschungsfelder entwickelt, die vollkommen neue Erkenntnisse zu dieser Frage beisteuern können. So werden beispielsweise in den Bereichen Biophysik, synthetische Biologie oder systemische Chemie artifizielle Systeme entwickelt und untersucht, die sich nicht mehr eindeutig als lebend oder nicht-lebend einordnen lassen. Des Weiteren können biologische Zellen mithilfe modernster Verfahren mittlerweile genauestens kartiert und analysiert werden. Immer effizienter gelingt es Forschern, die Prozesse des Lebens in künstlichen Systemen nachzuahmen und besser zu verstehen oder neuartige artifizielle Systeme gemäß den Grundprinzipien des Lebens zu entwickeln. Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie die fundamentalen Prinzipien des Lebens besser zu begreifen suchen und damit neue Perspektiven in Ergänzung zu philosophischen Aussagen über das Leben eröffnen. Wo sich solch ein spannungs- geladenes, dynamisches Feld in der Wissenschaft auftut, zumal an der Schnittstelle zwischen Natur- und Lebenswissenschaften mindestens und mittelfristig vielleicht sogar fernere Wissensgebiete noch erreichend, da sieht sich die Stiftung als idealer Partner, Forscherinnen und Forschern mit passenden Projektideen und Aktivitäten ein Unterstützungsangebot zu machen. Förderangebot Die neue Initiative „Leben? – Ein neuer Blick der Naturwissenschaften auf die grundlegenden Prinzipien des Lebens“ adressiert sowohl Einzelforscher aller Karrierestufen nach der Promotion als auch grenzüberschreitende Kooperationen von Wissenschaftlern, deren Arbeiten Erkenntnisse über die Grundprinzipien des Lebens versprechen. Weitere Hinweise zu den Ausschreibungsbedingungen sowie zur Antragstellung finden sich unter  www.volkswagenstiftung.de bei der Förderinitiative selbst unter „Information zur Antragstellung“. Mitte Dezember 2015 fand im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen in Hannover eine Kick-off-Konferenz zur Veranstaltung statt.   Impulse 01_2016 77 Schwerpunktthema Ins Blaue hinein | INSELN Inselleben im Zeitraffer Inseln spielen eine entscheidende Rolle für die Biodiversität: Sie umfassen nur fünf Prozent der Landfläche, auf ihnen leben aber allein etwa 25 Prozent aller Pflanzenund annähernd so viele Tierarten. Welche Arten konnten und können sich hier etablieren und warum? Was geschieht, wenn plötzlich eine neue Art eindringt? Um dieses Werden und Vergehen quasi im Zeitraffer zu beobachten, lassen Wissenschaftler vor der Insel Spiekeroog mitten im Watt zwölf kleine Inseln entstehen. Vor der Küste Spiekeroogs ist 2015 ein weltweit einmaliges, spektakuläres Experiment angelaufen. Es soll helfen, Evolution in ihren Grundzügen zu verstehen. Schritt für Schritt wächst dort ein einzig­artiges Freiluftlabor heran – ein sich im Zeitraffer erhebendes Inselsystem. Dutzende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen einschließlich Studierender sind daran beteiligt – so auch die Biologin Salome Gonçalves von der Universität Göttingen, die mit einem Kescher Kleinstlebewesen fängt. Ihr Thema: komplexe Räuber-Beute-Beziehungen. 78 Text: Andrea Hoferichter // Fotos: Christian Burkert S ie liegen beinahe da wie vom Himmel gefallen: ein Dutzend große Metallkäfige aus schwerem Schiffsstahl. Wie gestrandete Raumschiffe scheinen sie sich ins Watt gegraben zu haben; je nach Licht und Sonneneinfall glänzen sie oder wirken düster, abweisend. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, worum es sich handelt – und das wundert wenig. Schließlich sind es künstlich geschaffene Objekte, die das Auge als fremd wahrnimmt: hier, in der Nordsee, ein paar Hundert Meter vor der Insel Spiekeroog gelegen. Die von Menschenhand geschaffenen MiniInseln sind Kern eines Experiments, das weltweit einmalig ist und nicht nur deshalb spektakulär. Es soll helfen, Evolution in ihren Grundzügen zu verstehen. Forscherinnen und Forscher der Universitäten Oldenburg und Göttingen haben in den vergangenen beiden Jahren die kleinen Eilande aus sedimentgefüllten Stahlkörben gebaut, und so wächst vor der ostfriesischen Insel allmählich Schritt für Schritt ein einzigartiges Freiluftlabor heran – ein sich im Zeitraffer erhebendes Inselsystem. „Wir haben den ganzen Entstehungsprozess eines Archipels im Watt auf einen Schlag abgekürzt“, sagte Dr. Thorsten Balke vom Institut für Biologie und Umweltwissenschaften der Univer- sität Oldenburg, der die operative Projektleitung hat. Und warum gerade Spiekeroog? „Die Naturbelassenheit der Insel und das Forschungszentrum Wittbülten machen Spiekeroog zu einem idealen Standort für ökologische und geomorphologische Untersuchungen“, ergänzt er. Mehr als 120 Quadratmeter künstliche Insel sollen nun dokumentieren, wie aus einem zunächst marinen ein vorwiegend terrestrisches Ökosystem entsteht. Es liegt dabei auf der Hand, dass sich das Wattenmeer wie wohl kaum ein zweites Gebiet für solche Fragen und Experimente als optimaler Standort ausweist. Die besonderen Dynamiken, die dort ablaufen, das Entstehen und Vergehen kleinerer Inseln, die häufigen Störungen, denen die Lebensgemeinschaften an Pflanzen und Tieren durch Tide und Sturmfluten permanent ausgesetzt sind: All das macht die Naturräume des Wattenmeeres zu einem einzigartigen Freiluftlabor für die Biodiversitätsforschung. Die Erkenntnisse und Ergebnisse aus der aktuellen Forschung vor Ort seien aber auch jenseits ihrer Relevanz für das Wattenmeergebiet für die Ökosystemforschung weltweit von Bedeutung, führt Balke weiter aus. Ohne Zweifel: Sie dürften helfen, die natürlichen Prozesse von Ökosystemen Das BEFmate-Experiment zur Biodiversitätsforschung: Wissenschaftler aus Oldenburg und Göttingen haben vor der Küste Spiekeroogs im Watt in etwa 300 bis 500 Metern Abstand zur Salzwiese zwölf künstliche Inseln aus Metallkörben aufgestellt. Jedes Eiland hat eine Grundfläche von zwölf Quadratmetern und ist in drei Höhenstufen segmentiert. und die grundlegenden Bedingungen und Besonderheiten, denen die jeweils dort lebenden Arten ausgesetzt sind, besser zu verstehen. Bereits in den vergangenen Jahren haben die Oldenburger Wissenschaftler immer wieder mit fundierten Berichten aus zahlreichen Vorhaben der Meeresforschung national wie international auf sich aufmerksam gemacht – zum Beispiel über die „Biogeochemie des Watts“. Aus dieser Zeit resultieren Vorarbeiten bis hin zu einer modernen wissenschaftlichen Infrastruktur wie etwa einer Messstation vor Spiekeroog, von der nun auch das neue „Inselbauprojekt“ BEFmate (Biodiversity – Ecosystem Functioning across marine and terrestrial ecosystems) profitiert. Stiftung und Land Niedersachsen fördern das umfangreiche Kooperationsvorhaben im Rahmen des „Niedersächsischen Vorab“ (über weitere im „Vorab“ geförderte Großvorhaben lesen Sie ab Seite 129 und 141). Welche Pflanze ist Pionier, wenn sich ein Eiland aus dem Meer erhebt? Beteiligt sind an BEFmate rund zwanzig Professorinnen und Professoren mit den Ressourcen ihrer Institute der Universitäten Oldenburg und Göttingen; explizit neun Postdoktoranden und acht Doktoranden qualifizieren sich derzeit im Rahmen des Vorhabens. Eingebunden sind des Weiteren Wissenschaftler vom Forschungsinstitut Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven, und sogar Fachkollegen vom Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer sind mit im Boot. Auch profitieren etliche Studierende von dem Projekt, und dieses ebenso von ihnen: Viele sind in die rund ein Dutzend Teilforschungsvorhaben integriert. Zudem hat der akademische Nachwuchs beim Bau der Inseln mitgeholfen: Zahlreiche Freiwillige schippten Sand, fertigten Sedimente, bauten Fundamente. Im Detail wollen die Forscherinnen und Forscher beobachten, welche Pflanzen und Tiere sich auf den kinderzimmerkleinen Inseln nach und nach ansiedeln, wie sich die Zusammensetzung der Arten mit der Zeit ändert und welchen Einfluss das wiederum auf die sogenannten Funktionen des Ökosystems hat, zum Beispiel auf die Produktion von Biomasse oder die Kohlenstoffspeicherung. „Bisher basierten Studien und Simulationen über den Einfluss und die Bedeutung, die sowohl die Vielfalt als auch die Zusammensetzung von Arten für Ökosystemfunktionen haben, fast immer auf konstanten Umweltbedingungen“, leistet Professor Dr. Helmut Hillebrand vom Institut für Biologie und Chemie des Meeres (ICBM) der Universität Oldenburg den großen Problemaufriss. „Doch einen solchen Zustand gibt es in der Natur nicht; gerade auf den Inseln im Wattenmeer ändern sich die Bedingungen ständig, allein schon durch Ebbe und Flut, durch Stürme und Sturmfluten“, fügt der Projektkoordinator hinzu. Die Metallkörbe wurden mit Wattsediment befüllt und Messinstrumenten bestückt. In den nächsten Jahren soll sich zeigen, welche Pflanzenund Tierarten sich nach und nach ansiedeln. Impulse 01_2016 81 Vor allem an den Küsten müsse sich das Leben oft ganz neu organisieren. „Inseln sind sicher ein Extremfall, aber gerade deshalb so lehrreich und so exemplarisch“, betont der Biologe. Zudem sei es wichtiger denn je, grundlegend zu verstehen, wie eine durch Klimawandel und zunehmende Zerstörung natürlicher Lebensräume massiv belastete Natur und Umwelt sich immer wieder neu organisiere. „Steigende Meeresspiegel, häufiger auftretende Wetterextreme, veränderte Artenvielfalt und Bioinvasion ergeben multiple Stressoren“, sagt der Forscher. Aller Anfang ist schwer: Die Inselbauten der ersten Generation fegt der Wintersturm hinweg In der Anfangsphase des Projekts mussten die Wissenschaftler dennoch Überzeugungsarbeit leisten. „Viele Leute haben uns für verrückt erklärt und prophezeit, dass unsere gebauten Eilande niemals halten werden“, berichtet der Landschaftsökologe Professor Dr. Michael Kleyer von der Universität Oldenburg, der den Bau der kleinen künstlichen Welten koordiniert hat. Und in der Tat gab es Startschwierigkeiten. Eine erste „Inselversion“ aus Drahtkörben, sogenannten Gabionen, die üblicherweise mit Steinen gefüllt als Hangbefe- stigungen dienen, wurde gleich im ersten Winter von meterhohen Wellen zerfetzt. Mittlerweile steht die zweite Variante, und sie hält – bislang. „Die Körbe haben jetzt Metallstreben in Schiffsstahlstärke“, berichtet Kleyer. Schräge Bleche an den oberen Korbrändern verhindern stärkeren Wellenschlag von oben, und in den Wintern, wenn mit besonders heftigen Stürmen zu rechnen ist, schützt zusätzlich ein Dach aus durchlöchertem Plexiglas. Jede Kunstinsel hat drei Ebenen, um den flachen Anstieg eines natürlichen Eilands zu simulieren. „Auf der untersten Ebene, die häufig unter Wasser steht, siedeln sich besonders robuste Pionierarten an wie zum Beispiel Queller oder Strandsode“, berichtet Kleyer. Auf der mittleren Ebene hätten auch weniger überflutungstolerante Arten wie Andelgras eine Chance. Und ganz oben könnten sich Arten etablieren, die lediglich Springtiden und Sturmfluten standhalten müssten wie beispielsweise der würzige Strand-Beifuß. Sechs der zwölf Inseln wurden allerdings gleich komplett mit Pioniergewächsen bepflanzt. Die Wissenschaftler, darunter viele junge Leute, die sich über das Projekt qualifizieren, wollen so herausfinden, ob sich die nackten und bepflanzten Inseln angleichen oder unterschiedlich entwickeln. Die Forscher besuchen regelmäßig „ihre“ Inseln. Wissenschaftlerinnen wie (von links) die Umweltingenieurin Daniela Meier, die Meeresbiologin Joeline Ezekiel – sie hat an der University of Dar es Salaam in Tansania studiert – und die Meeresbiologin Jennifer Schmitt sind in regelmäßigen Abständen vor Ort, um Boden- und Wasserproben zu nehmen; hier ziehen sie gerade Sedimentkerne zur Bestimmung von Mikroalgen. Alle drei promovieren im Rahmen des Projekts an der Universität Oldenburg. Je nach individueller Perspektive sind es „nur“ oder „immerhin“ mehrere Hundert Meter, die das nächstgelegene Land, die Insel Spiekeroog, von den experimentellen Inseln entfernt ist. Mindestens diese Distanz also müssen Pflanzen und Tiere überwinden, die sich dort ansiedeln wollen. Welche Pflanze wird zuerst ihre Heimat auf der neuen Insel finden, welches Tier? Wie stehen sie in Interaktion miteinander, beeinflussen sie sich gegenseitig? Werden sie verdrängt von Pflanzen oder Tieren, die sich später auf der Insel ansiedeln? Welche Bedeutung haben sie für das neue Ökosystem? Wie viel neue Biomasse entsteht durch den Besiedlungsprozess und nicht zuletzt: Wie entwickelt sich ein neues Nahrungsnetz? Um diese Detailfragen zu beantworten, wandern die Wissenschaftler im Sommer bei Ebbe fast täglich und die restliche Zeit im Jahr zumindest mehrmals im Monat zu „ihren“ Inseln, führen Messkampagnen durch und protokollieren die Pflanzen und Tiere, die sich dort niederlassen. Und nicht nur dort, auch auf Vergleichsflächen im angrenzenden Wattenmeer und in den Salzwiesen von Spiekeroog nehmen sie Bodenproben, sammeln Pflanzen und Insekten. Im Labor bestimmen und zählen sie die Arten sowie die Biomasse im Einzelnen, und sie analysieren unter anderem den Nährstoff- und Kohlenstoffgehalt des Bodens. Weitere Daten liefern Messgeräte, die an den Sedimentkäfigen angebracht sind; sie registrieren permanent Salzgehalt und Temperatur – ob von Luft oder Wasser. Ein langwieriger Prozess, das ganze Vorhaben: Da machen sich die Forscher aus Oldenburg und Göttingen nichts vor. In etwa sechs Jahren, vermuten sie, wird man fundierte Antworten auf zumindest einige Fragen haben. Doch schon jetzt, nach der ersten Vegetationsperiode, tut sich etwas. „Auf den ursprünglich nackten Inseln sind erste Pflanzen angekommen, und die Zusammensetzung der Arten auf den bepflanzten Inseln hat sich bereits geändert“, berichtet Hillebrand, der sich freut, dass schon nach kurzer Zeit einiges an Daten ausgewertet werden kann. „Jede Kunstinsel hat drei Ebenen, um den flachen Anstieg eines natürlichen Eilands zu simulieren“, erläutert Projektleiter Dr. Thorsten Balke (oben) von der Universität Oldenburg das Konzept der künstlichen Eilande: Auf der untersten Ebene, die häufig unter Wasser steht, siedeln sich besonders robuste Pionierarten an wie zum Beispiel der Queller (unteres Bild). Auf der mittleren Ebene haben auch weniger überflutungstolerante Arten eine Chance. Und ganz oben können sich Arten etablieren, die lediglich Springtiden und Sturmfluten standhalten müssen. Impulse 01_2016 83 bereits publizierter Studien, die entweder den Einfluss der Nährstoffverfügbarkeit auf die Artenvielfalt oder den Einfluss der Artenvielfalt auf die Nährstoffnutzung zum Gegenstand hatten, und entwickeln ein Modell zu den Wechselwirkungen. „Wir wollen den Zusammenhang verstehen“, erklärt Hillebrand. Das Modell soll später mit jenen Daten abgeglichen werden, die durch die neuen „Inselexperimente“ gewonnen wurden. Je nach individueller Perspektive sind es „nur“ oder „immerhin“ mehrere Hundert Meter, die das nächstgelegene Wenngleich die Oldenburger Kollegen sich über die Jahre einen exzellenten Ruf in der Meeresforschung erworben haben, sind Göttinger Wissenschaftler zu gleichen Teilen in dem Projekt engagiert. Zum Beispiel Professor Ulrich Brose. Land, die Insel Spiekeroog, von den experimentellen Inseln entfernt ist. Am Ende eines langen Tages heißt es auch für die beiden Göttinger Biologinnen Dr. Kristin Haynert und Salome Gonçalves einiges an Distanz zurückzulegen von den Inseln über die Salzwiesen zur Unterkunft im Nationalparkhaus Wittbülten. 84 Die Nordsee an den Schreibtisch holen: Ohne Computermodellierungen geht’s nicht Der Ökologe wechselte allerdings kürzlich von der Universität Göttingen an die Universität Jena, wo er den Lehrstuhl für Biodiversitätstheorie übernahm. Ihm weht nur selten der Nordseewind um die Nase: Sein Team entwickelt Computermodelle, die den Einfluss der Artenvielfalt auf die Ökosystemfunktionen selbst unter den extrem schwankenden Inselbedingungen treffend beschreiben und Vorhersagen ermöglichen sollen. Sobald genügend Daten aus den Freilandexperimenten vorliegen, wollen die Wissenschaftler prüfen, ob sie mit ihren Prognosen richtig liegen. „Ziel ist es, Vorhersagen zu treffen für quadratkilometergroße Flächen und lange Zeiträume, in denen Evolution normalerweise stattfindet“, betont Brose. Unter dem thematischen Dach „Vorhersagen und Prognosen“ interessiert die Forscher natürlich auch, welche Folgen klimatische Verwerfungen haben. Und so simulieren verschiedene Höhenstufen der künstlichen Inseln die Überflutungszonen der Salzwiesen; sie sorgen dafür, dass die Pflanzen unterschiedlich häufig dem Salzwasser der Nordsee ausgesetzt sind. So soll sich zeigen, was ein spürbarer Anstieg des Meeresspiegels bedeuten könnte und wie sich das auf die Vegetation auswirkt. „Wir setzen die Pflanzen der Salzwiesen auf unseren künstlichen Inseln gezielt unter Druck, schauen, wie sie mit dem ,Stress‘ zurechtkommen und die veränderten Umweltbedingungen verkraften“, erklärt der Oldenburger Forscher Michael Kleyer. Wie lange dauert es, bis sie eingehen oder durch resistentere Pflanzen ersetzt werden? Wie stark ist ihre Widerstandskraft? Fragen, auf die bei einem gegenwärtigen relativen Anstieg des Meeresspiegels um bis zu vier Millimeter pro Jahr dringend eine Antwort gefunden werden muss. Auch das Team seines Oldenburger Kollegen Hillebrand nutzt den Computer für mehr als nur das Übliche: Die Forscher machen eine Metaanalyse Wie einzigartig diese Forschung ist, zeigt nicht zuletzt die enge Zusammenarbeit mit dem Nationalpark Wattenmeer; die Einrichtung tritt sogar als Kooperationspartner auf. Bisher gab es von jener Seite immer die kategorische Devise: keine Eingriffe im Wattenmeer. Dass die BEFmateExperimente in dem hochgeschützten UNESCOWeltnaturerbe möglich sind, ist eine absolute Ausnahme – gleichsam Vertrauensbeweis wie Wertschätzung den Wissenschaftlern gegenüber. Den Forschern hilft dabei ihr exzellenter Ruf. Die Wissenschaftler wandern im Sommer bei Ebbe fast täglich und die restliche Zeit im Jahr zumindest mehrmals im Monat zu „ihren“ Inseln, messen, sammeln, bestimmen und protokollieren die Pflanzen und Tiere, die sich dort niederlassen. Dabei gebe es immer wieder Überraschungen, sagen die Biologinnen Kerstin Heidemann und Salome Gonçalves von der Universität Göttingen. Weitere Daten liefern Messgeräte, die an den Sedimentkäfigen angebracht oder im Boden verankert sind: Sie registrieren permanent Salzgehalt und Oldenburger Meeresforscher weiter erfolgreich: Das neue Projekt MarBAS dockt an. Und der bestätigte sich gerade erst wieder: Ende 2015 gelang es den Oldenburger Wissenschaftlern, sich im harten Wettbewerb bei der landesweiten Ausschreibung „Spitzenforschung in Niedersachsen“ durchzusetzen – als eine von insgesamt nur sechs erfolgreichen Bewerbungen (siehe Kasten auf der nächsten Seite). Im Rahmen des neuen Forschungsverbunds „Marine Biodiversität – Analyse über zeitliche und räumliche Skalen (MarBAS)“ gilt ihr Interesse einzelnen Molekülen ebenso wie ganzen Ökosystemen. Ein Projekt widmet sich – unmittelbar angrenzend an das „Spiekeroogerkünstliche-Inseln-Projekt“ – der Frage, mit welcher Geschwindigkeit sich die Artenvielfalt im Meer verändert und welche Folgen das hat. „Dabei wollen wir Datensätze erstmals über eine Zeitspanne von 30.000 Jahren analysieren“, sagt Professor Dr. Helmut Hillebrand. Er hat nicht nur eine zentrale Rolle bei dem „Spiekeroog-Projekt“ inne, sondern ist auch Koordinator von MarBAS. Temperatur – ob von Luft oder Wasser. So kontrolliert die Oldenburger Umweltingenieurin Daniela Meier regelmäßig im Boden installierte „Logger“, die wie hier zum Messen des Wurzeldrucks gesetzt sind.   Manches, was gesammelt wird, kommt ins Labor. Dort bestimmen und zählen die Forscherinnen und Forscher Arten und analysieren die Biomasse ebenso wie den Nährstoffund Kohlenstoffgehalt des Bodens. Vor allem gilt das Interesse der Frage, welche Pflanzen und Tiere sich auf den Eilanden nach und nach ansiedeln und wie die Zusammensetzung der Arten sich ändert. Impulse 01_2016 85 Weitere Forschungsthemen im neuen Verbund MarBAS beziehen sich auf die Anpassungsfähigkeit wirbelloser Meeresbewohner oder auf spezifische, von Algen und Plankton produzierte Zuckerprodukte. Diese geraten immer mehr in den Fokus der Meereswissenschaftler, da sie die Ozeane dieser Erde zu einem großen klimarelevanten Kohlenstoffspeicher machen. Auch den gefährdeten Korallenriffen gilt das Interesse. Deutlich wird: Bei den meisten MarBAS-Teilprojekten finden sich mögliche An- und Verknüpfungsstellen zu BEFMate. Weitere Projekte i Welche Erkenntnisse das Projekt noch bringen wird? „Evolution geschieht nicht von heute auf morgen. Wir würden die Untersuchungen gerne über mindestens 15 Jahre fortführen“, sagt Kleyer. Vielleicht kümmern sich die Beteiligten auch deshalb frühzeitig um denkbare Nachwuchsforscher. Eine Verbindung zur Hermann-Lietz-Schule Spiekeroog steht jedenfalls. Deren Schüler können vor der eigenen Haustür gemeinsam mit den Forschern in einem weltweit einzigartigen Projekt die Geheimnisse der Wattinseln ergründen.  Oldenburger Meereswissenschaftler erfolgreich bei Wettbewerb Die Universität Oldenburg gilt inzwischen nicht nur national als exzellent in der Meeresforschung. Das zeigt ein Blick auf die Vielzahl erfolgreich publizierender Wissenschaftler zum Thema ebenso wie der jüngst auf den Weg gebrachte For­ schungs­verbund „Marine Biodiversität – Analyse über zeitliche und räumliche Skalen (MarBAS)“. Dieses Kooperationsvorhaben war eine von landesweit lediglich sechs erfolgreichen Bewerbungen bei der Ausschreibung „Spitzenforschung in N ­ ieder­sachsen“ und wird jetzt vom Land Niedersachsen und von der VolkswagenStiftung unter dem Dach des Niedersächsischen Vorab mit 785.000 Euro gefördert. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher planen ein breites Spektrum an Analysen: Ihre Betrachtungen gelten einzelnen Molekülen ebenso wie ganzen Ökosystemen. Die Jury überzeugte nicht zuletzt das flankierende substanzielle Engagement der Universität Oldenburg für den Forschungsverbund MarBAS. So finanziert die Hochschule ergänzend zwei Postdoktorandenstellen. Damit können weitere Themen in dem Verbund bearbeitet werden: eine Studie zur Chemie der Tiefsee und ihrer Bedeutung für das dortige mikrobielle Leben sowie ein Projekt zu forschungsorientiertem Lernen und neuen Lehrkonzepten für die Meereswissenschaften. Ein integriertes Nachwuchskonzept soll es Studierenden zudem ermöglichen, Lehrveranstaltungen an Partnereinrichtungen zu besuchen. Ziel ist ein „Kursprogramm Meereswissenschaften“, das mit einem eigenen Zertifikat abschließen und darüber hinaus auch Studieninteressierten aus Entwicklungs- und Schwellenländern den Zugang zu Masterprogrammen ermöglichen soll. Evolution geschieht nicht von heute auf morgen. Bereits nach der ersten Vegetationsperiode habe sich jedoch einiges getan, freuten sich (von links) Dr. Kristin Haynert und Salome Gonçalves bei ihrem Besuch im Spätsommer 2015. An MarBAS beteiligt ist als fester Partner bereits die Universität Bremen. Geplant ist, in einem entsprechenden Verbund künftig als „Nordwestallianz Meeresforschung und Meerestechnologie“ beim Nachfolgeprogramm der Exzellenzinitiative ins Rennen zu gehen. An dieser Allianz beteiligen wollen sich zudem das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, die Forschungsstelle Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven sowie das Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie und das Leibniz-Zentrum für Maritime Tropenökologie in Bremen. Fünf weitere Forschungsverbünde erfolgreich Ebenfalls erfolgreich in der 2015er Ausschreibung „Spitzenforschung in Niedersachsen“ im harten Wettstreit exzellenter Forschungscluster war die Medizinische Hochschule Hannover mit dem Verbund „Rebirth: From a Cluster of Exzellence towards a Clinic for Regenerative Medicine“. Der große Gewinner aber ist die Universität Göttingen. Sie war gleich mit allen fünf Anträgen erfolgreich – darunter zum einen die vier Forschungsverbünde „The Making and the Unmaking of the Religious“, „Primate Cognition – From Information Integration to Decision Making“, „Functional Principles of Living Matter: Life at the Nanoscale“ und „Physics to Medicine“. Zum anderen konnte sie mit ihrem Vorschlag für ein übergreifendes Standortkonzept reüssieren. „Göttingen Campus“ umfasst die gemeinsamen Aktivitäten, Netzwerke und Projekte der Partnereinrichtungen sowie die geplante Entwicklung in den Handlungsfeldern Forschungsinfrastruktur, Informationsinfrastruktur, Forschungsorientierte Lehre und Nachwuchsförderung sowie akademische Personalentwicklung. Projektwebsites  www.icbm.de  www.uni-oldenburg.de/ibu Christian Jung Die insgesamt zwölf künstlichen Inseln im niedersächsischen Wattenmeer. Meeresbiologin Jennifer Schmitt nimmt eine Bodenprobe, um den Salzgehalt im Porenwasser des Bodens zu bestimmen. 86   Impulse 01_2016 87 Schwerpunktthema Ins Blaue hinein | INSELN Das Eiland der Riesenmäuse Inseln sind ein Eldorado für Evolutionsforscher und Ökologen. Ein besonderer Effekt fasziniert schon lange: das Phänomen des Riesenwachstums ebenso wie die sogenannte Inselverzwergung von Tierarten. Warum werden manch kleine Arten im Laufe von einigen Generationen in isolierter Lage immer größer, während große Arten zusehends schrumpfen? Am Beispiel einer Population von Riesenmäusen einer abgelegenen Inselgruppe lüftete ein junger Forscher das Geheimnis jetzt ein Stück weit. Die Färöer-Inseln ganz im Norden Europas: Von dort holte Forscher Frank Chan Mäuse extremer Ausmaße in sein Labor, um das Geheimnis des Riesenwachstums zu lösen. Hier der Blick auf die Küstenlinie der Insel Vagar mit dem Wasserfall von Gasadalur. 88 Text: Andrea Hoferichter // Fotos: Cira Moro G Dr. Frank Chan in seinem „Allerheiligsten“. In diesem Raum hält er jene Wildmäuse, deren Vorfahren er 2009 eigenhändig auf den Färöer-Inseln fing. Ende 2015 lebt hier bereits die neunte Generation. laubt man den Werbevideos der Reiseveranstalter, sind auf den Färöern im Nordatlantik nicht nur jede Menge Schafe und seltene Vogelarten zu Hause, sondern sogar Trolle und Feen. Die färöische Lieblingsspezies von Dr. Frank Chan vom Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max-PlanckGesellschaft in Tübingen indes kommt nicht im Video vor. „Die Mäuse hier sind etwa um die Hälfte größer als ihre auf dem Festland lebenden Artgenossen“, berichtet der junge Biologe. Das Phänomen sei auch auf anderen Inseln zu finden, auf Gough im Südatlantik etwa, wo Mäusegiganten ganze Albatrosküken verspeisen. Auch das Gegenteil ist bekannt. So werden gerade besonders große Tierarten auf Inseln oft allmählich immer kleiner. Auf Madagaskar lebten früher MiniFlusspferde, auf den Channel Islands vor Kalifornien winzige Graufüchse oder auf der russischen Wrangelinsel Wollhaarmammuts in MiniaturAusgabe. Das bekannteste Beispiel aber sind wohl die Zwergelefanten, die auf der Insel Borneo vorkommen. Anhand von Funden weiß man, dass sie nicht immer so klein waren. Im Übrigen – wichtig hinzuzufügen – gehen diese Schrumpfprozesse oder Anpassungen der Körpergröße nicht mit einem Verlust von Fähigkeiten einher. Ende der Welt, auf den Gough-Inseln im Südatlantik, gibt es „Vermutlich bedingen Verzwergung und Gigantismus sowie die fehlenden Feinde einander. Die extremen Maße bringen auf den Inseln einfach keine Vorteile“, sagt Chan. Kleinere Mäuse könnten zwar vielfältigere Fluchtwege nutzen, doch das ist auf den Inseln schlicht nicht mehr erforderlich. Doch wie genau funktionieren Anpassung und Selektion? Welche Gene spielen eine Rolle, und wie werden diese gesteuert? Den dynamischen Wissenschaftler Frank Chan treiben solche Fragen schon länger um. Die Initiative „Evolutionsbiologie“ der VolkswagenStiftung kam da gerade recht. Mit gehörig Rückenwind durch eine der begehrten Postdoktorandenförderungen brachte er 2009 sein Interesse umfassend auf Spur und holte als Erstes gleich einmal zwanzig färöische Mäuse in sein Labor – damals noch am Max-Planck-Institut für Evolutionsforschung in Plön gelegen. Außerdem untersuchte er das Erbmaterial von Labormäusen, die seit den 1970er Jahren und damit über eine Spanne von 150 Generationen künstlich auf Gigantismus gezüchtet worden waren und die mittlerweile zwei bis sechs Mal soviel wiegen wie normalgewichtige Tiere. Nun kann ein Lebewesen nur so groß werden, wie seine Gene es zulassen – selbst wenn die Umweltbedingungen optimal sind. Körpergröße und -umfang sind also nicht beliebig variierbar. Beteiligt sind in jedem Fall mehrere Gene, das ist schon länger bekannt. Doch welche? Und: Wie wirken sie gegebenenfalls zusammen? Chan setzte es sich zum Ziel, die für die Riesenmaße der Mäuse verantwortlichen Gene zu identifizieren. Dazu untersuchte er zum einen sieben sich klar voneinander unterscheidende Stämme der im 90 Auch am anderen Riesenmäuse. Die hier weitaus aggressiveren Nager greifen sogar Vögel an. Vorzugsweise erlegen sie Albatrosküken in deren Nestern; hier allerdings hat ein Sturmvogel-Junges dran glauben müssen. Labor gezüchteten Mäusegiganten. „Wir fanden immerhin 67 Regionen im Erbgut, die bei allen Stämmen mit einer Gewichtszunahme korrelierten“, berichtet er. Die solchermaßen identifizierten Regionen steuern den Energiehaushalt, Stoffwechselvorgänge und das Wachstum. Andere sind zumindest indirekt für Größe und Körpergewicht verantwortlich – beispielsweise jene, die die Fettzellenbildung und die Geschmacks- und Duftwahrnehmung regulieren. Die neuen Funde wurden 2012 im Fachblatt Current Biology veröffentlicht und erregten weltweit Aufmerksamkeit. Der Entdeckung der „Gigantismus-Gene“ folgt ein Mäusestammbaum über Hunderte Jahre Die meisten der für die Labormäuse charakterisierten mutmaßlichen „Gigantismus-Gene“ fand Frank Chan auch im Erbgut der färöischen Riesenmäuse, mit denen er noch in Plön die entscheidenden Experimente machte. Er paarte sie mit kleineren Labormäusen über zwei Generationen hinweg und erhielt schließlich die sogenannte F2-Generation: Enkelinnen und Enkel, insgesamt 830 Individuen – unter ihnen kleinere und größe- re, dickere und dünnere Tiere, allesamt Cousins und Cousinen zueinander. „Die Karten wurden sozusagen neu gemischt“, erklärt Chan. Mittlerweile ist es ihm gelungen, mit seinem neuen Tübinger Forscherteam die Gene dieser Tiere zu analysieren und deren Lage im Chromosom zu bestimmen. Zudem hat er eine Vielzahl weiterer äußerer Merkmale festgehalten, von der Größe über das Gewicht bis zur Schnauzenform. Das Ergebnis ist ein riesiger Datenschatz, mit dessen Hilfe sich die Vererbung spezifischer Eigenschaften wie in einem Familienstammbaum zurückverfolgen lässt. Außerdem gelang es dem engagierten Forscher, über eine Simulation die Entwicklung der Riesenmäuse rückwärts auf der Zeitachse abzubilden. Am Ende stieß er auf etwas Überraschendes. „Die Mäuse haben danach in weniger als tausend Jahren um rund die Hälfte ihres ursprünglichen Gewichts zugenommen“, berichtet er. Manche seien annähernd doppelt so schwer wie eine normale europäische Kontinentalmaus. Im Vergleich zu anderen evolutionären Prozessen, die oft Millionen Jahre bräuchten, sei das bezogen auf den Zeitraum eine ausgesprochen rasante Entwicklung. Impulse 01_2016 91 Mäuse ab zum Wiegen! Einer der Nager von den Färöer-Inseln mit „Normalgewicht“ bringt sogar etwas mehr Gewicht auf die Waage als fünf unserer heimischen Hausmäuse. Rechts: Aufnahme einer Maus mit Riesenwuchs mittels MikroComputertomografie. Die Untersuchungen lieferten – beinahe nebenbei – eine weitere Überraschung. „Die Mäuse der Färöer wurden lange als eigene Untergattung angesehen“, berichtet der Biologe. „Doch Genanalysen zeigen, dass es sich um einen Mix aus zwei in Europa verbreiteten Mäusegattungen handelt: Mus musculus musculus und Mus musculus domesticus.“ Das folgenreiche Aufeinandertreffen der beiden Arten fand Simulationen zufolge vor etwa 650 bis 350 Jahren statt. Ein Szenario, das gut zu historischen Daten passt. Denn bis 1380 kontrollierten Wikinger das Archipel; sie brachten aus ihrer Heimat Norwegen vermutlich die Domesticus-Variante mit. Dann übernahmen Dänen die Inselgruppe und mit ihnen reisten offenbar die vor allem in der Kopenhagener Region verbreiteten Musculus-Mäuse ein. Beide Gattungen zeugten problemlos miteinander Nachwuchs – anders als das eben auf dem Festland möglich ist, wo beide Arten streng voneinander getrennt vorkommen. „Auf der Insel konnten sich die reinen Arten wegen der vermutlich geringen Zahl eingeschleppter Ausgangstiere nur durch Inzucht vermehren und profitierten vom frischen Erbgut der anderen Art“, vermutet Chan. Die Mäusemischlinge waren offenbar robuster und weniger anfällig für Krankheiten und haben sich schließlich durchgesetzt. 92 Gut ein Jahrhundert nach der Entdeckung der inselgebundenen Riesenmäuse (1904) weiß man nun einiges über deren Hang und Drang zum Gigantismus – und auch, dass seit Hunderten Jahren ein gleichsam unsichtbares Tauziehen zwischen immer wieder anders zum Zuge kommenden Genen und Gensequenzen zweier Unterarten dieses Nagers stattfindet, das zur Patchwork-Maus auf den Färöern geführt hat. Warum die Tiere jedoch derart schnell so groß wurden, weiß man nicht. Der „Initiative Evolutionsbiologie“ der Stiftung als Karrierebeschleuniger In einem ganz anderen Sinne „groß“ wurde im Übrigen auch Frank Chan. Denn das von der Stiftung geförderte Projekt gab nicht nur dem einzigartigen Forschungsthema einen kräftigen Schub, sondern auch Chans wissenschaftlicher Karriere. Der aus Hongkong stammende Wissenschaftler reüssierte in der Max-Planck-Gesellschaft schnell vom Postdoktoranden zum Leiter einer eigenen Forschergruppe. Seit zwei Jahren arbeitet er nun bereits am renommierten Friedrich-MiescherLaboratorium (FML), das 1969 von der Max-PlanckGesellschaft zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gegründet wurde. Das Laboratorium, das eng mit den benachbarten Max-Planck-Instituten für Entwicklungsbiologie und biologische Kybernetik verwoben ist, bietet herausragenden jungen Forscherinnen und Forschern die Möglichkeit, über einen Zeitraum von mehreren Jahren eine Arbeitsgruppe aufzubauen, eigene Projektideen zu verwirklichen und damit eine unabhängige Karriere zu starten. Die Forschungsthemen sind breit gefächert und wechseln mit der Berufung neuer Gruppenleiter. Zurzeit arbeiten fünf solch handverlesener Wissenschaftlerteams am FML – alle im Übrigen ausgesprochen erfolgreich im Einwerben von Drittmitteln: ob von nationalen oder internationalen Geldgebern. Chan, dessen Arbeitsgruppe den Titel „Adaptive Dynamik des Genoms“ trägt, untersucht mit seinem Team inzwischen in größerer Breite, wie Genveränderungen in Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen mechanistisch zustande kommen. Dass man mit Frank Chan offenbar dem Richtigen in jungen Jahren wissenschaftliche Verantwortung übertragen hat, stellte er erst jüngst wieder unter Beweis. 2015 erhielt er den Zuschlag für ein hoch dotiertes EU-Projekt. „Der Europäische Forschungsrat ERC hat uns eine Förderung von anderthalb Millionen Euro über fünf Jahre zugesagt“, ist er sichtlich stolz. Mit solch einem ERC Starting Grant soll die wissenschaftliche Eigenständigkeit von Spitzenforschern in Europa zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Karriere gefördert werden. „Damit“, freute sich Chan bei der Bekanntgabe, „können nun die Untersuchungen zu meinem Spezialthema, das mit den Riesenmäusen seinen Anfang nahm, in die nächste Runde gehen.“ Mit seinem Team will er jetzt zunächst einzelne, zuvor identifizierte Genabschnitte im Nagergenom ersetzen, um die bisherigen Funde abzusichern und mehr Klarheit im Detail zu gewinnen. Ziel ist es, Punkt für Punkt herauszufinden, wie sich das Erbgut der Mäuse im Laufe von drei Millionen Jahren verändert hat und inwieweit diese Veränderungen verwandte Mausarten voneinander trennen – oder auch nicht. In der Vergangenheit stellte das für die Forscher eine besondere Herausforderung dar, da gerade jene Erbfaktoren, die sich für Spezifizierungen eignen, nicht gattungsübergreifend funktionieren. Der Grund: Die Nachkommen aus Verpaarungen verschiedener Tiergattungen oder der meisten Tierarten sind selbst nicht fortpflanzungsfähig – man kennt das von Muli oder Maultier als Resultat einer Verpaarung von Pferd und Esel. Interessantes Zuhause: Die Wildmäuse von den Färöer-Inseln leben in Frank Chans Labor in Eierpappen. 2009 hatte er sich länger zu Forschungszwecken auf den Inseln hoch im Norden aufgehalten und Mäuse von dort mitgebracht. Impulse 01_2016 93 Chan will diese Schwierigkeiten beiseiteräumen. Er nutzt die neuesten Techniken der Stammzellund Entwicklungsbiologie, um die Gene der Mausarten optimal analysieren zu können. „Wir werden uns damit beschäftigen, welche genetischen Veränderungen zur Entstehung einer Art beitragen, aber dieses Projekt hat auch das Potenzial, Behandlungsmethoden gegen Unfruchtbarkeit zu finden“, wirft er mutig den Blick voraus. Für ihn ist das Thema eben noch längst nicht ausgereizt, auch weil Verzwergung und Gigantismus nur ein Beispiel für genetische Anpassungsprozesse sind. Weitere Projekte i Die Ergebnisse seiner Forschung spielen deshalb auch für das Leben auf dem Festland eine wichtige Rolle, wo rasante Umweltveränderungen wie der Klimawandel enorme Anpassungsleistungen von allem Lebendigen bereits jetzt erfordern – eine Entwicklung, die sich möglicherweise noch verstärkt. Unter Umständen könnten die Erkenntnisse sogar helfen abzuschätzen, was geschieht, wenn Ökosysteme etwa durch klimatische Veränderungen regelrecht durcheinander geraten, sagt er: „Mal sehen, was wir aus dem ‚Gesetz der Insel‘ noch alles ableiten werden!“  Wettrüsten unter Wasser Bei dem Forschungsprojekt von Dr. Susanne L­ andis sind mögliche Umweltveränderungen k­ onkreter von Bedeutung: Die junge Wissenschaftlerin untersuchte im Rahmen ihrer Doktorarbeit am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und der Universität Uppsala in Schweden, wie sich der Klimawandel auf das parasitäre Zusammenleben von Grasnadel-Fischen und Saugwürmern auswirken könnte. Die VolkswagenStiftung förderte Landis’ Arbeiten ebenfalls in der „Initiative Evolutionsbiologie“ über einen Zeitraum von fünf Jahren. Man kann es wohl kaum als harmonische Unterwasserbeziehung bezeichnen: Saugwürmer nutzen Grasnadeln als Durchgangsstation auf dem Weg in den Körper des Endwirtes, einem Seevogel, der den Fisch samt Parasiten frisst. Im Vogel können sie sich schließlich sexuell fortpflanzen. Wie alle parasitären Beziehungen ist auch jene zwischen Wurm und Fisch von einem stetigen Wettrüsten geprägt. Der Parasit verbessert immer wieder seine Angriffsmechanismen, um den Zielorganismus noch effektiver auszunutzen und sich weiter verbreiten zu können. Susanne Landis’ Modellorganismus ist die Grasnadel, Sygnathus typhle. Die kleinen schlanken Knochenfische kommen in vielen Meeren vor. 94 Dr. Susanne Landis im Spätsommer 2011 bei der „Feldforschung“ in den Gewässern um Gotland, Schweden. Damals startete ihr Forschungsprojekt „Wettrüsten unter Wasser“. Wie entwickelt sich parasitäres Zusammenleben zwischen einem Fisch und dessen Peiniger, einem Saugwurm? Und: Welchen Einfluss hat die Klimaerwärmung? Profitiert einer von beiden? Jetzt ist das seinerzeit am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel angebundene Projekt beendet. Was es auszeichnete und was dabei herauskam – dazu mehr im Text unten auf dieser Doppelseite. Im Gegenzug optimiert der infizierte Wirt seine Abwehrmethoden. Gut denkbar also, dass sich der Klimawandel auf dieses Wechselspiel auswirkt und einer der beiden ungleichen Partner mehr von einer klimabedingten Temperaturerhöhung oder von Wetterextremen profitiert als der andere. Landis’ Wahl fiel nicht zuletzt deshalb auf die Grasnadel als Wirtsorganismus, weil sich deren Verbreitungsgebiet von ausgesprochen kaltem Meerwasser vor der Küste Norwegens bis in deutlich wärmere Gefilde vor Südportugal erstreckt. Die Forscherin eruierte in ausgedehnten Feldstudien an Fischen aus verschiedenen Temperaturzonen, ob und wie sich das System aus Wirt und Parasit als Anpassung an die Wassertemperatur entwickelt hat, wie stark die Fische der j­ eweiligen Bestände vom Parasiten befallen sind und wie sich beide Organismen genetisch verändert haben. Außerdem stellte sie in Laborexperimenten die für das laufende Jahrhundert prognostizierte Erwärmung nach und untersuchte, wie sich das sowohl auf das Verhalten als auch das Erbgut von Parasit und Wirt auswirkte. Und sie bestimmte die Vermehrungssowie die Infektionsraten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass etwa klimawandelbedingte Hitzewellen die lokalen Anpassungsfähigkeiten von Wirt und Parasit offenbar nicht beeinflussen werden. Sie zeigen aber auch, dass hohe Temperaturen die Immunantwort der Grasnadel schwächen und sich Saugwürmer in wär- merem Wasser schneller vermehren. Eine bedenkliche Erkenntnis, denn beide Effekte zusammengenommen könnten Landis’ ­Einschätzungen zufolge ganze Fischpopulationen gefährden. Es gibt aber auch Hoffnungsschimmer. Schließlich sind Grasnadeln mobil und könnten künftig einfach in kühlere Gewässer fliehen. Landis’ Laborexperimente zeigen, dass vor allem infizierte Fische genau dies auch tun. Der Umzug in die Kälte zahlt sich gleich doppelt aus. Die Tiere werden schneller wieder gesund, und das Risiko für eine Neuinfektion ist niedriger. Und wenn es um die Nachkommen geht, haben die Fische offenbar ebenfalls Strategien entwickelt. So paaren sich kranke Grasnadel-Weibchen Landis’ Untersuchungen zufolge nur mit gesunden männlichen Artgenossen. Und die Chancen stehen gut, dass sich diese Art der Partnerwahl positiv auf die Fitness der nächsten Generation auswirkt. Die Arbeit der jungen Forscherin führt somit auf mehreren Ebenen zu einem besseren Verständnis der Anpassungsmechanismen in Parasit-WirtBeziehungen, die ja nicht zuletzt Grundlage vieler Infektionen sind und deshalb nicht nur für die Unterwasserwelt von Bedeutung. Auf dem Festland ist aufgrund des Klimawandels ebenfalls mit einer Zunahme von Infektionskrankheiten zu rechnen, die nicht nur die Gesundheit von Menschen, sondern auch die Artenvielfalt und ganze Ökosysteme gefährden könnten.  Andrea Hoferichter Impulse 01_2016 95 Schwerpunktthema Ins Blaue hinein | INSELN Inseln der Evolution Amphiplophus amarillo Amphilophus chancho Amphilophus xiloaensis Amphilophus astorquii Weshalb entstehen aus einer Tierart zwei, ohne dass die Lebensräume beider Arten – etwa durch tektonische Verwerfungen oder einbrechendes Wasser – voneinander getrennt werden? Solche Vorgänge laufen sogar im offenen Meer ab, aber auch anderswo. Bei der Suche nach Antworten auf diese Frage helfen Buntbarscharten, Salamander vor unserer Haustür oder Echsen auf Inseln, die eigentlich Berge sind. Eine Geschichte darüber, wie Arten entstehen – ohne scheinbar triftigen Grund. Zwei mal drei Midas-Buntbarscharten, die sich in den beiden nicaraguanischen Kraterseen Xiloá und Apoyo an veränderte Lebensbedingungen angepasst haben und Amphilophus sagittae Amphilophus zaliosus von jeweils einer Art abstammen. Wie konnte das geschehen, fragen zwei Forscherinnen? Man erkennt sofort an Körperbau und Kieferform, dass es sich bei den Fischen im Xiloá-See ebenso um drei Arten handeln muss mit ihren unterschiedlichen Buntbarsche Lake Xiloá Buntbarsche Lake Apoyo Ansprüchen an Lebensraum und Ernährung wie bei den Barschen im Apoyo-See. Impulse 01_2016 97 Text: Jo Schilling Fotos: Christoph Edelhoff (Projekt Roth) // Miguel Landestoy (Projekt Wollenberg) Dr. Olivia Roths Modellorganismus ist die Seenadel. Wir sehen sie hier beim frischen Fang der kleinen Fische im November in der Kieler Förde. Ebenso wie ihre – mit einem „Europamodul-Projekt“ angedockte – Forscherkollegin Dr. Marta Barluenga arbeitet sie aber auch an Barschen. E twa 10.000 bis 20.000 Jahre alt sind zwei Vulkankraterseen in Nicaragua, der Xiloá und der Apoyo. In diesen geologisch jungen und recht kleinen Seen leben Fische, die der Schlüssel zum Verständnis sympatrischer Artbildung sein könnten, bei der sich eine Art in zwei neue „aufspaltet“, ohne dass die Lebensräume der neuen Arten voneinander getrennt sind. Bereits seit zehn Jahren erforscht Dr. Marta Barluenga vom Museo Nacional de Ciencias Naturales in Madrid diese Prozesse: „Innerhalb des Xiloá und Apoyo sind ohne räumliche Trennung in sehr kurzer Zeit neue Buntbarscharten entstanden, die lediglich in unterschiedlichen Zonen desselben Sees leben.“ Noch liegt vieles im Dunkeln darüber, weshalb aus einer Art auch dann zwei neue Die Erforschung dieses ungewöhnlich schnell verlaufenden Artbildungsprozesses fördert die Stiftung als „Kooperationsmodul Europaförderung“, angebunden an die Projektarbeiten von Dr. Olivia Roth vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Sie ist Partnerin in dem spanisch-deutschen Verbundvorhaben „The Driving Forces For Sympatric Speciation in Nicaragua Crater Lake Cichlids“. Auf der Suche nach auslösenden Faktoren hat Marta Barluenga den Rotlichtanteil im Lichtspektrum des Wassers im Visier, der mit zunehmender Tiefe abnimmt. Sie analysiert jenes Gen, das bei den Fischen den Proteinanteil des Sehpigments Opsin für die Farbe Rot kodiert. Erste Ergebnisse im Vergleich der Arten deuten einen Zusammenhang an zwischen dem Lichtspektrum des Lebensraumes und der für das Sehpigment einer jeweiligen Fischart kodierenden Gensequenz. Gehen wir 20.000 Jahre zurück: Die Vulkane sind erloschen, die Krater zwischen Nicaragua- und Managuasee füllen sich mit Wasser. Durch Stürme und tektonische Aktivität entstehen für kurze Zeit Verbindungen zwischen den großen Seen und den Kratern. Damit gelangen Fische in die Kraterseen. Statt im trüben, flachen Süßwasser schwimmen sie nun in leicht salzigem, sehr tiefem und klarem Wasser. Unter den Fischen befinden sich auch Midas-Buntbarsche, die als Generalisten gelten. Und nun geht alles sehr rasant – aus Evolutionsbiologensicht. Einige Fischarten überleben nicht. Andere haben sich bis heute nicht verändert. Einzig beim Midas-Buntbarsch erfolgte eine Anpassung an die veränderten Lebensbedingungen: Sowohl im Kratersee Xiloá als auch im Apoyo-See enstanden aus einer Hauptart jeweils drei neue Arten. Diesen Prozess versuchen die Forscherinnen zu verstehen: Weshalb haben sich die Midas-Buntbarsche so schnell angepasst und alle anderen Fischarten nicht, obwohl sie unter exakt denselben Bedingungen dorthin gekommen sind? Olivia Roth hat Vergleichbares zu berichten: Sie wies nach, dass sich die Besiedlung der Haut der Buntbarsche mit Mikroorganismen zwischen den Arten eines Sees und je nach See unterscheidet. „Jetzt analysiere ich das Mikrobiom von Haut und Darm der einzelnen Barscharten mit Blick auf Lebensraum und Nahrungsquelle.“ Sowohl hinter der Opsin- als auch der Mikrobiom-Analyse steckt die Frage: Sind die Veränderungen Auslöser für die Aufspaltung oder lediglich deren Folge? Den Weg zur Antwort pflastern Tausende noch zu untersuchende Proben, die die Forscherinnen von ihren Expeditionen nach Nicaragua mitgebracht haben. Olivia Roth erkennt schon an Körperbau und K ­ ieferform, dass es sich bei Amphilophus amarillo, Amphilophus xiloaensis und Amphilophus sagittae im Xiloá-See um drei Arten handeln muss mit unterschiedlichen Ansprüchen an Lebensraum und Ernährung. Gleiches gilt für Amphilophus astorquii, Amphilophus chancho und Amphilophus zaliosus im Apoyo-See. Die einen leben auf dem Grund, andere frei im Wasser schwimmend oder inmitten von Wasserpflanzen. Ziehen die Forscher jedoch ein Netz an beliebiger Stelle durch das Wasser, finden sie darin stets alle drei Arten vor. Isolation führt zur Artentwicklung Ob Kratersee in Mittelamerika oder Berglandschaft in der Karibik, sympatrische Artbildung ist ein „Inselphänomen“. Allerdings ist hier der Begriff „Insel“ nicht im landläufigen, lexikalischen Sinne zu verstehen – die Insel als eine in einem Meer oder Gewässer liegende, auch bei Hochwasser über den Wasserspiegel hinausragende Landmasse, die vollständig von Wasser umgeben, jedoch kein Kontinent ist. Für Evolutionsforscher können Inseln auch Areale sein, auf oder in denen Prozesse jeweils ähnlich ablaufen: eben zum Beispiel die Entstehung von Arten. Die Kraterseen Xiloá und Apoyo sind solche evolutionsbiologischen Inseln. Und auch Inselberge an Land gibt es, die – vergleichbar Eilanden im Meer – weitgehend abgeschottet von der Umgebung sind und bei denen Entstehungsprozesse neuer Arten vergleichbar ablaufen: Berggipfel in Regenwäldern etwa. entstehen, wenn nichts den Lebensraum derart schlagartig verändert wie beispielsweise eindringendes Wasser oder tiefe lange Erdspalten in Folge eines Erdbebens. Marta Barluenga bieten die vielen Fragen zur Artentstehung genug Anreiz, dem Thema nachzugehen. Oder besser: nachzupaddeln – wie hier im Winter 2012 auf dem Lake Managua, einem der Kraterseen vulkanischen Ursprungs mit reichem Barschbestand. Machen wir einen kleinen Sprung von den Vulkankraterseen Nicaraguas zu den Bergketten im karibischen Hispaniola – ein Gebiet, das nicht zuletzt durch die erfolgreiche Arbeit von Katharina Wollenberg-Valero in den vergangenen Jahren in den Fokus der Wissenschaft gerückt ist. Ihr Engagement führte die von der VolkswagenStiftung ebenfalls in der „Initiative Evolutionsbiologie“ unterstützte Forscherin in wenigen Jahren auf eine Professur für Biologie an der BethuneCookman University in Daytona Beach, Florida, USA. Katharina Wollenberg-Valero, seinerzeit ausgestattet mit einer Postdoktorandenförderung über 270.000 Euro, forscht an der Grenze, an der eine Art beginnt, sich in neue Arten aufzuspalten. Vor fünf Jahren startete die Evolutionsbiologin ihre wissenschaftliche Entdeckungsreise auf der karibischen Insel Hispaniola. Dort fing sie grünbraun­farbene, etwa handgroße DickkopfAnolis-Echsen. In nur wenigen Wochen sammelte sie entlang mehrerer bis zu 400 Kilometer langer Transekten – geraden Linien, die über Stock und Stein führen – zahlreiche Tiere ein und katalogisierte sie. Etwa zehn männliche Echsen an jedem Punkt. Mal im Tal am Rand einer Schotterstraße, Impulse 01_2016 99 mal per Maultierexpedition auf knapp 3000 Metern Höhe. Ziel dieser Sammelaktion war es zu verstehen, wie sich die Echsen in verschiedene Arten aufspalten. Dass dies bei den DickkopfAnolis gerade der Fall ist, verraten den Wissen­ schaftlern deren Gene. Echsen angeln in der Karibik. Die Evolutionsforscherin Katharina Wollenberg-Valero, inzwischen Professorin in den USA, nimmt Gewebeproben von auf Hispaniola lebenden Dickkopf-Anolis. Das Material unterzog sie später in ihrem damaligen „Gastlabor“ an der Harvard University in Boston, USA, genetischen und molekulargenetischen Analysen. Katharina Wollenbergs zentrale Frage lautete: „Welche Faktoren beeinflussen die Artbildung der Dickkopf-Anolis – eine Artbildung, die offensichtlich stattfindet ohne eine strikte räumliche Trennung?“ Ihr Augenmerk galt vor allem der Geomorphologie, der Struktur des Geländes. Auf Hispaniola liegen fünf große Bergketten mit den höchsten Bergen der Karibik nahezu parallel zueinander. Die Dickkopf-Anolis leben überall: auf den Bergkuppen und in den Tälern. Der Lebensraum der einzelnen Tiere ist auf einen kleinen Radius von wenigen zehn Metern begrenzt. Auffällig ist, dass die Tiere ausgeprägte Vorlieben haben: Manche sitzen besonders gern auf einem Felsen, andere fühlen sich auf Ästen am wohlsten. Welchen Einfluss aber haben solche und andere Faktoren auf die gerade ablaufende Aufspaltung einer Art? Nachgewiesen ist: In den Tälern vorkommende Tiere unter­scheiden sich genetisch bereits deutlich von jenen, die auf den auseinanderliegenden Bergkuppen oder an den Hängen leben. Jene hingegen ähneln sich überraschender­ weise sehr. „Offiziell handelt es sich noch um eine Art, aber im Vergleich mit anderen Anolis-Arten könnten die Dickkopf-Anolis in den Tälern als eigene Art gegenüber den Tieren auf den Kuppen angesehen werden“, sagt die Evolutionsbiologin. Diesen „Inseleffekt eigener Art“ bestmöglich zu verstehen, sammelte sie alle Daten, derer sie habhaft werden konnte. Wo sitzt die Echse: auf einem Ast oder einem Stein? Im offenen Gelände oder im Wald? Wie belaubt ist der Wald? Wie ist das Wetter? Was sieht sie sonst in der Umgebung? Welche Farbe hat der Kehllappen der Dickkopf-Anolis? Wie dick ist deren Kopf? 500 Tiere wurden gewogen, vermessen – so viele Daten wie möglich vor Ort erfasst. Auch Katharina WollenbergValero will herausfinden, wann eine Art unter welchen Bedingungen anfängt, sich in zwei neue aufzuspalten. Ihre Untersuchungsobjekte, die Dickkopf-Anolis-Echsen, leben auf der Karibikinsel Hispaniola. Mit aller Vorsicht wirft die Biologin einen ersten Blick auf ein für kurze Zeit gefangenes Exemplar, bevor dann weitere Untersuchungen anstehen. Einige schläferte sie sogar ein und nahm sie mit in ihr damaliges „Gastlabor“ in die USA. Aus Deutschland fast frisch von der Uni kommend, hatte die angehende Doktorandin keine geringere als die Harvard University in Boston, USA, als Heimatbasis für ihre Forschung auf Hispaniola gewinnen können. Zwischenzeitlich zog es sie an renommierte Lehrstühle für Zoologie und Evolutionsbiologie in Konstanz, Trier und Braunschweig – bevor sie der Ruf auf die Professur in Florida erreichte. In Harvard röntgte sie die mitgebrachten Echsen, vermaß deren Knochenbau, nahm Gewebe für die genetischen Analysen ab, untersuchte zu guter Letzt noch die Füße der Echsen. Wie Geckos haben Anolis-Echsen Lamellen unter den Zehen, mit denen sie auf glatten Oberflächen haften können. Die Struktur dieser Lamellen ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der einzelnen DickkopfAnolis-Typen. Sämtliche Angaben zu den gefangenen Echsen speiste sie in Datenbanken ein und errechnete Zusammenhänge anhand komplizierter Algorithmen. Was dabei herauskam, ließ die Fachwelt aufhorchen. Ihr gelang einer der ersten klaren Nachweise, die der Lehrbuchmeinung über die Entstehung und Aufspaltung von Arten belegbar und reproduzierbar widersprach. Inzwischen gilt: Artbildung kann auch ohne strikte räumliche Barrieren stattfinden. Und eine Insel ist nicht immer eine Landmasse, die aus dem Wasser ragt. Der Erfolg von Katharina Wollenberg-Valero hat nicht zuletzt ihre wissenschaftliche Karriere zügig vorangebracht, und er steht zugleich beispielhaft für das gelungene Engagement der VolkswagenStiftung zur Evolutionsbiologie insgesamt: Rund hundert exzellente junge Evolutionsbiologen förderte sie zwischen 2005 und 2014. Einige von ihnen wie Dr. Olivia Roth vom GEOMAR in Kiel beeindruckten die regelmäßig aus aller Welt zur Begutachtung der Projektanträge angereisten Experten gar derart, dass sie gleich mehrfach mit ihren Ideen für Forschungsvorhaben bei der Einwerbung von ­Fördergeldern erfolgreich waren. Der Erfolg der einen Forscherin befördert den der anderen: Evolutionsbiologie trifft Europa Olivia Roths Hauptinteresse galt in mehreren von der Stiftung geförderten Projekten einer weiteren zentralen Grundannahme der Biologie: „Batemans Prinzip“. Es besagt, dass weibliche Tiere – da sie mehr in den Nachwuchs investieren – länger leben und dass die elterliche Investition in den Nachwuchs mehr an das Geschlecht gebunden ist. Daraus abgeleitet galt lange Zeit, dass zumindest bei Wirbeltieren Weibchen generell das stärkere Immunsystem haben. Nun konnte sie mehrfach zeigen, dass bei bestimmten Arten nicht nur die Mütter, sondern auch die Väter das Immunsystem ihrer Nachkommen prägen können. Impulse 01_2016 101 „Bei der Grasnadel, einer mit den Seepferdchen verwandten Fischart, brüten die Männchen die Embryonen aus: in einer Bruttasche. Das ermöglicht es ihnen offenbar, Immunantworten an ihre Nachkommen weiterzugeben“, erklärt Roth. „Und: Bestimmte Teile dieses Systems werden sogar allein durch die Väter gestärkt, wenn diese zuvor Krankheitserregern ausgesetzt waren.“ Die Ergebnisse der Evolutionsbiologin deuten nun darauf hin, dass eine der Plazenta vergleichbare Struktur in der Bruttasche der männlichen Grasnadeln für den Transfer der Immunantwort verantwortlich ist. „Die Embryonen sind in der Bruttasche auf ähnliche Weise mit dem Vater verbunden wie Babys über den Mutterkuchen mit der Mutter.“ Weitere Projekte i Nacktschnecken und Würmer sind die bevorzugte Beute der Feuersalamander; eines der Tiere läuft hier gerade ImpulseRedakteur Christian Jung auf dem Dolomiten-Höhenwanderweg vor die Füße. 102 „Es ist spannend, dass die Evolution bei Menschen und Fischen völlig unabhängig voneinander sich ähnelnde Lösungen hervorgebracht hat“, erläutert Roth. Dass zudem gleichermaßen Männchen bei ihrer Nachkommenschaft Immunantworten zu erzeugen und sogar zu steigern vermögen, vermutet sie noch bei weiteren Arten, bei denen dieses Geschlecht die Brutpflege übernimmt. Womit wir wieder bei den Buntbarschen sind, bei denen die Männchen die Eier ausbrüten – sogar im Maul bei vielen Arten. Experimente sollen nun zeigen, inwieweit die vorliegenden Erkenntnisse auch für diese Fische gelten, mit denen sich Forscherkollegin Dr. Marta Barluenga seit zehn Jahren in den Kraterseen Nicaraguas beschäftigt. Die wiederum ist froh, dass es ihrer Projektpartnerin gelungen ist, das deutsch-spanische Verbundvorhaben als „Kooperationsmodul Europaförderung“ auf den Weg zu bringen. Und so treffen sich hier zwei Erfolgsgeschichten: die der kurzfristigen Unterstützung exzellenter Wissenschaftler in jenen Ländern Europas, die zeitweilig in schwerem Wasser segelten – und die vielen kleinen und großen Forschungserfolge aus dem nachhaltigen Stiftungsengagement für die Evolutionsbiologie. Mit teils bahnbrechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen auf der Habenseite kann diese fast ein Jahrzehnt lang laufende Initiative als eine der ertragreichsten der Stiftungsgeschichte gelten.  Dr. Olivia Roth erforscht an den Feuersalamander auf Trennungskurs Dass schwer überwindbare Erdspalten, Flussschleifen oder Berghügel die Entfremdung von Tieren einer Art fördern, leuchtet ein. Wie aber Tierpopulationen ohne räumliche Trennung an einen solchen Punkt ohne Wiederkehr gelangen können, ist für Evolutionsbiologen noch immer nicht geklärt. Für Dr. Sebastian Steinfartz vom Arbeitsbereich Molekulare Ökologie und Verhalten der Universität Bielefeld ist diese Frage und offene Flanke Anregung genug, die Feuersalamander im Kottenforst nahe Bonn näher zu betrachten – insbesondere deren Fortpflanzungsstrategien. kleinen schlanken Der Nachwuchs von Salamandra salamandra schlüpft – anders als in Amphibienkreisen sonst üblich – nicht aus abgelegtem Laich. Hingegen kommen die Jungtiere nach einer Tragzeit von rund acht Monaten bereits weit entwickelt zur Welt. Kleine Waldgewässer sind die Kinderzimmer dieser noch mit Kiemen atmenden Larven – zumindest in unseren Breiten. Andernorts verzichten manche Unterarten sogar ganz auf Feuchtgebiete wie der in Nordspanien beheimatete Oviedo-Feuersalamander oder der schwarze Alpensalamander; beide bringen ihre wenigen Jungtiere vollständig ausgebildet an Land zur Welt. „Das zeigt bereits, dass sich in der jüngsten Salamander-Evolution je nach Verfügbarkeit geeigneter Gewässer unterschiedliche Fortpflanzungsstrategien herausgebildet haben“, sagt Steinfartz. Womit wir im Kottenforst bei Bonn wären. Dort leben zwei Formen des klassischen gefleckten Feuersalamanders. Sie unterscheiden sich äußerlich kaum, hingegen deutlich in ihren Fortpflanzungsstrategien. „Während die eine ganz lehrbuchgemäß sauerstoffreiche Bäche und Quellen für die Geburt aufsucht, entlässt die zweite Form ihre Jungen nach Art mancher Flachlandsalamander in kleine Stehgewässer, Gräben oder Traktorspuren“, erläutert der Biologe. Zudem seien die Larven dieser Tümpelvariante nicht nur an einen geringeren Sauerstoffgehalt und andere Futtertiere angepasst, sondern ausgereifter. Droht eine Austrocknung ihres Gewässers, können sie sich schneller in landlebende Jungsalamander verwandeln. „Diese Unterschiede sind selbst dann noch zu erkennen, wenn man Tiere beider Typen unter identischen Bedingungen aufzieht. Sie sind also nicht nur das Ergebnis verschiedener Umweltbedingungen, sondern offensichtlich genetisch fixiert“, erklärt Steinfartz. Wie aber kann das sein? Eine abweichende genetische Ausstattung würde nun bedeuten, dass sich die zwei Formen im Kottenforst kaum noch miteinander kreuzen und dass sie auf dem besten Weg sind, eigenständige Arten zu werden. Diese Vermutung konnte der von der Stiftung in der Initiative „Evolutionsbiologie“ geförderte Steinfartz mithilfe genetischer und verhaltensbiologischer Studien bestätigen. Damit sind die Salamander aus dem tief im Westen Deutschlands gelegenen Waldstück ein seltenes Beispiel für sogenannte sympatrische Artbildung, bei der sich eine Ursprungsart innerhalb eines gemeinsamen Lebensraumes in zwei Arten aufteilt. Es erweitert das auf Darwin zurückgehende Verständnis einer gemeinhin allopatrischen Entstehung von Arten, bei der sich eine Art in geografisch getrennte Populationen aufteilt, die sich mehr und mehr auseinanderentwickeln. Unter dem Einfluss selektionierender Faktoren entstehen schließlich eigenständige Spezies, die sich nicht mehr vereinen können. Seenadeln exemplarisch die Evolution des Immunsystems. Die Besonderheit bei diesen Fischen: Hier brüten die Männchen die Embryonen aus und sind so dasjenige Geschlecht, das die Herausbildung des Immunsystems bei den Nachkommen „Im Fall der Bonner Feuersalamander ist denkbar, dass natürliche Auslese gleichermaßen sowohl die eine als auch die andere Fortpflanzungsform fördert, es aber keinen goldenen evolutorischen Mittelweg gibt“, erläutert Steinfartz. Anhand seiner Daten konnte er zeigen, dass der Genfluss zwischen beiden Lurchtypen weitgehend versiegt ist. Eine Vermischung würden die sich äußerlich gleichenden, im selben Gebiet lebenden Amphibien vermutlich vermeiden über wechselseitige Geruchserkennung. Für diese Hypothese sprächen die ersten Ergebnisse aus Versuchen zur Geruchspräferenz beider Geschlechter. Die Evolution des Feuersalamanders schreitet also voran. „Die Abgrenzungen sind aber nicht eindeutig und in Bewegung“, schließt Steinfartz.  Christian Jung beeinflusst. Impulse 01_2016 103 Forum Aus der Wissenschaftsförderung der Stiftung: Auszeichnungen und neue Bewilligungen Archiv zur Dokumentation bedrohter Sprachen ist „Memory of the World“ UNESCO zählt Sprachenarchiv zum Weltgedächtnis. VolkswagenStiftung hat zur Erforschung seltener Sprachen und deren kulturellen Kontext in anderthalb Jahrzehnten knapp 30 Millionen Euro auf allen fünf Kontinenten bereitgestellt. Ein kleiner Blick auf die Vielfalt der Sprachen dieser Welt, auf Forscher und Sprecher, die Teile dieses kulturellen Gedächtnisses vor dem Ausblassen bewahren: Das Herz der DoBeSInitiative schlägt im Spracharchiv im Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen (oben rechts). Bei den Trumai in Brasilien dokumentieren Einheimische inzwischen selbst mit Kamera und Audiorekorder ihre Sprache (oben links). Namibia: Ihre Muttersprache Akhoe-Hai// om sprechen Kinder nur noch in der Familie; Forscher Thomas Widlok zeigt ihnen erste Aufnahmen (Mitte, rechts). Bei vielen Dokumentationsvorhaben spielt die Bezeichnung von Tieren und Pflanzen, vor allem Bäumen, eine wichtige Rolle – wie etwa bei den Tima im Sudan. 104 Anerkennung für die Initiative zur Dokumentation bedrohter Sprachen (DobeS): Teile des aus einer langjährigen Förderung hervorgegangenen „The Language Archive“ (TLA) am Max-PlanckInstitut für Psycholinguistik in Nijmegen wurden jetzt von der UNESCO in das bedeutende „Memory of the World“-Register aufgenommen. Diese 64 Sammlungen dokumentieren 102 verschiedene Sprachen, die nur noch von kleinen Sprechergemeinschaften genutzt werden. Sie sind vielfach dem Untergang geweiht. Durch die Analyse und Beschreibung ihres Wortschatzes und der Grammatik, vor allem auch durch die Aufzeichnung der Sprachpraxis und ihrer kulturellen Kontexte in umfassenden audiovisuellen Materialen bleiben die Sprachen dem Gedächtnis der Welt erhalten und sind auch in Zukunft zum Beispiel für die Wissenschaft nutzbar. Die Sammlungen – bei einzelnen Materialien ist eine Registrierung oder Zugangserlaubnis erforderlich – sind abrufbar über folgenden Link:  https://corpus1.mpi.nl/ds/asv/?0 Die VolkswagenStiftung hatte die Initiative „Dokumentation bedrohter Sprachen“ (DobeS) im Jahr 1999 eingerichtet und ermöglichte in rund 15 Jahren mit knapp 30 Millionen Euro Sprachdokumentationsprojekte auf allen fünf Kontinenten. Das digitale Herzstück des DobeS-Archivs wurde am Max-Planck-Institut in Nijmegen entwickelt und bildet heute auch den Kern des TLA. Dass das Sprachenarchiv nun zum Weltgedächtnis zählt, empfinden alle Beteiligten als eine große Aus- zeichnung: die dokumentierenden Wissenschaftler in aller Welt, die Softwareexperten in Nijmegen und natürlich auch die Förderer in Hannover. Eine Übersicht über die DobeS-Projekte findet sich unter  http://dobes.mpi.nl/projects/. DobeS-Projekt im Videoblog sciencemovies Für den Videoblog sciencemovies dokumentierte die junge Anthropologin Soraya Hosni gemeinsam mit ihren Kolleginnen Kilu von Prince und Susanne Fuchs die vom Aussterben bedrohte Sprache Daakaka auf der Südseeinsel Ambrym. Die Wissenschaftlerinnen gehören zur Arbeitsgruppe von Professor Manfred Krifka vom Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft in Berlin (ZAS). Hosnis beeindruckende Kurzfilme „Wer spricht noch Daakaka?“ sind zu sehen unter  www.sciencemovies.de/de/07_wer_spricht_noch_ daakaka Broschüre „Bedrohte Sprachen“ Unter dem Titel „Bedrohte Sprachen. Warum die Vielfalt stirbt – und wie Forscher kulturelles Wissen vor dem Vergessen retten“ geben Wissen­ schafts­journalistinnen und Sprachforscher viele spannende Eindrücke in Projekte der DoBeS-Initiative – und man erfährt darüber hinaus jede Menge mehr über das Thema: die Sprachen, die Menschen, die sie sprechen, ihre Kulturen; ihre Welt. Die Publikation steht zum Download bereit unter  www.volkswagenstiftung.de/fileadmin/ downloads/publikationen/Bedrohte-Sprachen.pdf Barbara Riegler Forum Förderung Neue Bewilligungen der Stiftung – und Auszeichnungen Mit Ideen überraschen und mit frischer Forschung: Das Jahr 2015 stellt sieben neue „Freigeister“ aus. Wie wirkt eigentlich die sogenannte Entwicklungshilfe – oder auch: Warum wirkt sie oft nicht wie erhofft? Sieben auf einen Streich: So viele Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler setzten sich im letztjährigen Wettbewerb unter 140 Konkurrenten um eines der begehrten Fellowships durch. – Die Universität Frankfurt am Main profitiert gleich zweifach. Mehr Konzentration auf die ländlichen Räume; mehr Zuhören und Wahrneh­­men, was die dort lebende Bevölkerung denkt, sagt, vorschlägt: ein erster großer Schritt, damit Unterstützung auf einen fruchtbaren Boden fällt? Forscher aus Bremen und München proben einen neuen Ansatz. Sie sind die Freigeist-Fellows des Jahres 2015 (von links): Dr. Wenjia Song, Dr. Sidonie Kellerer, Dr. Christina Büsing, Dr. Matthias Goldmann, Dr. Nikolaus Gestrich, Dr. Patricia Kanngießer, Dr. Tristan Petit. Entwicklungshilfe auf der langen Zeitschiene betrachtet: Professorin Dr. Corinna Unger von der Jacobs University Bremen und Professor Dr. Marc Frey von der Universität der Bundeswehr München im Nord-Süd-Verbund Ihr Startschuss ertönte Ende September 2015 mit einer Preisverleihung im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen in Hannover: Sieben neue „Freigeist-Fellows“ präsentierten sich einer interessierten Öffentlichkeit; sieben Forscherpersönlichkeiten, die inzwischen längst dabei sind, ihre spannenden Ideen in Forschung umzusetzen. Gleich zwei von ihnen zieht es an die Universität Frankfurt am Main. Dort untersucht nun Dr. Nikolaus Gestrich am Beispiel der „Markadugu“, einem Netzwerk ehemaliger Handelsstädte, die Beziehung zwischen Staat, Stadt und Handel im vorkolonialisierten Westafrika. Am House of Finance der Goethe-Universität analysiert Dr. Matthias Goldmann die wechselseitigen Einflüsse und unterschiedlichen Ebenen des Zusammenwirkens von öffentlichem Recht und Finanzwirtschaft. Auch die Forschungslandschaft Berlins profitiert zweifach. So wird Dr. Patricia Kanngießer an der Freien Universität aus einer kulturvergleichenden Perspektive heraus betrachten, wie Kinder in verschiedenen Gesellschaften ein Verständnis von sozialen Normen entwickeln. Am Helmholtz106 Zentrum Berlin für Materialien und Energie GmbH beschäftigt sich Dr. Tristan Petit mit den Eigenschaften und Reaktionen von kohlenstoffbasierten Nanopartikeln. Sein Bestreben ist es, therapeutische Behandlungen und Eingriffe bei verschiedenen Tumorerkrankungen verbessern zu können. Die Medizin als Arbeitsfeld und gleichermaßen der weitgreifende Ansatz im Forschungsvorhaben selbst leitet über zu Dr. Christina Büsing mit Standort RWTH Aachen. Ihr Ziel es ist, mithilfe bestimmter mathematischer Anwendungen, den sogenannten adaptiv robusten Modellen, die Planbarkeit in der medizinischen Versorgung zu verbessern. Und schließlich kommt auch der Süden des Landes zum Zug. Dr. Sidonie Kellerer möchte künftig an der Universität Stuttgart Martin Heideggers Rehabilitationsversuchen nach dem Zweiten Weltkrieg und seinem Einfluss auf französische Philosophen der Nachkriegszeit auf den Grund gehen. Und von der Asche aufs eigene Haupt zu realer: Dr. Wenjia Song eruiert an der Ludwig-Maximilians-Universität München die Auswirkungen von Vulkanasche auf die Triebwerke von Flugzeugen. Jährlich werden weltweit geschätzt etwa 120 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln in die Entwicklungszusammenarbeit investiert. Die Wirkungen in den Zielregionen sind jedoch oft anders als von der internationalen Gemeinschaft erhofft. Erwartungen und Ergebnisse harmonieren oft sehr wenig. Ein Grund könnte sein, dass insbesondere ländliche Regionen und die dort lebende Bevölkerung nicht ausreichend in die Prozesse einbezogen werden, obwohl gerade sie oft Adressaten der Bemühungen sind. Trifft diese Vermutung zu? Das interessiert zwei kooperierende Forscherteams um Professorin Dr. Corinna Unger von der Jacobs University Bremen und Professor Dr. Marc Frey von der Universität der Bundeswehr München. Die beteiligten Historiker, Kultur- und Sozialwissenschaftler monieren, dass zu selten ein Transfer moderner Konzepte im Bereich der Landwirtschaft erfolge. Auch werde generell die Perspektive der ländlichen Bevölkerung in den Aktionen und Analysen international tätiger Organisationen und wissenschaftlicher Institute und Förderer häufig zu wenig berücksichtigt. Dies überrascht, schließ- lich sind die Menschen in ländlichen Regionen direkt von entwicklungspolitischen Maßnahmen betroffen: Sie sollen diese akzeptieren, mittragen – und letztlich davon profitieren. „Wertvolle Eindrücke, Erfahrungswissen und Perspektiven aus dem Alltag jedes einzelnen Bewohners in den ländlichen Regionen können das Leben dort lebenswerter machen“, sagt Corinna Unger, Professorin für Moderne Europäische Geschichte an der Jacobs University in Bremen. Im Fokus des Projekts steht folglich das sinnvoll gestaltete Miteinander der verschiedenen sozialen Gruppen, die an entwicklungspolitischen Aktionen beteiligt sind. Die Wissenschaftler betrachten dabei vor allem deren gegenseitige Wahrnehmung sowie die Gestaltung der Kommunikationsprozesse zwischen den Akteuren. Die VolkswagenStiftung fördert das Forschungsvorhaben „Entwicklung jenseits der Industrialisierung: Studien zur internationalen Entwicklungsgeschichte ländlicher Räume nach 1950“ über einen Zeitraum von drei Jahren mit 540.000 Euro unter dem Dach „Offen für Außergewöhnliches“. Impulse 01_2016 107 Forum Förderung Neue Bewilligungen der Stiftung – und Auszeichnungen Schreibszene Frankfurt: Junge Geisteswissenschaftler setzen sich mit Gegenwartsliteratur auseinander Das Denken irritieren … – Wie sich das Klima einer intellektuellen Kultur im Hochschulalltag verankert Forschen mit Praxisbezug – über Poetik, Publizistik und Performanz zeitgenössischer Werke. Die Stiftung stellt 1,4 Millionen Euro bereit für ein neues Graduiertenkolleg an der GoetheUniversität Frankfurt am Main, das nicht zuletzt alternative Karrierewege aufzeigen soll. Bologna plus – oder: wieder mehr Raum, mehr Zeit, mehr Chancen für Studierende. Das und anderes mehr leistet das „Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die VolkswagenStiftung fördert es mit 820.000 Euro. Sie haben die „Schreibszene Frankfurt“ konzipiert: die Professorinnen Dr. Julika Griem (links) und Dr. Susanne Komfort-Hein. Modell für eine „Hochschule der Zukunft“? Der Mittelalterhistoriker Professor Dr. Bernhard Jussen (links) und Professor Dr. Dr. Matthias Lutz-Bachmann vom Institut für Philosophie treiben an der Universität Frankfurt am Main das „Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften“ voran. 108 Frankfurt am Main bietet als Stadt von Buchmesse, großen Verlagshäusern und Medienstandort viele Institutionen, die sich mit dem gedruckten Wort beschäftigen. Damit sind die Voraussetzungen gut, um sich in und aus nächster Nähe auch mit nationalen und internationalen Phänomenen der Gegenwartsliteratur sowie mit aktuellen Konstellationen im Literaturbetrieb zu beschäftigen und – einiges davon exemplarisch zu untersuchen. Die Stiftung unterstützt diesen interessanten thematischen Ansatz mit einem Forschungskolleg. Die Federführung der „Schreibszene Frankfurt. Poetik, Publizistik und Performanz von Gegenwartsliteratur“ liegt bei den Professorinnen Dr. Julika Griem und Dr. Susanne Komfort-Hein vom Fachbereich Neuere Philologien der Universität Frankfurt am Main. Ihnen ist neben der reinen Forschung wichtig, dass sich die jungen Wissenschaftler durch intensive Zusammenarbeit mit Institutionen vor Ort für ein breites Spektrum universitärer, aber eben auch außeruniversitärer Karrierewege qualifizieren können. Im Zuge des Kollegs sollen in den kommenden drei Jahren acht junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit neuen Methoden und Formaten Werke dieser Zeit analytisch betrachten. Die Kollegiaten legen ihre Studien vergleichend an und beziehen dabei stets Schnittstellen zur Praxis ein, richten ihren Blick etwa gen Literaturbetrieb und setzen sich mit den Spezifika dieser Branche auseinander. Sowohl im Bezug auf die Wissenschaft als auch mit Blick auf den Literaturbetrieb verknüpfen sie entsprechend kritische philologische Ausbildungsinhalte mit soziologischer und ethnologischer Praxisforschung. Das neue Kolleg verstärkt zudem die Frankfurter Graduiertenprogramme um eine Qualifikationsinfrastruktur, die auf aktuelle geisteswissenschaftliche Anforderungen zugeschnitten ist. Das von der Stiftung in ihrer Initiative „Hochschule der Zukunft“ verortete Angebot soll dazu beitragen, an der Goethe-Universität ein national und international sichtbares Zentrum für Gegenwartsliteraturforschung zu etablieren. Mit der „Schreibszene Frankfurt“ ist man auf einem guten Weg, zumal sie perfekt passt zu dem von der Stiftung an der Hochschule geförderten Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften (siehe rechts). Das Denken von außen zu irritieren: Kaum etwas erscheint wichtiger für die Geisteswissenschaften. Potenziell schöpferische Forschungszusammenhänge entstehen häufig dort, wo gewohnte Arbeitsweisen, Deutungen und Methoden durch fremde Denksysteme gestört werden. Deshalb bedarf es der ständigen Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen, Kulturen und Forschern fremder Wissenswelten, aber auch mit außerakademischen Impulsen, wie sie etwa die Gegenwartskunst bereithält. Um in diesem Sinne Forschung und Lehre in ihren geisteswissen­schaftlichen Fächern zu stärken, gründete die Universität Frankfurt am Main 2010 ein „Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften“: ein Ort transdisziplinärer Forschungskommunikation, der Nachwuchsförderung und zur Erprobung innovativer Lehrformen, der intellektuellen Vorbereitung neuer Verbundprojekte; zugleich ein erster Kontakt für auswärtige und ausländische Gäste, interessierte Doktoranden und Studierende und für Stipendiaten. Darüber hinaus schafft das neue Zentrum für die universitäre Forschung eine Infrastruktur, die die Kooperation mit außeruniversitären Institutionen erleichtert und verstetigt. Nach Abschluss der Startphase galt es nun, insbesondere die Nachwuchsförderung und die neuen Studiengänge dauerhaft transdisziplinär zu organisieren und die Vernetzung mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Frankfurt massiv voranzutreiben. Für diese Vorhaben des Zentrums stellte die Stiftung unter dem Dach ihrer Initiative „Hochschule der Zukunft“ Anfang 2015 gut 820.000 Euro bereit. Die Mittel dienen im Detail zum Beispiel dazu, Schwächen der neuen Bachelorund Masterstudiengänge zu kompensieren, indem das Zentrum Studierenden Raum gibt für Interdisziplinarität und langfristige Arbeit an einem Thema sowie eine dezidierte Forschungsorientierung von Master- und Promotionsprogrammen sicherstellt. Die Initiatoren und Organisatoren um die Professoren Dr. Bernhard Jussen und Dr. Dr. Matthias LutzBachmann von der Universität der Mainmetropole möchten damit das Klima einer intellektuellen Kultur im Universitätsalltag verankern: „Eine solche Kultur, die sich aus der Vernetzung verschiedener Forschungsfelder und Qualifikationsgruppen ergibt, bildet das ideale Umfeld für neue Denkansätze und neue Forschungskooperationen.“ Impulse 01_2016 109 Forum Förderung Neue Bewilligungen der Stiftung – und Auszeichnungen Wenn die Fäden eines Netzes neu zusammenlaufen … – die etwas andere Globalisierung der Weltgeschichte Eine Brücke für die Geistes- und Kulturwissenschaften – und eine große Chance für die kleinen Fächer „A Global Network for Global History“: Mit 450.000 Euro ermöglicht die Stiftung die Annäherung junger Geschichtswissenschaftler aus vielen Nationen. Im Zentrum des Netzes agiert die Universität Göttingen; an ihrer Seite: Forschungseinrichtungen in Harvard und Amsterdam. Die VolkswagenStiftung fördert den hochschulübergreifenden Austausch von Studierenden in zwölf geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern mit insgesamt knapp 850.000 Euro für vier Jahre. Taktgeber ist die Universität Göttingen; Vorbild ist der Studiengangverbund „Pons – Archäologie“. Die Welt um 1799: Landkarte aus jener Zeit Das Objekt stets im Fokus: Archäologie-Studierende in Göttingen. Sie können seit inzwischen fünf Jahren Teile ihrer Ausbildung an acht weiteren deutschen Hochschulen absolvieren, die ebenfalls dieses Fach anbieten.  Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Europa, den USA, China, Indien, Brasilien und dem Senegal sind begeistert: Denn was da gerade als „A Global Network for Global History“ entsteht und wovon sie profitieren werden, ist nicht weniger als ein ebenso fein austariertes wie sorgsam geknüpftes Netzwerk für Forschung und Lehre zur Weltgeschichte. Die angehenden Forscher sollen dabei vor allem durch intensiven Austausch und die gemeinsame Organisation von Konferenzen die weltumspannende Bearbeitung und Kommunikation dieses Gebiets etablieren. Die Fäden des Netzes laufen zusammen bei Professor Dr. Ravi Ahuja vom Centre for Modern Indian Studies (CeMIS) der Universität Göttingen. Als entscheidende internationale Partner sorgen Professor Dr. Marcel van der Linden vom International Institute of Social History in Amsterdam und Professor Dr. Sven Beckert von der Weatherhead Initiative on Global History der Harvard University für stabile Knoten. Zentrales Anliegen ist es, bestehende Ungleichgewichte im Feld der Weltgeschichte anzugehen und die „Inhalte und Methoden zu globalisieren“. 110 Im Einzelnen ist vorgesehen, dass drei Postdoktoranden aus dem „Globalen Süden“ sich je ein Jahr an einer der drei Institutionen in Göttingen, Amsterdam oder Harvard aufhalten und sieben Doktoranden die Möglichkeit zu einem jeweils sechsmonatigen Aufenthalt an einer der Einrichtungen des Netzwerks erhalten. Die Themen, an denen gearbeitet und über die konferiert wird, sollen von allen Partnerinstitutionen gemeinsam entwickelt werden und Experten aus aller Welt anziehen. Die Projektbeteiligten in Afrika, Asien und Lateinamerika wiederum repräsentieren starke wissenschaftliche Einrichtungen ihrer Region und fungieren als Knotenpunkte für weitere Kontakte dorthin. Alles in allem wird mit dieser fast weltumspannenden Kooperation als gut konstruierte Partnerschaft auf Augenhöhe das Ziel verfolgt, Ungleichgewichte abzubauen – ein Anliegen, das die Stiftung grundsätzlich mit ihren international ausgerichteten Förderaktivitäten verfolgt. Sie unterstützt das Gemeinschaftsprojekt mit rund 450.000 Euro unter dem Dach ihres Angebots „Offen – für Außergewöhnliches“. Seit dem Jahr 2010 unterstützt die Stiftung das Projekt „Pons – Archäologie“ an der Universität Göttingen (siehe www.pons-archaeologie.de). In dem beispielgebenden Studiengangverbund gelingt es, Grundlagenwissen und Überblickskompetenz ebenso zu vermitteln wie eine breite wissenschaftliche Basis zu legen bis hin zu einer punktuellen Vertiefung und Spezialisierung, die Forschung in diesem Fach schnell erfordert. Erreicht wird dies im Zuge hochschulübergreifender Vernetzung. „Pons – Archäologie“ zielt exemplarisch für das Fach der Klassischen Archäologie darauf, interessierten Studierenden innerhalb Deutschlands den Studienortwechsel zu erleichtern. Der akademische Nachwuchs kann auf diese Weise durch geschickt gewählte Aufenthalte an zwei oder drei Universitäten spezifische Vertiefungen individuell in die Ausbildung integrieren. Was seinerzeit zunächst mit neun archäologischen Instituten in Deutschland begann, hat sich Anfang 2016 auf 24 Partner ausgeweitet. Vor allem aber bildet der offensichtliche Erfolg dieses umfangreichen Kooperationsprojekts nun die breite Basis für „Pons – Geistes- und Kulturwissenschaften“. Das neue große Angebot für die kleinen Fächer wurde wiederum initiiert von Professor Johannes Bergemann, Direktor des Archäologischen Instituts der Universität Göttingen. Sämtliche Fächer der Philosophischen und der Sozialwissenschaftlichen Fakultät – darunter auch lehrerbildende Angebote – werden nun entsprechende Netzwerke aufbauen und gemeinsam mit ihren Partnern für ihre Curricula bis hin zu den rechtlichen Rahmenkonstruktionen die Grundlage schaffen für einen unkomplizierten Studienortwechsel innerhalb Deutschlands. Die Studierenden können auf diese Weise zusätzliche Schwerpunkte ihres Fachs kennenlernen. Gerade in den kleinen Fächern mit nur einer oder zwei Professuren trägt der Studienortwechsel erheblich zur Verbesserung der Ausbildung bei. An der Universität Göttingen gibt es etliche davon. Insgesamt beteiligen sich an dem Gemeinschaftsvorhaben die Fächer Ägyptologie, Alte Geschichte, Altorientalistik, Englisch, Germanistische Mediävistik, Iranistik, Kunstgeschichte, Klassische Philologie, Romanistik, Skandinavistik, Ur- und Frühgeschichte sowie die Gender Studies. Impulse 01_2016 111 Forum Förderung Neue Bewilligungen der Stiftung – und Auszeichnungen Dr. Volker Busskamp erhält 1,5 Millionen Euro für sein Vorhaben, Nervenzellen gezielt herzustellen Großer Erfolg: Bénédicte Savoy und Dag Nikolaus Hasse mit dem Leibniz-Preis 2015 ausgezeichnet Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat dem Freigeist-Fellow der VolkswagenStiftung eine seiner begehrten Auszeichnungen zugesprochen. Der Wissenschaftler wirkt seit gut einem Jahr am Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD). Mit der Verleihung an die Romanistin von der Technischen Universität Berlin und den Philologen und Philosophen von der Universität Würzburg gehen zwei der elf mit jeweils 2,5 Millionen Euro dotierten Ehrungen an mehrfach von der Stiftung geförderte Geisteswissenschaftler. Er promovierte bereits zu Fragen von Wiederherstellungsstrategien – damals des Sie legen neue Sichtachsen Sehvermögens: Bevor Volker und Zugänge zu ihren Themen Busskamp im Herbst 2014 in und verknüpfen ihre Funde Dresden Forschungsgruppen- und Erkenntnisse zu einem leiter am CRTD wurde, arbei- neuen, spannenden Ganzen: tete er an der Harvard Medical School in Boston, USA, in den Bereichen Stammzellforschung und Systembiologie. die Professoren Bénédicte Savoy vom Institut für Kunstwissenschaft der TU Berlin und Dag Nikolaus Hasse vom Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie an der Universität Würzburg. Eine zentrale Herausforderung für die biomedizinische Forschung ist es, die Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen im Detail zu erfassen, um sie in einem nächsten Schritt besser therapieren zu können. Auf dem Weg dorthin benötigen Wissenschaftler menschliche Nervenzellen. An ihnen lässt sich am besten untersuchen, ob und wie Medikamente und pharmazeutisch wirksame Substanzen greifen. Von den vielen vorhandenen Nervenzelltypen im Gehirn ließen sich bislang in ausreichender Qualität und Menge nur wenige in vitro generieren – also künstlich in einem Reagenzglas.   Möglichst viele Zelltypen entsprechend verfügbar zu haben, ist Ziel des Biotechnologen Dr. Volker Busskamp. Ihm ist es gelungen, vom Europäischen Forschungsrat dafür Mittel in Höhe von 1,5 Millionen Euro einzuwerben. Zunächst will er die Wirkmechanismen verschiedener sogenannter Transkriptionsfaktoren verstehen, die bei der Zellteilung an das Erbgut der Zelle andocken. Anschließend sollen über eine Art „Schaltbrett“ bestimmte Stammzellen gezielt so programmiert werden, dass daraus die gewünschten Nervenzellen entstehen. Bis dato fand dieser Prozess wegen 112 der fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Petrischale im Labor willkürlich und ohne Steuerungsmöglichkeit statt. Letztlich will der Freigeist-Fellow verstehen, wie im Detail die Aktivität und Kombination von Transkriptionsfaktoren die Zellteilung beeinflussen, um darauf aufbauend aus den Stammzellen passgenau spezifisch benötigte Zelltypen zu entwickeln.   „Die zugrundeliegenden biologischen Regeln versuchen wir nun gezielt anzuwenden“, sagt er. Man sei bereits auf dem Weg, menschliche Fotorezeptoren in hoher Qualität und Quantität herzustellen. Diese könn­ten dann in Experimenten zur Zelltransplantation bei degenerativen Erkrankungen der Netzhaut genutzt werden. „Dieser systembiologische Ansatz soll den Weg für eine zielorientierte ‚Programmierung‘ menschlicher Stammzellen in Nervenzellen bahnen“, erläutert der Forscher, der sich mit dieser Methode innerhalb der gesetzlichen Vorgaben für Stammzellforschung in Deutschland bewegt. Weitere Informationen über Freigeist-Fellow Dr. Volker Busskamp und seine wissenschaftlichen Projekte finden Sie in unserem Magazin „Impulse“, Ausgabe 2015, Heft 2. Bénédicte Savoy schlägt in ihrer Forschung ebenso wie in großen Ausstellungs­projekten die Brücke zwischen der deutschen und französischen Kunstgeschichte. Stets nimmt sie dabei eine europäische Perspektive ein, zudem betrachtet sie das Feld als entscheidende Grundierung deutsch-französischer Beziehungen. Die Basis für ihre Arbeiten legte sie bereits vor Langem mit ihrer Dissertation über den französischen Kunstraub in Deutschland während der napoleonischen Besatzung.   Weitere Studien beschreiben die Schau der Nofretete in Berlin als „deutsch-französische Affäre“ und die Entstehung der öffentlichen Museen in Deutschland als politisch-kunstgeschichtliche Unternehmung – ein Ansatz, der die an der Technischen Universität Berlin verortete Forscherin wiederum zu Prozessen des „nation building“ führte. Diese betrachtete sie aus der Perspektive der Museums- und Sammlungskultur. Großen Erfolg hat die gebürtige Französin auch als Ausstellungsmacherin und Buchautorin. Bereits angekündigt ist ihr Buch „Paris – Hauptstadt der deutschen Romantik“, das durch eine vor zwei Jahren zugesprochene Opus-magnum-Förderung entstand.   Der Philologe und Philosoph Dag Nikolaus Hasse von der Universität Würzburg hat mit seiner Forschung grundlegend neue Einblicke in die Anfänge des modernen Europa eröffnet. Im Mittelpunkt seines Werkes stehen die wechselseitigen Wirkungen zwischen christlich-lateinischer, arabischer und jüdischer Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft – und zwar vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Mit einer ganzen Reihe von Studien konnte Hasse zeigen, wie intensiv und fruchtbar der kulturelle Austausch zwischen Gelehrten und Institutionen aus Orient und Okzident war.   In seinen Arbeiten verbindet der einstige Lichtenberg-Professor historisch-philologische Forschung mit detektivischer Beobachtungsgabe und von ihm entwickelten Analyseverfahren. So identifizierte er mit computergestützten Methoden sprachliche Eigenheiten einzelner Übersetzer arabischer Texte und rekonstruierte anschließend deren Einfluss auf die großen Übersetzerschulen. Ebenso bedeutend sind zwei Langzeitprojekte: über das ptolemäische, also geozentrische Weltbild im west-östlichen Austausch sowie die fachsprachlichen Beziehungen zwischen lateinischer und arabischer Welt. Impulse 01_2016 113 Schwerpunktthema Ins Blaue hinein | OZEANE Lichtenberg kommt zur Kur Ein Seehund findet Fische in völliger Dunkelheit in der Weite der Ozeane und kann über Tausende von Kilometern punktgenau von A nach B schwimmen. Wie er das macht? – Das und anderes mehr zu den Tieren weiß man durch die Forschung von Professor Guido Dehnhardt. Mit seinem Team begibt er sich Tag für Tag am Marine Science Center in Rostock-Warnemünde auf die Spur der Meeressäuger. Die schwimmende Forschungsstation dort, die „Lichtenberg“, ist Basis für alle Aktivitäten. Jetzt kam sie ins Trockendock. Seehund Malte und Guido Dehnhardt sind ein eingespieltes Tandem. Der LichtenbergProfessor und sein Team aus Tieren und Menschen haben in anderthalb Jahrzehnten Forschung zahlreiche Erkenntnisse zum Orientierungsverhalten der Meeressäuger vorgelegt. 114 Text: Christian Jung // Fotos: Fabian Fiechter W ie weit ich unter der Wasseroberfläche bin? Ich weiß es nicht genau, habe irgendwie das Gefühl dafür verloren. Doch ich wähne mich sicher. Beinahe scheint es, als seien ganz in der Nähe, in der trüben Wand aus Wasser rings um mich her und gerade so eben nicht mehr erkennbar, Augen und Ohren, die meine Bewegungen registrieren; Sinne, die mich jede Sekunde wahrnehmen – alles darauf gerichtet, auf mich aufzupassen. Zumindest bildet sich mein Hirn das wohl ein. Ab und an sehe ich schemenhaft Flossen um mich herumwirbeln. Ein Schatten dann und wann, eine Berührung; dann wieder nur undurchsichtiges Einheitsgrau. Allmählich schreien meine Lungen nach Luft. Ich tauche auf – ein wenig widerwillig; öffne die Augen und schaue in ein Gesicht, das lediglich eine Armeslänge entfernt ist. Auf Anhieb gelingt es mir nicht zu erkennen, welches der Tiere es ist, das sein nasses Zuhause gerade mit mir geteilt hat. „Es ist Henry“, ruft mir eine dunkel gekleidete Gestalt vom Rand her zu, so als könnte sie das Fragezeichen hinter meiner Stirn sehen und deuten. Was ich zunächst nur als schemenhafte Figur wahrnehme, gießt sich plötzlich einen Eimer Wasser über den Kopf. Es ist Guido Dehnhardt, der sich anschickt, selbst zu den Robben ins Wasser zu steigen. 116 Guido Dehnhardt, Henry und die anderen Robben und – ja, das Wasser, das Meer: Das ist eine Einheit, und sie besteht schon lange. Seit anderthalb Jahrzehnten erforscht der Biologe mit seinem Team aus Mensch und Tier, wie manche Meeressäuger sich visuell orientieren. Was zur Jahrtausendwende als von der Stiftung gefördertes „außergewöhnliches“ Projekt mit den Seehunden Henry, Malte und Nick in der Eisbärenanlage des Kölner Zoos begann – in direkter Folge mit Anbindung an die Universitäten Bonn und Bochum –, fand 2008 seine Heimat in Warnemünde. Dort gründete der findige Forscher das Marine Science Center. Das am Übergang zum offenen Meer gelegene Areal umfasst einen abgetrennten Teil an der Spitze des Rostocker Jachthafens „Hohe Düne“. Das Herz, das in dessen Mitte schlägt, heißt LICHTENBERG. Es ist ein Schiff, oder besser: eine „schwimmende Forschungsstation“, die Dehnhardt nach der von der Stiftung geförderten Professur benannt hat. Die LICHTENBERG ist umgeben von Pontons. Auf den schwimmenden Plattformen aalen sich gerade einige der Tiere des über die Jahre peu à peu angewachsenen Bestands. Inzwischen leben hier neun Seehunde, zwei kalifornische Seelöwen und ein südafrikanischer Seebär; nicht zu vergessen Geometrische Formen können Seehunde nur schwer erkennen. Bei dem Versuch im Bild unten links stupst die Robbe mit der Schnauze nur dann gegen den Monitor, wenn sie ein ungleiches Paar Formen erkannt hat. Mitte: Die haptischen Wahrnehmungsfähigkeiten der Meeressäuger werden getestet, indem ihnen die Forscher Augen und Ohren verschließen. Hier wartet Filou mit Augenmaske und Kopfhörern, bis er für die Wahrnehmung einzelner Wirbelringe abtauchen darf. Unterdessen trainiert Biologin Yvonne Krüger Seehund Malte in Vorbereitung für andere Aufgaben. Impulse 01_2016 117 Diego, Dehnhardts neuester Zugang. Der allerdings ist nicht Seehund, sondern Hund. Er hat es gut getroffen hier, fühlt sich – gerettet aus einer der berüchtigten Tötungsstationen für Hunde in Spanien – offenkundig wohl. Als ich aus dem Wasser steige, robbt neben mir Seehund Henry – oder ist es Nick oder Moe? – an Land und auf mich zu, stupst mich an. Kurz berühre ich seine Barthaare, die Vibrissen, die hart kratzen und doch unglaublich sensible Sensoren sind. Jedes der etwa hundert Haare endet in einem Nervenknäuel, das die Spur eines Fisches auch bei rauer See zuverlässig herauszufiltern vermag. Das Sinnessystem der Seehunde ist im Zusammenspiel seiner Bausteine in der Lage, Meeresströmungen, Schiffsbewegungen, Fischschwärme und die eigene Geschwindigkeit miteinander zu verrechnen – ein perfektes Unterwasser-Navigationssystem. Wie orientieren sich Seehunde im Wasser? Inzwischen weiß man: ganz anders als lange gedacht Mit den Vibrissen tauchen wir direkt ein in die Forschung des Lichtenberg-Teams. Gemeinsam untersuchen sie seit Jahren die unterschiedlichen Sinne, die es Seehunden ermöglichen, sich auf dem offenen Meer zu orientieren. Bei der Jagd folgt der exzellente Jäger den Fischen über die Wasserspur, die diese beim Schwimmen hinterlassen – selbst feinste Verwirbelungen fühlt er mit seinen Barthaaren. Inzwischen weiß man, dass das Tier über einen perfekt abgestimmten Mix aus Sinneswahrnehmungen vieles registriert. Es schmeckt auch den Salzgehalt, und wenn der Seehund auftaucht, riecht er vom Phytoplankton freigesetztes Dimethylsulfit. Signalisieren Salzgehalt, Planktondichte und ein paar andere Parameter den richtigen Mix, weiß er: Hier gibt es Fisch. Man überblickt kaum noch die Fülle an bahnbrechenden Erkenntnissen, die Dehnhardt und sein Team veröffentlicht haben. In einem der jüngsten Projekte, das gerade abgeschlossen wurde, gelangten die Wissenschaftler am Marine Science Center am Ende einer langen Reihe von Experimenten zum visuellen System der Seehunde wieder einmal zu Aufsehen erregenden Ergebnissen: „Seehunde sind in der Lage, Bewegungsmuster, die durch die Eigenbewegungen der Tiere von der sie umgebenden Umwelt im Auge entstehen, zu interpretieren“, sagt Dr. Frederike Hanke. Dieses als „Optischer Fluss“ bezeichnete Phänomen spielt für die Orientierung in der Umwelt eine wichtige Rolle, wird jedoch nur selten bewusst wahrgenommen. Er hilft dem Menschen beim Gehen das Gleichgewicht zu halten und seine Position im Raum zu erfassen. Am Schneetreiben lässt es sich gut erklären: Der Schnee fällt senkrecht zur Erde, aber beim Spazierengehen kommt es uns so vor, als käme er uns entgegen. Das Gehirn verarbeitet diesen widersprüchlichen Reiz; wurden Testpersonen vorübergehend entsprechend manipuliert, verloren sie das Gleichgewicht und fielen hin. Dank seiner extrem sensiblen Barthaare kann der Seehund unter Wasser selbst schwache Verwirbelungen wahrnehmen, wie sie etwa ein Fisch erzeugt. Yvonne Krüger hat für diesen Versuch über hydrodynamische Reize Seehund Malte die Augen blickdicht verschlossen (links). Für Guido Dehnhardt sind Dr. Sven Wieskotten und der Physiker Dr. Lars Miersch (unten, von vorn) seit Jahren ein fester Anker für das Marine Science Center. Die zahlreichen vom Lichtenberg-Team zu begleitenden Abschlussarbeiten im Zuge der neuen Studiengänge erforderten es, eine neue Tiergruppe zu Forschungszwecken einzuführen: Kopffüßer. Mit Kraken (Bild) und Sepien arbeiten die Studierenden der beiden Masterstudiengänge „Meeresbiologie“ und Für Seehund Malte verlief das Experiment so: In einem Verhaltenstest präsentierten ihm die Forscher auf einer Leinwand Punkte, die eine Vorwärtsbewegung simulierten. Nachdem ein Kreuz auf der Leinwand eingeblendet wurde, sollte der Seehund anzeigen, ob das Kreuz deckungsgleich mit der Bewegungsrichtung der Simulation war oder nicht. Das Tier erlernte den Umgang mit dem komplexen optischen Reiz innerhalb kürzester Zeit. „Unsere Experimente zeigen, dass Seehunde generell einen sehr guten Zugang zu großflächigen, nicht still stehenden Punktreizen haben“, sagt Frederike Hanke, die derzeit mit weiterer Forschung zum Thema ihre Habilitation vorantreibt. „Und die unglaubliche Genauigkeit, mit der das Tier Abweichungen von der Bewegungsrichtung anzeigen konnte, ist beeindruckend.“ Offenbar vermag der Seehund also Umweltreize, wie sie beispielsweise entstehen bei einer Bewegung durch partikelreiches Wasser, gemäß dem Modell des Optischen Fluss’ zu verarbeiten. Diese Vorstellung erfordert ein Umdenken hinsichtlich der Bedeutung von im Wasser schwimmenden oder schwebenden Teilchen für die Fortbewegung und Orientierung von Seehunden oder anderen Meeresbewohnern. Bislang ging man davon aus, dass Schwebstoffe im Wasser die Sicht erheblich einschränken. Nun hat sich gezeigt, dass demgegenüber zumindest Seehunde regelrecht in der Lage sind, eine aufgrund von Partikelbewegungen entstandene visuelle Information zu verarbeiten und zu nutzen. „Insbesondere bei der Futtersuche und zum Abschätzen zurückgelegter Wegstrecken ist diese Fähigkeit zweifellos von großem Vorteil“, sagt Hanke. „Optischer Fluss scheint demnach eine Informationsquelle, auf die sich Seehunde und möglicherweise weitere aquatische Organismen zur Kontrolle der Orientierung und Fortbewegung verlassen können“, fasst Dehnhardt zusammen. Auf dieses Forschungsfeld – derzeit ein heißes Thema – will er sich künftig als eines von zweien in seinem letzten „Lichtenberg-Jahr“ konzentrieren. So gelang es Wissenschaftlern andernorts zu zeigen, dass Bienen Entfernungen nicht wie bislang angenommen anhand ihres Energieverbrauchs bestimmen. Stattdessen beruht ihre Schätzung auf dem Bewegungsmuster, das beim Vorbeiflug an Blumen und anderen Objekten hervorgerufen wird – und damit ebenfalls auf optischem Fluss. Die schwimmende Forschungsstation, das Schiff LICHTENBERG, ist umgeben von Pontons, auf denen sich die Meeressäuger des über die Jahre peu à peu angewachsenen Bestands gern aalen. Inzwischen leben hier neun Seehunde, darunter Erik (links unten), ebenso die beiden kaum auseinanderzuhaltenden und äußerst verspielten kalifornischen Seelöwen Eric und Tenn (links oben einer von ihnen) und der südafrikanischer Seebär Finn (rechts). „Diversität und Evolution“ der Universität Rostock. „Es ist einfach an der Zeit, dass wir jetzt unsere äußerst umfassenden Analysen zu der Fülle an Wahrnehmungsspezialisierungen des Seehundes bündeln“, bekräftigt Dehnhardt noch einmal die geplante Fokussierung der Forschungsaktivitäten. In der Tat ist bemerkenswert, welchen Fragen die Wissenschaftler schon nachgegangen sind und worauf sie Antworten fanden. Wie beispielsweise sieht ein Seehund? Kann er Bild und Spiegelbild verarbeiten? Auf der Suche nach Antworten sind die Seehunde, versehen mit Strumpfmasken oder Kopfhörern, routiniert und engagiert bei der Sache. Sie signalisieren ihre Reaktionen durch das Berühren farbiger Bälle. Bei anderen Versuchsansätzen geht es um die Frage, wie sich Seehunde im Wasser zurechtfinden. Nutzen sie spezielle geografische Muster wie Riffe oder Felsformationen, die sie womöglich aus unterschiedlichen Perspektiven als gleichen Ort erkennen können? Sinneskünstler Seehund: Die Wahrnehmungsfähigkeiten der Robben faszinieren … Eine Überraschung war, als Teammitglied Nele Gläser vor einigen Jahren der Nachweis gelang, dass sich Seehunde des Nachts am Sternenhimmel orientieren. Die Positionen einzelner Sterne konnten sie sogar bedeutend besser bestimmen als manche Zugvögel – erstaunlicherweise sogar dann, wenn der „Bezugsstern“ für die Orientierung des Seehunds durch eine Wolke verdeckt war. Die Biologin Jenny Byl wiederum hat sich Akustik-Schall-Lokalisationen der Tiere vorgenommen. Robben können wie Menschen Geräusche, die von links und rechts kommen, blitz- schnell erfassen und punktgenau orten. Doch wie ist es, wenn der Schall von vorn, hinten, oben oder unten kommt – schließlich haben die Tiere ja keine Ohrmuscheln, die Geräusche zielgenau erfassen und zielgerichtet bündeln. „Wir wollen den Hörmechanismus bei diesen Tieren möglichst im Detail entschlüsseln“, sagt Jenny Byl. Für den Versuch (siehe Abbildung auf der nächsten Seite oben) legt sich der Seehund auf einer „Bettstation“ auf die Seite und nimmt ein Beißtarget ins Maul. „Wir simulieren ‚oben‘ und ‚unten‘,  indem wir die Tonsignale von links oder rechts auf dem stählernen Halbkreis präsentieren, der den Seehund umgibt. Am ‚Bett‘ hat der Seehund zwei Antworttargets, mit denen er sagen kann, ob der Ton von oben oder unten kam.“ Impulse 01_2016 121 Set-up von Doktorandin Jenny Byl. Sie untersucht, wie Seehunde unter Wasser Schall lokalisieren. Unten: Forschung hautnah; Touristen mit Seehund Malte. In Zusammenarbeit mit einer Tauchschule vor Ort haben Besucher die Möglichkeit, mit den Seehunden zu schwimmen.  Wenn man über so viele Jahre ein solch breites Forschungsfeld beackert, ist der Wunsch nach Fokussierung ebenso sinnvoll wie verständlich. „Wir wollen uns in den nächsten Jahren weiter auf die visuelle und die hydrodynamische Wahrnehmung und Verarbeitung von Flussfeldern konzentrieren.“ Letzteres meint: Wie verrechnet der Seehund verschiedene Einflüsse wie beispielsweise eine Strömung, die von der Seite drückt, oder Wirbel, die durch eigene Bewegungen oder die anderer Meeresbewohner entstehen, sodass am Ende seine Orientierung etwa bei der Jagd im Meer dennoch stets zielgerichtet bleibt und er das Ziel auch über große Distanzen punktgenau erreicht? Die Einblicke, die die Meeressäuger den Forschern gewähren, könnten auch Grundstein sein für neue bionische Konzepte, also die Suche nach „Erfindungen der belebten Natur, die als übertragene Systeme auch für den Menschen hilfreich sein könnten“, wie Dehnhardt es formuliert. Der mutige Sprung ins offene Wasser – werden alle Tiere zurückkehren? Zudem hat Dehnhardt „echte Orientierungsexperimente“ vor Augen; will sagen: Der nächste Schritt führt die Tier-Mensch-Teams auf das offene Meer. Seit Anfang 2016 laufen die Vorbereitungen dafür auf Hochtouren. Prinzipiell haben Tiere drei Möglichkeiten, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden. Manche kennzeichnen ihren Weg: die „Hänselund-Gretel-Strategie“. Einige Arten vermögen es immerhin, sich nach einer mentalen Karte zu richten – so speichern manche Säugetiere und Vögel ihre Umgebung als eine Art Landkarte im Gehirn. Und dann gibt es ganz besondere Könner wie etwa die Ameisen der Art Cataglyphis fortis, die in Tunesien unter Afrikas Sonne leben. Auf Wegen, die über Hunderte Meter kreuz und quer verlaufen können, flitzen die Tiere auf dem heißen Boden hin und her, um Futter für den Nachwuchs zu beschaffen. Sie entfernen sich dabei manchmal bis zu einem halben Kilometer vom unterirdischen Nest – bis sie auf dem kürzesten Weg, schnurgerade und direkt, dorthin zurückkehren. Wollte der Mensch eine ähnliche Leistung wie die Ameise erbringen, müsste er zig Kilometer im strukturarmen Gelände umherlaufen und dann geradlinig zum Ausgangspunkt zurückfinden: eine zweifelsohne ausgesprochen schwierige Aufgabe. Cataglyphis fortis nun nutzt die sogenannte Wegintegration: Die Ameisen sind in der Lage sich zu „merken“, in welche Richtung und wie weit sie sich vom Nest entfernt haben. Daraus „errechnen“ sie den direkten Rückweg. Und zwar bestimmen die eleganten Wüstenbewohner ihre Laufrichtung mittels eines Sonnenkompasses. Anhand des Polarisationsmusters des Sonnenlichtes, das sie mit speziellen Sehzellen am oberen Rand ihrer Augen wahrnehmen, können die Tiere erkennen, um wie viel Grad ihr Weg jeweils vom Stand der Sonne abweicht. Spezielle Kompassneuronen im Ameisenhirn verrechnen diese Informationen – und ermöglichen so einen Rückweg auf kurzer Strecke. Wie die Insekten jedoch bestimmen, welche Entfernung sie genau im Zuge ihrer „Ausflüge“ zurücklegen, ist noch nicht ganz geklärt, da sie wohl nicht über einen optischen Kilometerzähler verfügen wie etwa Bienen. Vieles deutet darauf hin, dass bei ihnen eine Art Schrittzähler mitläuft. Wie gelingt es nun aber den Seehunden, lange Zeit im Meer herumzustreifen und dann auf direktem Weg zurück zum Ausgangspunkt zu finden? Den entsprechenden Experimenten sieht das Lichtenberg-Team jedenfalls mit Spannung und Vorfreude entgegen. Die Wegstreckenversuche werde man allerdings zu Beginn nicht mit jedem Tier riskieren, schränkt Dehnhardt ein. „Ich bin mir eigentlich sicher, dass alle zu uns zurückkommen, aber bei dem einen oder anderen denke ich manchmal doch: Wer weiß, vielleicht nutzt der die Gelegenheit und macht sich auf nach Schweden“, grinst er. Die Versuchsaufbauten planen und bauen die Wissenschaftler übrigens meistens selbst. „Jeder muss hier mit Flex und Stahlbohrer umgehen können“, sagt er. Da trenne sich schon mal die Spreu vom Weizen. Spreu seien dabei jene, die vor allem Impulse 01_2016 123 „Seehunde sind in der Lage, Bewegungsmuster, die durch die Eigenbewegungen der Tiere von der sie umgebenden Umwelt im Auge entstehen, zu interpretieren“, sagt Dr. Frederike Hanke von der Robbenforschungsstation. Worüber die Biologin spricht, wird „Optischer Fluss“ genannt. Auf dieses Untersuchungsfeld will sich das Team künftig als eines von zweien im letzten „LichtenbergJahr“ konzentrieren. aus „romantischen Gründen“ kämen, um mit den Tieren forschen zu wollen. „Doch das sind keine Kuscheltiere“; eine gewisse Strenge im Umgang sei stets notwendig. So braucht es Handfestigkeit etwa beim täglichen Gesundheitscheck – eine Zahnkontrolle erhält plötzlich ein anderes Gesicht, hat man das Gebiss der Raubtiere einmal unmittelbar vor Augen oder die Finger dazwischen. Auch das Abtasten von Körper und Flossen auf der Suche nach möglichen Verletzungen oder Schmerzen gehört dazu und will ohne Angst erledigt sein. Denn die spüren die Tiere sofort. Vier bis sechs Wochen müssten potenzielle Teammitglieder daher erst einmal „zur Probe arbeiten und forschen“, wie Dehnhardt es nennt, bevor entschieden werde, ob jemand ins Team passt; ein Team, das sich eben zusammensetzt aus Mensch UND Tier. „Wir haben eine große Verantwortung den Tieren gegenüber“, sagt Dehnhardt. „Das ist die Schwelle, an der sich alles messen lassen muss!“ Engagement auch in der Lehre bis hin zum Aufbau und zur Konzeption von Studiengängen Dehnhardt hat viele angehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in all den Jahren betreut: Aktuell gehören vier Postdoktoranden, sechs Doktoranden, drei Masterstudentinnen sowie eine Staatsexamenskandidatin und ein Bachelorstudent zum Team. Die Vielzahl der durch die Bachelor- und Masterstudiengänge zu betreuenden Abschlussarbeiten machte es erforderlich, dass Dehnhardt eine neue Tiergruppe zu Forschungszwecken einführte: Kopffüßer. Sowohl 124 mit Kraken als auch Sepien arbeiten jene Studierenden, die – zumeist aus den beiden Masterstudiengängen „Meeresbiologie“ und „Diversität und Evolution“ der Universität Rostock – den Weg zum Marine Science Center finden. „In eine gute Ausbildung der Studierenden zu investieren, ist entscheidend“, betont Dehnhardt. „Schließlich wollen wir und braucht die Gesellschaft exzellente Wissenschaftler und Forscher“. Bei der Konzeption des Masterstudiengangs „Diversität und Evolution“ sei ihm wichtig gewesen, dass umfassende Kenntnisse über den Artenreichtum, die Vielfalt organismischer Strukturen und Baupläne sowie die ihnen zugrunde liegenden evolutionären Zusammenhänge vermittelt werden. „Meine Kollegen und ich legen zudem Wert auf grundlegende theoretische Kenntnisse sowie für die Praxis erforderliches Methodenwissen der Taxonomie, Systematik und Morphologie sowie der Molekularbiologie.“ Der Studiengang beinhalte dabei nicht nur den zu erwartenden detaillierten Einblick in die vielfältige Welt der Pflanzen und Tiere, sondern bringe den Studierenden bereits früh ausgewählte Aspekte der Biodiversitätsforschung und der evolutionären Morphologie nahe: etwa das Konzept der raum-zeitlichen Dynamik von Arten und Lebensgemeinschaften oder aber, wie Lebewesen mit ihrer Umwelt interagieren. „Wir vermitteln den Teilnehmern die wissenschaftlichen Grundlagen, um tiefgreifende Veränderungen wie den Artenschwund und Klimawandel einordnen und verstehen zu können“, fasst der engagierte Lehrer und Forscher zusammen.   Der Masterstudiengang „Meeresbiologie“ hingegen sei „hochgradig interdisziplinär“ angelegt. „Wer Meeresbiologie studiert, ist meist äußerst forschungs- und anwendungsorientiert ausgerichtet“, hat Dehnhardt beobachtet. „Diese jungen Frauen und Männer kommen hierher, um wissenschaftlich und gesellschaftlich relevante Fragestellungen in den Bereichen globaler Klimawandel, Eutrophierung oder Meeresverschmutzung zu untersuchen und zu den Problemlösungen beizutragen.“ Großer Standortvorteil sei dabei die enge Verzahnung mit Forschungsaktivitäten weiterer universitärer und außeruniversitärer Einrichtungen als auch die mögliche Spezialisierung im Bereich „regionale marine Ökologie“.   2016 wird’s noch mal auf neue Weise spannend: Dann plant das Lichtenberg-Team „echte Orientierungsexperimente“. Das heißt: Der nächste Schritt führt die Tier-Mensch-Teams auf das offene Meer. Hier trainiert Biologin Yvonne Krüger mit Malte und festigt so auch beider soziale Bindung. Der jüngste Werftaufenthalt der LICHTENBERG wurde betreut von Dr. Lars Miersch – auch er eine der Urkonstanten im Team. Der Physiker und Ingenieur begleitete bereits 2007/08 den aufwändigen Um- und Ausbau des einstigen Fahrgastschiffes in Polen. „Wir haben damals viele Eigenleistungen erbracht. Nur so konnten wir einigermaßen im kalkulierten Kostenrahmen bleiben.“ Man merkt an zahlreichen Details: Vieles trägt Dehnhardts Handschrift. Der Lichtenberg-Professor ist offenkundig auch im Universitätsbetrieb ausgesprochen engagiert. So wartete er im Bachelorstudiengang Biologie mit Lehrveranstaltungen auf, die auch heute noch nicht ganz selbstverständlich zum Ausbildungskanon gehören: Er unterrichtet soft skills wie scientific writing oder kreatives Schreiben und vermittelt nützliches und praktisches Wissen im Bereich Wissenschafts-PR. Und seit dem Wintersemester 2013 ist er zudem Geschäftsführender Direktor der gesamten Biowissenschaften der Rostocker Hochschule, nachdem er zuvor bereits drei Jahre das Amt des Vorsitzenden des Promotionsausschusses innehatte. Guido Dehnhardt i anderen wissenschaftlichen Einrichtungen der Mittelmeeranrainer. Sie ergänzen bestehende Kooperationen unter anderem zu den Universitäten in Edinburgh, Manchester und Bristol in Großbritannien, Tallin in Estland, Lund in Schweden oder zur Texas AM University in den USA. Aber auch mit Zoologischen Gärten wie dem Tierpark Hagenbeck in Hamburg oder dem Nürnberger Zoo arbeiten die Warnemünder zusammen. So ist die schwimmende Forschungsstation zugleich zu einem Zentrum der Meeresbiologie geworden, das sich in immer mehr Farben und Facetten malt. Guido Dehnhardt erhielt 2007 eine LichtenbergProfessur der VolkswagenStiftung, die er seit 2008 an der Universität Rostock realisiert. In jenem Jahr zog die gesamte Forschergruppe mit damals neun Seehunden in eine große Freiwasseranlage im Jachthafen Hohe Düne in Rostock-Warnemünde. Hier wird nun die wissenschaftliche Arbeit, die zuvor viele Jahre über die Universität Bonn und dann später über die Universität Bochum im Kölner Zoo stattfand, weitergeführt. Im Fokus der Forschung stehen die Sinnesorgane sowie die kognitiven Fähigkeiten der Robben. Hierbei interessieren insbesondere, wie die Sinnesorgane in Luft und unter Wasser funktionieren, welche spezifischen Anpassungen speziell auch das Leben im Wasser hervorbringt beziehungsweise bedingt und vor allem, wie die Sinnesorgane zur Orientierung eingesetzt werden können. Die Besonderheit des Lehrstuhls: Besucher können in der Saison täglich der Forschungsarbeit und damit der Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnisse zuschauen. Aktueller Tierbestand: neun Seehunde, zwei Kalifornische Seelöwen, ein Südafrikanischer Seebär, Kraken und Sepien. Und so bedingt eins das andere. Mehr akademischer Nachwuchs erfordert weitere Tiere, damit genug geforscht werden kann – und über die Tiere ergeben sich dann wieder neue Kontakte: durch die Kraken und Sepien beispielsweise gen Italien zur Zoologischen Station in Neapel, aber auch zu 126 Verschnaufpause für die LICHTENBERG: Das Schiff wird überholt und kommt zur Kur Und diese Station namens LICHTENBERG hat sich nun nach gut sieben Jahren erstmals wieder vom Fleck bewegt. Mitte November verließ sie ihren Standort an der Warnemünder Ostmole und wurde die Warnow aufwärts in die Tamsen-Werft nach Gehlsdorf geschleppt. „Das Schiff musste jetzt turnusgemäß überholt werden bis hin zu einem neuen Anstrich“, sagt Lichtenberg (Dehnhardt) über LICHTENBERG (Schiff). „Eigentlich wird das Schiff von Grund auf neu; nur der Name, der bleibt!“ Und von Grund auf heißt auch von Grund auf. Die Technik werde teils kaum wiederzuerkennen sein; die Arbeitsplätze der angehenden Forscherinnen und Forscher werden modernisiert; das ins Deck eingelassene Probebecken wird überdacht, um Experimente standardisiert und vergleichbar auch bei Regen durchführen zu können – und zudem wird das ganze Schiff behindertengerecht umgebaut. „Dazu muss sogar die Reling komplett entfernt und weiter außen angebracht werden, damit die Durchgänge an Deck breit genug auch für Rollstühle sind“, führt Dehnhardt aus. Geplant war ein Aufenthalt von dreißig Tagen – und durchgeplant ist alles. „Nur auf die Farbe für den neuen Außenanstrich haben wir uns immer noch nicht einigen können“, sinnierte der Lichtenberg-Professor noch an jenem Tag im November, an dem das Schiff bereits in die Werft überführt wurde. Betreut wird der gesamte Werftaufenthalt von Dr. Lars Miersch – auch er eine der Urkonstanten im Team. Der Physiker und Ingenieur begleitete bereits 2007/08 den aufwändigen Um- und Ausbau des einstigen Fahrgastschiffes in Polen. „Wir haben damals viele Eigenleistungen erbracht. Nur so war es überhaupt möglich, einigermaßen im kalkulierten Kostenrahmen zu bleiben“, sagt Miersch. Auch diesmal sei es gut gewesen, möglichst viel selbst in der Hand behalten und den Prozess direkt begleitet zu haben. Die Tiere blieben in der Zeit in ihrem angestammten Areal im Wasser und wurden am Standort weiter versorgt. Der „Standort“, wie er von allen immer recht bescheiden genannt wird, ist im Übrigen nicht nur einzigartig in Europa, sondern auch weltweit inzwischen die größte Robbenforschungs- und -haltungsanlage. Kein Wunder, dass Interessierte aus der ganzen Welt vorbeischauen. Rund 45.000 Besucherinnen und Besucher strömten zuletzt zwischen April und November zur Station an der Ostmole. Nach Anmeldung kann man mit den Robben auch schwimmen und tauchen – eine wichtige Finanzierungsquelle für das gesamte Projekt. „Unser Konzept, Forschung hautnah live erlebbar zu machen, ist aufgegangen“, freut sich Guido Dehnhardt. Bis zum September 2016 läuft noch die Förderung über die Lichtenberg-Professur der VolkswagenStiftung, spätestens dann will man finanziell autark sein. „Wir werden wohl auch danach personell klarkommen“, ist der Chef der Station überzeugt, der die Kosten für den eigentlichen Unterhalt der Station allerdings bei dieser Einschätzung ausdrücklich nicht einbezogen hat. Das Engagement der Mitarbeiter rund um Guido Dehnhardt jedenfalls beeindruckt. Ein halbes Dutzend von ihnen ist von Beginn an oder den Großteil der Zeit „an Bord“, und man hat das Gefühl, sie geben wirklich alles für die Tiere und die Station. An einen geregelten Acht-Stunden-Tag denkt hier niemand. Die Station ist rund um die Uhr besetzt; die Wissenschaftler selbst sind es, die abwechselnd die Nachtschichten übernehmen. In manch einem der vergangenen Winter hieß das dann schon mal: alle zwei Stunden raus und Eis aufbrechen. „Man muss das schon lieben, um diese Intensität hier auszuhalten“, bringt es einer aus der Gruppe auf den Punkt. Dehnhardt selbst merkt man in jedem Augenblick an, dass die Nähe, das bedingungslose Vertrauen im Team zueinander und die jahrelange Zusammenarbeit ihm sehr viel bedeuten und eines der Qualitätsmerkmale all des Geleisteten sind. „Sobald ich selbst hier loslege, wechsle ich die Perspektive, denke und sehe die Welt wie eine Robbe“, schiebt er einen letzten Gedanken nach. Oder nein, einen vorletzten. „Wenn ich dann Robbe bin, habe ich für Vieles den richtigen Blickwinkel.“ – Dieser allerletzte Zusatz, der muss noch sein!  November 2015: Die LICHTENBERG wird in die Werft geschleppt. Dort war sie das letzte Mal 2008. Seinerzeit wurde das einstige Fahrgastschiff der DDR in Polen entkernt und in Warnemünde neu aufgebaut. Die LICHTENBERG hat eine wechselvolle Geschichte – 1963 enterten 13 Frauen und Männer aus Ostberlin die damalige „Friedrich Wolf“. Es gelang ihnen, sich trotz Verfolgung unter Beschuss durch Grenzboote der DDR nach Westberlin abzusetzen. Keiner der Flüchtenden kam zu Schaden. Das Boot wurde später wieder an die DDR zurückgegeben, bevor es dann über den „Umweg“ nach Polen seinen Heimathafen in Warnemünde fand. Impulse 01_2016 127 Schwerpunktthema Ins Blaue hinein | OZEANE Mit der Sonne um die Erde Knapp 120 Meter lang, Platz für 40 Wissenschaftler und 35 Mann Besatzung; die Baukosten: insgesamt rund 124 Millionen Euro. Das sind nur einige Eckdaten der Ende 2014 vom Stapel gelassenen SONNE, aktueller Star in Deutschlands renommierter, achtzügiger Forschungsflotte. Sie gilt als weltweit modernstes Schiff seiner Art. Seitdem das schwimmende Hightech-Labor mit wechselnden Forscherteams zu seiner Jungfernfahrt aufbrach, folgen Meldungen über spektakuläre Entdeckungen und Beobachtungen im Monatsrhythmus. „Schwimmendes Hochleistungslabor” oder „die kleine Universität”: Die Ende 2014 im niedersächsischen Papenburg in der Meyer-Werft vom Stapel gelaufene SONNE erntet nur positive Kommentare. Sie kann auf fast allen Weltmeeren operieren. Impulse 01_2016 129 Polarstern Text und Illustration (Idee): Christian Jung // Illustration (Umsetzung): Christian Smit F erdinand Magellan war ein kluger, ein findiger Mann. Im Jahr 1521 stand er mit alkoholischen und womöglich (wenngleich wohl eher wenig wahrscheinlich) anderen Getränken an Deck seines Segelschiffs, das gerade durch die wohltemperierten Gewässer des tropischen Pazifiks schipperte. Reichlich warm sollen sich die Flaschen angefühlt haben, und so lau wollte der erste Weltumsegler seiner Mannschaft den wohlverdienten Dank nun wirklich nicht kredenzen. Was tun? – Schließlich würde es noch 227 Jahre dauern, ehe der Schotte William Cullen die erste künstliche Kühlung erfinden sollte. Nun, Magellan ließ die Flaschen an Seilen befestigt Hunderte Meter hinab in die Tiefen des Meeres. Dort unten, so hatte er zuvor herausgefunden und beschrieben, ist das Wasser immer eiskalt. Und in der Tat soll das kostbare Nass gut gekühlt gewesen sein, als es nach einiger Zeit wieder emporgezogen wurde. Heute weiß man über die tiefe See weit mehr – und vor allem: Man kann mit modernen Geräten unmittelbar Einblick nehmen. Möglich ist und wurde dies nicht zuletzt durch die SONNE; genauer: zunächst durch die alte und nun durch ihre Nachfolgerin, die neue SONNE. Dieses „schwimmende Hochleistungslabor“ oder „die kleine Universität“, wie das Ende 2014 im niedersächsischen Papenburg in der MeyerWerft vom Stapel gelaufene Schiff von vielen Wissenschaftlern genannt wird, kann im 130 Grunde auf fast allen Weltmeeren operieren; die Geräte an Bord ermöglichen dabei – unmittelbar wie mittelbar – Einblicke bis in beeindruckende Tiefen hinab. Das Boot löste zum Jahreswechsel 2014/15 das aus der Fahrt gehende 36 Jahre alte Forschungsschiff gleichen Namens ab, das 1969 zunächst als Fischereischiff gebaut und 1977 für den Wissenschaftsbetrieb umgerüstet worden war. Auf zahlreichen Fahrten kreuzte es vor allem im Pazifischen und im Indischen Ozean; dort ist auch das Nachfolgemodell unterwegs. An dem neuen Hightechschiff, dessen Heimathafen Wilhelmshaven ist, erinnert kaum etwas an seinen legendären Vorgänger. Man hört das Strahlen und auch Staunen in den Stimmen der Wissenschaftler, wenn sie von ihrer Zeit an Bord des neuen Spitzenfahrzeugs der Forschungsflotte berichten: „modernste Ausstattung; weltweit einzigartig; Einblicke in die Tiefsee wie nie zuvor …“ – die anerkennenden Worte nehmen kein Über die Ozeane, de n größten aller Lebe Ende. Im Dezemnsräume, wissen wir na ch wie vor vergleich ber 2014 hatte das sweise wenig. Um di e Meere erforschen zu schwimmende können, sind moder ne Schiffe mit entspr eHochleistungslabor chender wissenscha ftlicher Ausrüstung Fahrt aufgenommen notwendig. Deutschl and verfügt über ein e mit der JungfernFlotte von acht solch er Schiffe für den Ein satz auf allen Meere reise von Kiel nach n und Ozeanen – un d gilt mit dieser Infra Las Palmas – an struktur als eine de r führenden Nationen w Bord insbesondere eltweit .   Forscher vom wisDie Forschungsschiff e SONNE, POLARSTE senschaftlichen RN, HEINCKE, METEOR, M ARIA S. MERIAN, Heimatinstitut der ELISABETH MANN BO RGESE, POSEIDON un neuen SONNE, dem d ALKOR wurden spez iell für die Belange de Institut für Chemie r Meeresforschung ko nstruiert. Sie sind fü und Biologie des r Arbeiten in den Bere ichen Biologie, Geolo Meeres (ICBM) gie, Geophysik, Glaziolog ie, Geochemie, Ozea der Universität nographie und Meteoro logie ausgerüstet. Ih Oldenburg. Seitre Einsatzgebiete sind so vielfältig wie die dem beschäftigMeeresforschung.   ten sich an Bord Welche Kennzahlen Meereskundler und Kerndaten die Schiffe abbilden, da und andere Wiss ze Anleitung igen die Spielsten Seiten. karten auf den näch senschaftler von überall her in begrenzten Zeiträumen von meist vier bis sechs Wochen mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Ozeane, den Folgen des Abbaus von marinen Rohstoffen und Energieträgern; sie untersuchten zahlreiche Einflussfaktoren auf die Ökosysteme und erfassten und analysierten deren Veränderungen. Entdeckung Nummer eins: ein Feld mit mehreren Schwarzen Rauchern von außergewöhnlicher Größe Mitte 2015, der Monat Juli biegt schon mächtig auf die Zielgerade ein, arbeitet sich die SONNE gerade durch den Golf von Mexiko. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Bord untersuchen Kohlenstoffemissionen am Meeresboden, die von vulkanischen Aktivitäten hervorgerufen werden. „Solche Aktivitäten am Meeresboden sind weitgehend unerforscht. Sie stellen ein Risiko dar, können Tsunamis verursachen, Giftstoffe ins Wasser abgeben, und sie bedeuten für die Lebensformen drum herum eine echte Katastrophe“, sagt der Fahrtleiter der „Expedition SO241“ Professor Dr. Christian Berndt vom GEOMAR HelmholtzZentrum für Ozeanforschung Kiel. Die Aktivitäten „seines“ Teams an Bord mit Forschern aus Deutschland, Mexiko, der Schweiz, Norwegen und Taiwan stehen im Zusammenhang mit Beobachtungen zu klimatischen Veränderungen weltweit. Verlässliche Vorhersagen sind nur möglich, wenn – nahezu – alle Faktoren bekannt sind, die das Klima beeinflussen. Aussagen über die Zukunft kann dabei auch der Blick in die Vergangenheit gewähren. Einer Hypothese zufolge haben verstärkte vulkanische Aktivitäten während der Öffnung des Nordatlantiks vor rund 54 Millionen Jahren eine schnelle Erwärmung ausgelöst – Fachleute bezeichnen dieses Ereignis als Paläozän-Eozän-Temperatur-Maximum (PETM). Belege für oder auch gegen diese Vermutung zu finden, war Ziel von „Expedition SO241“, die dafür das Guaymas-Becken im Golf von Mexiko aufsuchte. Es gilt als Modellregion für die Verhältnisse im Nordatlantik am Ende des Paläozäns. 118 m Länge: 10,5 kn Geschwindigkeit: Seezeit: 75 Tage al: on Wissenschaftl. Pers 50 Personen r rd- und Südpolarmee Einsatzgebiete: No BMBF Eigner: Während sich der einmonatige Aufenthalt der Wissenschaftler, die ganz unterschiedliche fachliche Expertise mitbringen, an Bord bereits dem Ende zuneigt, ereilt die Gruppe eine kleine Sensation: Das Team spürt ein bisher unbekanntes Hydrothermalfeld mit mehreren Schwarzen Rauchern auf. Das Besondere – es sind außergewöhnlich große heiße Quellen. Das frisch entdeckte Feld ist rund 500 Meter lang und besteht aus mindestens vier Ablagerungshügeln, jeder bis zu 70 Meter hoch. „Dieser Fund eines Hydrothermalfeldes mit mehreren Schwarzen Rauchern ungewöhnlicher Größe ist wirklich bemerkenswert“, erklärt Geophysiker Berndt. „Er könnte unser Bild davon ändern oder zumindest deutlich schärfen, wie Kohlenstoff von Sedimentbecken in der Tiefsee abgegeben wird. Das hätte grundlegende Konsequenzen für die Abschätzung der Bedeutung magmatischer Systeme auf das System Erde.“ Eigens für die Polarforschung konzipiert, ist die POLARSTERN ausgestattet für Forschung in den Bereichen Biologie, Geologie, Geophysik, Glaziologie, Chemie, Ozeanographie und Meteorologie. Der Vorlauf für Fahrtvorschläge liegt derzeit bei drei bis vier Jahren. Sie untersteht dem Bund als Eigner – ebenso wie die HEINCKE und die METEOR. Im Einzelnen stellt sich das wie folgt dar: Bricht eine kontinentale Kruste frisch auf, folgt eine Phase, in der am Meeresboden Vulkanismus stattfindet. Das magmatische Gestein dringt in die bereits am Meeresboden abgelagerten Sedimente Impulse 01_2016 131 Meteor Als interdisziplinäre Forschungsplattform steht die METEOR Wissenschaftlern der maritimen Meteorologie und Aero- ein. Dort erhitzt dieses Gestein das Porenwasser derart, dass große Mengen Kohlenstoff, der vorher zusammen mit den Sedimenten abgelagert worden war, freigesetzt werden. Das mit dem Kohlenstoff angereicherte Wasser beginnt zur Oberfläche zu wandern; dort entweicht das Gas in die Atmosphäre. Das Forschungsschiff HEINCKE wurde 1990 in Dienst gestellt und gehört zu den mittelgroßen Schiffen. Sie ermöglicht wissenschaftliche Projekte in den Bereichen Biologie und Hydrographie und wird an rund 200 Tagen im Jahr eingesetzt bei einer Vorlaufzeit für Buchungswünsche von zurzeit einem Jahr. Da solche Systeme während der Öffnung des Nordatlantikbeckens vor rund 54 Millionen Jahren weit verbreitet waren, nehmen Forscher an, dass sie für die als PETM bekannte rasante globale Erwärmung zumindest mitverantwortlich sein könnten. Bis jetzt war allerdings unklar, wie intensiv diese Systeme tatsächlich sind oder waren und welche Arten von Kohlenstoffverbindungen sie ausgestoßen haben. „Das Guaymas-Becken im Golf von Mexiko könnte darauf Antworten liefern, denn dort öffnet sich zurzeit ebenfalls ein noch verhältnismäßig junges Ozeanbecken, in dem die ersten vulkanischen Einträge in das Sedimentbecken stattfinden“, sagt Berndt. Heincke Das Team an Bord der SONNE identifizierte mögliche Stellen von Flüssigkeitsaustritten am Meeresboden auf der Basis seismischer Daten und von Fächerlot-Messungen zur betreffenden Unterwasserregion. Das Fächerlot ist eine Art weiterentwickeltes Hightech-Echolot, bei dem die Richtungsauflösung zwischen Sender (hohe Auflösung in Vorausrichtung, breit in Querrichtung) und Empfänger (mehrere Empfangskeulen durch elektronisches Schwenken der Richtkeulen simultan für viele Richtungen) geteilt wird – eben gleich einem Fächer. Sie erlauben im Unterschied zu herkömmlichen Echoloten eine flächige Erfassung des Meeresbodens unter dem Schiff statt wie bisher lediglich von Profillinien. Die entsprechend ausgewählten Plätze wurden dann mit dem Tiefseeroboter HYBIS eingehender untersucht. Schon bei dessen erstem Tauchgang fingen die HYBIS-Kameras Bilder eines ausgedehnten Hydrothermalfelds ein. Dort entweichen mehrere Hundert Grad Celsius heiße Flüssigkeiten dem Meeresboden, aus denen bei Kontakt mit dem kalten Meerwasser sofort Mineralien ausfallen, die sich am Meeresboden ablagern. Die heißen Flüssigkeiten sind mit Methan angereichert, das hoch in die Wassersäule transportiert wird. Großer Andrang – die Forschungsaufenthalte an Bord sind für die nächsten Jahre fest vergeben Länge: 55 m Geschwindigkeit: 12,5 kn Seezeit: Wissenschaftl. Pers on al: 21 Tage 12 Personen Einsatzgebiete: No rdsee und Nordatlant ik Eigner: BMBF 132 „Solche heißen Quellen kennt man vor allem vom mittelozeanischen Rücken. Ein Feld dieser Größe abseits einer ‚Spreizungsachse‘ ist ungewöhnlich“, sagt Berndt. Die Größe und die Aktivität des Systems sprächen dafür, dass hydrothermale Quellen tatsächlich Einfluss auf das globale Klima haben könnten, sofern sie in sich öffnenden Ozeanbecken in großer Anzahl aufträten. „Natürlich ist das jetzt nur ein erster Eindruck, und nach der Expedition müssen wir die Proben und Daten aus dem Guaymas-Becken schnellstmöglich genau analysieren – ich bin aber sicher, wir erhalten faszinierende Ergebnisse“, fasst der Kieler Wissenschaftler zusammen. logie, der physikalischen Ozeanographie, der An Bord allerdings war für angewandten Physik, der ihn und „sein“ internationales Meereschemie, der mariTeam am 24. Juli 2015 erst einnen Botanik, der Zoologie, mal Schluss, dann erreichte die der Bakteriologie und SONNE den Hafen von Guayaquil Mykologie, der Meeresin Ecuador – und dort warteten geologie, der Sedimenschon ungeduldig die nächsten 98 m tologie und der marinen Forschergruppen mit ihren FrageLänge: kn 5 11, Geophysik zur Verfügung. stellungen im Gepäck. UnmittelGeschwindigkeit: Wer mit seinem Projekt bar auf Christian Berndt und seine ge 50 Ta t: ei ez Se an Bord will, muss im Gefährten folgte am 29. Juli „Expe28 Personen : al on rs günstigsten Fall aktuell Pe dition SO242/1“ unter der Leitung . ftl ha Wissensc zwei Jahre warten. von Professor Dr. Jens Greinert ik, Ostsee, Ostnt la At vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum : te ie Einsatzgeb ittelmeer für Ozeanforschung Kiel – zu dieser pazifik,Westindik, M Reise später mehr. Einen Monat BMBF : er gn Ei danach dann, am 29. August, schloss sich die renommierte Meeresforscherin Professorin Dr. Antje startete Boetius mit ihrem Team als „ExpeMitte Dezember 2014 und dition SO242/2“ an; Verweildauer hatte den auf halber Strecke zwischen Afrika und immerhin bis Mitte Oktober 2015. Sie griff ArbeiAmerika gelegenen Mittelatlantischen Rücken ten des Vorgängerteams an Bord auf und richtete zum Ziel. Geleitet wurde sie vom Meeresbodenden Fokus auf die Zusammensetzung benthischer, experten Professor Dr. Colin Devey vom GEOMAR also in der Bodenzone des Meeres vorkommender Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Gemeinschaften lebender Organismen sowie ent„Wir wollten herausfinden, wie Meeresböden entsprechende Ökosystemfunktionen. Zum anderen stehen. Geht die Entwicklung homogen oder eher standen detaillierte biogeochemische Untersusprunghaft vonstatten? Das Gebiet ist für solche chungen auf dem Programm. Untersuchungen sehr gut geeignet, denn hier verläuft die Trennlinie der Kontinente Amerika und Und so nahtlos in der Belegung des Schiffes geht Afrika, die sich immer noch voneinander wegbees immer weiter. Der Andrang ist groß: Noch wegen“, sagt Devey. bevor die neue SONNE im Dezember 2014 über- haupt ihre erste Seemeile zurückgelegt hatte, war sie schon bis Ende 2016 ausgebucht. Und kurz nach der Jungfernfahrt reichten dann die Buchungen bereits bis tief ins Jahr 2017 hinein. Entdeckung Nummer zwei: kegelgroße Knollen, die seltene Metalle enthalten Die Expeditionsteilnehmer brachten von bislang jeder Fahrt spannende Erkenntnisse und spektakuläre Funde mit heim – gleich die erste Forschungsreise SO237 machte von sich reden. Sie An einem der vierzig Fahrttage, unterwegs mitten im Atlantik, zogen die Forscher von SO237 wie üblich eines jener modernen Forschungsgeräte, das ständig im Einsatz ist, routinemäßig an Bord – einen Epibenthosschlitten. Ihn hatte die Crew in die Tiefe gelassen, um Proben von Sedimenten des Meeresbodens hinaufzuholen. Doch statt der Sedimente brachte der Schlitten Manganknollen an Deck. Die Planktonnetze, die zu den Netzbechern führen, in denen die Proben gesammelt werden, seien gefüllt damit gewesen, berichten Teilnehmer der Fahrt. Manche der Knollen seien so groß Impulse 01_2016 133 Maria S Merian MARIA S. MERIAN: Sie zeichnet sich gegenüber anderen Forschungsschiffen vor allem durch ihre gewesen wie Golfbälle, andere gar wie Kegelkugeln. Manganknollen bestehen bis zu maximal knapp einem Drittel ihres Volumens aus dem Metall Mangan und lagern auf dem Meeresboden in Tiefen zwischen 4000 und 6000 Metern. Sie sind zunehmend begehrt wegen ihres Gehalts an seltenen Metallen; Elemente wie Kupfer, Cobalt, Zink und Nickel etwa enthalten sie regelmäßig, wenn auch nur jeweils bis zu maximal einem Prozent. Der Eisenanteil liegt bei 15 Prozent. Die ELISABETH MANN BORGESE wird durch das Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) betrieben. Das IOW führt die Begutachtung von Fahrtvorschlägen durch. Erhält man einen Zuschlag, dauert es etwa ein Jahr, bis man an Bord gehen und forschen kann. Eigner von ihr und ihrem Schwesternschiff, der MARIA S. MERIAN, ist das Land MecklenburgVorpommern. Zur gleichen Zeit an Bord, mit ganz anderen Forschungsfragen im Gepäck, ist damals die Meeresbiologin Angelika Brandt. Die Professorin an der Universität Hamburg und ausgewiesene Expertin für wirbellose Tiere will im Atlantik erkunden, wie sich die Zusammensetzung der Meeresfauna und -flora östlich und westlich des Mittelatlantischen Rückens unterscheidet. Auch ihre Begeisterung über den Manganknollenfund ist hörbar, wenn sie von einer „absolut überraschenden Entdeckung“ spricht. Der Anblick habe nicht nur – das sei ja weniger überraschend – die Biologen im Team elektrisiert, sondern gerade auch die Geologen. Und die stimmen zu, denn bislang seien substanzielle Vorkommen von Manganknollen nur aus dem Pazifik bekannt gewesen. Per Zufall nun war die Crew im Atlantik auf ein circa 5000 Meter unter dem Meeresspiegel liegendes Feld dieser Klumpen gestoßen. Der Blog wird rege betrieben und hat zahlreiche Leser. Viele Teilnehmer der Fahrten schreiben regelmäßig über ihre Erfahrungen und Erlebnisse, und beileibe nicht nur über Forschung. Der allererste Eintrag Mitte Dezember 2014 ist hier ebenso wegweisend wie stilbildend: „Nachdem die Wissenschaftler am 14. Dezember in Las Palmas, Gran Canaria, angekommen und vom Agenten auf das neue FS SONNE gebracht worden waren, wurden die Kammern verteilt. Nach dem Abendessen wurden erst einmal die persönlichen Gegenstände verstaut. Als dann die Reisepässe aller Wissenschaftler von den örtlichen Behörden gescannt worden waren, war um 20.30 Uhr Auslaufen des FS SONNE, und alle, aber auch alle versammelten sich auf den verschiedenen Decks, um das Auslaufen aus dem Hafen von Las Palmas und die Passage vorbei an verschiedenen großen Kreuzfahrtschiffen und Fähren hautnah zu erleben“. Der Fund und Fang der Manganknollen während der ersten Reise des neuen deutschen Tiefseeforschungsschiffs war übrigens – wie so oft in der Wissenschaft – eine für alle Beteiligten überraschende, spektakuläre Beigabe. Eigentlich waren Im Blog der Expeditidie Teilnehmer der onsteilnehmer (www. Expedition SO237 oceanblogs.org/so237) finausgefahren, um det sich für jenen Tag folim Atlantik die Biogender Eintrag: „Gewöhnlogie und Geologie Länge: lich setzen Geologen und der „Vema Fracture 56,5 m Geschwindigkeit: Biologen verschiedene Zone“ genauer zu 11 kn Geräte ein, um an ihre untersuchen, der Seezeit: 14 Tage spezifischen Proben zu größten StörungsWissenschaftl. Pers onal: gelangen; in diesem Falle zone im Verlauf 12 Personen war es sehr schön zu sehen, des sich in Nord- Elisabeth Man n Borgese Einsatzgebiete: Eigner: 134 wie sich beide Gruppen über eine gemeinsame Probennahme gefreut haben und in wissenschaftlicher Faszination vereint waren.“ Ostsee Mecklenburg-Vorpom mern Greinert vom GEOMAR Süd-Richtung Helmholtz-Zentrum durch den ganzen für Ozeanforschung Ozean ziehenden Kiel ein internationamittelatlantischen les WissenschaftsRückens. Doch Pläne 95 m team auf der Länge: können sich manchkn ,5 12 SONNE. Der Gruppe mal schnell ändern, Geschwindigkeit: gehörten Kollegen und so blieb auch ge Ta 35 t: ei ez Se aus Deutschdie aus den Tiefen 22 Personen : al on rs Pe . land, Portugal, emporgezogene Entftl ha sc Wissen Großbritannien, deckung nicht ohne olare , Nordmeer, bp Su : Belgien und den Folgen. Da inzwite ie eb Einsatzg eer elm itt M ik, nt la at rd Niederlanden schen bekannt ist, No n an. dass in bestimmten er m Mecklenburg-Vorpom : er gn Ei Gebieten des Pazifiks Sie alle sind größere Vorkommen sich einig: Der Einsatz an Manganknollen neuester Tiefseetechlagern, fiel schnell nik an Bord der SONNE erbrachte sensaschon der Entschluss, tionelle Bilder und Daten vom Meeresgrund. exemplarisch einige dieser Orte mit der SONNE Mithilfe des autonomen Unterwasserfahrzeugs sogar noch in 2015 und dann intensiver in den AUV ABYSS erstellten die Wissenschaftler eines kommenden Jahren wissenschaftlich zu untersuder größten hochauflösenden Fotomosaike von chen. Tiefseeböden, die weltweit bis dato existieren. „Sowohl die Technik, die wir eingesetzt haben, als auch die Ergebnisse sind bemerkenswert“, resüFotomosaike von Meeresböden: faszinierende miert Fahrtleiter Professor Dr. Jens Greinert. „Kunstwerke“ aus 4000 Metern Tiefe Denn ein solcher Fund weckt natürlich Begehrlichkeiten, und der Gedanke an eine mögliche Ausbeutung solch eines Areals – Manganknollen enthalten wie beschrieben diverse seltene, weltweit stark nachgefragte Metalle – liegt nahe. Welche Folgen aber hätte der Abbau von Manganknollen in der Tiefsee? Man stelle sich einfach vor, wie gewaltige unbemannte Raupenfahrzeuge sich auf vorprogrammierten Bahnen über den Meeresboden bewegen und dabei den weichen Untergrund aufwühlen bei der Suche nach Erzknollen. Welche Schäden würde ein derartiger Bergbau anrichten? Wie lange würde die Natur benötigen, die Wunden wieder zu schließen? Mit möglichen Auswirkungen vor allem auf die Umwelt beschäftigte sich im August 2015 unter Leitung von Professor Dr. Jens Eisrandfähigkeit aus. Benannt wurde das Forschungsschiff nach Maria Sibylla Merian, der Begründerin der deutschen Entomologie, die Ende des 17. Jahrhunderts als erste Frau Forschungsreisen größeren Ausmaßes per Schiff unternahm. Wartezeit: zwei Jahre. Arbeitsgebiet der Expedition mit der offiziellen Nummer SO242/1 war das sogenannte DISCOLGebiet im über 4000 Meter tiefen Peru-Becken. DISCOL steht für „DISturbance and re-COLonization Experiment“. Bei diesem Langzeitexperiment pflügten deutsche Wissenschaftler im Jahr 1989 in einem genau definierten, elf Quadratkilometer großen Gebiet mit ausgeprägten Vorkommen an Manganknollen am Meeresboden eine Fläche von etwa 2,5 Quadratkilometern systematisch um. Ziel war es, über lange Zeiträume zu beobachten, welche Auswirkungen solche Störungen in der Tiefsee haben und wie massiv gestörter Tiefseeboden wieder besiedelt wird. Um die Entwicklung zu beobachten, fanden 1992 und 1996 weitere Expeditionen in das Gebiet statt. Jetzt, rund zwei Jahrzehnte nach der bis dato letzten Fahrt ins DISCOL-Gebiet, konnte das internationale Forscherte- Impulse 01_2016 135 Poseidon Die POSEIDON zählt zu den mittelgroßen Forschungsschiffen. Ihr Namensgeber ist der griechische Gott des Meeres. Sie steht vor allem Wissenschaftlern der Ozeanografie, der Meeresbiologie und der Geologie für Forschungsreisen zur Verfügung; sie brauchen derzeit etwa zwei Jahre Geduld, wenn sie einen Buchungswunsch geäußert und einen Zuschlag bekommen haben. 136 am auf der SONNE erstmals wieder den Meeresboden dort genau unter die Lupe nehmen. „Mit ganz anderen Möglichkeiten, denn mittlerweile ist die Tiefseetechnik zum Glück viel weiter als in den 1990er Jahren“, sagt Jens Greinert. Bilder aber erkennen, dass wenige Dezimeter neben den Pflugspuren normales Tiefseeleben 61 m vorhanden ist. Länge: 09 kn „Außerdem hat Geschwindigkeit: die Expedition 21 Tage t: gezeigt, dass Seezei n ne rso Pe 11 die Tiefsee kein : al on Wissenschaftl. Pers unkontrollierr ee elm itt M ik, barer Raum nt la at rd Einsatzgebiete: No sein muss. Schleswig-Holstein Eigner: Wer immer Zu den Technologien, dort mit Bergbau die damals noch nicht beginnen sollte, dem zur Verfügung stankönnte man genau auf den, gehören autonodie Finger schauen. Die me Unterwasserfahrerforderliche Technologie ist zeuge wie das AUV ABYSS. Zwanzig Stunden lang vorhanden“, betont der Experte für Tiefseemonikann es in bis zu 6000 Meter Wassertiefe einprotoring. grammierten Wegen folgen und dabei den Meeresboden mit Fächerecholoten und Seitensichtsonaren präzise kartieren. „Eine zudem erst im Ob im Innern des Schiffs oder außen: vergangenen Jahr neu entwickelte Lichttechnik Hightech, wohin der Blick fällt … ermöglicht zusätzlich gestochen scharfe Farbbilder des Meeresbodens“, erklärt der Kieler WissenÜberhaupt wird bei einem Blick auf den Beleschaftler. Während der Expedition wurden mehregungsplan des Schiffes und die Zwecke und re 100.000 Fotos des Meeresbodens aus wenigen Ziele der Reisen schnell deutlich, wie breit das Metern Entfernung geschossen und anschließend Spektrum an Forschungsthemen ist. Damit diese zu einem Fotomosaik in nie gekannter Auflösung keine bloßen Wunschträume bleiben, verfügt die zusammengesetzt. SONNE über eine erlesene Zusammenstellung an Gerätschaften und Infrastruktur an Bord. Die zahlNoch einen Vorteil bietet das AUV. Während das reichen „Superinstrumente“ für die TiefseeforGerät in den Tiefen autonom seine Bahnen zieht, schung rufen bei den Wissenschaftlerinnen und kann die SONNE an anderer Stelle Proben nehWissenschaftlern regelmäßig Begeisterung hermen. So wird wertvolle Zeit gespart. „Wir haben vor – Greifer, Bojen, Unterwasserroboter beispielsdie Fähigkeiten des Geräts während dieser Fahrt weise, die man schon auf den ersten Blick sieht. voll ausgereizt: Es hat sich fantastisch bewährt“, Und der schweift ja anfangs nur außen herum … schwärmt Greinert, der jetzt mit seinem Team, zurück in Kiel, die gesammelten Daten, Karten, Im Inneren des Forschungsschiffes dann noch Fotos und Proben genauer analysiert. „Schon die mehr Hightech. Das Neueste vom Neuesten, ersten Eindrücke sind äußerst interessant“, sagt wohin man schaut. Ein Hydroakustiklabor etwa: er. Die Pflugspuren von 1989 sind nach wie vor ein fensterloser Raum mit mehreren Bildschirmen messerscharf zu sehen und die gestörten Bereiche an den Wänden. Denn das Schiff verfügt über noch nicht wieder besiedelt. Zugleich lassen die hochauflösende Fächerlotanlagen und weitere Lotanlagen, mit denen sich in Sedimente hineinschauen lässt. Experten für das Lesen und Auswerten der Daten findet man dort nahezu rund um die Uhr, so scheint es. Innovatives wie schon beschrieben auch beim Echolot, das am Boden des Schiffes sitzt und von dort aus Ultraschall in die Tiefe sendet. Dieser wird vom Meeresgrund reflektiert, und die entsprechenden Echos fängt das Gerät wieder auf. Das Resultat: eine genaue Karte vom Meeresgrund. Jedoch: Bei Seegang können Luftblasen unter den Rumpf geraten und den Ultraschall blockieren – ein altbekanntes Problem der Schifffahrt. Um das zu verhindern, haben sich die Konstrukteure einen Trick überlegt und den Rumpf des Schiffes mit Vor- und Auswölbungen versehen. Diese leiten Luft, die unter die Wasseroberfläche kommt, nach oben ab. Auch bei starkem Seegang sollen so die Echolotanlagen an Bord der SONNE zuverlässig arbeiten. James-Bond-Film denkt. Dort könnte der dreieinhalb Meter große Sensor für elektromagnetische Felder zweifellos als eine jener in den Actionfilmen stets futuristisch anmutenden Erfindungen seinen Einsatz gehabt haben. Das Gerät jedenfalls kann bis in Tiefen von 5000 Metern hinab den Meeresgrund scannen. Es wird nach und nach viel über die Strukturen der Erdkruste verraten. Wieder zurück an Deck, sieht man ein goldgelb lackiertes Gebilde, das irgendwie an ein Fahrradmodell längst vergangener Zeiten erinnert, nur überdimensioniert. Golden Eye heißt das Gerät, bei dessen Bezeichnung man zunächst an einen Zur Ausrüstung zählen darüber hinaus Forschungswinden mit Drähten und Kabeln von bis zu zwölf Kilometern Länge. Das ermöglicht Messungen im äußersten unteren Rand des Weltmeeres. Nicht fehlen darf an Bord natürlich ein Unterwasserroboter, ein Remote Operated Vehicle – kurz: ROV. Zwei Piloten steuern das System vom Schiff aus. Mehrere Kameras am ROV liefern hochpräzise Fotos in bislang für solche Systeme unter Wasser nicht erreichter Qualität. Mit fremd gesteuerten Greifern wiederum lassen sich Proben vom Meeresboden heraufholen und gleich an Bord mithilfe zahlreicher Geräte analysieren – darunter vieles, was die Wissenschaft derzeit an Neuestem in Analyse und Experiment zu bieten hat. Alkor Bald schon soll Golden Eye im Indischen Ozean zum Einsatz kommen und dort insbesondere Mineralien am Meeresboden detektieren. Das Ziel ist hier durchaus vornehmlich ein ökonomisches: Es geht um Bodenschätze, es geht um Rohstoffe. Denn im Indischen Ozean hat sich die Bundesrepublik Deutschland ein Lizenzgebiet gesichert, um die Suche nach Kupfer, Kobalt, Indium und Selen zu erforschen – sämtlich Elemente, nach denen die heimische Industrie immer lauter ruft. Die ALKOR zählt wie ihr Schwesternschiff HEINCKE zu den mittelgroßen Forschungsschiffen. Eigner ist jedoch nicht der Bund, sondern – wie bei der POSEIDON – das Land Schleswig-Holstein. Auch Sport an Bord gibt’s: ein paar Angebote für die wenige Freizeit – immerhin Länge: 55 m Geschwindigkeit: 12,5 kn Seezeit: Wissenschaftl. Pers on al: Einsatzgebiete: Eigner: 21 Tage 12 Personen Neben hypermoderner Technik besticht das Schiff durch relativ große Wohnräume, Bibliothek und Besprechungszimmer nebst zahlreichen Aufenthaltsräumen. Sie sollen dazu beitragen, das Leben der 35 Besatzungsmitglieder und von bis zu vierzig Wissenschaftlern auf den wochenlangen, Nord-und Ostsee Land Schleswig-Holste in Impulse 01_2016 137 Son n e Mit der Indienststellung der neuen SONNE Ende 2014 begann technisch gesehen eine neue Ära. Das Schiff steht allen meereswissenschaftlichen Disziplinen zur Verfügung. Forscher müssen sich derzeit auf zweieinhalb Jahre Wartezeit einstellen. arbeitsintensiven Fahrten so angenehm wie möglich zu gestalten. Denn wenngleich die SONNE zuallererst ein Arbeitsschiff ist, gibt es Angebote für die wenige Freizeit wie etwa einen gut ausgestatteten Sportraum, Sauna und fürs Deck ein nach Bedarf mobil aufbaubares Schwimmbad; ebenso wenig fehlen eine Messe und eine Bar samt Lounge. Ein bisschen Abwechslung braucht es schließlich, kann doch die SONNE fast zwei Monate lang ohne Unterbrechung auf See bleiben. Erst dann muss sie einen Hafen anlaufen, um Treibstoff und Vorräte zu bunkern. Hintergrund i Die deutsche Forschungsflotte Deutschland verfügt über eine Flotte von acht Forschungsschiffen für den Einsatz auf allen Meeren und Ozeanen weltweit. Die Palette reicht von kleinen, regional operierenden Einheiten für die Fahrt entlang von Deutschlands Küsten bis hin zu modernen, hochseetüchtigen Spezialschiffen, die auch die entferntesten Meeresgebiete erreichen können. Unter „deutscher Forschungsflagge“ können zwei weitere Schiffe neben der SONNE in allen Ozeanen operieren: die POLARSTERN, die vor allem in den Gewässern der Arktis und Antarktis unterwegs ist, und die METEOR, die im Atlantik, im Mittelmeer und im Indischen Ozean kreuzt. Fünf Schiffe hingegen sind spezifisch regional im Einsatz, in Nord- und Ostsee, Nordatlantik und Mittelmeer: die MARIA S. MERIAN, die POSEIDON, die ELISABETH MANN BORGESE, die ALKOR und die HEINCKE. Insgesamt gilt die deutsche Forschungsflotte im internationalen Vergleich als sehr gut aufgestellt und mit führend. Diese Flotte ermöglicht es Wissenschaftlern, die Weltmeere umfassend zu bereisen und zu erforschen – egal, ob der Fokus sich auf biologische, physikalische, geologische oder chemische Prozesse im Meer richtet. Wie kommen Interessierte an ihre Tickets? Alle Wissenschaftler, die an öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen arbeiten, 138 Nicht nur die Expeditionsteilnehmer zeigen sich im Übrigen angetan von dem Schiff, dessen Komfort und Hightechgerätschaften. Auch die Crew stimmt in den Chor der Begeisterten ein: „Das Schiff hat nach meiner Einschätzung eines der besten Verhalten auf See; vom Seegangsverhalten her hat es eine ziemlich gute Seele“, sagen sie alle so oder so ähnlich – bis hinauf zum Kapitän. Dreißig Jahre soll die neue SONNE der deutschen Wissenschaft nun als schwimmende Forschungsplattform vor allem im Indischen und Pazifischen Ozean dienen.   Apropos schwimmende Forschungsplattform: Mit dem hin und wieder durchaus mal unsteten, schwankenden Boden unter den Füßen haben offenbar nur einzelne der zumeist klassischen Landratten unter den an Bord gehenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Probleme. Ein Mitglied der Crew fügt nach kurzer Pause noch augenzwinkernd hinzu: Bei der ersten Fahrt habe man beim Verlassen des Ärmelkanals stürmische See gehabt, aber die SONNE habe so gut im Wasser gelegen, dass es verblüffenderweise keine Ausfälle aufseiten der Wissenschaftler gegeben habe.  können die genannten Schiffe für ihre Experimente nutzen. Dazu müssen sie Fahrtvorschläge beim „Portal deutsche Forschungsschiffe“ einreichen. Eine Begutachtung entscheidet dann darüber, wer zum Zuge kommt (www.portal-forschungsschiffe.de). Bei der Auftragsvergabe hatte sich die Tiefseeforschungsschiff GmbH – ein Zusammenschluss der Meyer-Werft in Papenburg und der Bremer Reederei RF Forschungsschiffahrt – in einem europaweiten wettbewerblichen Ausschreibungsverfahren gegen starke Konkurrenz durchgesetzt. Der Auftrag gab nicht nur einen kräftigen Impuls für die deutsche maritime Wirtschaft, er sicherte auch Arbeitsplätze in der hiesigen Werftindustrie, der Reederei sowie bei zahlreichen deutschen Zulieferbetrieben. Die Kosten für die Finanzierung der Schiffe tragen Bund und Länder. Das Prozedere lässt sich am Beispiel der SONNE gut aufzeigen. 2008 verständigten sich der Bund und die Küstenländer Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen auf den Bau des neuen Tiefseeforschungsschiffes. Der Wissenschaftsrat hatte dies zuvor empfohlen und den geplanten Neubau in die erste Kategorie der ohne Auflagen förderungswürdigen Forschungsinfrastrukturen eingeordnet. Im August 2011 unterzeichneten die damalige Bundesforschungsministerin Annette Schavan und die seinerzeitige niedersächsische Wissenschaftsministerin, heutige Bundesforschungsministerin Johanna Wanka auf der Neptun-Werft in Rostock-Warnemünde den Vertrag zum Bau und zur Bereederung des neuen Tiefseeforschungsschiffes SONNE. Nach einer Bauzeit von zwanzig Monaten und mehrwöchigen wissenschaftlichen Erprobungsfahrten wurde Deutschlands jüngstes Forschungsschiff schließlich Mitte November 2014 der Wissenschaft übergeben. Es ist nach neuesten Standards ausgerüstet: nicht nur hinsichtlich benötigter ForschungsHightech, sondern auch mit Blick auf Energieeffizienz und ökologische Rahmensetzungen. 116 m Länge: 12,5 kn Geschwindigkeit: Seezeit: 21 Tage al: on Wissenschaftl. Pers Einsatzgebiete: 40 Personen Indik, Pazifik Eigner: Die Kosten in Höhe von 124,4 Millionen Euro übernahm das Bundesministerium für Bildung und Forschung zu 90 Prozent; die Küstenländer investierten im Verbund zehn Prozent, wovon Niedersachsen als Sitz des wissenschaftlichen Heimatinstituts an der Universität Oldenburg und des Heimathafens Wilhelmshaven mit sieben Millionen Euro allein gut die Hälfte trägt. Nach dem gelungenen Neubau der SONNE zeigt derzeit Deutschlands größtes Forschungsschiff, die vor 35 Jahren in Dienst gestellte POLARSTERN, zunehmend Alterserscheinungen. Anfang 2015 musste eine Antarktisexpedition abgebrochen werden, weil es Probleme mit dem Antriebssystem gab. Die Ausschreibung für ein Nachfolgeschiff läuft bereits; 2020 soll dessen Jungfernfahrt anstehen. Und Anfang Oktober 2015 wurde beschlossen, die tief in die Jahre gekommenen Schiffe METEOR und POSEIDON ebenfalls zu ersetzen – und zwar durch ein Schiff, dessen Heimathafen Kiel sein soll. Nach BMBF Expertenmeinung lassen sich die Forschungsaufgaben künftig auf nur einem Schiff konzentrieren, da sich das Einsatzspektrum von Forschungsschiffen heute dank modernster Technik deutlich erweitert hat. Die Bauplanung für das neue Schiff beginnt 2016; entsprechend gibt es zu Größe und Kostenrahmen noch keine Zahlen. Zurück zur SONNE: übereinstimmenden Einschätzungen zufolge absehbar das einzige europäische Forschungsschiff, das noch permanent im Indischen und im Pazifischen Ozean unterwegs ist. Damit wird sein Einsatz für die Wissenschaft umso bedeutender, da beide Weltmeere großen Einfluss haben auf das Weltklima, dessen Erforschung immer wichtiger wird. Wissenschaftler an Bord der SONNE arbeiten aber auch – das zeigt eine Auflistung geplanter Forschungsthemen – an der Beantwortung weiterer wissenschaftlich und gesellschaftlich relevanter Fragen. Sie interessiert unter anderem die Versorgung mit marinen Rohstoffen oder die Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die maritimen und küstennahen Ökosysteme. Für eine Meeresforschung im Verbund ganz unterschiedlicher Disziplinen bietet das neue Schiff jedenfalls beste Voraussetzungen. Damit verfügt die deutsche Meeresforschung künftig in Europa über ein Alleinstellungsmerkmal.  Christian Jung Link:  www.deutsche-meeresforschung.de/de/forschung Impulse 01_2016 139 Schwerpunktthema Ins Blaue hinein | OZEANE Steife Brise für die Steckdose Die Energiewende zu meistern, stellt eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit dar. Im Mix der Energieformen ist dabei die Windenergie ein entscheidender Baustein, Probleme der Energieversorgung zu lösen. Immerhin rund ein Zehntel des Stromverbrauchs in Deutschland wird von Windenergieanlagen gedeckt. Besonderen Herausforderungen sehen sich Offshore-Anlagen ausgesetzt – aber sie bieten auch große Chancen. Hunderte Kilometer Küste, viel Wind, offenes Wasser: Deutschland scheint wie geschaffen für das Erzeugen von Windenergie, vor allem offshore. Schon jetzt haben die Energiekonzerne reichlich Windräder ins Meer gestellt. Zahlreiche Jobs sind entstanden. Doch für einen gelungenen, nachhaltigen Übergang zu „grüner“ Energieversorgung bleibt eine Menge zu tun. Forscher aus Niedersachsen sind vorn mit dabei. Impulse 01_2016 141 Text: Christian Jung // Illustrationen: Dorota Gorski I rgendwie typisch, dieser Tag. Die Wolken pressen, der Himmel hängt tief, das Wasser geht schwer. Und dann dieser Wind. Er scheint die Wellen nach Willkür hin und her zu werfen und zu schieben, als wollte er, wäre das möglich, jedem einzelnen Wassermolekül die Luft abdrücken. Zwischendrin besonders heftige Böen. Ein gewöhnlicher Tag eben, hier, im Spätherbst, an der Nordsee. Enorme Windstöße, Tornados inzwischen auch in unseren Breiten, reichlich Regen und manchmal Blitzeinschläge: Wovor der Mensch fliehen kann, müssen Windenergieanlagen an vielen Tagen im Jahr aushalten – und jene auf hoher See oft umso heftiger und ungeschützter. Dort zerren zusätzlich Wellen, Salzwasser und ungebremste Stürme mit unglaublicher Kraft und Wucht an Material, Stabilität und Standfestigkeit von Stahlrohren und Rotorblättern. Sie müssen diesen Unbilden der Natur standhalten. Wie aber kann man wirklich gewiss sein, dass die Technik sicher und zuverlässig läuft und das Material hält? Sucht weltweit seinesgleichen: Das neue Testzentrum für Tragstrukturen mit riesigen Prüfanlagen In Niedersachsen, Deutschlands Windstromerzeu­ gungsland Nummer eins, tut man einiges, solche Fragen zu beantworten und generell Forschung auf diesem Zukunftsfeld zu stärken. Ein enormer Sprung gelang im Herbst 2014: Damals nahm in der Landeshauptstadt eine der weltweit größten und modernsten Versuchs- und Erprobungsanlagen ihre Arbeit auf – das Testzentrum für Tragstrukturen Hannover (TTH). Die Anlage am Rande der Halbmillioneneinwohnerstadt ist eines der spektakulärsten wissenschaftlichen Neubauprojekte des Landes und wurde nach nur knapp zwei Jahren Bauzeit eröffnet. Dort können Forscher unter definierten Bedingungen ganze Windräder oder deren Komponenten gezielt auf den Prüfstand stellen. Zwei europaweit einzigartige Großversuchsanlagen stehen ihnen dafür in dem Prüfzentrum mit seiner rund zwanzig Meter hohen Versuchshalle neben Laboren und Werkstätten zur Verfügung. 142 In dem Testzentrum für Tragstrukturen erwartet die Forscher zum einen das 18,5 Meter lange und zehn Meter breite „Spannfeld“. Es dient insbesondere der mehraxialen Prüfung von Strukturen und realen Komponenten. Hier traktieren die Experten etwa ­Turmsegmente oder Stützstrukturen mit enormen Kräften und stellen im Zeitraffer die Belastungen nach, denen die Anlagen unter Extrembedingungen – etwa durch Monsterwellen und brachialen Wind – ausgesetzt sind. Die „Zutaten“ für solche Versuche: eine 200 Quadratmeter große Betonplatte, an zwei Seiten begrenzt von einer hohen rechtwinkligen Betonwand. Zwischen beide, Boden und Wand, lässt sich ein „Prüfling“ einspannen, zum Beispiel das Stützrohr eines Windrades. 14 Hydraulikzylinder ziehen dann quasi die Daumenschrauben an und drücken, zerren und pressen auf Knopfdruck – bis zu 200 Tonnen wirken so auf ein Testobjekt ein. Wem das nicht reicht, der kann sein Objekt in einer Klimakammer durch Temperaturwechsel im Zeitraffer künstlich altern lassen oder befördert vorzeitige Materialermüdung durch Besprühung oder Vernebelung mit Salzwasser. Die zerstörerischen Kräfte wirken so lange, bis der Prüfling – durch welche Kraft auch immer – kaputt ist: sich biegt, bricht oder birst. Feinste Messfühler zeichnen bis zum bitteren Ende alles auf; auch Ultraschall lässt sich versuchsbegleitend zum Durchleuchten einsetzen. In Anlage Nummer zwei, einer zehn Meter ­tie­fen „Grundbauversuchsgrube“, erproben Forscher an Modellen im Maßstab 1:10 zum Beispiel – dazu später mehr – Ideen für anders geartete Verankerungen von Windrädern im Meeresboden. In dem überdimensionierten Sandkasten simulieren sie Vor- und Nachteile verschiedener Bauverfahrenstechniken – dabei stets das wichtigste Ziel vor Augen, eine Windenergieanlage so sicher und effizient wie irgend möglich im Meeresgrund zu verankern. Ebenso gut lässt sich hier das Tragverhalten zyklisch beanspruchter Strukturen untersuchen oder eine neue Installationstechnik ausprobieren. Insgesamt kostete der Bau des Testzentrums für Tragstrukturen in Hannover-Marienwerder 26 Millionen Euro, rund zehn Prozent der Baukosten stammen aus dem „Niedersächsischen Vorab“ von Land und Stiftung. Substanzielle Unterstützung steuerten auch der Bund und die Europäische Union bei – und die Leibniz Universität Hannover beteiligte sich mit 2,8 Millionen Euro. Die Errichtung der gesamten Anlage ist Teil einer umfassenderen Kooperationsvereinbarung zwischen der Hochschule und dem Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik Nordwest (IWES); beide unterzeichneten unlängst einen Kooperationsvertrag über gemeinsame Aktivitäten im Bereich der Windenergieforschung. Forschen für Sicherheit, Funktionsfähigkeit, Kostenminimierung und sparsamen Verbrauch Durch die im Zentrum für Tragstrukturen möglichen Tests unter realitätsnahen Bedingungen will das Fraunhofer IWES mit seinen Projekten die Zeit bis zur Anwendungsreife von Tragstrukturdesigns deutlich verkürzen. „Gerade für Offshore-Windkraftanlagen lassen sich im Testzentrum viele entscheidende Fragen rund um die Stabilität und Haltbarkeit der zahlreichen Komponenten bearbeiten“, sagt Dr.-Ing. Maik Wefer. Der Leiter des Bereichs Strukturkomponenten beim Fraunhofer IWES hofft auf Auftraggeber aus der Industrie und von der öffentlichen Hand. Aktuell untersuchen Forscher im Laborversuch unter verschiedenen, künstlich induzierten Bedingungen im Zeitrafferverlauf insbesondere die Beanspruchung von Tragstrukturen aus den Materialien Stahl, Guss, Beton sowie aus Hybridmaterialien. Ziel ist es, Schäden verursachende Prozesse oder Gegebenheiten auch in der Realität frühzeitig zu erkennen und Tragstrukturen weiter zu optimieren. Im Wesentlichen sind es drei große zentrale Herausforderungen, die es bei Offshore-Windkraft zu bewältigen gilt: die sichere und wirtschaftliche Verankerung der Anlage im Meeresboden, umweltschonende Installationstechniken sowie eine möglichst genaue Vorhersage der Lebensdauer. Wie wichtig die Suche nach richtigen Antworten ist, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Funktionsfähigkeit und Sicherheit der Anlagen nicht nur ein hoher Wert an sich sind, sondern eben auch jede einzelne Wartung und Reparatur einer solchen Großanlage auf hoher See äußerst kostspielig ist. Im Herbst 2014 nahm in Norddeutschland eine der weltweit größten und modernsten Versuchs- und Erprobungsanlagen die Arbeit auf – das Testzentrum für Trag­ strukturen Hannover (TTH). Dort können Forscher unter definierten Bedingungen ganze Windräder oder deren Komponenten gezielt auf den Prüfstand stellen. Zwei europaweit einzigartige Großversuchsanlagen stehen ihnen dafür zur Verfügung: das Spannfeld und eine überdimensionale „Sandgrube“. Impulse 01_2016 143 „Gerade der Einsatz von Anlagen in großer Wassertiefe erfordert für zahlreiche Fragen zuverlässige Lösungen auf aktuellem technischen Niveau“, fasst Uwe Beckmeyer, der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie, zusammen. Sein Ministerium hat allein 17,8 Millionen Euro für die Errichtung des Testzentrums bereitgestellt. Dort hält man insbesondere die Erprobung alternativer Materialien und neuer Bauverfahrenstechniken für wegweisend. „Die neue Großeinrichtung kann mit ihren vielfältigen Möglichkeiten Herstellern, Projektierern und Betreibern wertvolle Hinweise liefern“, sagt Beckmeyer. All das ermögliche es, die Kosten der Windenergienutzung zu senken und dabei zugleich umweltschonend und nachhaltig zu agieren als auch die Verfügbarkeit der Anlagen zu erhöhen, führt er weiter aus. Und das wiederum befördere eine erfolgreiche Energiewende. „Von einem raschen Forschung-Praxis-Transfer profitiert zudem der Wirtschaftsstandort Deutschland!“ Das neue Testzentrum für Tragstrukturen in Hannover-Marienwerder kann zweifelsohne einen wichtigen Beitrag leisten, die Windenergieforschung hierzulande noch weiter voranzubringen. Umso mehr, als es Teil des übergreifenden Verbunds „ForWind“ ist. ForWind bündelt die Kompetenzen auf dem Gebiet der Windenergieforschung der Universitäten Hannover, Oldenburg und Bremen sowie des Fraunhofer IWES und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Gegründet wurde die vereinte Windenergieforschung im Jahr 2003. Da seinerzeit auch die Politik verstanden hatte, dass sich durch die längst anrollende Energiewende die ganze Prozesskette der Energieversorgung immer schneller neu justierte, gelang es, die unzweifelhaft vorhandene wissenschaftliche Expertise auch finanziell zu unterfüttern. Und so wurde ForWind seitdem – einschließlich erster vorbereitender Arbeiten – aus dem „Niedersächsischen Vorab“ bis heute, also Ende 2015 mit rund 20 Millionen Euro gefördert. Eine erfolgreiche Energiewende bedarf technologischer Innovationen. Entscheidende Schritte gab es früher bereits von Zeit zu Zeit. Die Windräder von heute erinnern immerhin noch an ihre einstigen Vorläufer, die Windmühlen, die allerdings zuvorderst einem anderen Zweck dienten. 144 Der Verbund ist als einziges Forschungszentrum in verschiedene wissenschaftliche Begleitvorhaben aller drei bisher installierten deutschen Offshore-Windparks eingebunden. „Wir untersuchen zum Beispiel, wie sich die Trägerstruktur der Windräder verbessern lässt“, erklärt Stephan Barth, Geschäftsführer von ForWind. Dabei gehe es um deren sichere Verankerung im Boden, eine längere Lebensdauer der Rotoren oder um günstigere Produktionskosten. Die Forscher tüfteln unter anderem an einer neuen Generation von Rotorblättern. Ziel ist es, dass Windenergieanlagen möglichst effizient und geräuscharm arbeiten und letztlich ein optimales Zusammenspiel aller Windräder in einem Windpark erreicht wird. Im Blick des Forschungsverbunds „ForWind“: die gesamte Prozesskette der Energieversorgung Die Forschungsallianz leiste zweifelsohne weit über die Grenzen des Landes hinaus einen herausragenden Beitrag zum Gelingen der Energiewende, freute sich Niedersachsens Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajic, als ForWind unlängst mit dem Norddeutschen Wissenschaftspreis 2014 ausgezeichnet wurde. Der Jubel war groß. Denn mit 50.000 Euro prämiert wurde eine stabile Zusammenarbeit von Energieforschern, die seit mehr als einem Jahrzehnt ausgezeichnet funktioniert und die reichlich Früchte getragen hat. Mit der Entscheidung würdigten die Wissenschaftsressorts der norddeutschen Länder die „vorbildliche institutionenübergreifende und interregionale Zusammenarbeit“ der Beteiligten, hieß es anlässlich der Preisübergabe Ende November 2014 im Alten Rathaus Hannover. Immerhin vereinigt ForWind die Aktivitäten von dreißig in der Windenergieforschung engagierten Mitgliedsinstituten und Gruppen mit ihrer in Summe breit gespreizten Expertise aus den Ingenieur-, Naturund Wirtschaftswissenschaften sowie der Informatik – verteilt über die Standorte in Bremen, Hannover und Oldenburg. Das Netz verfügt über weltweit einmalige Forschungsinfrastrukturen. Auch aktuell sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um ForWind erneut mit einem Förderantrag erfolgreich: Fünf Millionen Euro erhielt der Verbund in zwei Tranchen Ende 2014 und 2015 aus Mitteln des „Niedersächsischen Vorab“ für das Forschungsvorhaben „ventus efficiens“. Mit den Geldern wollen die Windenergieforscher über die eingebundenen Institutionen hinweg ihren Blick auf die gesamte Prozesskette richten und dabei alle wechselseitigen Abhängigkeiten und Wirkungen prüfen – von der Energieerzeugung und -wandlung in der Anlage über Tragstrukturen und Triebstränge bis zur Anbindung ans Stromnetz. Ihr besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, an welchen Stellen in der gesamten Prozesskette sich Kosten-Nutzen- oder AufwandErtrag-Relationen verbessern lassen. Denn obwohl Windenergieanlagen heute bereits in hoher Qualität hergestellt, errichtet und betrieben werden, ist eine kontinuierliche Steigerung ihrer Effizienz möglich und unabdingbar. Nur so können die Stromentstehungskosten weiter sinken. „Ziel ist es, mit der Windenergie eine wichtige Säule unserer künftigen regenerativen Energieversorgung zuverlässiger und kostengünstiger zu machen“, sagt Professor Dr. Raimund Rolfes von der Universität Hannover, Sprecher des ForWindVorstands. Und Geschäftsführer Dr. Stephan Barth fügt hinzu, dass der Verbund dadurch Niedersachsen als führendes Land in Sachen Energiewende voranbringe. „Insbesondere indem es gelingt, über Erkenntnisse aus dem Projekt sowohl die Stromkosten zu senken, die Betriebsdauer zu verlängern als auch die Qualität der erzeugten und ins Netz abgegebenen Leistung zu steigern, wollen wir entscheidend zum erfolgreichen Umbau des europäischen Energiesystems beitragen“, betonen beide. Das Projekt „ventus efficiens“, das federführend gemeinsam getragen wird von Wissenschaftlern der Universitäten Oldenburg und Hannover, unterstreicht erneut die Spitzenposition, die sich der Nordwesten mit all dem im Verbund ForWind zusammentreffenden Know-how in der Windenergieforschung inzwischen erarbeitet hat. Impulse 01_2016 145 Weitere Projekte i „Die vielen Forschungsanstrengungen bei der Windenergie im Allgemeinen und durch das Engagement von ForWind im Besonderen zeigen beispielhaft, wie Wissenschaft der Gesellschaft dienen kann“, war als Jurystatement anlässlich der 2014er Preisverleihung an den Verbund zu hören. Doch während sich Politik und interessierte Öffentlichkeit noch an den Erfolgen der Gegenwart erfreuen, arbeiten die vielfach geförderten Forscher längst an der Zukunft. Etwa jene im Testzentrum für Tragstrukturen in Hannover-Marienwerder. Mit ihnen kehren wir zurück ans und ins Meer. Aktuell forschen die Ingenieurinnen und Ingenieure dort vor allem an schallarmen Konstruktionskonzepten, insbesondere an entsprechend verbesserten Gründungssystemen für OffshoreWindparks. Ziel ist es, den beim Bau solcher Anlagen unausweichlichen Krach möglichst zu minimieren – bei 160 Dezibel liegt der Grenzwert des unter Wasser maximal zulässigen Lärmpegels. Besonders für Meeressäuger wie Wale oder Robben stellt die Lärmbelästigung ein großes Problem dar (siehe auch Fotoreportage und begleitenden Text dazu ab Seite 6 ff). Längere Haltbarkeit von Windrädern durch Plasma Projektpartnerin Professorin Dr. Gisela Ohms von der Universität Göttingen. Setzt man nun das Harz hinzu, können sich beide Komponenten stärker aneinander heften. „Die Verbundfestigkeit von Rotorblättern an Windkraftanlagen steigt, die Anfälligkeit für Schäden sinkt“, fasst Leck zusammen. Besonders erfreut ist Leck darüber, dass aus dem Forschungsschwerpunkt bislang 36 Bachelor- und 16 Master- sowie drei Promotionsarbeiten zum Thema Plasmabehandlung hervorgegangen sind. Die Göttinger Forscher gelten als führend auf diesem Gebiet. Ihnen ist es gelungen, Plasmaquellen so zu bauen, dass sie das Plasma atmos­phärisch zünden können. Die Geräte müssen somit nicht luftdicht verschlossen sein, und es muss kein spezielles Gas zugeführt werden. Das macht die Quellen kostengünstig und damit interessant für die Industrie. „Unser Verfahren ersetzt latent umweltkritische, chemische Haftvermittler durch einen physikalischen Prozess“, sagt Leck. Zudem brauchen die Plasmaquellen nicht viel Platz oder geschulte Fachkräfte. „Wir wollten ein anwendernahes Verfahren entwickeln“, ergänzt HAWK-Kollege Professor Dr.-Ing. Jens Peter Kärst. Bei so viel gebündelter Expertise überrascht es nicht, dass ihr Projekt vor einigen Jahren mit 800.000 Euro aus Mitteln des „Niedersächsischen Vorab“ auf Spur gesetzt wurde. Im Bereich der regenerativen Stromerzeugung jagt in Deutschland derzeit ein Rekord den nächsten. Durch die steigende Einspeisung von Wind- und Solarstrom steigt allerdings auch die Komplexität im Stromnetz. Im Rahmen des Verbundprojekts AMSES (Aggregierte Modelle für die Simulation von dynamischen Vorgängen in elektromechanischen Energiesystemen) wollen Forscher jetzt untersuchen, was geschieht, wenn immer weniger große, fossil befeuerte Kraftwerke mit ihren rotierenden Turbinen, Generatoren und Schwungmassen benötigt werden. Denn die Schwung­massen wirken stabilisierend auf das Stromnetz – vergleichbar einem drehenden Kreisel, der sich wieder aufrichtet, wenn er aus seiner stabilen Lage ausgelenkt wird. Die Technik ist so alltäglich, dass fast jeder Joghurtbecher und jede Plastiktüte entsprechend behandelt werden: „Damit die Farbe beim Bedrucken haften bleibt!“, sagt Professor Michael Leck von der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen (HAWK). Doch Oberflächen mithilfe eines Plasmaauftrags zu verändern, ist ein Verfahren, das weitaus mehr zu leisten vermag. „Es ist uns gelungen, die Lebensdauer von Rotorblättern stromerzeugender Windräder zu verlängern“, sagt Leck, der das bereits einige Zeit etablierte Verfahren der „Plasmabehandlung“ mit entwickelt hat. Diese Schutzmöglichkeit macht aktuell besonders für Offshore-Anlagen von sich reden. 25 Jahre halten die derzeit gängigen Rotorblätter im Schnitt; alle sechs Jahre hat ein Windrad ein gravierendes Wartungsproblem. Für gewöhnlich bestehen Rotorblätter aus einem Glasfasergewebe und einem Epoxidharz. Problematisch an dieser Faserverbundtechnik ist, dass sich beide Komponenten nicht optimal miteinander verbinden lassen. Hier greift nun das Verfahren der Plasmabehandlung. Zunächst setzt man das Glasfasergelege einem sogenannten atmosphärischen Plasma aus. „Wir haben festgestellt, dass es nach einer Plasmabehandlung Veränderungen in der Oberflächenstruktur gibt“, berichtet 146 Vor sechs Jahren hat Michael Leck federführend den Forschungsschwerpunkt „Plasmabehandlung von Textilglasprodukten zur Performancesteigerung von Verbundrotorblättern von Windkraftanlagen“ initiiert. Neben fünf Teams am Standort Göttingen sind als Partner die Firmen Momentive Performance Materials, Tigres und die PD Fibre Glass Group dabei. 210 Meter Höhe erreicht eine Offshore-Windanlagen insgesamt: 40 Meter davon sind im Boden versunken, 20 Meter nimmt etwa die Wassertiefe. Die Gondel samt Rotorblättern thront dann 90 Meter über der Nordsee; weitere 60 Meter Länge hat jedes der Rotorblätter. Zum Vergleich: Der Kölner Dom ist 157 Meter hoch, der Eiffelturm misst etwa das Doppelte. Weitere Projekte: AMSES und NEDS Wie also verändern sich derzeit die Stabilitätseigenschaften des Stromnetzes? Zu diesem Zweck rechnen, modellieren und simulieren Forscher Entwicklungsszenarien zur künftigen Stabilität des Gesamtsystems. AMSES ist ein Verbundprojekt mehrerer Institute der Leibniz Universität Hannover unter Federführung vom Institut für Energieversorgung und Hochspannungstechnik. Eine Million Euro aus dem „Niedersächsischen Vorab“ stehen bereit. Bis zum Jahr 2050 könnte Deutschland nach neuesten Berechnungen problemlos mit Strom aus regenerativen Energiequellen versorgt sein: Das niedersächsische Verbundprojekt NEDS (Nachhaltige Energieversorgung Niedersachsen) will dazu beitragen, dass das ehrgeizige Vorhaben möglichst schnell Realität wird. In den nächsten vier Jahren werden die dort eingebundenen Wissenschaftler zumindest für Niedersachsen entsprechende Szenarien durchspielen und Entwicklungspfade aufzeigen. Alle Modellierungen unterliegen dabei grundsätzlich einem umfassenden Verständnis von Nachhaltigkeit: Natur und Umwelt sind bei jeglichen Empfehlungen zu denkbaren Entwicklungen und Prozessen zu schonen – das der Leitgedanke. Im Detail geht es auf der einen Seite darum, in welchem Umfang und auf welche Weise der einzelne Bürger die neuen technischen Möglichkeiten wie beispielswiese Smart Home oder Smart Grid nutzt. Dabei interessiert nicht zuletzt auch die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Technologien. Auf der anderen Seite gilt das Interesse der Forscher technischen Fragen bis hin zum Sammeln harter Daten und Fakten über spezifisches Verbraucherverhalten. An dem Vorhaben, das Mitte 2015 startete, sind unter der Federführung der Leibniz Universität Hannover auch die Universitäten in Braunschweig, Oldenburg und Göttingen beteiligt. NEDS wird mit 2,5 Millionen Euro aus dem „Niedersächsischen Vorab“ der VolkswagenStiftung gefördert.  Christian Jung Impulse 01_2016 147 Geräuschquellen gibt es viele: Schiffspropeller wummern durch die Wellen, Ölbohrinseln drehen kreischend ihre Fördertechnik in die Erdkruste; allerorten werden für Gasförderung, Kies- oder Sandabbau Gerätschaften in den Boden geschoben und gerammt. Anderswo graben Radbagger Rinnen für Kabelkanäle in den Tiefseeboden – und unter dem Meeresgrund wird nach neuen Rohstoffquellen gesucht, auch das nicht still und leise. Allein das metallische Krachen und die Vibrationen in der Nähe von Bohrinseln erreichen einen Schalldruck bis zu 180 Dezibel. Lärm reduzieren zum Schutz der Meerestiere: neue Offshore-Konstruktions­konzepte sind überfällig Und unsere Windparks? Beim Rammen der Pfähle oder Stützpfeiler für ein Windrad lässt sich noch in 750 Metern Entfernung eine Lärmbelastung von 170 Dezibel messen. Und pro Fundament braucht es immerhin 2000 bis 3000 Schläge mit der Ramme, bevor ein Stahlpfahl vierzig Meter tief im Boden verankert ist. Der Geräuschpegel bei der Errichtung von Offshore-Windparks überschreitet den Hörtoleranzbereich eines Wals weit. Ihm droht ein Gehörschaden, ein zeitweiliger oder vollkommener Hörverlust. Das kann schnell tödlich enden, denn ohne Gehör können Wale weder kommunizieren noch sich orientieren oder jagen. Oft wird der vom Wal ausgesendete Ton durch andere Lärmquellen im selben Frequenzbereich derart gestört, dass er nahezu ohne seinen wichtigsten Orientierungssinn auskommen muss. Zudem bildet sich manches durch menschliche Technik bedingte Hintergrundgeräusch unter Wasser in einem Frequenzbereich von 20 bis 300 Hertz ab; ein Spektrum, das auch viele Wale nutzen. Versucht eines der Tiere zum Beispiel, in diesen Tonlagen seine Gruppe zu rufen, hört es als Antwort vielleicht ein Murmeln der Schiffe ringsherum, eine Ölbohrinsel oder einen OffshoreWindpark – jedoch oft nicht mehr sein eigenes Biosonar. Allein die schiere Lautstärke der „Nebengeräusche“ reicht oft aus, sein Rufen ungehört verhallen zu lassen. Mal ganz abgesehen davon, dass der zunehmende Lärm Stress bei den sich akustisch orientierenden Tieren auslöst. Durch die Dauerbelastung der Hörorgane mit Lärm wird das Biosonar derart geschwächt, dass die Wale nicht nur weniger Nahrung finden, sondern sich ohne exakte Orientierung auch immer wieder verirren und stranden. Da verwundert es nicht, dass auch die von Walen aufgesuchten Rückzugsgebiete schwinden, in denen sie Ruhephasen einlegen und verharren oder ihre Kälber aufziehen können. Gasvorkommen lokalisiert werden. Ihr Schall hat einen Frequenzbereich von 100 bis 500 Hertz, bei einem Schalldruck von bis zu 260 Dezibel. Zum Vergleich: Ein Düsenjet, der dreißig Meter entfernt startet, produziert einen Schalldruck von 120 bis 140 Dezibel, die menschliche Schmerzgrenze liegt bei etwa 130 Dezibel. Da überrascht es nicht, dass der Einsatz von Airguns wiederholt zu Walstrandungen geführt hat. Untersuchungen an toten Tieren zeigten massive Verletzungen an der Lunge sowie Blutungen im Innenohr und im Gehirn. Besonders fatal sind Seesprengungen, wenn etwa Minen entschärft werden. Mindestens ebenso arg: der Einsatz von Airguns. Die Unterwasserschallkanonen werden genutzt bei seismographischen Untersuchungen des Meeresbodens, wenn Öl- und Geeignete Technologien, mit deren Hilfe sich der überbordende Unterwasserlärm eindämmen lässt, gibt es durchaus schon einige. Am meisten erprobt sind sogenannte Blasenschleier, die – wie eine Art „Schallmauer“ – in einem Kreis um die Seit Langem gefordert, nun endlich auf dem Weg: Lösungen zur Geräuschminimierung Lärmquellen, die MeeAktuell forschen die ressäuger belasten, gibt Ingenieure vor allem es viele: wummernde an schallarmen Kon- Schiffspropeller, krei- struktionskonzepten schende Ölbohrinseln, für Offshore-Windparks. Ziel ist es, den Rammungen in den Boden. Besonders fatal beim Bau solcher Anla- sind Seesprengungen, gen unausweichlichen wenn etwa Minen ent- Krach möglichst zu schärft werden. Ebenso minimieren – bei 160 Dezibel liegt der Grenzwert des unter Wasser maximal zulässigen arg: der Einsatz von Airguns für seismographische Untersuchungen des Meeresbodens. Ihr Lärmpegels. Vor allem Schall hat einen Fre- für Meeressäuger wie quenzbereich von 100 Wale oder Robben ein bis 500 Hertz, bei einem großes Problem. Eine der Lösungen: Blasen- Schalldruck von bis zu 260 Dezibel. Die mensch- schleier, die Geräusche liche Schmerzgrenze absorbieren. liegt bei 130 Dezibel. 148 Impulse 01_2016 149 Stützpfeiler gezogen werden. Mit einem Kompressor wird Luft durch einen perforierten Schlauch geleitet. Entweicht diese Luft ins Wasser, steigen Luftblasen auf, und die Schallwellen, die beim Rammen der Stützpfeiler in den Meeresgrund entstehen, werden an ihnen gebrochen. So wird der Geräuschpegel erheblich gesenkt – sofern sichergestellt ist, dass stets ein durchgehender Schleier aus Luftblasen entsteht. Denkbar sind aber auch große Rohre, die während des Rammens die Pfähle ummanteln. Auch lässt sich der Ort, an dem etwas in den Meeresgrund gerammt wird, vom umgebenden Wasser akustisch abschirmen durch einen Weitere Projekte i All das fordert die Forscher im Testzentrum für Tragstrukturen heraus. Ihre Idee: Statt die Fundamente lautstark in den Boden zu rammen und den entstehenden Lärm etwa durch Blasenschleier allenfalls zu mildern, könnte sich ein Windrad auch mittels sogenannter Suction Buckets verankern 12,2 Millionen Euro für die Nachhaltigkeitsforschung Grünes Licht für weitere sieben Verbundvorhaben in dem Förderprogramm „Wissenschaft für nachhaltige Entwicklung“ unter dem Dach des „Niedersächsischen Vorab“. Die erfolgreichen Vorhaben der nunmehr zweiten Wettbewerbsrunde werden bei Projektlaufzeiten von drei bis vier Jahren mit einer Million bis knapp drei Millionen Euro gefördert. Folgende Vorschläge setzten sich durch: Mehr als fünfzig Millionen Bürger hierzulande leben im ländlichen Raum. Sie haben oft sehr spezifische Bedürfnisse und Wünsche vor allem an die Infrastruktur und die Versorgungsangebote – ob für den Lebensmitteleinkauf oder mit Blick auf Gesundheitsdienstleistungen. Die Forscher wollen passgenaue, nachhaltig wirkende Lösungen für die jeweiligen Herausforderungen finden. Gestaltungskompetenz als Innovator für hochzuverlässige Organisationen im Gesundheitssystem (Uni Osnabrück, FH Osnabrück, FU Berlin) Welches sind die Ursachen für Fehler bei medizinischen Eingriffen – und: Nehmen Falschbehandlungen zu? Warum ließen oder lassen sie sich nicht verhindern? Müssen Strukturen geändert werden? Den Initiatoren des Vorhabens geht es um mehr Patientenschutz und um deren Absicherung – auch darum, dass mit Behandlungsfehlern angemessen umgegangen wird. Ziel ist es, im Großen den Mitarbeitern im Gesundheitswesen mehr Flexibilität und Entscheidungskompetenz zuzugestehen als auch im Kleinen eine interaktive Lernumgebung für das Krankenhauspersonal zu entwickeln. Metapolis – eine inter- und transdisziplinäre Plattform für eine nachhaltige Entwicklung der Stadt-Land-Beziehungen in Niedersachsen (Universitäten Braunschweig und Hannover) Große Städte, mittelgroße und kleine Siedlungen in ländlicher Umgebung sind über Verkehrs-, Warenund Datenströme sowie Interaktionen der einzelnen Menschen miteinander verbunden. Auf der Suche nach Strategien für „nachhaltig wirkende Beziehungen“ fokussieren die Forscher städtebauliche und stadtplanerische Aspekte sowie ökologische und soziale Rahmensetzungen, zudem die Energie- und Ressourcenversorgung sowie Fragen der Mobilität. Ebenso interessiert sie, ob und inwieweit sich die Konzepte politisch und gesellschaftlich durchsetzen lassen. Über eine interaktive Informations- und Partizipationsplattform sollen die Erkenntnisse allgemeinverständlich aufbereitet den Weg in die Öffentlichkeit finden. NEMo – Nachhaltige Erfüllung von Mobilitätsbedürfnissen im ländlichen Raum (Universitäten Oldenburg, Braunschweig und Lüneburg) 150 leer gepumpten, „trockenen Kofferdamm“, der gut isoliert. Doch trotz all dieser Möglichkeiten werden die Meeressäuger nach wie vor ganz „klassisch“ vergrämt aus einem Gebiet, in dem beispielsweise Rammungen anstehen – mithin also einfach aus ihrem angestammten Lebensraum vertrieben. lassen. Das muss man sich vorstellen wie überdimensionierte, umgedrehte Eimer im Sandkasten, die durch Saugprozesse fest am Boden installiert werden. Die spannende Frage ist nun, ob solch eine Verankerung ausreichend stabil ist, also keine Verschlechterung gegenüber den gängigen Systemen darstellt. Auf die Wissenschaftler warten also reichlich Detailfragen sowie Experimente, die es passgenau auszutüfteln und zu justieren gilt: Wie groß beispielsweise müssen die Suction Buckets sein, um maximale Standsicherheit zu gewährleisten – bei zugleich noch akzeptablen Aufwendungen für Material, Logistik und natürlich Kosten? Hunderte Kilometer Küste, viel Wind, offenes Wasser: Deutschland scheint wie geschaffen für das Erzeugen von Windenergie, vor allem offshore. Schon jetzt haben die Energiekonzerne reichlich Windräder ins Meer gestellt. Zahlreiche Jobs sind entstanden, die Menschen freuen sich. Und doch – für einen echten, gelungenen, nachhaltigen Übergang von schwarzer zu grüner Energieversorgung bleibt noch eine Menge zu tun, hier ist nicht zuletzt auch die Politik gefordert. Die Forscherinnen und Forscher jedenfalls sind dran. Und international ganz vorn mit dabei jene in Niedersachsen.  Bioökonomie 2.0: Innovationspotenziale von Nebenströmen der Lebensmittelverarbeitung (Universitäten Göttingen, Hannover und Vechta; Hochschule Osnabrück, Deutsches Institut für Lebensmitteltechnik Quakenbrück) Lassen sich für die Lebensmittelproduktion neue Wertstoffe gewinnen wie Ballast- und natürliche Aromastoffe oder Proteine? Diese zum Beispiel bei der Verarbeitung von Kartoffeln, Karotten oder Raps anfallenden „Nebenprodukte“ sollen künftig besser verwertet werden – wozu es aber nicht zuletzt einer grundlegenden Neujustierung der „Nutzpflanzenproduktion“ bedarf. Die neuen Wertstoffe sollen in einem zweiten Schritt auf ihre Marktfähigkeit und Akzeptanz getestet werden unter Einbeziehung niedersächsischer Verbraucherinnen und Verbraucher. „Diversity Turn“ in Land Use Science: Die Bedeutung sozialer Diversität für nachhaltige Landnutzungsinnovationen am Beispiel des Vanilleanbaus in Madagaskar (Universität Göttingen) Am Beispiel des Vanilleanbaus in Madagaskar wollen Göttinger Forscher ein landwirtschaftliches Nutzungskonzept entwickeln, das effiziente und nachhaltige Bewirtschaftung, Umweltschutz und gesellschaftliche Rahmenbedingungen in Einklang bringt. Die Wissenschaftler gehen dabei konkret auch der Frage nach, wie sich bestehende „Wertschöpfungsketten“, die kleinbäuerliche Haushalte eng an international tätige Unternehmen binden, auf Menschen und Umwelt des Landes auswirken. Die Rolle der Hochschulen in der Ausbildung von Schlüsselakteuren für die Nachhaltigkeitstransformation (Universität Lüneburg) Im Fokus dieses Projekts stehen eine hochschulübergreifende Analyse und ein Vergleich von Kursangeboten zum Thema nachhaltige Entwicklung und damit zusammenhängende gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse. Dazu werden unter anderem „Akteure im Nachhaltigkeitssektor“ interviewt: Studierende, Absolventen, Lehrende, Studienberater, Arbeitgeber. Eine Kooperation mit der Arizona State University bereichert das Projekt. Nachhaltigkeit als Argument: Suffizienz, Effizienz und Resilienz als Parameter anthropogenen Handelns in der Geschichte (Universitäten Göttingen und Hannover) Manche Menschen müssen über den Sinn und Zweck von Nachhaltigkeit informiert und von deren Wert überzeugt werden; andere lehnen nachhaltiges Handeln sogar ab. Welche Nachhaltigkeitskonzepte gibt es, wie kamen diese zustande und erhielten Einzug in praktisches Handeln? Im Blick über die Jahrhunderte wollen die Forscher überprüfen, ob Nachhaltigkeit als Kerngedanke im menschlichen Verhalten nicht über alle Epochen hinweg schon existiert hat. Christian Jung Impulse 01_2016 151 Publikationen Was Sie schon immer über Kompromisse wissen wollten, aber nirgends nachzulesen fanden … Erneut geht eine „Opus magnum“-Förderung an die Universität Bielefeld: Die Philosophin Véronique Zanetti beschäftigt sich mit der Frage, wie Kompromisse entstehen und was diese ausmacht – das geplante Werk ist eines von insgesamt neun „Opera magna“ in 2015. Véronique Zanetti hat in Genf Philosophie, Musikwissenschaft und Anglistik studiert und war als Wissenschaftlerin unter anderem in Siegen, Bern, Fribourg und New York tätig. Sie promovierte über Kant und analysierte in ihrer Habilitation ethische Aspekte der politischen Intervention. Seit 2003 gehört Zanetti der Eidgenössischen Ethikkommission für Biotechnologie im Außerhumanbereich an. 2004 erhielt sie den Ruf auf die Professur für politische Philosophie und Rechtsphilosophie an der Universität Bielefeld. Ein gutes Jahrzehnt weiter nun weiß sie diese spezielle Stiftungsförderung, die ihr Muße, Freiraum und ein finanzielles Arbeitspolster bietet, sehr zu schätzen – kann sie doch nun in aller Ruhe an ihrem Opus magnum arbeiten. Kompromisse: Was sind sie, und wozu sind sie gut? Mit diesem Thema kann sich Professorin Dr. Véronique Zanetti von der Universität Bielefeld in den nächsten zwei Jahren wissenschaftlich intensiv auseinandersetzen. Die Stiftung hat ihr in der letztjährigen Auswahlrunde eine „Opus magnum“-Förderung zugesprochen. Die Geförderte erhält mit dieser Unterstützung den notwendigen Freiraum und damit Muße und Zeit, ein größeres wissenschaftliches Werk zu verfassen.   Es sei ein gutes Gefühl, dafür einfach den Rücken frei zu haben, lacht Zanetti. Sie möchte die 24 Monate nutzen, das Thema „Kompromisse“ aus philosophischer Sicht in unterschiedlichen Facetten wissenschaftlich zu betrachten: „Bei Themen, die stark moralisch konnotiert sind, ist allgemein verpönt, Kompromisse zu schließen. Wer so etwas tut, wird für charakterschwach gehalten“, sagt sie. „Gleichwohl sind Kompromisse in der Politik, bei rechtlichen Entscheidungen und in vielen Alltagssituationen oft unvermeidlich, ja sogar Zeichen einer konstruktiven Gesinnung zur friedlichen Beilegung zwischenmenschlicher Konflikte.“   Kompromissen kann zudem entscheidende Bedeutung zuwachsen – etwa wenn unvereinbare Handlungsoptionen aufeinanderprallen. Das ist zum Beispiel bei Normenkonflikten der Fall. Hier gibt es oft keinen gemeinsamen Nenner. „Macht man sich klar, welch unersetzliche Rolle Kompromisse im Leben jedes Einzelnen und im sozialen Miteinander spielen, kann nur erstaunen, wie stiefmütterlich sie seitens der Forschung behandelt wurden!“ Zanetti will die verschiedenen Dimensionen des Kompromisses analysieren und die Tragfähigkeit ihrer Analyse anhand von zwei Beispielen belegen. Im ersten geht es um den Übergang von der Apartheid zum demokratischen Regime und explizit um das Problem der traditionellen Strafgerechtigkeit. Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob die Opfer ein moralisches Recht haben, die politischen Verbrecher bestraft zu sehen. Oder darf das pragmatische Ziel der Befriedung und Herstellung politischer Gerechtigkeit den Vorrang erhalten? Am Beispiel der am Ende der Apartheid beschlossenen Gesetze will sie zeigen, dass in Sonderfällen der Friede Vorrang vor der Gerechtigkeit haben und von streitenden Parteien eine Kompromissbildung verlangt werden darf. Das zweite Beispiel ist der politische Konflikt zwischen Israel und Palästina.   Die Universität Bielefeld kam schon häufiger bei einer Opus-magnum-Förderung zum Zuge. So erhielt im Jahr 2007 Professor Dr. Klaus-Michael Bogdal von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Hochschule den Zuschlag. Das Werk „Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung“, das er einige Jahre später vorlegte, wurde 2013 bei der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung – einem der wichtigsten Literaturpreise in Deutschland. 2015 vergab die Stiftung neun Opera magna:  Weitere Informationen unter: www.volkswagenstiftung.de/foerderung/ personenundstrukturen/opusmagnum.html Christian Jung Publikationen Neues über Völkerwanderungen? Wie regelt man Konflikte? Große Werke werfen ihre Schatten voraus „Eine spannende, gut geschriebene Geschichte – eine außergewöhnliche Publikation!“ Die VolkswagenStiftung bewilligte 2015 rund 2,3 Millionen Euro für neun „Opera magna“: Geistesund Gesellschaftswissenschaftler erhalten mit dem außergewöhnlichen Angebot den nötigen Freiraum, ein größeres wissenschaftliches Werk zu verfassen. Auch Nachwuchskräfte profitieren. „Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR" – Dr. Susanne Muhle erhält „Opus primum“Förderpreis für die beste Publikation eines Nachwuchswissenschaftlers im Jahr 2015 . 2015 hat die Stiftung neun Opera magna vergeben an herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die für maximal zwei Jahre von ihrer Universität freigestellt werden – die Stiftung Das Thema der Entführungen durch die Stasi lässt Opus-primum-Preisträgerin Susanne Muhle nicht los. Das Preisgeld soll bei dem finanziert in dieser Zeit eine nächsten Projekt Schub Lehrvertretung. Die jährliche geben: Sie möchte der Rolle Fördersumme beträgt maximal 100.000 Euro. der westlichen Geheimdienste nachspüren und in den USA die Akten der CIA zu den Entführungsfällen einsehen. Ob in Italien, Großbritannien, den USA oder auch hierzulande: Zahlreiche Bücher in dieser Reihe haben inzwischen national wie international renommierte Preise gewonnen. Die Rede ist von „Opus magnum“: ein Angebot eher für die etablierteren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Sie erhalten die Chance, versehen mit den raren Gütern Muße und Freiraum, eine Monografie abzufassen, die die wissenschaftliche Arbeit der vorangegangenen Jahre bündelt und Meilenstein sein soll für ein spezifisches Forschungsfeld oder -thema. Auch im vergangenen Jahr stieß die Initiative auf großes Interesse.   Im Jahr 2015 waren es neun geplante Buchprojekte, die überzeugen konnten und für die insgesamt 2,34 Millionen Euro bereitgestellt wurden. Die geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigen sich beispielsweise mit der Reformation des Buchdrucks, Völkerwanderungen, Konfliktregelungen in tibetischen Gesellschaften, der Kulturalisiserung der Gesellschaft, weltlicher Musik in deutschen Landen um 1500 – oder eben dem Wesen von Kompromissen (siehe dazu die ausführliche Buchvorstellung auf Seite 152).   Das Programm bietet herausragenden Geistesund Gesellschaftswissenschaftlern den nötigen Freiraum, ein größeres wissenschaftliches Werk zu verfassen. Während der Arbeit an ihrem Opus magnum werden die Forscherinnen und Forscher von allen Lehrverpflichtungen befreit und passgenau durch eine qualifizierte Nachwuchskraft vertreten. Auf diese Weise unterstützt die Initiative auch junge Wissenschaftler und bietet ihnen die Möglichkeit, sowohl Erfahrungen in der Lehre zu sammeln als auch unter Beweis zu stellen, dass sie für eine Karriere in der Wissenschaft geeignet sind. Folglich überrascht es nicht, dass die attraktive Kombination aus der Unterstützung einerseits erfahrener, andererseits junger Geistesund Gesellschaftswissenschaftler auch außerhalb der deutschen Förderlandschaft große Resonanz erfährt: So war es im vergangenen Jahr etwa der Riksbankens Jubileumsfond in Schweden, der ein vergleichbares Programm auflegte.   Seit Beginn der Initiative im Jahr 2005 hat die VolkswagenStiftung einschließlich der Bewilligungen aus 2015 nun für insgesamt 75 Opera magna 12,5 Millionen Euro bereitgestellt. „Ein außergewöhnliches Buch“, lobten viele Jurymitglieder das Werk „Auftrag: Menschenraub …“. Es hatte sich unter den zunächst sechzig, dann nach der ersten Auswahlrunde verbliebenen zehn Wettbewerbern langsam, aber zielsicher herausgeschält, wer 2015 der Gewinner des kommenden Opus primum sein würde: Dr. Susanne Muhle. Am 25. November erhielt sie die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung im Rahmen einer feierlichen Abendveranstaltung. In ihrer Laudatio auf die Preisträgerin hob die Professorin für Integrationsgeschichte der Universität Hamburg Gabriele Clemens vor allem die umfangreiche und sensible Quellenarbeit hervor. „Susanne Muhle gelingt es, die systematische Analyse der Entführungspraxis mit der Schilderung bewegender Einzelfälle zu verbinden und so eine äußerst spannende, gut geschriebene Publikation vorzulegen, die nicht nur Fachwissenschaftler, sondern auch ein breites Publikum anspricht.“ Die akribische, wissenschaftlich angelegte Recherche zu dem Buch sei Detektivarbeit gewesen, sagt Muhle. Im Fokus der Geschichte stehen jene etwa 400 Menschen, die vor allem in den 1950er Jahren im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit aus Westdeutschland in die DDR entführt wurden. Opfer waren zum Beispiel Mitarbeiter westlicher Geheimdienste oder aus der DDR geflohene Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit. Auf breiter Quellengrundlage hat Dr. Susanne Muhle, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Gedenkstätte Berliner Mauer arbeitet, zu Hintergründen und Tathergängen recherchiert. Sie hat damit die erste systematische Studie zu diesem Kapitel deutscher Geschichte vorgelegt. Durch das Buch, das bis in die Tiefe hinab brilliert, weiß man nun, wie akribisch oft über Jahre hinweg die Entführungsaktionen durch die Stasi vorbereitet wurden: „Die Stasi-Akten lasen sich teilweise wie Drehbücher für Spionagefilme“, sagt Muhle. Bei aller Freude und allem Enthusiasmus an der Arbeit sei ihre Stimmung mehrfach äußerst gedrückt gewesen; immer dann, wenn sie auf persönliche Dokumente gestoßen sei: So fand sie in den Akten Briefe von zu Tode Verurteilten an deren Familien, die die Stasi nie weitergeleitet hatte. Publikationen Schattenspiele in der Welt des Lichts – aktuelle Reflexionen zu Goethes Farbenlehre Frieden ohne Freiheit: 1815 endete der Wiener Kongress – und dann schlug Metternichs große Stunde Goethes Farbenlehre gilt allgemein als missglückter Ausflug in die Naturwissenschaften. In einem im vergangenen Jahr vorgelegten Buch von Olaf L. Müller wird sie rehabilitiert. Die Stiftung hat das Werk als „Opus magnum“ gefördert. Begründete der Wiener Kongress vor 200 Jahren eine zukunftsfähige Friedensordnung? – Oder begann damit in der Donaumetropole quasi schon der Erste Weltkrieg? Das „Opus magnum“ des Historikers Wolfram Siemann von der LMU München gibt Auskunft. Olaf L. Müller: „Mehr Licht“. Goethe mit Newton im Streit um die Farben. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 528 S., geb., 26,99 Euro. ISBN 978-3-10-403071-5 Wolfram Siemann: „Metternich – Stratege und Visionär“. C. H. Beck Vderlag, München. Eine Biografie. 2016. Rund 936 Seiten, ca. 50 Abbildungen. Gebunden. ISBN 978-3-406-68386-2 Auf seine Dichtung bilde er sich nichts ein, erklärte Goethe, wohl aber darauf, dass er in seinem Jahrhundert „in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre als Einziger das Rechte weiß“. Er war allerdings auch nahezu der Einzige, der seine Leistung so einschätzte. Als 1810 seine 1400 Seiten dicke Farbenlehre erschien, stieß sie auf höfliche Reserviertheit oder verlegenes Schweigen: Die Mehrheit der Gelehrten empfand das Werk als eine Verirrung des Dichters ins Dilettantentum – eine Einschätzung, die sehr lange Bestand hatte. Allenfalls den psychologischen Aspekten der Farbenlehre wurde wissenschaftlicher Wert zugemessen. Das physikalische Herzstück jedoch gilt als gescheiterter Versuch, Intuition und Subjektivität in das kalte Herz der exakten Naturwissenschaft zu pflanzen. Goethe, lautete die vorherrschende Meinung, hatte Phänomenologie mit Physik verwechselt.  „Falsch“, sagt jetzt Olaf L. Müller, der an der Humboldt-Universität Berlin Wissenschafts­theorie und Naturphilosophie lehrt. Er präsentiert Goethe als ernstzunehmenden Physiker, der empirisch und methodisch auf der Höhe seiner Zeit war und ihr wissenschaftstheoretisch sogar weit voraus. Das Buch fokussiert vor allem auf jenen Aspekt der Farbenlehre, der den stärksten Widerspruch herausgefordert hat: Goethes harsche Kritik an der Newton’schen Lehre, der zufolge sich das weiße Sonnenlicht aus unterschiedlichen Spektralfarben zusammensetzt. Goethe lehnte diese Theorie ab. Zu den Stärken des Buchs gehören zweifellos die Rückbindungen an die Empirie. Interessant sind auch jene Stellen, in denen Autor Müller Goethe nicht nur zu einem mit allen wissenschaftlichen Wassern gewaschenen Kritiker akademischer Borniertheit stilisiert. Er schreibt ihm zugleich eine sehr modern anmutende wissenschaftstheoretische Position zu. Die Lektüre macht deutlich, dass für jede naturwissenschaftliche Theorie gilt: Aus den Daten, auf denen sie beruht, lassen sich alternative Theorien genauso schlüssig herleiten. Der Autor durchmisst durchaus anspruchsvolles Gelände. Dabei nimmt sein Opus magnum den Leser an die Hand, indem jeder Schritt kommentiert und reflektiert wird. Für die nötige Anschauung sorgen die Abbildungen der Experimente. Einziger Wehrmutstropfen: Da und dort hätten Straffungen das Lesevergnügen sicher erhöht. Er war der selbst ernannte „Kutscher Europas“: Clemens von Metternich, 1836 als Österreichischer Staatskanzler auf der Höhe seiner Macht. Metternich gilt seit je als Inbegriff der Reaktion, als rückwärtsgewandter Feind aller liberalen und nationalen Kräfte. Ein Urteil über eine historische Figur wie in Stein gemeißelt. Zutreffend? Oder – eher – nicht?   Der Historiker Wolfram Siemann von der LudwigMaximilians-Universität München unternimmt die Neubewertung einer Jahrhundertfigur anhand etlicher bislang unberücksichtigt gebliebener Quellen. Er zeichnet in seiner – nach Einschätzung sowohl von Fachleuten als auch vonseiten erster Leser – offenkundig grandiosen Biografie ein fundamental neues Bild des Staatsmannes, der für vier Jahrzehnte die Geschicke Europas prägte. „Metternichs Denken war moderner, seine Diagnosen hellsichtiger und sein Wirken zukunftsweisender, als man ihm bisher zugestanden hat“, sagt Siemann, der Neuere und Neueste Geschichte lehrt.   „Ein Mann wie ich scheißt auf das Leben von einer Million Menschen!“, erklärte Napoleon seinem Gegenspieler Metternich im Jahr 1813. Clemens Fürst von Metternich (1773-1859) erlebte die mehr als zwanzig Jahre andauernden Kriege in Europa als Zusammenbruch der Zivilisation. Fast prophetisch sah er voraus, dass der Freiheitsdrang der Nationen in eine noch blutigere Katastrophe münden würde. „Nur vor diesem Hintergrund kann Metternichs Friedensordnung von 1815 begriffen werden“, streicht Siemann heraus. Das gelte sogar für seine repressiven Maßnahmen gegen jeden drohenden gesellschaftlichen Aufstand.   Auf der Grundlage zahlreicher auch überraschender Quellen lässt Wolfram Siemann in dieser ersten großen Metternich-Biografie seit 90 Jahren einen schillernden und vielschichtigen Mann lebendig werden: Metternich war ein traditionsbewusster Reichsgraf und ein frühindustrieller Unternehmer, ein Bewunderer der englischen Verfassung, ein  scheiternder Reformer in einem fragilen Vielvölkerstaat und ein Verehrer der Frauen. Das Fesselnde an seinem Opus magnum ist, dass es nicht nur Metternich in ein neues Licht taucht, sondern die Geschichte des 19. Jahrhunderts insgesamt flirrend aufblättert und wirkmächtig malt.   Veranstaltungen Nachhaltige Entwicklung für alle: Welche Rolle kann die Wissenschaft übernehmen? Bei einem Herrenhäuser Symposium in Hannover diskutierten Forscher aus aller Welt, welchen Beitrag sie leisten können, dass die von den Vereinten Nationen neu skizzierten nachhaltigen Entwicklungsziele erreicht werden. Im Fokus: Küstenregionen. An den Thementischen des „Herrenhäuser Symposiums“ zu den nachhaltigen Entwicklungszielen stellten Nachwuchsforscher ihre Projekte vor; hier sind gerade die Wissenschaftsjournalisten Sibusiso Biyela aus Südafrika und die Kenianerin Catherine Nyambura ins Gespräch eingebunden (oben). Mitte: Andrew Stirlings (rechts) Keynote war ein gelungener Auftakt; Anna-Katharina Hornidge (Bild links, rechts) moderierte die erste Session mit Statements von Hart Nadav Feuer (links) und Hildegard Westphal. Unten: Stadtplaner Hendricus Simarmata aus Indonesien (Bild links, rechts) schilderte das FlutRisikomanagement in Jakarta; Mariama Awumbila (Bild rechts, vorn links) berichtete aus dem Küstenforschungsprojekt  in Ghana (ausführlicher Text ab Seite 42). 169 Unterziele, 193 eingebundene Länder und eine Weltbevölkerung von 7,3 Milliarden Menschen, die davon profitieren soll: Die im September 2015 verabschiedeten „17 nachhaltigen Entwicklungsziele“ der Vereinten Nationen sind ein Unterfangen, das sowohl von der Dimension als auch der Komplexität der Herausforderungen her beispielhaft ist. Konsens besteht, dass ein solches nur gelingen kann, wenn es zu einer massiven Verstärkung der globalen Partnerschaft kommt. Von gleicher Bedeutung neben einer funktionierenden politischen Ebene ist, dass alle gesellschaftlichen Gruppen aktiv Verantwortung übernehmen müssen.   Welche Rolle der Wissenschaft dabei zufällt, diskutierten am 8./9. Dezember 2015 in Hannover Forscher beim Herrenhäuser Symposium „Sustainable Development Goals and the Role of Research: A Focus on Coastal Regions“. Sie vertraten eine große Bandbreite an Disziplinen und Regionen (siehe auch www.volkswagenstiftung.de/sdg).   Mit seiner Keynote entwarf Andrew Stirling von der University of Sussex in Großbritannien eine Hintergrundfolie für die weiteren Beiträge und die lebhaften Diskussionen der Veranstaltung: Nachhaltigkeit sei ohne politischen Kontext nicht denkbar, große Veränderungen würden immer von großen sozialen Bewegungen eingeleitet oder zumindest begleitet, Partizipation und Demokratie seien zur Verwirklichung unabdingbar. Er warnte davor, den Pfad „Wissenschaft-Technologie-Fortschritt“ rein linear zu betrachten. Um die jeweils richtige beziehungsweise am meisten nachhaltig wirkende Lösung finden zu können, müssten auch die dynamischen Verzweigungen von Forschung und Innovation bedacht und ermöglicht werden. Dem stünde jedoch vielfach das Beharrungsvermögen der etablierten Mächte und Institutionen entgegen.   Dass sich viele der in den nachhaltigen Entwicklungszielen gespiegelten Herausforderungen gerade auch in den Küstenregionen der Welt zeigen, begründete den thematischen Fokus des Symposiums. Und so reichte das Spektrum der Beiträge von Governancefragen im Zuge von Konflikten bei der Nutzung des Meeres über Migrationsprozesse, die womöglich im Zusammenhang stehen mit einer sich rasch – zum Negativen – verändernden Umwelt an der Küste von Ghana (siehe auch Beitrag  ab Seite 42) bis hin zu Strategien von Kampungbewohnern Jakartas, die wieder und wieder Hochwasser zu bewältigen haben.   Bei dem Symposium im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen mit dabei waren auch 16 junge Wissenschaftler, die ihre eigene Forschung an Thementischen zur Diskussion stellen konnten. Sie hatten sich zuvor erfolgreich um ein Reisestipendium beworben und kamen aus Deutschland (4), Ghana (3), Kanada (2), Australien, Malaysia, Mauritius, Mosambik, Neuseeland, Uganda und den Philippinen. Auch fünf junge Wissenschaftsjournalistinnen aus Algerien, Südafrika, Kenia, Russland und den Philippinen waren auf Einladung der Stiftung Gäste des Symposiums. Beate Reinhold Veranstaltungen Mit ihren derzeit fünf Veranstaltungsreihen im Schloss Herrenhausen in Hannover verfolgt die Stiftung das Ziel, Wissen in die Gesellschaft zu tragen, Forschern ein Forum für ihren fachlichen Austausch zu geben und die Verbindung von Wissenschaft und diversen Zielgruppen zu intensivieren. Eine Übersicht aller Veranstaltungen sowie Anmeldemodalitäten sind zu finden unter www.volkswagenstiftung.de/veranstaltungen. Einzelne Programmpunkte der – ansonsten als Fachveranstaltungen geschlossenen – Herrenhäuser Konferenzen und Herrenhäuser Symposien können für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Hier ausgewählte Termine der nächsten Monate. Januar 11.1. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Karikatur und Terror – ein Jahr nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo“ 14.1. Herrenhäuser Gespräch: „Gemeinsam im Hamsterrad? – Arbeitsalltag mit dem Kollegen Roboter“ 19.1. Feierliche Eröffnung des Leibniz-Jahres 2016 Februar 2.2. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen: „Vom ‚Uranverein‘ zum ‚Göttinger Manifest‘ – Wissenschaft und Atomwaffen in Deutschland von 1938-1957“ 3.2.-5.2. Statussymposium „Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft“ 9.2. Herrenhausen Late: „Trau Deinen Ohren nicht: Computer oder Orchester als Klangquellen“ 11.2. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Der feine Unterschied: Was macht uns Menschen aus?“ 16.2. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Leibniz über Schäden, Schulden und Pensionen“ 24.2. Öffentlicher Abendvortrag während der Symposienwoche: „Die Spuren der Geschichte in der Natur. Goethe durchreist Landschaften.“ März 8.3. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph“ 10.3. Herrenhäuser Gespräch: „Was bewegt den Menschen? Ein Blick aus der Perspektive des Tanzes“ 17.3. Herrenhäuser Forum Politik – Wirtschaft – Gesellschaft: „Wir sind gefragt! Wege aus dem Flüchtlingsdilemma“ ser äu nh EN e r her SI M SY Herrenhäuser Konferenzen Die Herrenhäuser Konferenzen sind Fachveranstaltungen. Sie fokussieren mit besonderem Aktualitäts- und Zukunftsbezug wissenschaftliche Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz und öffnen neue Forschungsfelder. PO Herrenhäuser Symposien Die Herrenhäuser Symposien – ebenfalls geschlossene Fachveranstaltungen – bieten Forschern eine Plattform, Ideen zu entwickeln und neue Forschungsansätze zu diskutieren. Die Stiftung veranstaltet auch eigene Symposien. April 8.4.-9.4. Forschungs- und hochschulpolitisches Werkstattgespräch: „Internationalisierungsstrategien an deutschen Hochschulen“ 11.4. Leopoldina Lecture zur Quantentechnologie 12.4. Tagung: „Gesundheitspolitische Entscheidungen: Spielt der Patient überhaupt eine Rolle?" 14.4. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Wie viel ist Natur uns wert?“ 26.4. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Leibniz über die Vielfalt der Menschheit“ Mai 2.5.-4.5. Symposium „A Tale of 100 Cities. Ideas, Conflicts, and Revolt in the 1960s” 2.5.-4.5. Statussymposium „Makroskopische Funktionssysteme“ 12.5. Herrenhäuser Gespräch: „Wer Ohren hat – Wie wir das Hören neu lernen können“ 12.5.-13.5. Nature Herrenhausen Symposium 23.5. Acatech-Akademietag 2016 23.5. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik EXTRA: „Mehr Licht – Goethe mit Newton im Streit um die Farbe“ Juni 9.6.-11.6. Herrenhäuser Symposium: „World (Counter) Revolutions: 1917-1920 in a Global Perspective” 13.6.-15.6. Statussymposium „Forschung in Museen“ 15.6. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Sie kriegen Dich! Wohin führt uns digitales Nudging?“ 17.6. Ein Erfolg der Wissenschaftsförderung der VolkswagenStiftung: „Zwanzig Jahre selbstständige Nachwuchsgruppen“ 27.6.-28.6. Symposium LehreN Juli 18.7./22.7. Auftakt- (18.7.) und Abschlussveranstaltung (22.7.) des X. Internationalen Leibniz-Kongresses Ausblick 4.10.-6.10. Herrenhäuser Konferenz: „Religious Pluralisation – A Challenge for Modern Societies“ 7.10. „Neu gefördert! Die Freigeist-Fellows 2016 der VolkswagenStiftung“ 10.10.-11.10. Alzheimertagung 19.10.-21.10. Symposium Engineering & Life 1.11. Forum für Zeitgeschehen: „70 Jahre Land Niedersachsen“ 3.11.-5.11. Nature Herrenhausen Symposium GE ser äu enh r her R SP H ÄC E Herrenhäuser Gespräche Mit den Herrenhäuser Gesprächen präsentieren die Stiftung und NDR Kultur aktuelle Themen aus Wissenschaft und Kultur von Bedeutung für die Gesellschaft. Adressat ist hier zuvorderst die wissenschaftsinteressierte Öffentlichkeit. FO ser äu enh r her M RU Herrenhäuser Forum Mit verschiedenen Schwerpunkten begeistert das Herrenhäuser Forum ein breites Publikum für wissenschaftliche Fragen: zu Themen des Zeitgeschehens und Aktuellem aus „Politik – Wirtschaft – Gesellschaft“ und „Mensch – Natur – Technik“. en aus e n h ATE r r he L Herrenhausen Late „Herrenhausen Late – ScienceMusicFriends“ zielt auf ein junges Publikum. Experten unterhalten aus überraschender Perspektive originell über Wissensthemen. Der Festsaal im Schloss verwandelt sich in eine Lounge mit kleiner Bühne, DJ und Bar. volkswagenstiftung.de Veranstaltungen Herrenhäuser Gespräche, Foren, Konferenzen … hier finden Sie Informationen über die Vielzahl unserer Veranstaltungen. Newsletter Unser E-Mail-Newsletter informiert Sie regelmäßig über aktuelle Nachrichten und Veranstaltungen der VolkswagenStiftung. Jetzt anmelden! News Aktuelle Nachrichten aus der VolkswagenStiftung, zum Beispiel zu laufenden Forschungsprojekten, neuen Ausschreibungen oder Publikationen Unser Förderangebot Sie suchen eine Förderung? Dann nutzen Sie unsere Fördersuche, um eine passende Initiative für Ihr Forschungsvorhaben zu finden. Mediathek In unserer Mediathek finden Sie Fotos und Bildergalerien, Videos und Audios. sciencemovies In unserem Videoblog sciencemovies.de präsentieren sich acht von der VolkswagenStiftung geförderte Projekte aus unterschiedlichen Fachdisziplinen. Film ab! Unsere Audio-Angebote Sie haben eine Veranstaltung verpasst? In unseren Podcasts „ListenToScience“ und „ScienceUncut“ stellen wir Ihnen Audio-Mitschnitte unserer Veranstaltungen zum Nachhören zur Verfügung. Gefällt mir! Die VolkswagenStiftung finden Sie auch bei Facebook, Twitter und YouTube. Schauen Sie doch mal vorbei! Videos bei wissen.hannover.de Die Stiftung in Kürze Die VolkswagenStiftung ist Projektpartner beim Multimediaportal „wissen.hannover.de“. Unter dem Motto "studieren.forschen.wissen" präsentieren hier acht Hochschulen sowie weitere Partner aus forschungsnahen Einrichtungen in kurzweiligen und zugleich informativen Kurzfilmen ihre Forschungsprojekte und Angebote rund um Hannover. Die VolkswagenStiftung ist eine eigenständige, gemeinnützige Stiftung privaten Rechts mit Sitz in Hannover. Mit einem Fördervolumen von insgesamt etwa 150 Millionen Euro pro Jahr ist sie die größte private deutsche wissenschaftsfördernde Stiftung und eine der größten Stiftungen hierzulande überhaupt. In den mehr als fünfzig Jahren ihres Bestehens hat sie über 31.500 Projekte mit insgesamt mehr als 4,6 Milliarden Euro gefördert. Auch gemessen daran zählt sie zu den größten gemeinnützigen Stiftungen privaten Rechts in Deutschland. Über 500 Beiträge sind bereits online – zu unterschiedlichen Themen: So erklärt die Universität Hannover, wie Magnesiumpflaster Herzen heilen; Popstar Smudo steigt in ein Bioconcept-Car, das die Hochschule Hannover mit Studierenden entwickelte. Und die VolkswagenStiftung präsentiert unkonventionelle Einsatzmöglichkeiten für Spinnenseide und stellt ein Forscherteam vor, das das Weltall belauscht. Alle Projekte finden Sie unter wissen. hannover.de/Einrichtungen/VolkswagenStiftung. Das Gründungskapital der Stiftung wurde von Bund und Land Niedersachsen im Rahmen des Privatisierungsprozesses der heutigen Volkswagen AG bereitgestellt. Es handelt sich bei der VolkswagenStiftung jedoch nicht um eine Unternehmensstiftung. Die Stiftungsgremien sind autonom und unabhängig in ihren Entscheidungen. Erwirtschaftet werden die Fördermittel der Stiftung einerseits – größtenteils zugunsten der „Allgemeinen Förderung“ – aus ihrem Kapital, derzeit circa 2,9 Milliarden Euro. Andererseits stammen sie aus den vom Land Niedersachsen gehaltenen und mit einem Vermögensanspruch der Stiftung versehenen gut 30 Millionen Volkswagenaktien samt ihrer Dividende (Teil des „Niedersächsischen Vorab“). Die VolkswagenStiftung fördert gemäß ihrer Satzung Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre und setzt durch die von ihr bewilligten Mittel gezielte Impulse. Sie entwickelt mit Blick auf zukunftsweisende Forschungsgebiete eigene Förderinitiativen. Diese bilden den Rahmen ihrer Förderaktivitäten und werden im Weiteren als Teil des eigenen Veranstaltungsangebots thematisch aufgegriffen. Mit der Konzentration auf eine begrenzte Zahl von Initiativen sorgt die Stiftung dafür, dass ihre Mittel effektiv eingesetzt werden. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Stiftung dem wissenschaftlichen Nachwuchs sowie jenen Forscherinnen und Forschern, die im Zuge ihrer Arbeit und wissenschaftlicher Kooperationen inhaltliche, kulturelle und staatliche Grenzen hinter sich lassen. Ein Hauptaugenmerk gilt desgleichen der Verbesserung der Ausbildungs- und Forschungsstrukturen in Deutschland. Die Umsetzung der Ziele erfolgt oft im Austausch mit anderen Stiftungen und öffentlichen Einrichtungen der Wissenschaftsförderung. Atempause Nachdenken am Meer – ein Strandspaziergang von Christian Jung Es gibt diese Stunden, da tobt an der Küste eine Bestie. Der Seewind wirbelt das Leben rings umher durcheinander und verwischt die Konturen zwischen Wasser, Sand und Himmel. Hinter den letzten Häusern in den Dünen wird die Welt schwarz, und Meer und Land sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Wohin man schaut, ist es dunkel, körnig, wild. Alles scheint dicht. Begierig saugen die Lungen Sauerstoff ein, den gibt es hier im Überfluss. Man schmeckt die Luft; die Sinne erfassen eine Würzmischung aus Holz, Salz, Algen, nassem Stein, modriger Erde und ein paar undefinierbaren Beigaben. Sie sagen uns sofort: Du bist am Meer. Das Gesicht wächst dem Geruch entgegen und der Sonne und der leichten Brise, die sich inzwischen sanft entgegenstellt. Dann wieder wirkt das Meer wie an Ketten gelegt. Kein Kräuseln trübt die glatte Fläche, der Himmel spiegelt sich glänzend wie in einer flachen, blank polierten blauen Schale. Der Tag schwitzt gemächlich vor sich hin, und alles scheint sediert. Die See gibt sich gezähmt. So wie jetzt. Die Füße finden derweil den Weg wie von allein, und der führt über den Strand ins Unbestimmte. Eben das ist die Belohnung. Mehr und mehr spült jeder Augenblick Euphorie ins Hirn; das lässt sich nicht lange bitten und schüttet sofort Glückshormone aus. Die Sinne fließen über vor Wonne, und allmählich versinkt die Seele in sich selbst. Ich presche mit dem Hund durch die Reste ablaufenden Wassers, ziehe die Schuhe aus und versuche hinterherzukommen. Fühle mich beinahe wie ein Kind. Die Zehen versinken bei jedem Schritt leicht im zurückweichenden, sandigen Untergrund. Die Füße werden träge und allmählich schwer und schwerer. Wir haben kein Ziel, wollen nur sehen, wie weit wir kommen.  Das Tempo pendelt sich bald schon in der richtigen Geschwindigkeit ein: nicht zu schnell, damit der Kopf gemächlich den sich peu à peu wie von selbst formenden Gedanken beiläufig nachhängen kann; nicht allzu langsam, damit nicht ständig vorwurfsvolle Blicke aus Hundeaugen auf mich geworfen werden. Allmählich folgt der Rhythmus des Denkens dem Takt von Laufen, Gehen und Innehalten. Jeder kennt das: ein Tag am Meer, ein Strandspaziergang, ob bei gleißendem Sonnenschein, wenn die See wie auf Leinwand gespannt scheint, oder bei heftigem Sturm, wenn Wellen sich meterhoch türmen – da gibt es Momente, die anders sind. Meine Zehen fühlen den festen Grund, und doch bewege ich mich leicht schwankend, als wolle der Boden signalisieren, wie leicht man ihn unter den Füßen verlieren kann. Ich schaue aufs Meer, von dem die Sprache sagt, man wage sich dorthin hinaus; nie formulierte man so, wollte man in den Wald oder auf eine Wiese oder in die Stadt gehen. Hier aber wartet offensichtlich das Unbekannte, lauert gar Bedrohliches. Man fühlt sich klein, ausgeliefert womöglich, ein wenig schutzlos allzumal. Nicht du bist es, der hier die Verhältnisse klärt, so lässt es dich spüren: Nein, ich bin es, das Meer. Und doch – oder gerade deshalb – ist es Sehnsuchtsort. Allein der Gedanke an Tage am Meer flutet ganz bestimmte Bilder und Wortfetzen in den Kopf: Bockwurst auf der Fähre, Milchreis an der Strandbar, Segelboote weit draußen über einer glitzernden Welt, Muschelscherben in der Fußsohle, der Geruch von Sonnenmilch mit Kokosaroma, glänzende Körper, verschwitzte Haut, griechischer Wein versus Chianti. Ebenso: Shanty-Musik, Grog und Ostfriesentorte, Strandkörbe, Kurtaxe, Souvenirläden mit Kitsch as Kitsch can, einsame Spaziergänge an der Küste im Novembersturm, der zum Orkan anhebt und Wolken schleift – begleitet von einem Anflug an Melancholie, der einen durchweht; flatternde Anoraks, kreischende Möwen, Halligen und Sturmfluten und dann wieder Ebbe und das Wattenmeer tut sich auf; „Moin, Moin“, „schweres Wetter heute“ – und ja, am Strand weht wieder mal die rote Fahne.   Auch das allerdings: angeschwemmter Müll, leere Dosen und Plastik, Spuren von Öl im Sand und all das Bangen um Wirkungen des Klimawandels. Gedanken an Nachhaltigkeit. Darüber, dass man auch die Vergangenheit lesen muss, will man Gefahren und Herausforderungen von heute sehen und verstehen, um Vorhersagen für das Morgen und Übermorgen zu wagen mit dem Ziel, vielleicht ein wenig Zukunft mitzuformen. Doch statt solcher Anstrengung erlebt man eher eine um mehr Bequemlichkeit, etwa um – gut, leicht überzeichnet – frühzeitig mit Handtüchern zu reservierende Liegen. Was treibt sie bloß alle an, jene Zeitgenossen, die nicht ans Meer fahren, ohne zuvor gedanklich Jägerzaun und Gartenzwerg in den Koffer gepackt zu haben? Und auch das müssen wir mit dem Meer verbinden: Menschen, die in ihm versinken. Die einen wagen sich zur Erholung hinaus, die anderen aus Not. Die einen haben ihren Spaß auf dem Wasser mit Hightech-Gerät, die anderen verlassen auf der Suche nach einem besseren Leben ihre Gestade in einer seeuntauglichen Nussschale mit vielleicht einem Dutzend Schwimmflügel und einem Rettungsring, die sie sich im Notfall zu Hunderten „teilen“ müssen. Die einen sind auf alles vorbereitet, die anderen allem ausgeliefert. Die einen sind auf gelangweilter Suche, die anderen auf angespannter Flucht. Die einen baden und planschen, wie es ihnen in den Sinn kommt; die anderen winken und ringen um ihr Leben. Die einen machen einen Ausflug, die anderen werden ausgesetzt. Die einen erleben mal schnell was Neues, die anderen finden mal eben den Tod. Auch das also gehört zum Meer. Daran sollten wir bei unseren Strandspaziergängen hin und wieder denken. Wenn wir zur Ruhe kommen, wenn die ganze Zeit über nichts anderes zu hören ist als das sanfte Plätschern der Wellen oder aber die Gischt so zischt, dass das Geräusch unsere Worte schluckt und wir Gespräche nicht mehr mit anderen führen können, sondern nur noch mit uns selbst. Wenn die inneren und äußeren Schichten aus Wunsch und Wirklichkeit, Träumen und Trauma, aus Unvorhersehbarem und Unerwartetem einander begegnen und sich zu überlagern beginnen und allmählich etwas Neues entsteht. Dann, wenn wir ganz auf uns selbst zurückgeworfen sind. Aber nicht nur dann. Vorgestellt! Kompliziertes einfach zu erklären – eine Leidenschaft von Dr. Heidrun Riehl-Halen. Sie studierte zunächst Medizin, schnupperte parallel dazu in die Medienwelt hinein, schrieb für Tageszeitungen und engagierte sich beim Institut für den Wissenschaftlichen Film in Göttingen, wo sie auch ihre Doktorarbeit platzierte. An der Hochschule für Musik und Theater Hannover lernte sie anschließend im Ergänzungsstudiengang Journalistik das Handwerkszeug einer (Wissenschafts-)Journalistin. Heute schreibt sie Texte nicht nur für Magazine wie die „Impulse“, sondern bedient weitere Printmedien und den Online-Sektor. Außerdem lehrt sie als Dozentin an Hochschulen oder Gesundheitsfachschulen und hält Vorträge über historische Medizinfilme. Beruflich vor Anker gegangen ist sie mit ihrem Büro im Bremer Medienhaus, wo sie seit vier Jahren mit anderen Medienleuten im Verbund auch schwerpunktmäßig in der Kommunikation für Verbände, Gesundheits- und Forschungseinrichtungen arbeitet. Aufgewachsen in Hannover als Kind tschechischer Einwanderer, studierte Daniel Pilar an der Fachhochschule Hannover Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Fotojournalismus. 2006 schloss er das Studium mit dem Diplom ab. Nach drei Jahren als Redaktionsfotograf bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zog es ihn zurück nach Hannover. In der Leinemetropole lebt Daniel Pilar heute mit seinen zwei Söhnen, von hier aus arbeitet er als freier Fotograf unter anderem für Magazine und Verlage sowie Hilfsorganisationen, zudem weiterhin für die FAZ. Er ist gleichermaßen gefragt als Fotograf von Themen aus Wirtschaft und Politik als auch für Porträts oder fotografische Dokumentationen wie etwa Reportagen – dies zudem weltweit und auch in Krisenregionen. Forschungsförderung in Niedersachsen ist untrennbar mit einem Begriff verbunden: „Niedersächsisches Vorab“. In enger Abstimmung mit dem Land Niedersachsen kümmert sich bei der VolkswagenStiftung ein Team um jene „Vorab-Erträge“, die ausschließlich der niedersächsischen Hochschul- und Wissenschaftslandschaft zugute kommen. Der Physiker Dr. Franz Dettenwanger leitet – neben der Betreuung der Förderinitiative „Integration molekularer Komponenten in funktionale makroskopische Systeme“ – das entsprechende Referat in der Stiftung und wird unterstützt von Regina Buch und Simone Künnecke (rechts). Sie berichten an die neue Abteilungsleiterin für den Bereich der Wissenschaftsförderung der Stiftung, Dr. Henrike Hartmann (links). Die Lebenswissenschaftlerin gehört zugleich der vierköpfigen Geschäftsführung der VolkswagenStiftung an. Bildnachweis Impulse 2016_Heft 1 Die Fotos und Abbildungen wurden – soweit unten nicht anders angegeben – dankenswerterweise von den jeweiligen Instituten beziehungsweise Hochschulpressestellen zur Verfügung gestellt. Seiten 1, 16-17 (unten): Dr. Timo Moritz/Meeresmuseum Stralsund Seite 3: Dennis Börsch, Hannover Seiten 4 (oben), 33-38, 40, 41: Felix Seuffert, Kapstadt/Südafrika Seiten 4 (Mitte), 53, 78-87: Christian Burkert, Hannover Seiten 4 (unten), 117, 120, 121, 122 (oben), 127: Guido Dehnhardt, Rostock Seiten 5-17 (oben), 20, 23, 25: Daniel Pilar, Hannover Seiten 18, 19: Stephan Sahm, München Seite 21: Andreas Ruser/Tierärztliche Hochschule Hannover (Standort Büsum) Seite 22: Uwe Kierdorf/Universität Hildesheim Seite 27 (oben, unten): Jan-Peter Kasper/Universität Jena Seite 27 (Mitte): Georg Pohnert/Universität Jena Seite 28: Rodrigo Costa/Algarve University Faro, Portugal Seite 29: Fotolia 88114511 Seite 30: von/über Julia Schroeder, Seewiesen Seite 31: Daniel Schmidt, Oldenburg Seiten 43, 45 (oben links; unten), 46, 48 (oben), 49, 51: Nyani Quarmyne/VISUM Seiten 45 (oben rechts), 48 (unten): Felicitas Hillmann/Freie Universität Berlin Seite 51 (Kasten): Birthe Annkathrijn Pater/Universität Mainz Seite 52: Jan Schuster/Kulturwissenschaftliches Institut (KWI), Essen Seiten 54-63, 66: Johannes Arlt, Hamburg Seite 64: Felix Rösch, Kiel Seiten 65 (Kasten), 69: Museum Haithabu, Schleswig Seite 68: Conny Fehre für das Museum Haithabu, Schleswig Seite 71: Oliver Wings, Hannover/Jens Lallensack, Bonn Seite 72: Eisenhans/Fotolia Seite 73: Sudok/Fotolia Seite 74: Michael Ströck via Wikimedia Commons Seite 75: Eberhardt/Universität Ulm Seite 76 (links): Mirko Krenzel, Hannover Seite 76 (rechts): Elmar Behrmann, Bonn Seite 77: Franz Bischof, Hannover Seite 80: Thorsten Balke/Universität Oldenburg Seite 89: Adam Burton/Corbis Seiten 90, 92 (rechts), 93: Cira Moro, Stuttgart Seite 91: Ross Wanless und Andrea Angel Seite 92 (links): Lutz Bunger/University of Edinburgh, Großbritannien Seiten 94, 98, 103: Christoph Edelhoff, Kiel Seiten 95, 99 (oben): Olivia Roth/Geomar, Kiel Seite 96: Marta Barluenga, Madrid, Spanien Seite 99 (unten): Bernd Egger/Universität Basel, Schweiz Seiten 100, 101: Miguel Landestoy, Hispaniola Seite 102: Martin Menkhoff, Hannover Seiten 105 (oben rechts), 115, 116, 118, 119, 122 (unten), 125 (oben), 126: Fabian Fiechter, Hannover Seite 105 (unten): Jens Steingässer, Darmstadt Seiten 106, 159: Sven Stolzenwald, Hannover Seite 107 (links): Noel Tovia Matoff, Bremen Seite 107 (rechts): Marc Frey/Bundeswehr-Universität München Seite 108: Ricarda Menn/Goethe-Universität Frankfurt am Main Seite 107: Goethe-Universität Frankfurt am Main Seite 110: Tryfonov/Fotolia Seite 112: CRTD, Dresden Seite 113 (links): Ulrich Dahl/Technische Universität Berlin, Pressestelle Seite 113 (rechts): Felix Schmitt für VolkswagenStiftung Seiten 120, 121 (Bullaugen): istock Seiten 124, 125 (unten): Angelika Heim, Rostock Seite 128: M. Hartig/Meyer-Werft, Papenburg Seite 131: Folke Mehrtens/Alfred-Wegener-Institut, Bremerhaven Seite 132: Kristina Baer/Alfred-Wegener-Institut, Bremerhaven Seite 133: A. Müller-Michaelis, Universität Hamburg Seite 134: Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe Seite 135: N. Verch, Universität Hamburg Seite 136: Jens Greinert/Geomar, Kiel Seite 137: Daniela Krellenberg/Geomar, Kiel Seite 139: Thomas Badewien/ICBM, Oldenburg Seiten 140-151: Dorota Gorski, Hannover Seite 153: Universität Bielefeld, Pressestelle Seite 154: Istock Seite 155: Helen Buhler/Stiftung Berliner Museen Seite 156: S. Schalk Seite 157: Photoresque/Augsburg Seite 166 (oben): André Kallinke, Bremen Seite 166 (Mitte, unten): Ina-Jasmin Kossatz, Hannover Impulse 01_2016 167 Wir stiften Wissen VolkswagenStiftung Kastanienallee 35 30519 Hannover Telefon 05 11/83 81-0 Telefax 05 11/83 81-344 [email protected] www.volkswagenstiftung.de