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Die Unruhezone – Interview mit Jonathan Franzen Anlässlich seiner Lesereise durch Deutschland hatten wir Gelegenheit, einen entspannten und charmanten Jonathan Franzen zum Interview zu treffen. Nach Berlin kam Franzen nicht nur, um sein Buch "Die Unruhezone" vorzustellen. Der passionierte Hobbyornithologe begeisterte sich auch für die brandenburgische Vogelwelt. In dem ausführlichen Gespräch ging es unter anderem um Franzens besondere Beziehung zu Kafka und den Peanuts. © Greg Martin Frage: Sie sind seit längerer Zeit wieder einmal in Berlin. Verfolgen Sie eigentlich, was sich literarisch in der deutschen Hauptstadt tut, wer hier schreibt, was hier entsteht? Sie haben ja auch eine Weile als Stipendiat in Berlin gelebt. Jonathan Franzen: Ich habe Freunde, die zu Gast bei der American Academy waren. Über sie erreicht mich ein schwaches Echo von dem, was in der Stadt passiert. Die Leute sprechen mit großer Begeisterung darüber, aber: Nein, so richtig viel bekomme ich nicht mit. Sollte ich? Frage: Doch, schon – wobei vieles von dem, was hier literarisch stattfindet, wie z.B. Leseshows oder Poetry Slams, eher Live-Charakter hat und sich nicht direkt in Bücher übersetzen lässt. Jonathan Franzen: Wenn ich hier leben würde, wäre ich sicher Teil des Ganzen, aber wie Sie schon sagen: Es lässt sich wahrscheinlich schlecht „exportieren“. Frage: Sie sprechen in Ihrem Buch „Die Unruhezone“ von einem sinnlichen Zugang zur deutschen Sprache. Sie schreiben beispielsweise von „Konsonanten, saftig wie Pflaumen“. Das klingt eher ungewöhnlich! Den Deutschen gelten eher Italienisch oder Französisch als besonders klangvolle Sprachen! Jonathan Franzen: Wirklich? Es gibt da einen Aphorismus von Karl Kraus, von dem Gesicht, dass sehr schön oder auch sehr hässlich sein kann – je nach Stimmung. Für mich hat das Deutsche genau diesen Charakter. Wenn jemand mit Hingabe Deutsch spricht, zum Beispiel über Liebe, klingt das schöner als in jeder romanischen Sprache. Wenn man es andererseits mit Wut spricht, regelrecht bellt, dann gibt es weniges, was hässlicher ist. Ich finde, Karl Kraus hat absolut recht, kein Freund derjenigen Sprachen zu sein, die immer nett klingen. Französisch ist so eine Sprache (außer vielleicht die Variante, die in Paris gesprochen wird). Mir ist das zu einfach und gefällig. Im Deutschen bedeutet es Arbeit, damit etwas schön klingt, und das passt ja auch zur deutschen Mentalität und eben auch zu meinen eigenen protestantisch-nordeuropäischen Wurzeln. Letztlich war es aber Zufall, dass ich als Student zur deutschen Sprache gekommen bin und zu Goethe als meinem ersten wichtigen Zugang zu ihr. Frage: Sie sprechen von der Arbeit, sich die deutsche Sprache anzueignen. Als Sie den Zugang zu ihr gefunden hatten, muss Elementares geschehen sein. In „Die Unruhezone“ schreiben Sie, dass Sie durch die deutsche Literatur erst „zum Menschen geworden“ sind. Was hat Ihnen diese Literatur damals gegeben, und was gibt Sie Ihnen heute noch? Jonathan Franzen: Das ist eine ziemlich komplexe Frage! Der Hintergrund für dieses Zitat ist, dass ich zu meinen Eltern gefahren bin, nachdem ich sie eineinhalb Jahre nicht gesehen habe. Ich war als Austauschstudent in Deutschland und habe einen ganzen Herbst lang moderne Klassiker der deutschen Sprache gelesen, allen voran Rilke, Kafka, Kraus und Thomas Mann. Zu Hause in St. Louis hatte ich dann eine Erkenntnis: Für mich waren die Eltern keine mystischen Gestalten mehr, die so unabänderlich wie das Wetter auf uns Kinder niederkamen. Sie waren Menschen, komplizierte
Menschen in komplizierten Beziehungsgefügen. Und ich war das auch. Das war eine grundlegend neue Sichtweise. Gemeinsam am Weihnachtstisch zu sitzen, fühlte sich an, wie einen Film mit Untertiteln zu schauen: Als meine Mutter sich entschuldigte, weil sie nicht die traditionelle Preiselbeerbeilage gemacht hatte, sah ich förmlich einen Untertitel aufleuchten, der verriet, was sie wirklich sagen wollte. Ich fühlte, dass ich den „Decoder“ gefunden hatte – indem ich mich auf diese schwierigen deutschen Texte eingelassen hatte. Gerade die Beschäftigung mit Kafka machte mir klar, dass ein Satz sowohl das eine als auch das komplette Gegenteil davon bedeuten kann. Die Interpretationen eines literarischen Textes und die meiner Eltern waren ähnlich – das hatte schon etwas Transformatives. Auf eine bestimmte Weise begann in dieser Woche erst mein Leben. Es traf mich wie ein Blitz, als ich später Interviews mit Charles M. Schulz las, in denen er die gleiche Wendung benutzte: „Es dauerte sehr lange, bis ich ein Mensch wurde.“ So, als ob man das eben nicht von Geburt an schon wäre. Ich könnte problemlos das ganze Interview mit Karl-Kraus-Zitaten füllen. Zum Beispiel, sinngemäß: Wenn Tiere sich ein wenig menschlich verhalten, wird gesagt: Das sind doch nur Tiere! Wenn sich aber Menschen wie Tiere verhalten, rechtfertigen sie sich: Wir sind doch nur Menschen! Frage: Wäre denn Ihre Entwicklung anders verlaufen, wenn Sie, sagen wir, Dostojewski oder Tolstoi gelesen hätten? Jonathan Franzen: Das ist eine gute Frage! Zweifellos sind sehr viele Dinge passiert, als ich weit weg von meiner Familie in Europa war. Für Amerikaner ist das eine hochgradig transformative Angelegenheit, wenn sie nach Europa kommen und dort ein Jahr verbringen, vor allem dann, wenn man sich wie ich sein ganzes Leben lang darauf gefreut hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob Dostojewski und Tolstoi die gleiche Wirkung auf mich gehabt hätten wie Kafka in der Kombination mit diesem merkwürdigen griechischen Germanistik-Dozenten, den ich an der Universität hatte. Er war die Personifizierung aller moralischen Zweideutigkeiten, denen man bei Kafka begegnet, ein wirklich merkwürdiger und dabei sehr liebenswerter Typ. Ich denke, man beginnt Literatur in dem Moment wirklich zu verstehen, in dem man begreift, dass es nicht um irgendein Bild geht, das in einem Museum hängt. Dass dort ein Mensch wie du schreibt, der herausfinden will, was es auf sich hat mit dem Leben. Vielleicht wäre mir das auch mit anderen Autoren passiert, aber es traf mich wirklich wie ein Schlag, als ich Kafka las, mit der ganz speziellen Klarheit des Denkens, das die deutsche Sprache pflegt. Das Ganze ist in jedem Fall eine gute Story. Und das ist ja „Die Unruhezone“: Eine Sammlung von Geschichten, die eben deswegen erzählt werden, weil sie gute Storys sind. Bin ich der Frage genügend ausgewichen (lacht)? Frage: Um auf den von Ihnen erwähnten Charles M. Schulz, den Erfinder der Peanuts, zurückzukommen: Es gibt da diesen fantastischen Satz von Ihnen, dass es Sie das halbe Leben gekostet hat, Ihre Eltern als Cartoons zu sehen. Das ist erklärungsbedürftig – auch vor dem Hintergrund seines und Ihres großen Themas: des Scheiterns. Jonathan Franzen: Sie möchten, dass ich in ein paar Sätzen die ganze Geschichte zusammenfasse (lacht)?! „Cartoonartig“ ist ein negativer Begriff – „das ist kein echter Charakter, das ist nur ein Cartoon!“ Aber die Neurowissenschaft hat darüber geforscht, wie wir uns selbst bildlich vorstellen, wenn wir uns mit jemandem unterhalten. Wir visualisieren dann nicht unsere Gesichter, wie wir sie im Spiegel sehen, sondern vereinfachte Cartoons. Wie es sich im Inneren anfühlt, das ist wie ein Cartoon! Man könnte behaupten, dass wir Stimmungen und Zustände besser identifizieren, wenn sie cartoonartig sichtbar werden. Es gibt eine unmittelbarere und tiefere Zuneigung zu etwas, das weniger spezifisch und ausdifferenziert ist. Und wenn es einem nun gelingt, die ärgerlichen Eigenschaften seiner Eltern auszublenden und nur die reduzierten Masken zu sehen, dann könnte einiges von dem, gegen das man sein Leben lang angekämpft hat, einfach wegfallen. Das ist die oberflächliche Bedeutung dieses Satzes. Frage: Nun könnte man aber sagen, dass Sie in Ihren Büchern genau das Gegenteil machen – Sie schauen ganz genau hin, differenzieren. Da ist wenig Cartoonhaftes! Jonathan Franzen: Das fühlt sich für mich anders an! Mein eigener Charakter im neuen Buch z.B. ist ein sehr kleiner Ausschnitt von der Person, die ich tatsächlich gewesen bin. Ich habe fast alles weggelassen, um bestimmte comichafte Charakteristika zu betonen. Und ich denke, das tue ich auch in meinen Romanen. Wenn man nicht gerade Proust heißt, kann man kein Thema erschöpfend darstellen – und selbst dann braucht man dazu sieben Bände (lacht)! Alle anderen müssen sich da etwas beeilen. Ich nehme mein Leben als so grausam komplex wahr, dass meine einzige Hoffnung,
der Komplexität gerecht zu werden, ist, wegzulassen und am Ende einen Cartoon dieser Komplexität zu haben. Frage: Tatsächlich ist die Szene mit dem Streit Ihrer Eltern um die angenehmste Thermostateinstellung („Comfort-Zone“ oder nicht) großartig gezeichnet – ein ganz präzises Bild einer Beziehung. Haarsträubend und großartig! Jonathan Franzen: Danke! Frage: Ihre Bücher erscheinen ausgesprochen lebensfroh, wobei das ein ambivalenter Begriff im Zusammenhang mit Ihrer Literatur ist, deren großes Thema immer wieder das Scheitern ist. Aber dennoch: Ihre Geschichten sind voll mit Leben, prall und mit viel Liebe gezeichnet. Sie sind alles andere als deprimierend – es ist eher, als würde man in einen großen Basar mit unglaublichen Farben und Gerüchen eintauchen. Jonathan Franzen: Nochmals danke, es freut mich, dass Sie die Bücher in dieser Art berühren. Eine der Fragen, die mich während des Verfassens dieses Erzählbandes verfolgte, war – angesichts der Tatsache, dass ich gute Eltern und Geschwister hatte und insgesamt sehr glücklich aufwuchs –: Warum wurde ich immer derartig wütend und schrieb diese wütenden Bücher? Ich kann heute „Die 27. Stadt“ kaum noch lesen, so unglaublich wütend kommt mir das Buch heute vor. Damals war mir das gar nicht bewusst; ich dachte vielmehr, ich hätte eine nette kleine Satire geschrieben (lacht). Und ich die Kritik nicht verstehen, die von einem dunklen, hasserfüllten Buch sprach. Ich hatte eigentlich gar keinen Grund für diesen Hass und diese Traurigkeit, aber sie kommen dennoch in meinen Büchern vor. In dieser Hinsicht ist „Die Unruhezone“ ein Eingeständnis dieses Widerspruchs. Aber es gibt viele solcher Paradoxe in mir. Ich denke, ich bin der produktivste faulste Mensch, den ich kenne. Und es gibt wahrscheinlich keinen größeren Misanthropen, der Menschen so sehr liebt. Ich mag sie, und trotzdem machen sie mich wahnsinnig. Ich verstehe das selbst nicht ganz. Immer mehr sehe ich mich als schwerfälligen, irritierbaren Bären, eine Art dummen Bären, der sehr sensibel und verletzlich ist. Das ist mein Cartoon, mit dem ich derzeit arbeite. Ist doch ein nettes Tier, oder nicht? Frage: Und noch dazu in Berlin sehr beliebt! Jonathan Franzen: Genau! Die Fragen stellten Eva Hepper und Henrik Flor, Literaturtest.