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Fortbildung
Vol. 27 Nr. 2 2016
Invasive Pneumokokken-Erkrankungen im Prevenar®-Zeitalter Gradoux Ea) , Kyprianidou Sa) , Asner Sb) , Crisinel PAb) , Perez MHc) , Lausanne Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
Abkürzungen IPD PCV13 PCV HUS
invasiven Pneumokokken Erkrankungen Prevnar 13õ Pneumococcal Conjugate Vaccine Hemollytisch-urämisches Syndrom
Einführung Wir sahen uns in der pädiatrischen Intensiv abteilung des CHUV in letzter Zeit extrem schweren invasiven Pneumokokken-Erkrank ungen (IPD) gegenüber, bei Kindern, die gemäss schweizerischem Impfplan mit Prevenar® 13 (PCV13) geimpft waren. Diese Vorkommnisse (wir werden 3 davon kurz beschreiben) haben uns aufhorchen lassen. Es beunruhigt uns die Tatsache, dass mit der Einführung von PCV13 Ersatz-Serotypen auftauchen.
Klinische Fallbeispiele Erster Fall Es handelt sich um ein zweijähriges Mädchen, das wegen einer schweren, in ihrem Umfeld erworbenen und durch eine Bakteriämie komplizierten Pneumonie aufgenommen wurde; es entwickelte sich ein durch S. pneumoniae (Serotyp 3) hervorgerufenes hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS), das eine Peritonealdialyse und Langzeitintubation erforderte. Zweiter Fall Neunmonatiger Säugling mit septischem Schock und Meningitis durch S. pneumoniae (Serotyp 24), kompliziert durch MultiorganVersagen und Purpura fulminans. Nach langdauernder Intubation und Hämofiltration musste wegen schweren Nekrosen an drei Extremitäten eine Amputation vorgenommen werden. Dritter Fall Dieser 7-monatige Knabe wurde mit therapieresistenten Krämpfen, bedingt durch eine S. a) Département Médico-Chirurgical de Pédiatrie, CHUV b) Unité d’infectiologie et Vaccinologie pédiatrique, Département Médico-Chirurgical de Pédiatrie, CHUV c) Unité de Soins Intensifs Pédiatriques, Département Médico-Chirurgical de Pédiatrie, CHUV
pneumoniae (Serotyp 33) Meningitis aufgenommen, die eine vorübergehende externe Ventrikeldrainage notwendig machte. Es kam zu einem Dauerschaden in Form von Lähmung der linken oberen Extremität und einseitiger neurosensorischer Taubheit. Diese drei Kinder waren alle gemäss schweizerischem Impfkalender geimpft und hatten mindestens zwei Dosen PCV13 erhalten. Sie hatten keine assoziierte Krankheit, insbesondere keinen bekannten Immunmangel.
Mikrobiologie und Klinik Pneumokokken (Streptococcus pneumoniae, Sp) sind grampositive Kokken, die in Form von Diplokokken oder kurzen Ketten erscheinen. Über 90 verschiedene Oberflächenpolysaccharide definieren die Serotypen (eine Ziffer und ein Buchstaben, z. B. 6A), die auf Grund antigener Ähnlichkeiten in Serogruppen (dieselbe Ziffer, z. B. 6A, 6B) zusammengefasst werden. Diese Oberflächenpolysaccharide sind für die Virulenz und das invasive Potential der Bakterien von Bedeutung. Sp gehört zur üblichen Schleimhautflora des Nasopharynx, und zwar ab den ersten Lebensmonaten. Infektionen sind im Allgemeinen durch die Kolonisierung durch einen neuen Serotyp bedingt, ohne dass der auslösende Faktor klar ermittelt werden konnte1) . Dieser Keim verursacht nicht invasive Infektionen, wie akute Mittelohrentzündungen und Sinusitiden, kann aber auch schwere Krankheiten hervorrufen, die unter der Bezeichnung invasive Pneumokokken-Erkrankungen (IPD) zusammengefasst werden, und sich durch den Nachweis von Sp in einer normalerweise sterilen Körperregion auszeichnen, wie Bakteriämien (okkult oder nicht), durch ein Empyem (oder nicht) komplizierte Pneumonien oder Hirnhautentzündungen. Im Gegensatz zum älteren Kind oder Erwachsenen, bei welchen die lobäre Verdichtung die häufigste radiologische Erscheinungsform der Pneumokokkenpneumonie darstellt, kann beim Kleinkind eine Bronchopneumonie mit isoliertem oder multiplen alveolären Infiltraten auftre-
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ten. Durch ein Empyem oder Lungenabs zess komplizierte Pneumonien sind mehrheitlich durch Sp bedingt und scheinen zuzunehmen.
Impfung Der erste Polysaccharid-Impfstoff gegen Pneumokokken (Pneumococcal Polysaccharides Vaccine-PPV) kam 1977 in den USA auf den Markt. Er deckte ursprünglich 14 Serotypen ab. 1983 wurde er durch PPV23 (Pneumovax®) ersetzt. Da dieser Impfstoff ausschliesslich aus gereinigten Kapsel-Polysacchariden zusammengesetzt ist, ruft er eine T-unab hängige Immunantwort hervor, an welcher einzig B-Lymphozyten beteiligt sind und die weniger umfassend und dauerhaft als eine T-abhängige Immunantwort ist. PPV23 er möglicht zudem nicht die Bildung eines Immungedächtnisses, führt zu einer verminderten Immunantwort bei Nachimpfungen und zu einer verminderten oder gar fehlenden Immunantwort bei Kindern unter 2 Jahren. Im Übrigen verursacht er keine Änderung der Kolonisierung des Nasopharynx. In der Schweiz wurde der erste konjugierte Pneumokokken-Impfstoff, Prevenar 7® (PCV7), 2001 bei Risikokindern eingeführt. Dieser Impfstoff besteht ebenfalls aus Kapselpolysacchariden, welche jedoch an ein Protein (CRM197, nicht-toxische Variante des C. diph theriae-Toxins) gebunden sind. Diese Glukurokonjugation ermöglicht eine T-Lymphozyten-abhängige Immunantwort, führt damit zu einer Reifung der B-Lymphozyten und somit zu einem Immungedächtnis. Dieser Impfstoff ist auch bei unter 2-Jährigen Kindern wirksam. PCV7 wurde 2006 in die Liste der ergänzenden Impfungen bei Kindern unter 5 Jahren aufgenommen. Dieser Impfstoff deckte 2006 in der Schweiz 60 % der invasiven Pneumokokkenstämme bei unter 2-jährigen Kindern ab. Seine Einführung verminderte die invasiven Infektionen durch Pneumokokken in dieser Altersklasse um die Hälfte. Hingegen hat die Zahl an nicht im Impfstoff vertretenen Stämmen stark zugenommen, so dass PCV7 2011 nur noch 16 % der invasiven Pneumokokkenstämme bei < 2-jährigen abdeckte. Er wurde deshalb logischerweise durch PCV13 ersetzt, wodurch der Impfschutz von 16 % auf 61 % der < 2-jährigen Kinder erhöht werden konnte. Dieser Schutz hat ebenfalls bei 2- bis 4-jährigen Kindern, bei welchen durch PCV7 leider keine Verminderung der IPD erreicht worden war, von 8 % auf 80 % zugenommen2) .
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Auswirkung der Impfung auf invasive Pneumokokken-Erkrankungen Eine wesentliche Auswirkung der konjugierten Pneumokokken-Impfstoffes zeigt sich in der Verminderung der nasophyryngealen Besiedelung durch die Impfserotypen, was zu einer deutlichen Abnahme von Infektionen bei den geimpften Kindern und zu einer Herdenimmunität (Abnahme der IPD in der nichtgeimpften Population) führt. In der Schweiz meldete das Bundesamt für Gesundheit nach Einführung von PCV7 eine Abnahme von IPD bei < 2-jährigen Kindern um die Hälfte, und eine Abnahme um 85 % von Krankheiten, die durch im Impfstoff vertretene Serotypen bedingt waren3) . Es kam jedoch rasch zu einem Ersatzphänomen, indem parallel zur Abnahme der Impfserotypen eine Zunahme gewisser nicht-Impfserotypen beobachtet wurde4) . In Nordamerika und weniger ausgeprägt in Europa war einer der hauptsächlichsten Ersatzkeime, der multiple Antibiotikaresistenzen aufweisende Serotyp 19A4) . Zusätzliche Impfserotypen im PCV13 richten sich spezifisch gegen diese aufkommenden Ersatzserotypen. In einer breit angelegten amerikanischen Studie5) (über 30 000 Proben) betrug die Abnahme der IPD durch die zusätzlich im PCV13 enthaltenen Serotypen bei Kindern < 5 Jahren 93 %; man erklärt sich das Phänomen hauptsächlich durch die Abnahme der Serotypen 19A und 7F. Die Autoren stellen einerseits ebenfalls eine Herdenimmunität fest, andererseits kein eindeutiges Aufkommen von Ersatzserotypen. Zudem wurde eine Abnahme der Antibiotikaresistenzen um über 50 % festgestellt, weitgehend dank der Abnahme des Serotyps 19A. Die Autoren schätzen, dass in den 3 Jahren nach dem Einführen von PCV13 in den USA ca. 10 000 IPD bei Kindern und ca. 20 000 bei Erwachsenen sowie 3000 Todesfälle (97 % Erwachsene) verhindert wurden. Die Verteilung der IPD hat sich in der Studie leicht verändert, indem die Pneumonien von 43 auf 39 % abgenommen haben, die Bakteriämien stabil blieben, während die Meningitiden von 9 auf 13 % zunahmen.
Hämolytisch-urämisches Syndrom im Zusammenhang mit S. pneumoniae (Sp-HUS) Das HUS ist klassischerweise durch eine Shigatoxin produzierende E. coli-Infektion bedingt. Allerdings treten 5 bis 10 % der HUS im Kindesalter im Zusammenhang mit einer
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Sp-Infektion auf und die Sp-HUS-Inzidenz wird auf 0.4–0.6 % geschätzt. Pathophysiologisch scheint am Sp-HUS das Kryptantigen Thomsen-Friedenreich beteiligt zu sein, das sich an der Oberfläche von Erythro-, Thrombound Hepatozyten sowie Glomeruluszellen befindet, aber normalerweise nicht exponiert wird. Pneumokokken produzieren ein Enzym, die Neuraminidase, das die N-Acetylneuraminsäure der Oberflächenglycoproteine spaltet und somit das Thomsen-Friedenreich-Antigen exponiert. Letzteres interagiert mit den präformierten IgM-Antikörpern, was Agglutination, Hämolyse und Endothelläsionen verursacht6) . Die wichtigsten am Sp-HUS beteiligten Serotypen waren bisher durch PCV13 abgedeckt. Man stellt eine Zunahme der relativen Inzidenz des Serotyps 19A nach Einführen von PCV7 sowie eine Assoziation von Sp-HUS mit dem Serotyp 3 fest7) .
Diskussion Zwei unserer 3 Patienten hatten eine Infektion durch einen nicht im PCV13 enthaltenen Serotyp. Obwohl der Serotyp 24 möglicherweise ein neu auftretender Serotyp im Zusammenhang mit IPD bei geimpften Kindern ist, wenn man zwei grossen europäischen Studien (Frankreich, Grossbritannien) Glauben schenken will, die über eine Prävalenz von ca. 20 % berichten8), 9) , wird diese Beobachtung in anderen epidemiologischen Zusammenhängen, in welchen kein neu aufkommender Serotyp eindeutig nachgewiesen wurde, nicht bestätigt. Der Serotyp 33 wurde nicht spezifisch als Ursache von IPD ausgemacht. Die erste Patientin hatte eine durch Serotyp 3 bedingte Infektion, obwohl sie korrekt ge impft worden war und PCV13 diesen Serotyp enthält. Dieser Misserfolg kann durch eine suboptimale Immunreaktion des Serotyps 3 erklärt werden, der offenbar der am schwächsten immunogene der PCV13-Impfserotypen ist10) . Die Verminderung der IPD durch die aktuelle Impfstrategie ist unbestritten. Durch das Neuauftreten von Ersatz-Kapselantigenen ist ein vollständiges Ausrotten invasiver Pneumokokken-Erkrankungen jedoch nicht zu erwarten. Die mikrobiologische Überwachung zur Identifizierung eventuell neu auftretender Ersatz-Serotypen ist deshalb notwendig, um Impfstrategie und Entwicklung neuer Impfstoffe steuern zu können.
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Abschliessend kann gesagt werden, dass die Kinderärzte unbedingt weiter gegen IPD impfen müssen. Es muss jedoch im Bewusstsein geschehen, dass trotz ausgezeichneter Wirksamkeit des PCV13 kein 100 % -iger Impfschutz gegen IPD erreicht werden kann, die eine wichtige Ursache von Morbidität und Mortalität, insbesondere während dem ersten Lebensjahr verbleiben. Referenzen
1) Ampofo K, Byington C. Streptococcus pneumoniae. In: Pediatric Infectious Diseases. 4th edition, Elsevier; 2012: 721–8. 2) Vaccination contre les pneumocoques: recommandations visant à prévenir les maladies invasives à pneumocoques chez les groupes à risque. Office fédéral de la santé publique (OFSP) et Commission fédérale pour les vaccinations (CFV), février 2014. 3) Recommandations de vaccination contre les pneumocoques pour les enfants de moins de cinq ans. Remplacement du vaccin conjugué 7-valent par le vaccin conjugué 13-valent. OFSP, novembre 2010. 4) Sharma D, Baughman W, Holst A et al. Pneumococcal Carriage and Invasive Disease un Children Before Introduction of the 13-valent Conjugate Vaccine: Comparison With the Era Before 7-valent Conjugate Vaccine. The Pediatric Infectious Disease Journal. 2013; 32: e45–e53. 5) Moore M, Link-Gelles R, Schaffner W et al. Effect of use of 13-valent pneumococcal conjugate vaccine in children on invasive pneumococcal disease in children and adults in the USA: analysis of multisite, population-based surveillance. Lancet Infect Dis 2015, 15(3); 301–9. 6) Spinale J, Ruebner R, Kaplan B et al. Update on Streptococcus pneumoniae associated hemolytic syndrome. Current Opinion in Pediatrics 2013; 25(2): 203–8. 7) Bender J, Ampofo K, Byington C et al. Epidemiology of Streptococcus pneumoniae-Induced Hemolytic Uremic Syndrome in Utah Children. The Pediatric Infectious Disease Journal. 2010; 29, nr 8. 8) Waight P, Andrews NJ, Ladhani SN et al. Effect of the 13-valent pneumococcal conjugate vaccine on invasive pneumococcal disease in England and Wales 4 years after its introduction: an observational cohort study. Lancet Infect Dis 2015, 15(5): 535–43. 9) Lepoultre A, Varon E, Georges S et al. Impact of pneumococcal conjugate vaccines on invasive pneumococcal disease in France. 2002–1012. Vaccine 33 (2015), 359–66. 10) Andrews N, Waight P, Pearce E et al. Serotype-specific effectiveness and correlates of protection for the 13-valent pneumococcal conjugate vaccine: a post-licensure indirect cohort study. Lancet Infect Dis 2014, 14: 839–46.
Korrespondenzadresse Dr. Eugénie Gradoux Département medico-chirurgical de pédiatrie CHUV 1011 Lausanne
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