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inprekorr
INTER NATIONA LE PR ESSEKOR R ESPONDENZ
KEIN „LEXIT“ OHNE „EIN ANDERES EUROPA IST MÖGLICH“
6/2016
Ausgabe 6/2016
Europa
Palästina und Israel
DIE WIDERSPRÜCHLICHE NATUR DES M5S
KEIN „LEXIT“ OHNE „EIN ANDERES EUROPA IST MÖGLICH“
SCHIMON PERES AUS DER PERSPEKTIVE SEINER OPFER
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Renzis Niederlage würde zu politischer Instabilität im Land führen. „Das wäre ein Schritt zurück für ausländische Investitionen in Italien“, warnte US-Botschafter John Phillips.
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Es gibt keine Abkürzungen bei der Auf bauarbeit einer Massenbewegung der Arbeiterklasse und einer antikapitalistischen Klassenorganisation. Die Rolle des M5S ist nur eine Bestätigung dafür.
Ein Beitrag wider die Scheinalternative Unterwerfung unter den bürokratischen Zentralismus aus Brüssel oder Aufgabe der Perspektive eines Vereinigten Sozialistischen Europas.
Über Tote soll nur gut gesprochen werden. Sich bei Verstorbenen des öffentlichen Lebens streng an diese Maxime zu halten, wäre manches Mal für deren Opfer nur schwer zu ertragen.
Von Diego Giachetti
Von Franco Turigliatto
Von Catherine Samary
Von Ilan Pappe
Italien
Italien
WEGE AUS DER SACKGASSE
DAS MODELL RENZI IN DER KRISE
Die Regierungskrise scheint durch die Bildung eines rechten Minderheitskabinetts unter Duldung der Sozialdemokratie vorerst abgewendet, die Wurzeln der Systemkrise reichen jedoch tiefer. Von Antoine Rabadan
Spanien
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die Internationale
EIN (SCHWACHER) STAAT, ZWEI (STARKE) LÄNDER
POLITIK ALS STRATEGISCHE KUNST
GRUNDZÜGE EINER BEDÜRFNISORIENTIERTEN ÖKONOMIE
KAPITALISTISCHE GLOBALISIERUNG, IMPERIALISMEN, GEOPOLITISCHES CHAOS UND DIE FOLGEN
Nach 52 Jahren endlosen Kampfes stand die Zustimmung zu den Verträgen zwischen FARC und der Regierung Santos außer Zweifel. Und doch ging das Referendum schließlich ganz anders aus …
So wie „der Krieg nichts anderes als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist, bleibt die strategische Vorbereitung die entscheidende Vorbedingung zum Sieg.
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Wenn klar ist, dass ein systemischer Umbruch unausweichlich ist, stellt sich die Frage, wie diese für große Teile der Bevölkerung essentielle Transformation verläuft und in welche Richtung.
Die strukturell instabile kapitalistische Globalisierung führt weltweit zum Zerfall der Legitimität und zu einem permanenten Krisenzustand, worauf wir als Internationalisten eine Antwort geben müssen.
Von Raúl Zibechi
Von Daniel Bensaid
Von Bernhard Brosius
IV. Internationale
Kolumbien
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die Internationale
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die Internationale
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WEGE AUS DER SACKGASSE Nachdem die Granden der PSOE sich mit ihrer Forderung, ein Minderheitskabinett unter Rajoy durch die Stimmenthaltung ihrer Abgeordneten zu dulden, durchgesetzt und dadurch Parteichef Sánchez zum Rücktritt gezwungen haben, scheint die Regierungskrise vorerst beendet zu sein. Die Sozialdemokratie hingegen hat sich damit in eine subalterne Position gegenüber der Volkspartei eingemauert und dürfte ihre Rolle im bisherigen Zweiparteiensystem verloren haben, wie auch ihre desaströsen Ergebnisse der Regionalwahlen in Galizien und Euskadi gezeigt haben. Da mit diesem Manöver die ehemaligen Parteichefs González und Zapatero ihre Botmäßigkeit gegenüber den Vorgaben aus Brüssel über die Daseinsberechtigung der Sozialdemokratie gestellt und damit den Niedergang der Sozialdemokratie wohl weiter beschleunigt haben, wird Sánchez versuchen, durch die Einberufung eines außerordentlichen Parteitags und eine weitere Urwahl des Parteivorsitzes den Zerfallsprozess zu stoppen, um weiterhin eine eigenständige „Alternative“ bei der Verwaltung der Kapitalherrschaft präsentieren zu können. Der folgende Beitrag wurde noch vor diesen Ereignissen verfasst, die darin dargelegten Grundzüge der Systemkrise in Spanien und v. a. des Anpassungsprozesses von Podemos haben jedoch ihre Gültigkeit nicht verloren. Antoine Rabadan
Auf den ersten Blick liefern die Parlamentswahlen vom 26. Juni ein eindeutiges Ergebnis, wenn man sie auf bloß zwei, freilich wesentliche Fakten reduziert. Die Rechte in Gestalt der PP hat trotz ihrer Verwicklung in zahllose Korruptionsaffären gegenüber den vorigen Wahlen im Dezember 700 000 Stimmen resp. 14 Abgeordnete hinzugewonnen. Podemos hingegen, der damalige Senkrechtstarter, hat im Vergleich eine Million Stimmen verloren und die Zahl der Abgeordneten (71), die sie damals im Verbund mit regionalen Listen und den Grünen von Equo erobert hatte, nur dank der Unterstützung durch 4 Inprekorr 6/2016
Izquierda Unida (IU) halten können. Ihr erklärtes Ziel hat sie verfehlt, nämlich die sozialdemokratische PSOE zu überholen und zur stärksten Kraft in der Linken und somit zur dezidierten Opposition zur Rechten zu werden. In der Gesamtschau jedoch relativiert sich dieser Erfolg der PP, da sie bis heute (Ende August) noch immer keine regierungsfähige Koalition – auch nicht als geduldetes Minderheitskabinett – zusammenbekommen hat, und man muss sich fragen, was mit Podemos zwischenzeitlich passiert ist. Das aus dem „Übergang zur Demokratie“ (Transición) nach dem Tode des Diktators Franco 1975 hervorgegange-
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ne Regime steckt in einer tiefen Krise, die wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich auf die Revolte der Empörten von 2011 (15 M) zurückzuführen ist. Das Paradoxe an der temporären Niederlage war dann, dass im November desselben Jahres die PP bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit erzielen konnte. Das Zweiparteiensystem als tragende Säule des Übergangsregimes
Das Zweiparteiensystem, das sich zwischen 1975 und 1978 (Verabschiedung der Verfassung) etabliert hat, gab den politischen Rahmen ab, durch den der Radikalisierungsprozess in Politik und Gesellschaft gestoppt werden konnte, der in der ausgehenden Diktatur zu immer bedrohlicheren Massenstreiks und -demonstrationen geführt hatte. Mit der Einführung einer parlamentarischen Monarchie durch ein Einvernehmen zwischen der Rechten und der Linken (damals in Gestalt der PSOE und der KP Spaniens) etablierten sich auch die späteren Regimeparteien. Auf der Rechten wurde 1982 die Demokratische Zentrumsunion (UCD) von Adolfo Suárez, der seine „historische“ Mission, die Transición angeschoben zu haben, erfüllt hatte, durch den Vorläufer der PP, die Volksallianz AP verdrängt. Auf der Linken wurde die KP, die die wichtigste Partei im antifranquistischen Widerstand gewesen war, rasch an den Rand gedrängt und erlebte bei den Parlamentswahlen 1982 einen massiven Einbruch, während sich die beim Kampf gegen die Diktatur nahezu unsichtbare PSOE komplett verjüngt wie Phönix aus der Asche erhob. Dies war nur möglich, weil die PSOE politisch und finanziell von der deutschen Sozialdemokratie gepuscht wurde, um mit ihrer Hilfe den 1986 erfolgten Beitritt Spaniens zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG zu bewerkstelligen. Mit der Transición gelang es, das politische Geschehen weg von den Protesten auf den Straßen und in den Betrieben zu holen und ins Parlament zu verlagern, wo es sich in ausgewogenen und kontrollierten Debatten erschöpfte. Während es sich unter der Diktatur noch in Stillschweigen geübt hatte, schwang sich dies Parlament nunmehr zur exklusiven Wirkungsstätte der Demokratie schlechthin auf und entzog dadurch der außerparlamentarischen Opposition die Legitimität. Dieses Manöver blieb auch lange erfolgreich und prägte nachhaltig die politische Landschaft. Die politische Systemkrise
In der gesamten Zeit von 1982 bis 2008 dominierten die beiden Regimeparteien die Wahlen, bei denen sie jeweils
stets mit 50 % (1989) bis 63 % (1982) der Stimmen gewinnen konnten. Den Auftakt dabei bildete 1982 die Sozialdemokratie unter Felipe González, der sich 14 Jahre an der Regierung hielt. Nach Jahren des Aufschwungs kam 2011 dann der relative Einbruch, als erstmals seit 1989 die Schwelle von 50 % für die Regierungspartei nur knapp überschritten werden konnte. Dies war dann freilich erst der Auftakt zum späteren Absturz im Dezember 2015 (35 %), der auch bei den Neuwahlen im Juni 2016 mit 38 % nur wenig gemildert werden konnte. Dasselbe Bild ergibt sich, wenn man die Stimmen (gemessen an den Wahlberechtigten) für die beiden Systemparteien im Zeitraum 1982–2011 zusammen betrachtet, die stets zwischen 72 % und 83 % lagen. Dieser Spitzenwert wurde im Krisenjahr 2008 erzielt, als José Luis Zapatero trotz der unübersehbaren Vorboten der Wirtschaftskrise (wiederkehrende Inflation und zunehmende Arbeitslosigkeit) seine Wiederwahl sichern konnte. Bereits 2011 jedoch wurde dieser Spitzenwert mit „bloß“ 73 % um 10 % unterschritten, während zugleich die Wahlbeteiligung zurückging. Der freie Fall, nämlich auf 50 %, erfolgte dann im Dezember 2015 und konnte mit den 55 % im Juni 2016 nicht substantiell aufgefangen werden. […] Insofern kann man sagen, dass das bestehende Regime infolge der Bewegung der Empörten und drei Jahre später der Entstehung von Podemos einen historischen Einbruch an Attraktivität und Legitimität erlebt hat. Dafür spricht auch, dass erstmals in der Geschichte des Landes eine Neuwahl nach sechs Monaten erfolgen musste und gar eine weitere droht. Obendrein besteht momentan durch die fehlenden Mehrheitsverhältnisse ein Zustand eingeschränkter Regierungsfähigkeit. Insofern lässt sich von einer langfristigen Nachwirkung der Protestbewegung von 2011 sprechen, die das gewohnte Zweiparteiensystem mit einem Wechsel von PP und PSOE an der Regierung erschüttert hat. Keine regierungsfähige Mehrheit in Sicht
Die systemtreue Tageszeitung El País beklagt, dass „die Legislative so lange wie noch nie in ihrer demokratischen Funktion gelähmt ist. Das Abgeordnetenhaus hat seit neun Monaten kein einziges Gesetz mehr verabschiedet und die Regierung steht seit nahezu zehn Monaten nicht mehr unter parlamentarischer Kontrolle. Über 2500 Anfragen der Abgeordneten an die Exekutive sind unbeantwortet. Die Experten warnen bereits, dass die Blockade einer der drei Staatsgewalten gegen die Regeln Inprekorr 6/2016 5
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der Verfassung verstößt und schwere Konsequenzen drohen.“ Selbst der Haushaltsplan für 2017, in dem eine Beschränkung der Staatsausgaben und eine Reduktion der Neuverschuldung gemäß der nachdrücklichen Vorgaben der EU-Kommission vorgesehen sind, steht in Gefahr und damit die Raison d’être der herrschenden Politiker. Eine Große Koalition nach deutschem Vorbild, wie sie von den Granden der PSOE propagiert wird, scheint vorerst ausgeschlossen zu sein, weil die gegenwärtige Parteiführung um Pedro Sánchez blockiert. Weniger aus politischer Überzeugung – denn so etwas liegt diesen Herren fern – sondern aus einer politischen Kosten-Nutzen-Rechnung heraus, dass davon nur die Protestbewegung und Podemos – trotz der inkohärenten Linie dieser Partei – profitieren würden. Viel zu stark wiegt noch die Wahlniederlage von 2011 nach und eine Große Koalition könnte den Absturz beschleunigen. Podemos vor dem Eintritt ins Regierungslager?
Wie erwähnt lag das Wahlergebnis im Juni für die Partei weit unterhalb der Prognosen. Trotzdem muss dies Scheitern vor dem Hintergrund der tiefen Systemkrise des herrschenden Zweiparteiensystems gesehen werden, für deren Entstehung Podemos trotz ihrer Schwächen mithin ausschlaggebend ist. Denn trotz des relativen Rückgangs von 16 % gegenüber den Wahlen vom Vorjahr konnte Podemos im Juni über fünf Millionen Wähler mobilisieren und damit – im Bündnis mit anderen politischen Kräften – viermal so viel wie vor zwei Jahren allein bei den EU-Wahlen – gerade mal vier Monate nach der Gründung. Die Formation unter dem Label Unidos Podemos bildet noch immer einen mit dem System inkompatiblen Anziehungspunkt, dessen Wahlergebnis fast 40 % des Stimmenanteils ausmachen, den die beiden Systemparteien zusammen erhalten haben. Deren Verluste sind teils durch zunehmende Wahlenthaltung entstanden, teils auch durch Wählerwanderung zu Podemos oder Ciudadanos, die fast halb so viel Stimmen wie die PP erzielen konnten und damit eine systemimmante Wählerreserve bilden – allerdings außerhalb des traditionellen Zweiparteiensystems. Und genau darin liegt das Verdienst von Podemos, nämlich im Gefolge der Proteste von 2011 zu der Systemkrise und der gegenwärtigen Lähmung an der Regierung beigetragen zu haben. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass Podemos im Begriff ist, sich von ihren Wurzeln in der Protestbewegung trotz der wechselseitigen Befruchtung zu lösen und sich in 6 Inprekorr 6/2016
den bestehenden politischen Alltag zu integrieren. Dort agieren „vernünftige“ Leute, die um Einigung bemüht sind und den institutionellen Rahmen nicht sprengen wollen, der trotz aller Schwächen das System von 1978 aufrecht erhält. Die Festlegung auf den Elektoralismus, die Ende 2014 auf dem Kongress von Vistalegre erfolgte und deren scheinradikale Losung vom „Himmel, den es im Sturm zu erobern“ gälte, im Verbund mit dem charismatischen Auftritt von Pablo Iglesias die Sinne der Mitglieder vernebelte, sowie die zwischenzeitlichen Wahlerfolge als scheinbare Bestätigung dieser Linie haben die Partei immer weiter zu einer Maschinerie verwandelt, die nur noch für Wahlen auf die Beine zu bringen ist. Über diesen Aspekt ist bereits hinreichend geschrieben worden1, hier soll nur ein zentraler Punkt hervorgehoben werden, nämlich die Entscheidung, gemeinsam mit der PSOE eine Regierung „für den Wandel“ bilden zu wollen, auch wenn diese sich vorerst sträubt. Vergessen soll werden, dass die PSOE bis vor kurzem und noch nach dem Kongress von Vistalegre, als die Fixierung auf die Wahlen noch nicht alle Schranken niedergerissen hatte, als Teil der politischen „Kaste“ galt, die strukturell mit ihrem konservativen Alter Ego in Gestalt der PP verbandelt ist. Die Führung um Iglesias revidiert damit die bisherige politische Ausrichtung und bricht mit dem zentralen Anliegen der Protestbewegung von 2011, der radikalen Gegnerschaft zum bestehenden System. Die vor den Europa-Wahlen hochgehaltene Abgrenzung gegen die bestehende Ordnung schwindet damit oder wird sogar mit Füßen getreten. Die Hoffnung auf eine wirkliche Alternative, die zumindest unter den enthusiastischsten Anhängern herrschte, weicht dem grauen Alltag einer Regierungsbeteiligung, die für einen Regimewandel stehen soll – eine Quadratur des Kreises. Eine Liebeserklärung an die Sozialdemokratie
Die Kür der PSOE zum Wunschpartner an der Regierung geht einher mit einer opportunistischen Verfälschung der jüngeren Geschichte, als Pablo Iglesias während der letzten Wahlkampagne José Luis Zapatero zum besten Regierungschef seit Bestehen der spanischen Demokratie erklärt hat. Damit gerät in Vergessenheit, dass u. a. gegen dessen Regierung und namentlich gegen dessen Reform des Arbeitsrechts die Protestbewegung von 2011 ihren Aufschwung genommen hat. Ein weiteres Beispiel für Zapateros politisches Wirken ist die Verfassungsänderung, die er mit den Stimmen der PP im September 2011, zu einem Zeitpunkt also, als die
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Bewegung der Empörten abgeflaut war, verabschieden ließ. Diese Änderung des Artikels 135 der Verfassung unterwirft die gesamte Haushaltspolitik und alle öffentlichen Ausgaben der Maßgabe, dass die von der EU vorgegebene Defizitquote und Begrenzung der Staatsverschuldung eingehalten werden. Notabene wurde diese Verfassungsänderung, mit der jedwede Sozialpolitik durch
Weigerung von Podemos und seiner Partner von Unidos Podemos, dieses Schmierentheater mitzuspielen, hat der Partei in diesem Schauspiel die wenig verlockende Rolle eines gehörnten Ehepartners verschafft, der als enttäuschter Liebhaber unermüdlich versichert, über die erlittene Abfuhr hinwegzusehen und jederzeit für eine dauerhafte Beziehung mit der PSOE zur Verfügung zu stehen. Die
Die Führung um Iglesias revidiert damit die bisherige politische Ausrichtung und bricht mit dem zentralen Anliegen der Protestbewegung von 2011, der radikalen Gegnerschaft zum bestehenden System.“ Sparzwänge torpediert wird, auch mit der Stimme des von Iglesias mittlerweile hochgeschätzten und damaligen Abgeordneten Pedro Sánchez verabschiedet, selbst wenn sich dieser heute halbherzig davon distanziert. Wie kommt die Führung von Podemos unter diesen Umständen zu der Behauptung, dass es auf der Grundlage wesentlicher programmatischer Übereinstimmung zwischen PSOE und Unidos Podemos möglich sei, eine Politik des „Wandels“ zu betreiben, ohne im geringsten dabei zu bedenken, dass die neoliberale Verfasstheit der EU einem solchen „Wandel“ entgegensteht? Daneben spricht es Bände, dass Podemos ohne Weiteres auf die vereinbarte Abschaffung dieser Verfassungsänderung verzichten will oder – entgegen ihrer wahlprogrammatischen Aussagen – die Frage des Selbstbestimmungsrechts Kataloniens nicht mehr durch die Betroffenen entscheiden lassen will, um dadurch der in diesem Punkt unverrückbaren PSOE entgegen zu kommen. Ein weiteres Zugeständnis an die Sozialdemokratie war die Revision des geforderten staatlichen Konjunkturprogramms aus dem Wahlkampf von 2015 von 90 Milliarden Euro auf 60 Milliarden beim Wahlkampf vom Juni 2016. Dabei bildet das Verhältnis zur PSOE nur den augenfälligsten Meilenstein des politischen Richtungswechsels einer Partei, die gegen das System angetreten ist und nunmehr in einer Dynamik gefangen ist, die sie immer näher an das System heranführt und sie dabei zunehmend an Attraktivität verlieren lässt. Nach den Wahlen 2015 hat sich die PSOE zu der Umwerbung durch Iglesias unmissverständlich verhalten, indem sie eine ménage à trois vorgeschlagen hat, nämlich mit Ciudadanos, die wiederum eine ménage à quatre vorziehen – mit der PP. Die
wiederum hat sich bei Ciudadanos eine Abfuhr geholt, die der Zickzackmanöver überdrüssig waren und lieber mit der PP anbandeln wollten, um mit ihr über eine Regierungsbildung zu verhandeln. Paradigmenwechsel
Statt nur im Geringsten zu verstehen, dass der Einbruch bei den Wahlen im Juni damit zusammenhängt, dass die Partei von der radikalen Systemkritik aus der Tradition der 15M abgerückt ist, statt sie auf die politische Ebene zu heben, hält die Führung von Podemos an ihrem Anpassungskurs fest und forciert ihn sogar. Man betrachte nur den Auftritt von drei Führungsfiguren von Podemos, darunter Pablo Iglesias, bei der Sommerschulung in der Universität Complutense Madrid (UCM) am 4. Juli, um diese Anbiederung und das Bestreben um politische Mäßigung zu erkennen.2 Bei dieser strategischen Revision geht es immer wieder um die Stimmenverluste bei den diesjährigen Parlamentswahlen. Die Stimmenthaltung von Teilen ihrer Wählerschaft wird von Podemos völlig willkürlich als ein Signal dafür interpretiert, dass man auf die „Bremse treten“, wie Errejón offen sagt, und sich von den alten Konzepten verabschieden müsse, da deren Radikalismus diese Leute nur abgeschreckt hätte. Mit der ihm eigenen Flapsigkeit beschreibt Iglesias die neue Lage, die durch die Wahlverluste entstanden ist: Das alte „Modell Podemos“ mit seinen Vorstellungen vom außerparlamentarischen Kampf – von „Blitzkrieg und Bewegungskrieg“ sprach die Führung damals in der ihr eigenen Gramscianischen Diktion – habe sich seit den Wahlen vom Dezember 2015, eigentlich schon seit den Kommunalwahlen im Mai 2015 überlebt. Inprekorr 6/2016 7
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Die Führung argumentiert, dass jetzt der Übergang zu einem langwierigen „Stellungskrieg“, in dem man die parlamentarische Verankerung vertiefen und ein Bündnis mit der als Garant des Wandels angesehenen Sozialdemokratie anstreben müsse, anstünde. Dabei verschweigt sie, dass genau das monatelange Streben nach einer Verständigung mit der Sozialdemokratie im Gefolge der Parlamentswahl 2015 zu dem Einbruch bei den Wahlen im Juni geführt hat. Fakt ist, dass bei der o. g. Veranstaltung in der UCM die Parteiführung offen für einen Paradigmenwechsel eintritt, den sie bereits unter der Hand vollzogen hat, ohne die Basis in diese Entscheidung einzubeziehen. Nachdem vollendete Tatsachen geschaffen worden sind, kann man nun offen sprechen: Podemos muss und wird, da die Systemkrise – zumindest vorläufig – vorüber sei, zu einer „normalen Partei“ werden, so normal, dass sie die PSOE für sich gewinnen kann, die auf wundersamen Wegen zu ihren sozialdemokratischen Wurzeln zurückgefunden habe. Um diese Behauptung zu stützen, schreckt die Führung von Podemos sogar vor einer Geschichtsrevision über die Transición nicht zurück, die ja schließlich eine schützenswerte demokratische Verfassung ermöglicht habe, wie Luis Alegre meint. In diesem Plädoyer für das herrschende System findet sich kein Wort über die Funktion der Transición, nämlich mit der Amnestierung der Franquisten die wesentlichen Elemente der Politik und Wirtschaft der Franco-Ära hinübergerettet zu haben, in der Ära Felipe González eine unkontrollierte Umstrukturierung der Industriewirtschaft in Gang gesetzt zu haben, eine a priori kastrierte und autoritär geprägte Demokratie eingeführt zu haben und die Reichen durch Steuererleichterungen immer reicher, die Armen durch niedrige Löhne hingegen immer ärmer gemacht zu haben, um so den Eintritt in die EU unter „wettbewerbsfähigen“ Bedingungen vollziehen und sich darin behaupten zu können. Von wegen zurück zu den sozialdemokratischen Wurzeln! Stattdessen regiert in der PSOE der finsterste neoliberale Ungeist, worüber die Podemos-Spitze natürlich kein Wort verliert. Die Anbiederung an die PSOE unterstreicht Iglesias mit der bemerkenswerten Formulierung: „Wir haben in Madrid und Valencia [wo Podemos im Bündnis die Kommunalwahlen gewonnen hatte] gelernt, dass man die Verhältnisse aus den Institutionen heraus ändert. Die schwachsinnige Behauptung aus unseren linksradikalen Kindertagen, dass die Verhältnisse auf den Straßen und nicht von den Institutionen aus geändert werden, war bloß eine Lüge.“3 Abgesehen davon, dass hier eine grobschläch8 Inprekorr 6/2016
tige, wenn auch selbstkritisch ummantelte Bilanz der radikalen Linken in Spanien gezogen wird, lautet die zentrale Aussage dieser Polemik, dass die Mobilisierungen an der Basis nicht mehr der Hebel zur Änderung der Verhältnisse sind, sondern allenfalls Begleitmusik, und dass Podemos kein Interesse daran hat, diese Basisbewegungen zu fördern und zu unterstützen, um auf diesem Wege die Kräfteverhältnisse zu beeinflussen und das System zu ändern. Um diesen Positionswechsel zu rechtfertigen, distanziert sich Iglesias davon, dass die Politik wieder auf der Straße gemacht werden könnte, wobei die Fehler der Vergangenheit vermieden werden müssen, und verweist darauf, dass Podemos entstanden ist, als die Bewegung 15M rückläufig war. Die Messe ist gelesen und man wird nicht mehr auf eine Podemos-Führung zählen können, die sich auf die parlamentarische Option versteift und in der lediglich Monedero, wie gewohnt, den Finger auf die Wunde legt oder ein paar Vorbehalte gegenüber dem Kurswechsel äußert und stattdessen an der Tradition der 15M festhalten bzw. wieder daran anknüpfen will. Es geht nur noch darum, aus dem klassischen Zweiparteiensystem als Erbe der Transición ein Dreiparteiensystem aus PP, PSOE und Podemos zu machen, das uns als künftige Neuversion des Zweiparteiensystems verkauft werden soll: die „Fortschrittlichen“ (PSOE + Podemos) gegen die „Konservativen“ (die PP, die nach Iglesias’ Worten langfristig die Ciudadanos schlucken wird). Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass nicht Podemos beim Versuch, sich die PSOE der 70er Jahre herbeizuphantasieren und sich deren Überbleibsel einzuverleiben, dasselbe Schicksal erleidet wie weiland die KP, die beim Marsch durch die Institutionen zur Randfigur wurde. Eine autonome Alternative
Was lässt sich in einer solchen Situation des parlamentarischen Stillstands und der politischen Degeneration von Podemos erhoffen? Es ist nicht auszuschließen, dass es erneut zu Neuwahlen – voraussichtlich am 25. Dezember – kommt, wenn die PP nicht durch Stimmenthaltungen aus den Reihen der PSOE eine Regierung bilden kann. Ebenso wenig lässt sich ausschließen, dass die PSOE und Unidos Podemos anschließend eine Regierungskoalition bilden, die dann – angesichts der Kompromissbereitschaft der Podemos-Spitze – mit weiteren politischen Zugeständnissen einhergehen wird. Natürlich vorausgesetzt, dass die Neuwahlen entsprechend ausgehen, was keinesfalls ausgemacht ist,
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aber angesichts der Unpopularität von Rajoy und seiner korrupten Entourage denkbar ist. Einfacher wäre noch, dass es zu einem parlamentarischen Abkommen zwischen PSOE, Podemos und katalanischen und/oder baskischen Nationalisten kommt, die eine „Regierung des Wandels“ ermöglicht, zugleich aber zu einem Desillusionierungsprozess führt wie 2012 in Frankreich, als die Hoffnungen derer, die „Alles, bloß nicht Sarkozy“ haben wollten, rasch verflogen. Daran würde auch die Regierungsbeteiligung „radikaler Scharfmacher“ im Gefolge von Iglesias wenig ändern, da die bereits ihre radikalen Überzeugungen im Vorfeld abgelegt haben und den Weg von Syriza noch vor der Regierungsteilhabe gegangen sind. Der Unterschied zu Griechenland ist bloß, dass nicht zugleich die PSOE eine solche Implosion wie die PASOK erlebt hat. Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass die Verhältnisse bei Podemos ins Rollen geraten, v. a. was die autoritäre Entscheidungsstruktur im Innern anlangt, die der Parteiführung freie Hand für den genannten Richtungsschwenk lässt. Dies zu ändern, wäre unerlässlich, freilich nicht ausreichend, um wieder eine dezidiert antikapitalistische Orientierung auf den Weg zu bringen, die auf einer Protestbewegung fußt, die entschlossen gegen das Diktat der Troika kämpft und auf diesem Weg eine – ansonsten zwangsläufige – Entwicklung wie in Griechenland verhindert, wo die Weigerung, gegen die neoliberal-kapitalistische Ausrichtung der EU zu kämpfen, die Niederlage vorprogrammiert hatte. Noch ist der Kampf um Podemos nicht verloren, sofern sich die Basis die Macht zurückerobern kann. Dies zeigen bspw. die Vorwahlen von Podem in Katalonien, wo die Opposition gegen die Parteizentrale unter Iglesias mit Unterstützung der AntikapitalistInnen erfolgreich für den Vorsitz kandidierte. Oder dass die Stellungnahmen von 400 Basisverbänden („Kreisen“) von der Parteiführung offiziell zur Kenntnis genommen werden mussten, die sich überwiegend kritisch gegen die Wahlkampagne zum 26. Juni gerichtet haben, da diese „zu sehr vom Geist der Sozialdemokratie statt von Rebellion“ getragen war. Allerdings werden die AntikapitalistInnen keinen leichten Stand haben, nicht nur, weil sie in ihrer Autonomie durch die undemokratische Funktionsweise der Organisation beschnitten werden, sondern auch, weil sie wider Willen in Wahlkampagnen eingespannt werden, deren politische Ausrichtung nur zur Desorientierung an der Basis und zur Erstickung der dort noch vorhandenen rebellischen Stimmung führen kann. Hier droht eine Entwicklung, wo Podemos spiegelbildlich zu Ciudadanos vom neuen „Stern
am politischen Firmament“ zum bloßen Satrapen im jeweiligen Lager verkommt, die Einen an der Seite der PSOE, die Anderen unter der PP. Davon würden nur die alten Systemparteien und natürlich die Kapitalherrschaft im Spanischen Staat profitieren, die flexibel genug sind, ihren Fortbestand durch neue politische Konstellationen zu sichern. Es ist höchste Zeit, die Orientierung auf die Institutionen und damit die Kanalisierung der Proteste – sei es nach 1978 oder nach 2011 – zu revidieren und die Politik wieder auf die Straße zu tragen. Dies heißt nicht, dass man sich der Teilnahme an Wahlen a priori verschließen müsste, sondern nur, dass man nicht in die Falle des Elektoralismus treten darf, so wie die jetzige Führung von Podemos. Übersetzung: MiWe
1 Vgl. u. a. Inprekorr 1/2016, Zeitenwende im Spanischen Staat?, ein Dossier mit 6 Beiträgen 2 www.anti-k.org/2016/07/11/96885/#.V7nh56... 3 Siehe Endnote 1
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DAS MODELL RENZI IN DER KRISE Seit über zwei Jahren geriert sich Matteo Renzi als junger, energischer Politiker, der dazu in der Lage ist, einen Wandel in Italien herbeizuführen. In Wahrheit jedoch betreibt er dieselbe unsoziale Sparpolitik wie seine Vorgänger und stößt damit zunehmend an seine Grenzen. Diego Giachetti
Die seit Februar 2014 amtierende italienische Regierung unter Matteo Renzi steckt trotz ihrer Umtriebigkeit in denselben Schuhen fest wie ihre diversen Vorgängerregierungen der vergangenen 20 Jahre, deren markanteste Figur Silvio Berlusconi war. Deren gemeinsames Anliegen war der Abbau des Sozialstaats, die Umwälzung des Arbeitsmarktes zugunsten der Unternehmer, die Interessenvertretung der Wirtschafts- und Finanzkonzerne und der strukturelle Umbau der Institutionen. In dieser Hinsicht kann die Regierung des PD-Generalsekretärs Renzi quasi als die Vollendung des Modells Berlusconi gelten. Endlich an der Regierung
Die 2007 gegründete Demokratische Partei (PD) ist das letzte Verfallsprodukt der früheren KPI und deren Verschmelzung mit verschiedenen Mitte-Links-Strömungen. Damit schaffte sie es, den uralten Traum ihrer Anhänger und Wähler zu verwirklichen – nämlich an die Regierung zu gelangen, und zwar mit einer Perfektion, dass das Parlament zunehmend an den Rand der Legislative gedrängt wird und stattdessen die Gesetze vorwiegend von der Regierungspartei gemacht werden. Ein Beispiel hierfür ist das Gesetz über eingetragene Partner10 Inprekorr 6/2016
schaften, das der Verfassung nach eigentlich im Senat in seinen Inhalten hätte diskutiert werden müssen. Stattdessen hat sich der Senat bloß auf dessen Abstimmungsmodalitäten und Formalitäten kapriziert, um zu verhindern, dass Änderungsanträge und Präzisierungen vorgelegt werden konnten. Als dies Vorgehen zu scheitern drohte, wurden die Senatsmitglieder aus den eigenen Reihen von Renzi auf Linie getrimmt, indem er damit die Vertrauensfrage verknüpfte. In gleicher Manier wurde bei zahlreichen Abstimmungen zur Verfassungsreform verfahren. Die PD regiert, indem sie Gesetze macht oder Dekrete erlässt, die der Exekutive die Gesetzesgewalt verschaffen. Ein Beispiel dafür ist der italienische Militäreinsatz in Libyen. Nach außen wurde dieser als Bekämpfung des Terrorismus ausgewiesen, das eigentliche Ziel jedoch war nicht der IS, sondern die Kontrolle und Ausbeutung der Ölvorkommen des Landes. Renzi hat entschieden, gemeinsam mit den USA, Frankreich und Großbritannien an dieser Militäraktion teilzunehmen. Um das Parlament bei dieser Entscheidung leichter übergehen zu können, wurde zuvor eine Gesetzesänderung beschlossen, wonach spezielle Heereseinheiten direkt dem Auslandsgeheimdienst unterstellt sind. Damit unterstehen
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sie direkt der Regierung und können auf bloßes Geheiß des Premierministers eingesetzt werden. Renzis Großbaustellen
Die US-Bank JP Morgan Chase & Co, die wegen betrügerischer Machenschaften bei der Finanzkrise im Visier der US-Behörden steht, hat 2013 einen Bericht über die Eurozone veröffentlicht, in dem den südeuropäischen Staaten Strukturreformen nahegelegt werden, die über die bloße Sparpolitik hinaus auch tiefgreifende Verfassungsreformen beinhalten. Dabei geht es um die Verfassungen, die nach dem Sturz des Faschismus beschlossen worden sind und angeblich „sozialistisch angehaucht“ seien, weil darin den Lohnabhängigen „übermäßige“ Rechte eingeräumt würden und die Regierungsmacht zu sehr vom Parlament abhinge. Etliche Reformen der Regierung Renzi gehorchen exakt diesem Muster. So wurde im März 2014 ein Wahlgesetz (Italicum) verabschiedet, das der Liste eine Mehrheit von 54 % im Abgeordnetenhaus sichert, die 40 % der Wählerstimmen erhalten hat, wobei eine Stichwahl zwischen den beiden erstplatzierten Listen vorgesehen ist für den Fall, dass keine Liste diese 40 % im ersten Wahlgang erzielt. Danach war das Arbeitsrecht mit dem sog. Jobs Act an der Reihe, mit dem arbeitsrechtliche Schutzvorkehrungen ausgehöhlt oder vielmehr abgeschafft werden sollten. Parallel dazu wurde das Schulsystem per Gesetz nach neoliberalen Vorgaben deformiert. Die unlängst vorgelegten weitreichenden Eingriffe in die Verfassung von 1948 fanden auch in zweiter Lesung nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Parlament und müssen daher am 4. Dezember zur Volksabstimmung gestellt werden. Mit dem Jobs Act sollten Hunderttausende neuer Stellen geschaffen werden und der Premierminister hatte sich gar erkühnt, über eine Million neuer Arbeitsverträge in Aussicht zu stellen. Am Ende waren es 764 000 neue Verträge, von denen allerdings 578 000 lediglich auf Änderungskündigungen beruhten, um bestehende Arbeitsverträge nach neuem Recht zu ersetzen. Zudem beruhen die neuen Stellen großteils auf Zeitarbeitsverträgen über wenige Wochen oder Monate. Renzi vor dem Aus?
Renzi hat sich als Generalsekretär der PD bei den Kommunalwahlen im Juni stark ins Zeug gelegt. Das Ergebnis jedoch war enttäuschend: Die PD verlor in Rom, Turin und Triest und konnte sich nur knapp in Mailand behaup-
ten, während in Neapel ein parteiinterner Widersacher von Renzi siegte. Wahlanalysen zeigten, dass die PD nur in den Gegenden hinzugewonnen hat, wo die Reichsten und die Ober- und Mittelschichten wohnen. In den Arbeitervierteln, wo auch die in der Krise verarmten Mittelschichten wohnen, verlor sie hingegen an Stimmen – sei es durch Enthaltung oder Stimmabgabe für „Protestparteien“, egal welcher Couleur. Nach jahrzehntelanger Kungelei heutiger PD-Granden mit dem Finanzsektor und zahllosen Korruptionsaffären ist der Kredit beim einfachen Volk verspielt und führt zur Retourkutsche an den Wahlurnen. Aber auch wenn die PD und die herrschenden Klassen über diese Wahlergebnisse keineswegs zufrieden sein können, bedeutet dies noch nicht, dass das Modell Renzi inzwischen obsolet ist, sondern nur, dass es angeschlagen ist. Einer der Gründe hierfür liegt in der PD selbst, die in dem kritik- und beratungsresistenten Renzi, der neben sich keine andere Meinung duldet, keinen wirklich schlagkräftigen Vorsitzenden hat. Hingegen kann er die Parteiführung nicht aufgeben, weil dann auch sein Amt als Premierminister gefährdet wäre. Denn Regierungschef konnte er nur werden, weil er die Partei kontrolliert, und dafür braucht er gefügige Mitarbeiter, die über keine eigene Autorität und demnach dummerweise auch über keine Hausmacht in ihrer Heimatregion verfügen. Dadurch gibt es neben Renzi kein dauerhaftes und eigenständiges Kollektiv an der Parteiführung, sondern nur eine Entourage von Gefolgsleuten. Zudem wird die Partei von Flügelkämpfen zerrissen und die Führungsfiguren sind nicht immer in der Lage, das arrogante Auftreten ihrer lokalen Gefolgsleute im Zaum zu halten. Die Kommunalwahlen haben eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die durch den überraschenden Sieg des Brexit noch angefeuert wurde. Zunächst einmal ist mit dem schlechten Abschneiden der Mythos dahin, dass die PD mit Renzi nur gewinnen kann. Obendrein ist der Ausgang des kommenden Referendums keineswegs vorhersehbar. Das neue Wahlgesetz macht es möglich, dass auch die Bewegung Cinque Stelle im zweiten Wahlgang gewinnen könnte, eine Aussicht, die der Parteispitze der PD und auch deren bei der Kommunalwahl unterlegenen Lokalfürsten den Schlaf raubt. Denn es droht ein zweifaches Menetekel: Erst könnte das von Renzi zum Plebiszit über seine Person stilisierte Referendum verloren gehen und anschließend noch die Parlamentswahlen. Die Probleme häufen sich: von kürzlich aufgetretenen Spannungen mit dem Justizapparat über die massiven Inprekorr 6/2016 11
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Finanzprobleme der italienischen Banken wegen fauler Kredite bis hin zum katholischen Klerus, der sich durch das Gesetz über eingetragene Partnerschaften düpiert sieht. Ebenso sind die Gewerkschaften darüber verstimmt, in rüder Manier ruhig gestellt zu sein. Auch Teile des politischen Machtapparats sind über das nassforsche Auftreten Renzis verstimmt und hoffen darauf, dass er bei den Verhandlungen mit der EU über die Defizitquote auf die Nase fällt. Dort will Renzi – angesichts der fortdauernden Wirtschaftskrise in Italien – erreichen, dass die Sparpolitik gelockert werden kann, um Investitionen und Konsum zu beleben. Wenn Brüssel dies ablehnt, wäre Renzi wieder zu einem rigiden Sparkurs gezwungen. Für eine echte Alternative
Andererseits lastet auf Renzi wenig Druck von links, da die sog. linke Minderheit in der PD wenig strukturiert und recht schwach ist und – anders als in Frankreich – auch keine nennenswerte außerparlamentarische Opposition vorhanden ist. Bei den Kommunalwahlen kandidierten verschiedentlich mal wieder linke Listenverbindungen, die jedoch durchweg bescheidene Ergebnisse erzielten, was symptomatisch für die Konfusion und Schwäche der radikalen Linken ist. Der Wiederauf bau einer antikapitalistischen und anti-neoliberalen Alternative, die in den von Krise und Sparpolitik gebeutelten Bevölkerungsschichten verankert ist, lässt keine Abkürzungen zu und kann sich nur beharrlich auf den Klassenkampf stützen. Nur dadurch kann nach und nach ein Kader aufgebaut werden, mit dem zunächst kleine, aber entscheidende Erfolge als Ausgangspunkt für eine langfristig antikapitalistische Politik erzielt werden können. Dabei ist es wenig zielführend, bei jeder Wahl panisch aufs Neue eine andere Sau durchs Dorf zu treiben. So müssen wir auch mit dem anstehenden Referendum umgehen, nämlich die Verteidigung der demokratischen Grundrechte der Verfassung mit dem Kampf gegen die Austeritätspolitik und das Finanzgesetz verknüpfen. Renzi kämpft, nachdem er die Wahlschlappe verdaut hat, an zwei Fronten: Zunächst muss er das neue Finanzgesetz zur Finanzierung des Staatshaushalts durchbringen und anschließend die Mehrheit der Bevölkerung von der fälligen Verfassungsänderung überzeugen. Wie üblich stützt sich seine Kampagne auf Werbespots, in denen sich hohle Phrasen und leere Versprechungen mit Katastrophenszenarien vermischen, für den Fall, dass ihm und den hinter ihm stehenden Kräften – darunter der Unternehmerverband Confindustria – die Gefolgschaft verweigert wird. 12 Inprekorr 6/2016
Die Herrschenden im In- und Ausland sorgen sich sehr um den Ausgang des Referendums und liefern daher alle erdenkliche Schützenhilfe, da im Falle einer Niederlage der Regierung eine schwere politische Krise entstünde und zu Renzi keine glaubwürdige und in ihren Augen gemäßigte Alternative vorhanden ist. Außerdem könnte auch eine institutionelle Krise eintreten, da unklar ist, welches Wahlsystem bei möglichen vorgezogenen Parlamentswahlen angewandt werden soll, und das Verfassungsgericht erst noch über das neue Wahlgesetz befinden muss. Auch das Großkapital sorgt sich um die wirtschaftlichen Probleme des Landes und deren mögliche Auswirkungen auf das prekäre Gleichgewicht in der EU nach dem Brexit. Diese Auswirkungen wären umso stärker, wenn eine politische und eine Wirtschaftskrise zugleich aufträten. Selbst wenn sich Renzi im Referendum durchsetzen würde, wäre angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise denkbar, dass die Bewegung Cinque Stelle die Wahlen 2018 gewinnen könnte. So oder so bleibt es vordringlich, dass die Arbeiterbewegung wieder die Initiative ergreift und aktiv auf das gesellschaftliche und politische Geschehen Einfluss nimmt. Übersetzung aus dem Französischen und Italienischen: MiWe
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DIE WIDERSPRÜCHLICHE NATUR DES M5S Die Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle, M5S) wurde im September 2009 durch den Komikerstar Beppe Grillo gegründet. Wie steht es um dieses politische Phänomen, das vor dem Hintergrund des starken Rückganges der Kämpfe und des Klassenbewusstseins einen großen Teil seines Elektorates in der einfachen Bevölkerung gewinnen konnte? Franco Turigliatto
Der Sieg des M5S in den Gemeindewahlen vom Juni 2016 in den zwei italienischen Symbolstädten, der Hauptstadt Rom und in der wichtigsten Industriestadt Italiens, Turin, mit seinen beiden jungen Kandidatinnen Virginia Raggi und Chiara Appendino hat zahlreiche Fragen über die politische Rolle und die Natur des M5S aufgeworfen Die Gründer und die elektorale Dynamik
Die ersten Initiativen zum Auf bau des Meetups „Amici di Beppe Grillo“1 gehen auf 2005/06 zurück. Es sind aber die zwei Mobilisierungstage des „Vaffanculo Day“ [Geh-zumTeufel-Tag] von 2007 und 2008 gegen die politische Elite – die sogenannte „Kaste“ –, die die Bedingungen zur Gründung der Fünf-Sterne-Bewegung im September 2009 geschaffen haben. Die ersten elektoralen Tests bei den Lokalwahlen verliefen bescheiden. Erst 2012 erringt der M5S in einigen Städten die ersten positiven Resultate, darunter in Genua und vor allem in der Provinzhauptstadt Parma, wo der M5S das Bürgermeisteramt eroberte. Dies ist dann der Beginn der großen Wahlerfolge im Jahre 2013, wo er mit 25,56 % der Stimmen (8 691 106) zur stärksten Partei aufstieg, gegen die 25,56 % des PD [Partito Democratico], der allerdings zusammen mit seinen verbündeten Kräften 29,18 % der
Stimmen erreichte und damit von dem Mehrheitsaufschlag für die Abgeordnetenkammer profitierte. Bei den Europawahlen von 2014 erreichte der M5S 21,16 % gegenüber dem Ausnahmeresultat des PD von 40,81 % und der Forza Italia von Berlusconi, die einen starken Verlust (16,81 %) hinnehmen musste. 2016 dann der Sieg in Rom und in Turin; verhaltener sind die Ergebnisse in Mailand und in Bologna und vor allem in Neapel, wo der bisherige Bürgermeister Luigi De Magistris, an der Spitze einer breiten Koalition der Linken mit der Bevölkerung im Amt bestätigt wurde. Neue Umfragen bezüglich aktueller Wahlabsichten weisen auf einen annähernden Gleichstand des M5S, des PD und einer Einheitsliste der Rechten hin. Zwei Männer haben das politische Projekt des M5S aufgebaut und definiert: einerseits der schillernde Komiker Beppe Grillo, der für seine Schmähtiraden gegen die politische Elite, die Korruption, die Umweltzerstörung bekannt ist und eine packende Wirkung auf ein breites Publikum hat. Andererseits der Manager Gianroberto Casaleggio, Eigentümer eines großen Unternehmens, der Casaleggio Associati, das auf digitale Kommunikation und Marketing spezialisiert ist. Dieses hat denn auch die Bildung einer über das Internet zentralisierten und kontrollierten Organisation sichergestellt. Inprekorr 6/2016 13
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Der M5S ist eine äußerst vertikal geführte politische Organisation mit einer dominanten Rolle der beiden Führer. Der kürzliche Tod von Casaleggio hat an dieser Grundstruktur nichts verändert, da die Rolle des Vaters direkt vom Sohn übernommen worden ist; dieser führt heute auch die oben erwähnte Firma. Allerdings haben die Entwicklung und die Präsenz der Bewegung in den Institutionen das Gewicht der Führerinnen und Führer der parlamentarischen Gruppen in der Abgeordnetenkammer und im Senat gestärkt und auf nationaler Ebene wurde ein Führungsausschuss aus fünf Personen gebildet; Grillo behält sich aber weiterhin das letzte Wort vor. Natur und Besonderheiten des M5S
Was sind die besonderen Merkmale dieser Bewegung? In einer alten marxistischen Terminologie könnte man aufgrund der Zusammensetzung ihrer Führungsgruppe, ihres politischen Programmes und der erklärten Zielen von einer kleinbürgerlichen Bewegung sprechen: Demokratisierung und Rationalisierung der Gesellschaft und des Funktionierens der Institutionen, hartes Durchgreifen gegen die Korruption und die Privilegien, Durchsetzen einer Transparenz des öffentlichen Handelns und eine Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger mithilfe des Internets. Das kapitalistische System kommt in keinerlei Form zur Sprache; lediglich seine Auswüchse und die Korruption seiner Verwalter werden thematisiert. Deshalb führt der M5S keine Kampagne gegen die vorherrschende neoliberale Wirtschaftspolitik und gegen die kapitalistische Austeritätspolitik. Seine zentrale Losung ist die Forderung nach Ehrlichkeit und das wichtigste politische Thema ist der Kampf gegen die Privilegien der politischen Elite. Die Bewegung wird als „Reinigerin“ und „Retterin“ der Gesellschaft angesehen. Folgerichtig erklärt sich diese Bewegung weder als links noch als rechts, nicht nur, weil sie sich so versteht, sondern weil sie bewusst und geschickt immer wieder eine Mischung aus verschiedenen Sprachen einsetzt und Botschaften und Vorschläge vorbringt, die darauf ausgerichtet sind, linke und rechte Sympathien auf sich zu ziehen. Zu einigen Themen wie Umwelt, Verkehr, Bürgerrechten, Energie werden linke Inhalte vertreten und die Aktivistinnen und Aktivisten vom M5S beteiligen sich aktiv an den Mobilisierungen hierzu. Zu anderen Themen, etwa der Migration, den Rechten der Lohnabhängigen im öffentlichen Sektor, der Rolle der Gewerkschaften, werden rechte Positionen aufgenommen; so gibt es eine Menge von öffentlichen Äußerungen einiger seiner ExponentInnen mit klarer xenophober Ausrichtung, um die entpolitisierten 14 Inprekorr 6/2016
Sektoren der breiten Bevölkerung oder dann der Rechten an sich zu binden. Die Fähigkeit der Führungsgruppe besteht gerade darin, ein mehrdeutiges, aber glaubwürdiges Image zu schaffen. Mit dem Zusammenbruch des Klassenbewusstseins bei den ArbeiterInnen wurde es möglich, an das durchschnittliche politische Bewusstsein von breiten Bevölkerungsschichten anzuknüpfen, die ihre Lebensbedingungen unerträglich finden und eine Veränderung wollen; da sie jedoch über keine Organisation ihrer Klasse und über keine kollektive Antwort verfügen, suchen sie die Veränderung im Umfeld der „Anti-Kasten“ Kampagne des M5S. Die stürmische Entwicklung dieser Bewegung wäre in der Tat nicht erklärbar ohne eine Berücksichtigung der Ereignisse des ersten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts, den großen Kämpfen der Arbeiterklasse und der sozialen Bewegungen, deren Niederlagen, dem Scheitern der Mitte-Links-Regierung von Prodi (2006–2008) wie auch des Partito della Rifondazione comunista. All dies sind Ereignisse, die eine tiefe Desillusionierung und Demoralisierung in breiten Schichten der Arbeiterklasse und einen Zusammenbruch des Klassenbewusstseins selbst in seinen elementarsten Formen nach sich gezogen haben. Die Wirtschaftskrise von 2008 und die zerstörerische Austeritätspolitik haben diese Phänomene zum Äußersten getrieben: Die Arbeiterklasse trat nicht mehr als politisches Subjekt auf. Die Politik von Grillos Bewegung
Der M5S hat wohl einige Entscheidungen der Außenpolitik und der militärischen Intervention der verschiedenen Regierungen kritisiert, ohne aber die Rolle Italiens als kapitalistische und imperialistische Macht zur Diskussion zu stellen. Hinsichtlich der Europäischen Union hat er je nach Umständen widersprüchliche Positionen eingenommen, die zwischen dem Vorschlag des Austritts aus dem Euro bis zu anderen, eher moderaten und reformistischen Ideen bezüglich der Europäischen Institutionen hin und her schwanken. Die Zugehörigkeit zur selben Gruppe im Europäischen Parlament wie die UKIP von Farage ist Ausdruck der Widersprüchlichkeit der Partei von Grillo, ohne dass sie jedoch alle politischen Positionen mit der englischen extremen Rechten teilen müsste. Der M5S ist ebenfalls eine stark institutionalistische Partei: Sie führt demokratische Kämpfe im Parlament und bekämpft aktuell die institutionelle Gegenreform von Renzi, die die Verfassung von 1948 über den Haufen wirft. Der M5S versucht aber nicht, sein Vorgehen mit einer demokratischen Massenaktion und noch viel weniger mit
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einer aktiven Arbeiterbewegung zu verbinden. Umso weniger verfügt er über ein wirkliches Programm, das die dramatischen Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung nach Jahren der Austeritätspolitik thematisieren würde, allem voran die Fragen der Arbeit und der Prekarität. Der M5S schlägt in der Tat als Ziel die Einführung weiterer Steuererleichterungen für die kleinen und die mittleren Unternehmen vor, die als Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung angesehen werden; ferner zielt er ein unsicheres Einkommen – eine Art Almosen - an für diejenigen in der Bevölkerung, die ohne Arbeit sind. In seinem Programm findet sich keinerlei Zweifel an den neoliberalen Dogmen des Kapitalismus, keinerlei Notwendigkeit einer neuen, starken öffentlichen Intervention in die Wirtschaft, keinerlei allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit, keinerlei Verteidigung der kollektiven Arbeitsverträge. Dies ist kein Zufall angesichts seines klassenübergreifenden Charakters. Seine Führungsgruppen entstammen den Mittelschichten und dem Kleinbürgertum, von Sozialarbeitern über Wirtschaftswissenschaftler verschiedener Ausrichtung bis zu Freiberuflern. Die Basisaktivisten stammen aus verschiedenen Milieus; es sind Arbeiter und Arbeiterinnen aus selbständiger Arbeit oder Lohnabhängige, aus intellektuellen Bereichen, aber nicht nur. Ein Teil von ihnen sind Prekäre. Ein viel geringerer Teil der Basismitglieder kommt aus dem industriellen Umfeld und aus der „traditionellen“ Arbeiterklasse. Zahlreiche Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Privatwirtschaft wie dem öffentlichen Bereich wählen jedoch den M5S, selbst einige Basisdelegierte der Gewerkschaften. Die letzten Gemeindewahlen haben die Fähigkeit der Bewegung von Grillo aufgezeigt, die Stimmen von bedeutenden Teilen der verarmten und marginalisierten Bevölkerung zu mobilisieren, die auf der Suche nach einer Alternative zu ihrer Situation sind. Die innere Struktur und das Verhältnis zu anderen Kräften
Die innere Struktur ist mit dem Ziel aufgebaut worden, den beiden Führern die volle Kontrolle über die gesamte politische Organisation zu sichern; die Entscheide werden schnell online durch eine womöglich gesteuerte Abstimmung unter den Mitgliedern gefällt, ohne eine wirkliche, öffentliche Diskussion. Und so wird auch bei Ausschlüssen von denjenigen Mitgliedern verfahren, die als nicht konform mit den Grundsätzen der Organisation betrachtet werden, oder, im einfacheren Fall, von den offiziellen Positionen abweichen. Die Basisstruktur des M5S besteht in
den sogenannten Meetups, mittels derer die Initiativen aufgezogen werden. Seltener werden direkte Versammlungen an der Basis durchgeführt; solche nehmen während Wahlkampagnen allerdings eine größere Wichtigkeit ein. Aus demokratischer Sicht erweist sich deshalb das innere Leben des M5S als sehr diskussionswürdig. Er ist ferner eine gegenüber anderen politischen Kräften tendenziell sektiererische Formation; für seine Mitglieder existiert nur ihre Bewegung; alle anderen sind Teil des alten Systems und gehören einer äußeren, „unreinen“ Welt an. Der M5S fördert die Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger, aber nur im Rahmen seiner Methoden und sofern sie sich dabei seinen Formen unterordnen. Er nimmt nicht an, dass diese Teilnahme im Sinne einer Entwicklung gesellschaftlicher Autonomie strukturiert werden kann; daher misstraut er unabhängigen gesellschaftlichen Strukturen, die auf Eigeninitiative basieren. Die Regierung in Städten wie Rom und Turin setzt den M5S einem starken Druck seiner politischen Gegner und großen politischen und administrativen Problemen aus. Es wird wichtig sein, die sich daraus ergebenden Entwicklungen zu beobachten. Dies gerade auch, weil der Erfolg der Bewegung von Grillo die vernichtende Niederlage und die Krise der Linken in unserem Land hervorhebt und einige Sektoren dazu treibt, ungerechtfertigte Illusionen über diese politische Formation zu hegen. Es liegt außerhalb der Natur des M5S, auf die Entstehung der sozialen Massenbewegung hinzuarbeiten, die für den Kampf gegen die Politik der Unternehmer und ihrer Regierungen unverzichtbar ist. Der M5S wird wie bis bisher versuchen, die Früchte der breiten Unzufriedenheit in der Bevölkerung auf der Ebene von Wahlen einzusammeln, indem er einige, aber nur einige der Untaten der Regierung anklagt, ohne jedoch den Markt oder die Regeln des Kapitalismus infrage zu stellen. Es gibt keine Abkürzungen bei der Auf bauarbeit einer Massenbewegung der Arbeiterklasse und einer antikapitalistischen Klassenorganisation. Die Rolle des M5S ist nur eine Bestätigung dafür. Quelle (des italienischen Textes und der französischen Übersetzung): https://anticapitalista.org/2016/09/27/la-natureambigue-du-mouvement-5-etoiles/ Übersetzung: Willi Eberle
1 http://www.beppegrillo.it/meetup/ Meetups sind Internet Applikationen, die wie Meetings funktionieren. Sie erlauben die Interaktion von geographisch verteilten Gruppen und Individuen und werden zentral aufgesetzt und moderiert. [Anm. d. Ü.]
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KEIN „LEXIT“ OHNE „EIN ANDERES EUROPA IST MÖGLICH“ Das strategische Ziel eines Vereinigten sozialistischen Europas ist weder durch Unterwerfung unter die neoliberale Führerschaft der EU (Griechenland) noch durch den defätistischen Rückzug in die reaktionäre Nationalstaatlichkeit (Brexit) zu erreichen. Die Linken in Europa stehen vor großen Herausforderungen. Catherine Samary
Seit dem griechischen Trauma – das neokoloniale Diktat der Euro-Gruppe sowie Tsipras’ Unterwerfung trotz des massenhaften „OXI“ – hat die europäische radikale Linke mehrere „Pläne B“ ohne einen strategischen oder taktischen Konsens debattiert. Das Referendum in Großbritannien illustriert dies auf bittere Weise, ohne dass die antirassistische und Anti-EU-Linke in der Lage war, eine glaubwürdige Alternative zu den herrschenden nationalen, europäischen und internationalen Institutionen und ihrer Politik auszudrücken. Mit einer geringeren Medienpräsenz als der Brexit illustriert das Referendum vom 6. April 2016 in den Niederlanden mit der Ablehnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU auf beschämende Weise dieselbe Falle für die internationalistische Linke. Ist es nicht Zeit für ein „Europa, auf!“, vielfältig, aber gegen die herrschende Politik und die herrschenden Institutionen, das einen alternativen europäischen politischen Raum innerhalb der EU/außerhalb der EU/gegen die EU aufbaut? Die alternative Linke in den dominierenden Ländern der EU – besonders in Frankreich und Deutschland – trägt eine große Verantwortung für die Möglichkeit 16 Inprekorr 6/2016
der Blockade und Herausforderung der schädlichen Kräfte der EU in einer Optik, die nicht nur eine „Abwendung“ (von der EU), sondern auch „konstituierend“ für ein anderes europäisches Projekt ist, das organisch verbunden ist, von unten, mit den Mobilisierungen der am meisten ihrer Rechte Beraubten und in Europas Osten, Süden und Mitte an den Rand Gedrängten. Die Infragestellung von Verträgen und Politik auf europäischer Ebene ist eine strategische Frage, die sich auf die geopolitischen, ökologischen und soziopolitischen Kämpfe auf nationaler und internationaler Ebene auswirkt. 1. Die Geschichte des griechischen „OXI“ ist weder geschrieben noch beendet
Das „OXI“ der griechischen Bevölkerung war ein Mandat zur Opposition gegen den mit der Eurogruppe ausgehandelten neuen Austeritätsplan. Es drückte nicht die Entscheidung für einen Austritt aus dem Euro aus und schon gar nicht für einen Austritt aus der EU. Aber es ist nicht wahr, dass die Kapitulation der Syriza-Führung beweist, dass die einzige Alternative zur Unterwerfung ein Austritt aus der Europäischen Währungsunion (EWU) oder gar der EU
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gewesen ist. Die Ablehnung eines solchen Austritts war weder auf die Unterstützung für die Logik der EWU und der EU zu reduzieren, noch auf Illusionen in eine „gute EU“, die demokratisch reformiert werden könnte, ohne Krise und ohne Infragestellung dieser Verträge. Mehrere Vorschläge, die vor und nach dem „OXI“ gemacht wurden, enthielten Opposition und Ungehorsam gegenüber der herrschenden Politik sowie Akte des einseitigen Bruchs mit der Troika, ohne einen Austritt aus dem Euro als Vorbedingung oder als Hauptachse der Mobilisierung: die Suspendierung der Schuldenzahlungen und die Unterstützung eines Bürgeraudits, das die Ursachen der Verschuldung analysiert, mit einer Weigerung, die untragbaren und illegitimen – tatsächlich illegalen – Schulden zu bezahlen; die Verstaatlichung der Banken und die Kontrolle der Kapitalbewegungen; die Schaffung einer „Steuerwährung“, die es erlaubt, insbesondere den öffentlichen Dienst und die Unterstützung für die Grundnahrungsmittelproduktion zu finanzieren, usw. Die Furcht vor einer absoluten Peripherisierung infolge der Nichtmitgliedschaft in der Eurozone ist kein Trugbild oder eine irrationale Furcht, die durch eine „gute Pädagogik“ überwunden werden kann. Sie kann gegen die laufenden Verträge gewendet werden. Das „OXI“ drückte auf seine Weise diese Hoffnung aus, ohne zu wissen, wie sie zu verwirklichen ist. Es stand nicht nur in einem radikalen Gegensatz zu den die EU beherrschenden Kräften, sondern auch zur griechischen Oligarchie, den Mächten der Repression, der faschistischen extremen Rechten, die auch ein großes Gewicht im griechischen Staatsapparat darstellt. Der strategische Einsatz war zunächst eine Klassenfrage, national wie europäisch, mit oder ohne Euro. Wenn wir die Lehren aus der Fragilität des Kräfteverhältnisses im Sommer 2015 ziehen, so sind diese sowohl auf europäischer (in der Verantwortung aller Bestandteile der Antiausteritäts- und antirassistischen Linken) als auch auf nationaler Ebene angesiedelt. Auf all diesen Ebenen hingen die möglichen Szenarien ab von der Kombination politisch-ideologischer Kämpfe (gegen alle Dominanzverhältnisse in der EU wie auch in Griechenland) mit der Ausdehnung der Selbstorganisation der Massen auf der Grundlage von Solidarität, die die internationalen Warenbeziehungen und die Abhängigkeit vom Euro minimiert: Die Erfahrung der selbstverwalteten Gesundheitszentren in Griechenland – mit ihrer Unterstützung in Frankreich – legten eine Logik nahe, die eine Syriza-Regierung hätte unterstützen können. Öffentliche Fonds und eine Steuerwährung könnten die Beschäftigung und den
öffentlichen Dienst wiederbeleben und die zum Überleben wichtige Landwirtschaft unterstützen. In Wirklichkeit ist die positive Hauptlehre aus der griechischen Erfahrung, dass das „OXI“ für die Eurogruppe „untragbar“ war, weil es gefährlich für die EU war – die also … zerbrechlich ist. Yanis Varoufakis hat betont, dass Frankreich mit seinen gesetzlichen Schutzbestimmungen die Zielscheibe war. Und das ist wahr. Das „Nuit Debout“ gegen das Beschäftigungsgesetz hat gezeigt, dass es dort noch immer Widerstand gibt, und die Zukunft ist ungewiss. Aber vor allem kann nie gesagt werden, wie sehr ein Sieg des griechischen „OXI“ in Deutschland selbst gefährlich wäre, wie in der gesamten EU, wenn es zu den Bevölkerungen und nicht zur Führung der EU (Hollande und Merkel) spräche. Die Erfahrung von Syriza bleibt die der ersten (und nicht der letzten) Schlacht, die sowohl national als auch europäisch ist, in der EU/gegen die EU und gegen ihre Rolle im globalisierten sozialen Krieg. Sich den Führern der EU zu unterwerfen und ihrem Wunsch, mehr denn je die Opposition gegen ihre Projekte zu blockieren, ist so selbstmörderisch wie der Verzicht auf den Kampf in der EU/gegen die EU nach der ersten verlorenen Schlacht. Die Geschichte des „OXI“ ist noch nicht vorbei, weder in Griechenland noch in Europa. 2. Die europäischen strategischen Fragen angehen
Der Euroskeptizismus kann nur provisorisch (konjunkturell) und an die reale Schwierigkeit der europäischen Kämpfe und ein ungünstiges Kräfteverhältnis gebunden sein: Es gibt große Unterschiede in der Fähigkeit zur Initiative von „jenen an der Spitze“ und „jenen unten“ und der europäischen Gewerkschafts- und soziopolitischen Bewegungen. Der Pessimismus und die von ihm angebotene Entscheidung zwischen Austritt oder Unterwerfung kann offensichtlich gestärkt werden durch die doppelte Feststellung der realen Unterwerfungen unter die Eurogruppe wie in Griechenland und die „ordoliberalen“ Orientierungen der EU-Führung, die bestrebt ist, in die Verfassungen ihre eigenen Entscheidungen festzuschreiben, während sie jede Opposition knebelt. Doch derselbe soziale Widerstand gegen dieselbe Politik existiert de facto in der Atomisierung und der Ungleichheit der EU-Staaten; und die Schwierigkeit, eine europäische Bewegung aufzubauen, macht ihre dringende Notwendigkeit nicht ungültig. Wir sollten weder nationale Kämpfe ablehnen, während wir auf einen unmöglichen Konsens warten, noch die Suche nach kollektiven Szenarien als „Unterwerfung unter die EU“ abwerten, um auf das Kräfteverhältnis einzuwirken, den verwundbarsten Ländern zu helfen und Inprekorr 6/2016 17
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die politisch wie sozial untragbare Politik zu delegitimieren, die von der Eurogruppe und der EZB aufgezwungen wird. Die alternative Linke in den Ländern des „Zentrums“, in Frankreich, Deutschland – oder in Großbritannien –, trägt auf dieser Ebene eine besondere Verantwortung. Aber es ist dann nötig, über Theoretisierungen hinauszugehen, die das griechische Beispiel für ihre eigene Ablehnung einer europäischen Strategie heranziehen. Es handelt sich einerseits um das Argument, das das Fehlen eines „europäischen Volkes“ betrifft. Wir können dies gegen jede Idee eines etatistischen und einheitlichen europäischen Föderalismus zugeben, der bekämpft werden kann und muss, wie auch gegen die Vorstellung, dass jeder supranationale Föderalismus notwendigerweise progressiver sei als ein Nationalstaat, ohne irgendeine konkrete Analyse des einen wie des anderen. Aber solche abstrakten föderalistischen Sichtweisen können sehr wohl in der Optik eines „anderen Europa“ bekämpft werden, in welchem verschiedene institutionelle Varianten vollständig die freie Bestimmung und unterschiedliche Entwicklung von Völkern anerkennen können, die selbst nicht im Widerspruch steht mit dem Ausdruck von subjektiven Gefühlen vielfacher Zugehörigkeit, einschließlich einer „europäischen“. Das Fehlen eines europäischen Volkes bedeutet nicht, dass es für die internationalistische Linke keine europäische Strategie geben kann und Europa „in Klammern“ gesetzt werden sollte. Dies ist jedoch die Auffassung, die besonders von Stathis Kouvelakis, Cédric Durand und Razmig Keucheyan zur Verteidigung eines neuen Typs von Internationalismus ausgedrückt worden ist, der über die europäische Frage hinausweisen würde, indem er von der Eroberung der Nationalstaaten ausgeht. Im Wesentlichen ist ihr Ausgangspunkt die Denunziation (offensichtlich geteilt von der gesamten radikalen Linken, ungeachtet ihrer Position zu Europa) des Internationalismus der multinationalen Firmen und Märkte – oder derjenigen, die sich ihren Gesetzen unterwerfen, verkörpert besonders durch eine EU, die die EU dieser Oligarchien ist. Auf dieser Ebene gibt es keine Meinungsverschiedenheit. Die Debatte beginnt danach. Sie wird konkretisiert (über die oben aufgeworfene Frage des „europäischen Volkes“ hinaus) mit zwei unbewiesenen Behauptungen: erstens die Idee, dass jede Ablehnung des Austritts aus der EU eine Unterwerfung unter diese sei, die einen „internationalistischen“ Diskurs verwendet, um durch den Anschluss an einen „Internationalismus des Kapitals“ einen Verrat am „realen Internationalismus“ zu verbergen, der in den nationalen Kämpfen verankert ist. Diese erste Behauptung wird in der Praxis „illustriert“ durch die Abkehr 18 Inprekorr 6/2016
der Tsipras-Führung vom griechischen „OXI“, als sie zustimmte, das mit der EU-Führung ausgehandelte „schlechte Abkommen“ selbst umzusetzen. Es ist richtig, dass dies eine Entscheidung von Tsipras war und nicht bloß ein „Coup“ der EU. Und die Entscheidung für dieses angebliche „kleinere Übel“ ist immer noch ein ernsthaftes Trauma in Griechenland und in Europa. Das Risiko der „Pasokisierung“ linker Formationen besteht weiterhin überall in der EU und in der Welt im Kontext ungünstiger Kräfteverhältnisse. Aber auch bei der Annahme, dass der Austritt aus der Eurozone damals ungünstig gewesen wäre, war die Entscheidung nicht unvermeidlich, in eine Regierung zu gehen oder dort zu bleiben, um eine Politik zu verfolgen, die zuvor abgelehnt worden war. Es war auch nicht unvermeidlich, dass die radikale Linke nicht dafür gekämpft hat, dass der Audit über die griechischen Schulden zu einer zentralen Frage – in Griechenland und in der EU – gegen die herrschende Politik und ihre Lügen und die Annullierung von Grundrechten wird. Keine der realen „Möglichkeiten“, die zwischen den Extremen Unterwerfung und Austritt liegen, sind umgesetzt worden. All diese Optionen werden notwendigerweise durch einen Standpunkt verborgen, der bestrebt ist, aus der Debatte jede europäische Strategie und jede Möglichkeit des Widerstands in der EU/gegen die EU auszuschließen. Diese Ablehnungen werden durch eine weitere „theoretische“ Tendenz „gefestigt“, die leugnet, dass die EU ein „Schlachtfeld“ sein kann, indem sie sie als „Gefängnis“ charakterisiert – aus dem man um jeden Preis physisch entfliehen muss. Doch das griechische Beispiel kann das Gegenteil illustrieren: Nicht nur war die „europäische Konstruktion“ durchlässig für soziale Kämpfe, wir können auch den Beweis für eine spezifische soziale und politische Verwundbarkeit der EU in der Heftigkeit sehen, die sich gegen das tatsächlich recht moderate Programm von Syriza richtete. Im weiteren Sinne und bei weitem nicht reduzierbar auf die EU und den Euro als wichtigstes Werkzeug ist der soziale Krieg, der effektiv von der EU geführt wird, seit den 1980er Jahren mit Margaret Thatchers „TINA“-Losung auf der Tagesordnung, und im Zentrum und in den Peripherien durch alle Freihandelsabkommen mit oder ohne Euro geführt worden ist. Dies gilt umso mehr seit der Krise dieser Politik 2007/2008 im Kontext der „neoliberalen Nacht“, wie Dardot und Laval betonen. Aber die ist keine Logik ohne Widersprüche und Widerstand. Die Situation der Krise und Instabilität wird begleitet von Polarisierungen, auch in der EU. Die Instabilität und Schwierigkeit des „Regierens“ der EU zeugt davon. Aber
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bei dem Fehlen einer europäischen progressiven und glaubwürdigen Alternative ist es der fremdenfeindliche Nationalismus, der einen reaktionären Zerfall begünstigt. Nicht auf eine europäische Strategie hinzuarbeiten als eine notwendige Stütze für sowohl nationale wie internationalistische Kämpfe ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Der Brexit ist dafür ein deutliches Beispiel. 3. Der Brexit –“Absetzung“ (von der EU) ohne europäisch progressive Alternative
Gewiss ist keine „Wahlentscheidung“ „rein“ oder unzweideutig. Diese war notwendigerweise gemischt: Der Brexit
der Entscheidung für Putins Russland gegen die EU (oder umgekehrt) ablehnt? Wie antworten auf die Hoffnungen der ukrainischen Bevölkerung – besonders ihrer Jugend – auf eine Annäherung an die EU? Wie auch immer abgestimmt wird, es gibt keine progressive Option in dem falschen Dilemma dieses Referendums, das Alona Ljaschewa gut analysiert hat: Die wirklichen Lösungen zu Fragen der geografischen Spaltung ergeben sich, wenn statt der Alternative „EU oder Russland?“ gefragt wird: „Die EU, die ukrainischen und russischen Eliten oder die Bevölkerungen Europas, der Ukraine und Russlands?“ Dies geht jedoch nur, wenn Netzwerke der Solidarität zwischen den Unterdrückten geschaf-
Das Fehlen eines europäischen Volkes bedeutet nicht, dass es keine europäische Strategie geben kann.“ dominierte in England und Wales, aber Schottland und Nordirland stimmten für das „Remain“, den Verbleib in der EU; der Brexit erhielt eine Mehrheit unter den älteren Menschen, aber nicht unter den jungen Leuten (bei denen auch die Wahlenthaltung größer war als bei den Älteren); der Brexit hatte massiven Zuspruch bei den Arbeitenden „englischer Abkunft“, aber wurde noch massiver abgelehnt von denen, die als „Invasoren“ oder „rassisch andersartig“ abgestempelt werden. Keine soziologische, „nationale“ oder politische Übersimplifizierung kann daraus ein „Plus“ für progressive Kämpfe herleiten. Im besten Fall war er ein „Tritt in den Hintern“ für die EU und eine „Ohrfeige für das britische Establishment“, wie es Tariq Ali formuliert hat. Zweifellos war er auch eine Ohrfeige für die Politik der EU-Erweiterung und ihre Prätentionen, aber er war keine internationalistische, auf Solidarität basierende und progressive Geste: Auf dieser Ebene steht er in Einklang mit der Abstimmung in den Niederlanden beim am 6. April 2016 abgehaltenen Referendum (bei einer Beteiligung von 30 %), bei dem die von der EU vorgeschlagene Assoziierung mit der Ukraine von mehr als 60 % der Abstimmenden abgelehnt wurde. Aber in welchem Sinne? Worum ging es dabei? Es ging darum, dass die EU ihre Freihandelsverträge (ohne die Perspektive eines Beitritts) ihren Nachbarn als spezifische „Partnerschaften“ präsentiert, in dem Bestreben, einige in Osteuropa zwischen Russland und der EU liegende Länder zu zwingen, eine Orientierung auf letztere „zu wählen“. Wie sollte man abstimmen, wenn man sowohl der EU und diesen verheerenden Freihandelsabkommen gegenüber radikal kritisch eingestellt ist, als auch jede Logik
fen werden, die in diesen Gebieten leben. Ebenso wie die Herstellung europäischer Verbindungen „von unten“ mit der griechischen Bevölkerung zur Verteidigung ihres „OXI“ wesentlich war und bleibt, können wir hoffen, dass in der Ukraine gegen die von der EU vorgeschlagenen „Partnerschaften“ Koalitionen von Verbänden der Zivilgesellschaft entstehen, die wie in Tunesien oder in einigen schwarzafrikanischen Ländern die „Partnerschaftsabkommen“ ablehnen, mit denen die EU diesen Ländern angeblich „helfen“ will, so wie sie behauptet, der Ukraine vor allem gegenüber Russland zu helfen. In all diesen Fällen entgehen diese verschiedenen Formen von Freihandelsabkommen der Kontrolle der Gesellschaft und führen zum Abbau von Schutzbestimmungen und sozialen Rechten. Aber von der Ukraine aus gesehen können sie als eine mögliche Etappe zu einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft erscheinen, die von einem Teil der Bevölkerung als ein Mittel wahrgenommen wird, der absoluten Peripherisierung und der Herrschaft der Oligarchen zu entgehen. Dieser Standpunkt sollte verstanden werden. Er ist auch in den internen (Semi-)Peripherien der EU vorhanden. Die Demystifizierung von Illusionen kann nicht mit einer Logik des „Vetos“ seitens des Europas der Reichen, gepaart mit rassistischen Zurückweisungen, erfolgen. Eine euphorische Betrachtung dieser „Ohrfeigen“ der EU läuft Gefahr, auch gegenüber der Tatsache die Augen zu verschließen, dass sie das Risiko der Konsolidierung eines harten Kerns der EU oder der Eurogruppe nicht verringern, die de facto ihre Normen verschiedenen „Kreisen“ von Mitgliedern und Nichtmitgliedern der EU aufzwingen würden. Inprekorr 6/2016 19
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Der Brexit ist weit davon entfernt, diese Bedrohung abzuschwächen, auch wenn wir noch nicht alle Auswirkungen ermessen können – Großbritannien ist eine große Finanzmacht, die kein Gründungsmitglied der EWG war, nicht Teil des Euro ist und in der Lage ist – gestern wie morgen, nach dem Brexit –, viele Arrangements mit den Organen der EU zu treffen. Seine Regierungen sind, innerhalb der EU, ein wesentliches Hindernis zu jedweder Politik gewesen, die darauf abzielte, das soziale und Steuerdumping zu beschränken. Weit davon entfernt, sich gegen die vom Euro erzwungenen europäischen Austeritätspläne zu wenden, ist die britische herrschende Klasse vielmehr jahrzehntelang, unter Margaret Thatcher oder Tony Blair, beispielhaft für sie gewesen – auch ohne den Euro. Die von extrem rechten Kräften dominierte britische (faktisch englische) Bekräftigung der „Souveränität“ gegenüber der EU zielt nicht auf die Wirtschaftspolitik ab (die auf dramatische Weise entsprechend der TINA-Ideologie fatalistisch verinnerlicht wird), sondern auf den von der EU erzwungenen „freien Verkehr von Arbeitskräften“. Von daher die ekelerregende Kampagne gegen unterdrückte Bevölkerungen, entsprechend danach, ob sie als „einheimisch“ betrachtet oder als „Invasoren“ stigmatisiert werden, die Arbeitsplätze und Einkommen annehmen, die besonders prekär und elend sind. Der Brexit wird der Zerstörung sozialer Rechte sowie den Jobs ohne sozialen Schutz kein Ende bereiten, welche sich unter Verwendung des Drucks der aus Osteuropa kommenden Armut verbreitet haben; die wird weitergehen gemäß einer Logik, die aus jedem Holz Feuer macht, innerhalb wie außerhalb der EU. Das britische Referendum ermöglichte keine Opposition gegen diese Logik. Bei Abwesenheit einer konkreten und progressiven europäischen Alternative haben die britischen subalternen Bevölkerungen für die eine oder andere mögliche Stimmabgabe entschieden, indem sie verschiedene Herrschaftsverhältnisse ohne eine glaubwürdige progressive Orientierung abgelehnt haben: Die Bestandteile der internationalistischen radikalen Linken, die den Brexit unterstützten – also einen linken Exit/Lexit –, betonten die Verantwortung der EU und nicht die der britischen herrschenden Klasse (innerhalb und außerhalb der EU) für den jahrzehntelang erlittenen sozialen Schaden, und die Logik der Abstimmung führte sie dazu, alle Verfechter des Remain zu „Verteidigern“ der EU zu erklären. In symmetrischer Weise verwischte ein Teil der Linken, die für das Remain kämpften, die Kritik an der EU, indem er für das Remain auf der Grundlage der „in Europa verteidigten Rechte“ eintrat – insbesondere des freien Verkehrs von Arbeitskräften – und 20 Inprekorr 6/2016
jede Stimme für den Brexit als rassistische Stimme wertete. Diese „Lagerlogik“ – bei der alles, was „Argumente“ für eine alternative Stimmabgabe liefern könnte, ausgeblendet wird – dominierte dieses verminte Referendum, indem es Mauern errichtete zwischen den internationalistischen Strömungen des Lexit und jenen innerhalb der Befürworter des Remain, die ihre Kampagne nicht zur Unterstützung der EU führten, sondern für deren Bekämpfung mit der Perspektive des „Another Europe Is Possible“ (AEIP – Ein anderes Europa ist möglich). In einem solchen Kontext konnten die gemeinsamen Punkte (Antirassismus und Ablehnung des Sozialdumpings) der beiden Seiten nicht zusammengebracht werden; es war nicht möglich in den verschiedenen Strömungen der alternativen Linken gemeinsam die herrschende Politik sowohl Großbritanniens als auch der EU und die reaktionären politischen Kräfte auf beiden Seiten zu bekämpfen; dieser Kontext erlaubte keine Klärung der semantischen Unschärfen oder der realen zu debattierenden Divergenzen, die hinter der Verschiedenheit der politischen Sensibilitäten standen und sich sowohl innerhalb des Lexit als auch in der radikalen Linken des Remain manifestierten. Solche Sackgassen zu verlassen ist dringend erforderlich. Dies bedeutet von Anfang an die Diskurse und Analyse von „Europa“ zu klären – das, was wir „verlassen“ wollen (von links), und das, was wir aufbauen wollen (von links). 4. Die EWG/EU ist nicht „Europa“: die Aneignung von Worten – eine wesentliche demokratische, ideologische und strategische Frage
Die semantische Schlacht ist Teil der demokratischen und Klassenkämpfe. Wir müssen den Herrschenden das Privileg der „Worte“ und Interpretationen entreißen, die sie konstruiert haben, um ihre spezifischen Interessen zu verteidigen, während sie sie als vorgeblich europäische „Werte“ legitimieren, die notwendigerweise progressiv, sogar universell seien. Die EWG, zur EU geworden, explizit mit ihrem Namen zu bezeichnen bedeutet, sie als eine soziopolitische, institutionelle „historische Konstruktion“ zu behandeln, die überwunden werden kann, und es damit abzulehnen, die anderen geopolitischen Realitäten zu verbergen, die den Kontinent geformt und gespalten haben. Es bedeutet die Genese und den Kontext eines sich entwickelnden Projekts zu betonen, seine Betreiber zu bezeichnen, die Krisen zu analysieren, die zu den unvorhergesehenen institutionellen Veränderungen geführt haben, und die Widersprüche offenzulegen. Aber auch mit den betroffenen Bevölkerungen die Illusionen und Hoffnungen zu analysieren, die mit
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diesen Projekten verbunden und hier und dort oder in verschiedenen vergangenen Phasen nicht dieselben sind. Es bedeutet, die Unschärfe der politischen Debatten zu betonen, die der Bezeichnung „Europa“ zugrunde liegen, apologetisch oder, schlimmer, arrogant und dominierend – wie die USA, wenn sie sich „Amerika“ nennen. Die Ablehnung der naiven und apologetischen Positionen zur EU bedeutet nicht, dass wir stattdessen Analysen akzeptieren, die die konfliktträchtige Diversität der „bürgerlichen“ Projekte und ihrer Widersprüche verdunkeln. Errichtet während des Kalten Krieges ist die EWG das Objekt unterschiedlicher Standpunkte seitens der führenden Kräfte der betreffenden Länder gewesen, und im Konflikt mit anderen, ebenso kapitalistischen Projekten (wie der von den USA unterstützten Europäischen Freihandelsassoziation EFTA). Ein Verständnis dieser „Konstruktion“, mit ihren Kontinuitäten und Diskontinuitäten, ergibt sich nicht einfach aus einer Lektüre der Verträge. Der Freihandel wurde in den Römischen Verträgen als ein Ziel bezeichnet (und die USA, die dominierende industrielle Macht, drängten in diese Richtung). Doch während des Nachkriegsbooms wurde die EWG von einer Politik dominiert, die der Staatsintervention und der Bankenfinanzierung eine vorherrschende Rolle zuwies (besonders in Frankreich und Westdeutschland). Aber sie stabilisierte sich nie als ein einmütiges Projekt zwischen verschiedenen nationalen Bourgeoisien: Es konsolidierte sich kein Konsens bezüglich der Rolle der nationalen Regierungen, Märkte und supranationalen Institutionen oder bezüglich der Beziehungen zu den USA, zur UdSSR und später zum postsowjetischen Russland. Sie ist nie (auch nicht, als sie die EU wurde) ein bloßes Freihandelsabkommen gewesen wie das NAFTA (das weder ein „Budget“ noch ein Parlament, noch politische Prätentionen hat). Der freie Kapitalverkehr wurde durch Austauschkontrollen verboten – bis zur Einheitsakte von 1986, die diese Kontrollen abbaute (nach der neoliberalen Wende der Sozialistischen Partei in Frankreich). Der freie Kapitalverkehr in der EWG, in Kraft seit 1990, war eine wesentliche institutionelle und ökonomische Wende, die das Europäische Währungssystem schwächte, das auf dem Ecu und den nationalen Währungen basierte, und den „großen Markt“ von Kapital, Waren und Arbeitskräften errichtete, der die EU kennzeichnet. Letztere war damit vollständig Teil der neoliberalen Globalisierung. Nachdem die meisten EFTA-Länder (mit unterschiedlichen Profilen einige der reichsten Länder Europas) der EWG beitraten und diese sich den ärmeren südlichen Ländern öffnete, die aus den Diktaturen in der Endphase des Kalten Krieges hervorgingen, wurde die EWG das Schwerkraft-
zentrum des „europäischen Aufbaus“ in der kapitalistischen und imperialistischen Welt, ohne ein bloßes Instrument der USA in Europa zu sein. Auch beinhaltete sie keine Übereinstimmung der Mitgliedstaaten bezüglich der NATO (insbesondere innerhalb eines der Gründungsmitglieder). Um für eine wachsende Anzahl von mit einer starken historischen Realität versehenen Ländern für ihr institutionelles System attraktiv zu sein, sah sie sich gezwungen, „föderale“ Dimensionen und eine sehr starke zwischenstaatliche Realität zu kombinieren. Auf dieselbe Weise bildete die Einführung von Haushaltsmitteln zur Umverteilung und eines Parlaments mit beschränkten Vollmachten (aber gewählt durch allgemeines Wahlrecht) seit 1979 einen Teil der Argumente, die den Bevölkerungen vorgelegt wurden, die per Referenden über den Beitritt ihrer Länder zu entscheiden hatten. Es war nicht ein „deutsches Europa“. Es war der französisch-deutsche Kern, der eine politische Schlüsselrolle in seinen verschiedenen Phasen, von der Nachkriegszeit bis zur Zeit nach der deutschen Vereinigung, mittels der Einheitsakte und der Maastricht-Verhandlungen spielte. Nichts von alldem macht dies zu einem egalitären demokratischen System, das nahe bei den Menschen ist: Es handelt stets noch als ein Projekt der herrschenden Kräfte und Klassen. Aber im Kontext des Kalten Krieges stellten die anerkannten Rechte und Prinzipien – die als „Nebelbomben“ bezeichnet werden könnten, um die Erweiterungen zu legitimieren und zu ermöglichen – nichtsdestoweniger auch eine „politische“ Dimension und die Quelle mancher Schwierigkeiten dar. Für die Finanzlobbies und alle Kräfte des Neoliberalismus wurden diese Züge zunehmend umgangen und/oder in Frage gestellt, sodass das System zunehmend auf „ordoliberaler“ Basis organisiert wird, die den Rahmen für eine Freihandelszone bildet, die die Regierungen der Union unter allen Labeln unterstützt haben. Die Kluft zwischen den Prinzipien oder Diskursen (egalitär und demokratisch) und der Realität bildet einen Teil dessen, was allen parlamentarischen „repräsentativen“ Systemen gemeinsam ist, die auf der kapitalistischen Marktwirtschaft beruhen – was ihre gegenwärtige Legitimitätskrise erklärt, in einem Kontext, in dem ihre antisoziale und somit antidemokratische Tendenz überall als Tatsache anerkannt wird. Dies ist damit auch nicht nur eine EU-Realität. Und es ist auch nicht offensichtlich, dass diese Tendenz im französischen Nationalstaat weniger stark ist als in den europäischen Institutionen oder dass die französische Regierung nur unter dem Druck der europäischen Vorschriften handelt. Jeder progressive Kampf muss an Inprekorr 6/2016 21
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zwei Fronten geführt werden, an der nationalen und an der europäischen Front. 5. Die vergangenen Krisen haben eine instabile Konstruktion hinterlassen, die unfähig ist, auf progressive europäische Bestrebungen zu antworten
Es waren „große Krisen“ und nicht ein vorweg etabliertes unzweideutiges Projekt, die die bedeutendsten Veränderungen des europäischen Auf baus angeschoben haben – offensichtlich alle beschlossen von den dominierenden sozialen und politischen Kräften und „von oben“, aber ohne eine vereinheitlichte „bürgerliche“ Vision. Es waren somit internationale Währungskrisen, die 1979 zu der Errichtung des Europäischen Währungssystems (EWS) um den Ecu, dann zur Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) um den Euro nach den MaastrichtAbkommen 1992 führten. Auf einer anderen Ebene war es die Jugoslawien-Krise der 90er Jahre parallel zum Auseinanderfallen der UdSSR, die die Errichtung eines euroatlantischen „Managements“ des Balkans begünstigte, was die Bewahrung und Neuformierung der NATO in Europa nach der Auflösung des Warschauer Pakts und dem Ende des Kalten Krieges erlaubte. Die „Systemkrise“ der Transformation der osteuropäischen Systeme entfaltete sich unter dem Druck der Mitgliedsstandards und -kriterien, die von der EU den Ländern auferlegt wurden, die sich in ihrem Orbit befanden. Die soziale Verheerung, die für die große Mehrheit der Menschen in diesen Ländern katastrophal war, wurde begleitet von einer finanziellen, monetären und Handelsintegration in die EU, die vollständig spezifisch war – mehrere Länder waren dabei obendrein Nachschubbasen für deutsche Industrieund Exportstrategien. Beim Fehlen eines Kapitalmarkts und ohne eine vorherige kapitalistische Akkumulation wurde die Privatisierung der Banken, im Kontext der globalen Finanzliberalisierung, einer radikalen „peripherischen“ Integration in die westeuropäischen Großbanken unterworfen – angeblich ein stabilisierender Einfluss bis zur Krise von 2008/2009, die Osteuropa ernster traf als das alte Europa. Die Bevölkerungen Osteuropas wurden ausgebeutet, um eine radikale Politik des sozialen und Steuerdumpings in kontinentalem Maßstab zu etablieren: Die „Konvergenz“ zwischen dem alten und dem neuen Europa fand auf den Grundlagen statt, bei denen die einzigen Gewinner die Minderheiten an der Spitze all dieser Länder, ohne demokratische Legitimierung, waren, die die EU-Mitgliedschaft
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als ein Ersatz„programm“ anstrebten, weil die EU doch eine gewisse, wenngleich illusorische, Anziehungskraft hatte. Die Union wurde jedenfalls auf der Grundlage eines Diskurses erweitert, der die Stabilisierung und Befriedung des Kontinents behauptete. Aber die neoliberale Wende war bei jedem sozialen und politischen Zusammenhalt organisch widersprüchlich, auf interner wie auf internationaler Ebene. Die EU wurde (ohne Abstimmung in ihren Parlamenten) in den ersten NATO-Krieg auf dem Kontinent (1999 im Kosovo) hineingezogen und war unfähig, positiv auf die Wurzeln der Kriege, an denen sie unter verschiedenen Formen beteiligt war, einzuwirken. Sie war gleichermaßen unfähig, zur sozialen Wohlfahrt der großen Masse der Bevölkerung beizutragen, als sie für die Zerstörung der alten sozialen Netze und die wachsende Ungleichheit mitverantwortlich war. Und sie war auch unfähig, den Flüchtlingen und der Arbeitsmigration ein Willkommen zu bieten, als der „freie Verkehr von Arbeitskräften“ (im Osten) als eine Antwort auf die große Armut und (im Westen) als „Raub“ von Jobs und Ressourcen, die zunehmend prekär geworden sind, erfahren wurde. Eine soziologische Analyse der Brexit-Stimmen illustriert diese Realitäten. Die EU propagiert einen „egalitären“ Diskurs, der in der Ideologie und den Mechanismen des „Freihandels“ verankert ist: Unter dem Vorwand der Geschlechtergleichheit oder des Rechts polnischer Lohnabhängiger auf einen Arbeitsplatz in Großbritannien sind viele Schutzbestimmungen und Rechte abgeschafft worden. Der Wettbewerb erlaubt, jede und jeden auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren. Gleichzeitig wird die EU von extrem rechten atheistischen oder religiösen Kräften als „dekadent“ stigmatisiert wegen der Rechte, die sie effektiv anerkennt. Aus der Perspektive der Länder, in denen sich die herrschenden Kräfte nicht um soziale Rechte scheren, kann die EU auch als eine „Beschützerin“ erscheinen. Auf dieselbe Weise wurden die französischen Behörden von den europäischen Gerichtshöfen zu Recht wegen ihrer Angriffe auf die bürgerlichen Freiheiten und die skandalösen Verhältnisse in den französischen Gefängnissen verurteilt. Kurz, je nach der unmittelbaren Frage oder dem Land, aus dessen Perspektive die EU betrachtet wird, kann sie als ein Rahmen für den Kampf gegen den ungezügelten Kapitalismus gesehen werden oder als ein Werkzeug der Zerstörung prekärer sozialer Netze; sie kann unterstützt werden als Trägerin feministischer, antirassistischer und antihomophober Werte, während zunehmend prekäre Beschäftigung beträchtlich auf Frauen und ethnischen Minderheiten lastet: Die Gleichheit der Rechte, die die EU verteidigt, ist die des Fuchses und der Hühner, wenn der Hühnerstall abgerissen wird.
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In anderen Worten, es ist gleichermaßen falsch, eine apologetische und unehrliche Version der „Werte“ der EU zu präsentieren oder ihre Widersprüche zu unterschätzen. Und weit davon entfernt, die „proeuropäischen“ Hoffnungen von Bevölkerungen in Vergangenheit und Gegenwart abzuwerten und zu verbergen, ist es erforderlich, sie gegen die Realität der EU zugunsten von progressiven alternativen Projekten in Stellung zu bringen.
Jacques Nikonoff 2 überschritten. Dabei gibt es hier keine Zwangsläufigkeit.3 Wir müssen die Diskussion auch darauf lenken, was der Inhalt einer „Souveränität des einfachen Volkes“ sein könnte: Die Verteidigung und Errichtung einer Kontrolle der Entscheidungen durch die verschiedenen Völker der Union auf demokratischer und egalitärer Basis kann nicht mit einem etatistischen und rassistischen Souveränismus in Übereinstimmung gebracht werden; Verteidi-
Wie antworten auf die Hoffungen der ukrainischen Bevölkerung auf die EU?“ Der unpassende Gebrauch des Wortes „Europa“ behindert auch den Kampf gegen das, was die EU wirklich ist, sowie die Klärung dessen, wofür wir kämpfen. 6. „Europa, auf! (Europe debout!)“ – für ein anderes Europa
Das Motto „für ein anderes Europa“ kann auf verschiedene Logiken hinauslaufen, die es abzuklären gilt. Es kann sich dabei zum einen um kleinere Veränderungen handeln, ohne dass die wesentlichen antisozialen und antidemokratischen Dimensionen der EU in Frage gestellt werden; zum anderen um ein Set von nationalistischen und fremdenfeindlichen reaktionären Maßnahmen oder aber drittens um fortschrittliche Zielsetzungen, die sich im Gegensatz zu den gegenwärtigen Verträgen und Institutionen der EU befinden und die gegen die Vermarktung und Privatisierung der Gemeingüter die egalitären Rechte und die Umwelt verteidigen. Wir müssen jedes Bündnis auf der oberflächlichen „Anti-EU“-Ebene mit fremdenfeindlichen und rassistischen Strömungen ablehnen; es stünde in organischem Widerspruch zu jeder fortschrittlichen Kohärenz in den nationalen Kämpfen selbst: Wir müssen uns von den Strömungen der extremen Rechten sowohl hinsichtlich der Bedeutung der „Nation“ wie vor allem im Hinblick auf die Zielsetzung eines solidarischen und egalitären „anderen Europas“ abheben. Dabei ist es wichtig, die falschen Alternativen zwischen nationalen und europäischen Kämpfen zurückzuweisen und die Verteidigung nationaler Rechte (vor allem in einer freien Union) vom fremdenfeindlichen Nationalismus zu unterscheiden. Diese Diskussion ist nötig, denn in der Debatte über einen „Plan B“ sind auch radikale Linien eines „Exit“ um jeden Preis aufgetaucht. Eine rote Linie der Annäherung an den Front National wurde von Jacques Sapir1 oder
gung und Kontrolle könnten auf den verschiedenen Ebene umgesetzt werden (nicht nur der „nationalen“). Natürlich müssen wir die dritte Variante eines „anderen Europas“ gegenüber den Verträgen der EU verteidigen – die sich von der ersten Variante unterscheidet, ja gegen sie steht, die ja nur zweitrangige Änderungen vornehmen möchte, um zu einer „guten EU“ zu gelangen. Doch man kann die Kräfte, die bewusst an einer Politik des Sozialabbaus arbeiten, nicht mit jenen Strömungen und Menschen in einen Topf werfen, die die vorherrschende Politik kritisieren und dabei die Hoffnung haben, dass grundlegende „Reformen“ der EU möglich sind. Man muss also genauer bestimmen, worüber die Diskussion wirklich geht. Die Behauptung, die „EU ist unreformierbar“, ist einerseits richtig und zugleich Quelle von vielen falschen und schlechten Debatten. Sie ist richtig, als die Missetaten der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) – also die Entscheidungen, die bei der Errichtung der EU getroffen worden sind – keinen Zufall darstellen (und nicht auf einfachen Irrtümern beruhen). Daraus lässt sich aber nicht die Schlussfolgerung ableiten, es gäbe kein Interesse an Kämpfen für „Reformen“ im Sinne von konkreten Zielen oder beschränkten Maßnahmen, die im Rahmen der EU selbst vorgetragen werden und verschiedenen Logiken folgen können. Menschen und politische Kräfte, Vereinigungen, Gewerkschaften usw. können sich mit unterschiedlichen Vorstellungen im Hinblick auf die Möglichkeit, die bestehenden Institutionen oder Systeme zu „reformieren“ (oder sogar in der Hoffnungen, sie gegen vermeintlich Schlechteres „retten“ zu wollen) in Kämpfen gegen die vorherrschende Politik engagieren. Noch nie wurden Revolutionen mit der Forderung nach „Revolution“ gemacht, sondern auf der Grundlage konkreter Forderungen und Kämpfe im „System“ gegen seine Mechanismen und Auswirkungen. Man Inprekorr 6/2016 23
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weiß niemals im vornherein, durch welches Szenario (und mit wem) ein Kampf im System sich in einen gegen das System verwandelt (was man bisweilen als „Übergangslogik“ bezeichnet, wodurch die Brücke zwischen Reformen und Systemveränderung geschaffen wird). Wenn ein legitimer Kampf durch die herrschenden Institutionen und Kräfte im Namen dieses „Systems“ blockiert und unterdrückt wird, dann kann man kapitulieren oder aber die Auseinandersetzung weiter treiben. Nichts ist von vornherein festgelegt. Diese Aussagen bedeuten natürlich nicht, dass die „antikapitalistischen (oder gegen die EU gerichteten) Analysen und Propaganda nichts nützen. Sie sind sehr wichtig. Doch sie gehören niemandem auf exklusive Weise, und die Menschen, die sie entwickeln, müssen ihre Fähigkeit zeigen, zu überzeugen und/oder sich der demokratischen Diskussion stellen, wobei sie ggf. von anderen lernen können. Es ist nicht notwendig, eine „klare“ Vorstellung von der EU und von einem „anderen Europa“ zu haben, um sich in fortschrittliche und egalitäre Kämpfe einzubringen und zu sehen, dass sie sich auf allen Ebenen im Konflikt mit der herrschenden Politik und den Institutionen, auch und gerade der EU, befinden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, einen alternativen und pluralistischen europäischen Hegemonie-Block aufzubauen, eine Art aufrechtes Europa (Europe Debout), wie es auf embryonale Weise in den Treffen von „Nuit Debout!“ (auf der Place de La République in Paris und in anderen Städten, Anm. d. Übers.) in Frankreich mit zahlreichen Beziehungen in die Provinz und thematischen Netzwerken aufgetaucht ist. Konferenzen und das Internet können beim Aufbau helfen. Ein solcher Raum und die gesellschaftspolitische Bewegung müssten, wie die Treffen von „Nuit Debout!“, gleichzeitig für fremdenfeindliche Strömungen oder für die Verteidiger des „Arbeitsgesetzes“ verschlossen, aber auf der Grundlage wesentlich egalitärer und demokratischer Prinzipien und Zielsetzungen pluralistisch und für alle Übrigen zugänglich sein. Dort wurden „Misstrauenserklärungen“ gegen die in der EU auf sozialer Ebene wie bei den Geflüchteten vorherrschende Politik abgegeben. Der offene Charakter der Diskussionen, über „welches andere Europa“ und wie man dorthin gelangt, muss sich auf das Prinzip stützen, dass eine neue Union aus einem demokratischen, konstitutiven Prozess hervorgehen müsste. Die Krisenszenarios und die kommenden Mobilisierungen, die es ermöglichen werden, zu einem anderen Europa zu kommen, können nicht vorhergesehen werden. Sie werden mit Krisen in einem oder mehreren Ländern und/oder der EU verbunden sein. Sie werden umso fortschrittlicher 24 Inprekorr 6/2016
und egalitärer sein, sofern sie von einem „Europe Debout“ von unten vorbereitet werden und das aufnehmen, was bereits existiert. Die Debatten müssen das falsche Dilemma überwinden: Nationalismus oder europäischer Föderalismus – zugunsten der Suche nach einem Weg, der sowohl nationale wie europäische Rechte umfasst, wobei auf allen Ebenen eine egalitäre und ökologische Politik verteidigt werden muss; dabei muss man je nach Thema dem demokratischen Prinzip der Subsidiarität folgen.4 Dabei muss man eine strategische Debatte führen: Ist ein Austritt aus dem Euro die Vorbedingung für fortschrittliche Kämpfe? 7. Austritt aus dem Euro – was heißt das konkret?
Seit langem wird von vielen WirtschaftswissenschaftlerInnen gesagt, dass die WWU wegen ihrer Heterogenität keine „optimale Währungszone“ darstellt und eine Einheitswährung, wenn sie nicht von einem großen Haushalt ergänzt wird, im Rahmen einer kapitalistischen Marktwirtschaft die Unterschiede vergrößert. Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der radikalen Linken betreffen nicht diesen Punkt. Und die Idee, dass man ein anderes System bräuchte (also aus dem bestehenden „austreten“ müsste), findet weitgehend Zustimmung. Doch dies sagt nichts über das wie noch das wohin eines Austritts. Die Meinungsverschiedenheiten betreffen auch nicht die in sozialer und ökologischer Hinsicht desaströse Bilanz der EU, noch die Tatsache, dass die Währungspolitik und die Einheitswährung die Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten vergrößert haben, ohne sie vor Spekulation zu schützen – weil die Märkte sich in einem unsolidarischen System zwar nicht der Wechselkurse (denn solche gibt es im Eurosystem nicht mehr), aber der Budget- und Handelsdefizite der schwächsten Länder bemächtigt haben. Die wirklichen Debatten beziehen sich auf eine Reihe von Entscheidungen im Hinblick auf mögliche Wege und Optionen, die man wie folgt zusammenfassen kann: Das erste Diskussionsfeld bezieht sich natürlich auf die Frage einer Rückkehr zu nationalen Währungen im Rahmen der WWU. Ist sie eine Vorbedingung, um wirksame fortschrittliche soziale, demokratische und ökologische Kämpfe führen zu können? Die Analysen, die dies bestreiten, tun dies entweder, weil sie die erstrangige Bedeutung der Währung bestreiten – und damit die Idee, dass eine Änderung der Währung mobilisieren und Vorbedingung für Kämpfe sein kann –, oder aber weil ihnen eine Rückkehr zu nationalen Währungen im gegenwärtigen europäischen Kontext als problematisch
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erscheint. Man muss also über ein anderes europäisches Währungssystem nachdenken, das eines „anderen Europas“. Hinzu treten die Diskussionen über die Funktionsweise dieses anderen Systems, teilweise wegen des Scheiterns des vorherigen Systems (EWS), das auf der gemeinsamen Verrechnungseinheit ECU und den nationalen Währungen beruhte, aber auch wegen der unterschiedlichen Sichtweisen, was die gemeinsamen europäischen konföderativen oder föderativen Institutionen sein sollten. Das zweite Diskussionsfeld betrifft die Strategie, wie man von der WWU und EU zum angestrebten Ziel gelangt. Offensichtlich ist es so, dass, wenn man glaubt, eine europäische Vergemeinschaftung in Klammern setzen zu müssen, um den heilsamen Charakter einer Rückkehr zu nationalen Währungen zu würdigen, ja zu behaupten, dies sei eine Vorbedingung für jeden fortschrittlichen Kampf, man eine Parole der Strategie eines Austritts um jeden Preis und überall aus WWU und EU verkünden muss – wobei sich dann möglicherweise Divergenzen hinsichtlich der „Bündnisse“ ergeben. Wenn man aber glaubt, dass man ein „anderes Europa“ anstreben sollte, das mit einem ad-hoc-Währungssystem ausgestattet wäre, das eine europäische Währung mit einem Konzept des Einsatzes von nationalen Währungen verbände, dann wäre die Notwendigkeit einer gemeinsamen Strategie unabdingbar. Natürlich würde die Diskrepanz zwischen den Kämpfen in den verschiedenen Ländern eher in Richtung eines einseitigen Austritts aus dem gegenwärtigen System als zu einem Verbleib in der WWU drängen (diese Frage stellt sich besonders für Griechenland). Aber im Rahmen einer kollektiven Strategie sind die Optionen Austritt oder Verbleib ohne Unterwerfung Varianten einer Logik, die in jedem Fall die nationalen Kämpfe (so weitreichend wie möglich bei der Befriedigung eines gegen die Austerität gerichteten Programms und der eingeforderten Rechte) mit dem Ziel, das kollektive Gewicht in die Krise oder in eine Blockade der EU einzubringen, verbinden muss. Dies führt uns zur Suche nach gemeinsamen Kämpfen in so vielen Ländern wie möglich, sowie zu bedeutenden Umgruppierungen. Alle Debatten über die Taktik sind natürlich legitim und müssen in den Bedingungen der Kämpfe im jeweiligen Land verankert sein, die sich natürlich von Land zu Land unterscheiden und die von den Beteiligten im jeweiligen Land mit all den Besonderheiten artikuliert werden. Jedenfalls stellt die Isolierung der Währung (des Euro) vom ihn umgebenden System einen theoretischen und praktischen Irrtum dar. Nicht weil die Währung „neutral“
wäre – das ist sie ganz und gar nicht. In ihr kondensieren sich zahlreiche gesellschaftliche und Machtbeziehungen. Doch genau diese muss man herausarbeiten. Und es ist keineswegs klar, dass im Rahmen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Instabilität und der Unruhen die wichtigsten und mobilisierenden Themen die der Währung sein werden. Im Rahmen der gesellschaftlichen, ökologischen und systemischen Krise und einer sehr starken Ungleichheit müssen die Reflexionen über andere, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen auch die Debatten erweitern, die zu sehr auf den Bereich der kapitalistischen Marktwirtschaft beschränkt sind. Müssten europäische „Strukturfonds“ (der Planung) für Investitionen nicht am produktiven Abbau von Ungleichheiten arbeiten, wobei beispielsweise gesellschaftliche Zielsetzungen, neue öffentliche Dienstleistungen und ein „ökologischer Übergang“ etwa im Bereich der Transporte angestrebt würden? Müssten ein soziales und egalitäres (also sozialistisches) Europa oder ein „Europe Debout“ nicht auf demokratische Weise Regeln erarbeiten, um den Abstand bei den Einkommen zu begrenzen und die Verteidigung und Ausweitung der nicht über den Markt laufenden öffentlichen Dienstleistungen zu organisieren, die auf solidarische Weise in ganz Europa voranzutreiben wären? Die Debatte über eine Kontrolle der Steuerparadiese und der freien Bewegung des Kapitals, oder die über die Vergesellschaftung „systemischer“ Banken, die Entwicklung von vergesellschafteten Bankpolen, der Schutz der Einlagen der Haushalte und die Rückkehr zu einer öffentlichen Finanzierung der öffentlichen Ausgaben (über Steuern) – sind sie auf europäischer Ebene nicht prioritär?5 Und ist es nicht dringend geboten, die Reflexionen, die während der griechischen Krise über die „Eurodrachme“ als „Sauerstoff ballon gegen den Euro“ ohne Verlassen der WWU entstanden sind, allgemein zugänglich zu machen?Man muss sie weiterführen und damit die Privatisierungen von öffentlichem Eigentum in der EU kritisieren, indem man auf die „Fiskalgelder“ zurückkommt, die den Inhalt der öffentlichen Schulden verändern könnten.6 Diese dringenden und ernsthaften Diskussionen (neben anderen) haben erhebliche Konsequenzen hinsichtlich der Art und Weise, wie man ein Verlassen des „Euro-Systems“ (und nicht des Euro) sich vorstellen kann – also einen anderen Gebrauch des Euro, was die Funktionen und das Statut der EZB in Frage stellt, aber auch die Fiskal- und Haushaltspolitik in der EU. Es handelt sich dabei nicht um die gleiche Debatte wie wir sie angesichts der einheitlichen Akte 1985 über eine gemeinsame oder Einheitswährung Inprekorr 6/2016 25
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hatten (damals im Rahmen des EWS, das seit 1979 existierte, und das auf nationalen Währungen, der Kontrolle des Kapitalverkehrs und dem ECU beruhte). Seitdem hat es die Krise des EWS nach der deutschen Vereinigung und die Flucht nach vorne in den Euro, die Erweiterung der EU auf Osteuropa, die Krise von 2007/08, die sich bis 2009 hinzog, gegeben. Und weitere Krisen zeichnen sich ab, die eine scheinbar beendete Debatte neuerlich eröffnen könnten. Die Bankenkrise von 2008/09 hat den Diskurs und das „Paradigma“ der Finanzinstitutionen hinsichtlich einer „Tugend“ der Integration der Banken der neuen peripheren Mitgliedsstaaten verändert: Die dortigen Aktiva der Banken stammen vor allem von westeuropäischen Banken, was vor der Krise als „Sicherheit“ und Bedingung für eine nachholende Entwicklung hingestellt wurde. Und dies zählt (weit mehr als der Euro) hinsichtlich des Kreditangebots und der –nachfrage, was vor 2008 zu einem starken Wachstum geführt hatte. Seit der Krise spricht man nicht mehr vom Aufholen: Nun wird die Austeritätspolitik umgesetzt und in aller Eile musste man die „Wiener Initiative“ als Sicherheitsvorgabe errichten, die Vorgaben für alle europäischen und weltweit agierenden Großbanken macht. Damit sollte eine desaströse Kapitalflucht der jeweiligen Filialen aus mehreren Ländern Ost- und Südosteuropas verhindert werden. Diese „Initiative“ sollte als einmalig gelten, doch sie musste 2012 angesichts der Instabilität und der fortwirkenden Gefahren wieder aufgegriffen werden und wird bis heute angewandt.7 In der ganzen Union sind neue Bankund Finanzkrisen möglich, so fragil wie die Banken sind, wobei überall die Aktiva der Banken und die jeweiligen staatlichen und europäischen Politiken ineinandergreifen. Es wäre verrückt, würde die europäische radikale Linke eine Geld- und Bankenpolitik nach der Logik „jeder für sich“ vertreten, statt nach fortschrittlichen und solidarischen Mitteln zu suchen, um mögliche Krisen zu bekämpfen. Dies ist angesichts der falschen Politik und den „Hilfs“-mechanismen sowie der Kontrolle der Banken in Vergangenheit und Gegenwart durch IWF und die Institutionen der EU dringend. Denn sie sind Instrumente, die neue soziale Opfer, verheerende Reformen und eine Politik von „Strukturanpassungen“ durchsetzen möchten, so wie dies der IWF überall im Gegenzug für seine „Hilfen“ getan hat. Wir können heute wiederholen, was für Griechenland 2015 schon galt: Die Weigerung, der Troika zu gehorchen und eine illegitime Schuld zu bezahlen, „bedeutet, sich gegen die Erpressungen durch die Eurogruppe mit Hilfe von unilateralen Maßnahmen zu schützen, wie dies in 26 Inprekorr 6/2016
Griechenland auch vorgeschlagen, aber nicht in die Tat umgesetzt wurde (oder zu spät und unter schwierigsten Bedingungen): Kontrolle der Banken und des Kapitalverkehrs, Vorbereitung einer Parallelwährung, und vor allem Beendigung der Schuldenrückzahlung. Die Vorschläge für eine ,Fiskalwährung‘, die die Abhängigkeit vom Euro und dem Weltmarkt begrenzte, können zu einer alternativen Konzeption eines europäischen Währungssystems, in dem die Funktionen des Euro umgestellt würden, führen, sie können aber auch vorläufige Formen des Widerstandes sein.“8 Wir möchten in diesem Geist auf die Vorschläge von Frédéric Lordon von 2013 verweisen, die er im Hinblick auf „Fiskalwährungen“ in der Art der oben erwähnten Eurodrachme gemacht hat (ohne dass er diesen Begriff gebraucht hat).9 Noch weit entfernt von seinen späteren Polemiken gegen den „guten Euro“, schlug er einen radikal in seinen Funktionen umgebauten Euro vor, der eine gemeinsame Währung werden sollte – ohne wieder nationale Währungen einzuführen und unter Beibehaltung der Zentralbank EZB, deren Statut natürlich verändert würde. Wir machen uns die Mühe, ihn zu zitieren: „Zwischen der unmöglichen Einheitswährung und den nationalen Währungen im EWS erneuert die gemeinsame Währung die Möglichkeit einer Anpassung der Wechselkurse (die durch den Auf bau der Einheitswährung ausgeschlossen wird). Sie vermeidet dadurch die Instabilität eines Systems getrennter nationaler Währungen. Aber eben nicht in irgendeiner Konfiguration. Denn die gemeinsame Währung bewirkt all ihre Vorteile in einer Architektur, die eine europäische Währung einführt (den Euro), aber nationale Benennungen bestehen lässt – so würde es einen €-FR, €-Lira, ja wohl sogar eine €-DM usw. geben (…) Der strategische Punkt ist folgender: 1. Die nationalen Benennungen sind natürlich untereinander konvertibel, aber nur an den Schaltern der Europäischen Zentralbank (…), die als eine Art Wechselbüro funktionierte. Folglich ist der direkte Tausch zwischen Privateigentümern untersagt und innerhalb Europas gibt es keine Geldwechselmärkte; 2. Die fixen Paritäten der nationalen Benennungen im Verhältnis zum Euro (somit die Wechselkurse der nationalen Benennungen untereinander) können angepasst werden, jedoch in politischen Prozessen, die den (destabilisierenden) Einflüssen der Geldmärkte völlig entzogen sind, denn diese sind ja aus dem Innern der Zone verbannt. Diese komplementären Vorgaben führen gewissermaßen zum Besten aus beiden Welten. Die gemeinsame Währung hat dieselbe Funktion wie die Einheitswäh-
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rung, nämlich das Verhältnis zwischen dem Innen und dem Außen der Zone abzubilden und dabei die nationalen Benennungen vor den internationalen (außereuropäischen) Geldmärkten zu schützen. Die Konvertibilität ‚am Bankschalter‘ (der EZB zu einem festgelegten Kurs) der nationalen Benennungen geht mit der Beseitigung der innereuropäischen Geldmärkte einher, woraus sich eine interne Stabilisierung der Währung ergibt, die der der
Doch die Vorstellungen von Frédéric Lordon würden besser auf die Ängste um eine instabile Währung (wie sie gerade auch die Bundesbank äußert) antworten als das gegenwärtige System, wenn sie auf kooperative und egalitäre Weise umgesetzt würden: Sie ermöglichten auch einen Schutz des europäischen Währungssystems gegen die Spekulationen der internationalen Finanzmärkte, der besser wäre als der des früheren EWS.
Währungspolitik und Einheitswährung haben die Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten vergrößert.“ Einheitswährung entspricht. Doch im großen Unterschied zur Einheitswährung bietet das System der gemeinsamen Währung mit nationalen Benennungen Möglichkeiten der Änderung der innereuropäischen Wechselkurse, die durch die Konstruktion des gegenwärtigen Euro ausgeschlossen sind… und dies im Unterschied zu einem erneuerten EWS, bei einem im Innern gänzlich stabilen Währungsumfeld.“ War also Frédéric Lordon damals Anhänger eines „anderen Europas“? Diese Diskussion muss im Rahmen der europäischen strategischen Diskussionen nach dem Brexit wieder aufgenommen, seriös weiterentwickelt und mit den Beiträgen zu nationalen Fiskalwährungen verbunden werden. 8. Vom Euro zu Deutschland – und dem deutschen Volk
Im zitierten Artikel sieht Frédéric Lordon im deutschen Trauma der Hyperinflation nach den beiden Weltkriegen den wichtigsten Grund für die Rigidität und Ungleichgewichte des Euro-Systems. Und er glaubt, dass Deutschland aus einem System wie gerade beschrieben aussteigen würde. Er hat Recht und Unrecht zugleich. Unrecht in seinem Pessimismus, Deutschland betreffend. Recht, diese konkrete und historische Frage aufzuwerfen, die sicherlich in den Verhandlungen von Maastricht und den angenommenen Kriterien eine große Rolle spielte, wie ich im Übrigen ebenfalls betont habe. Warum sollte man aber nicht annehmen, dass die gegenwärtige Instabilität der WWU und der EU auch und gerade in Deutschland zu Diskussionen führen kann, die nur scheinbar unmöglich sind, weil dort die Verankerung in Europa als strategisch angesehen wird (auch über die vorherrschenden Positionen hinaus).
Andererseits haben die Maastricht-Kriterien bezüglich der (erlaubten) Budget-Defizite nichts „Wissenschaftliches“. Sie drücken das Misstrauen der deutschen Unterhändler gegen die „laxe Budget-Politik“ des „Club Med“, also der südlichen Länder aus. Doch einerseits war dies mit einer expliziten Klausel in den europäischen Verträgen verbunden, die die kolossalen Transfers von Steuergeldern wegen der deutschen Vereinigung als Ausnahme genehmigte. Unter dem Vorzeichen eines „anderen Europa“ der Kritik der EU kann uns nichts an einer Kritik dieser Kriterien hindern, die Deutschland (wie Frankreich) im Übrigen selbst nicht eingehalten hat; ohne dass wir die Bedeutung gemeinsamer Regeln abstreiten. Doch diese können nicht respektiert werden, wenn sie von Fall zu Fall gebrochen werden, also nicht für alle gleich und nicht wirklich „gemeinsam“ sind – insbesondere wenn ihre Wirksamkeit nicht bewiesen werden kann. Eine Abschaffung dieser Regeln, aber auch der europäischen Mechanismen, die die öffentliche Verschuldung ausgeweitet haben, wäre im Rahmen neuer Krisen jedenfalls wirksamer. Eine alternative europäische Linke müsste in diesem Sinn tätig werden. Von größter Wichtigkeit ist jedoch die Debatte über eine andere Logik in den wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen in Europa. Sie bezieht sich auch, wenn nicht sogar zuvörderst, auf die sozialen Bedingungen und den Transfer von Eigentum, die die deutsche Einheit und die Transformation der Systeme in Osteuropa mit sich gebracht haben. Diese Bilanz kann zusammen mit der betroffenen Bevölkerung gezogen werden. Es waren die durch die (soziale und fiskale) Konkurrenz auf dem Rücken der Bevölkerung durchgesetzten Spaltungen, die verhindern, dass die gemeinsamen Interessen gesehen werden. Dies wird durch das Fehlen von „sozialen Bewegungen“ und eines europäiInprekorr 6/2016 27
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schen politischen Raumes verstärkt, in dem man problemlos diverse Streiks zusammenführen könnte, die sonst scheitern, weil sie vereinzelt bleiben. Die große Masse der lohnabhängigen Bevölkerung gehörte zu den Verlierern, sowohl in Deutschland wie auch der neuen Peripherie, auch wenn die durchschnittlichen Abstände zwischen den Ländern groß bleiben. Es ist nicht der Euro, der zunächst in Frage steht. Es geht um den sozialen Krieg und die Abschaffung aller früheren Schutzbestimmungen in allen europäischen Ländern, wobei man sich auf die Konkurrenz zwischen den am wenigsten geschützten Menschen (im Osten) und den anderen verlässt – ob mit oder ohne Euro. Die Hoffnung, ins „Europa der Reichen“ und wenn möglich ins Zentrum (die Eurozone, wo die großen Entscheidungen getroffen werden) zu gelangen, stellt ein grundlegend legitimes Verlangen dar, das man gegen die Institutionen sowie die herrschenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Mechanismen wenden muss, bevor man sie gegen den Euro wenden kann. Wir können noch hinzufügen, dass wir die Bewegungsfreiheit der Arbeitenden und der Studierenden genauso verteidigen wie das Recht, im Heimatland ein Leben, eine Arbeit und gute Studien- und Forschungsbedingungen zu haben. Von dem sollten wir ausgehen und von der Art und Weise, wie ein „anderes“ – kooperative und solidarisches Europa alle diese Rechte schützen könnte. 9. Der Brexit – ein Schock? In welchem Sinn?
Aus dem Brexit kann man unterschiedliche Orientierungen ableiten und behaupten oder bezweifeln, dass es sich um einen „historischen Schock“ handle;10 man kann jedoch sicher sein, dass seine Zukunft von den Lehren abhängen wird, die von der alternativen Linken in Europa daraus gezogen werden. Wenn die Orientierung auf einen „Lexit“ (einen Austritt von links) meint, dass man „überall für Volksabstimmungen wie in Großbritannien“ eintreten sollte, ohne dass der Inhalt dieses Lexit durch den Aufbau einer linken europäischen Alternative konkretisiert würde, dann verbliebe man in der Sackgasse und der Spaltung. Dann wäre man „unter sich“. Doch wir können auch die schlecht geführten fruchtlosen Debatten hinter uns lassen und von einer gemeinsamen Basis ausgehen, die sagt, dass alle fortschrittlichen und solidarischen Kämpfe die gegenwärtigen Verträge der EU in Frage stellen sollten. In einem Beitrag auf einer Versammlung der griechischen Volkseinheit hat Stathis Kouvelakis aus dem Brexit 28 Inprekorr 6/2016
eine erste Lehre gezogen, wonach „die Gegnerschaft zur EU sehr klar die strategische Frage des Kampfes für eine politische und ideologische Hegemonie im heutigen Europa aufwirft. Doch dann macht er weiter und sagt, „die Wahl steht heute nicht zwischen einer ,guten‘ und einer ,schlechten‘ EU, der einen oder anderen Version des Euro, wie die gescheiterte europäische Ideologie behauptet, sondern es geht um einen Konflikt der Linken und der Rechten mit der EU. Doch diese Ausführungen sind alles andere als klar. Man kann mit Stathis Kouvelakis übereinstimmen, dass die „Gegnerschaft zur EU“ ein Schlüsselelement der strategischen Positionierung (in Verbindung mit dem Kampf um ideologische Hegemonie) sein muss, doch das Argument, alle Volksabstimmungen über die EU hätten diese und damit jede „europäische Ideologie“ abgelehnt, ist falsch. Einerseits behandelt er nicht die großen Unterschiede in den in diesen Referenden zum Ausdruck gebrachten Fragestellungen: Das OXI (in Griechenland) kritisierte die Politik der EU, lehnte sie jedoch nicht ab; unser linkes Nein (in Frankreich) gegen den Verfassungsvertrag der EU 2005 war von Prinzipien für ein anderes Europa begleitet; hingegen haben wir oben die armselige und problematische Fragestellungen der Referenden in Großbritannien und den Niederlanden betont. Außerdem sollte man auch den Umfang der Enthaltungen betrachten, vor allem aber die Tatsache, dass das Misstrauen und die Ablehnung der gegenwärtigen Macht von Brüssel ganz und gar mit der Forderung nach einem „anderen Europa“ kompatibel sind, ein Europa der Völker und der Rechte, das gegen den autoritären Föderalismus stünde. Der Fall Schottland zeigt, das „das Zugehörigkeitsgefühl zu Europa“ (wenn man diesen Begriff offen interpretiert und ihn nicht auf Projekte der Finanzoligarchie reduziert) überhaupt nicht im Widerspruch zu einem starken Gefühl für die „Nation“ und deren Unabhängigkeit stehen muss. Schließlich haben wir oben gezeigt, als wir den Text von F. Lordon zitiert haben, dass eine radikale Kritik der EU durchaus mit dem Ansatz eines anderen Gebrauchs des Euro und der EZB vereinbar ist – in neuen Verträgen würden die konkreten Bedingungen festgehalten. Es würde sich nicht um eine „gute EU“ handeln, sondern um eine andere Union, eine andere EZB, einen anderen Euro. Daher sollte dieses andere Europa auch einen anderen Namen annehmen als EU. Wir möchten betonen, dass Frédéric Lordon, Stathis Kouvelakis und andere Mitglieder der radikalen Linken, die ihre Meinung teilen, voll und ganz akzeptieren, in eine
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gemeinsame Front mit dieser Opposition für ein anderes Europa gegen die EU einzutreten. 10. Kein LEXIT ohne „ein anderes Europa ist möglich“: Bauen wir es gegen die „Werte“ der Konkurrenz, der Xenophobie und aller Herrschaftsverhältnisse auf, seien sie lokal oder planetarisch
Das neue europäische Netzwerk, das sich um den LexitAufruf geschart hat, scheint vom Brexit peinlich berührt zu sein und hat eine wirkliche Debatte eröffnet.11 Die Hoffnung auf einen „paradoxen Effekt“ des Brexit, die in radikalem Gegensatz zur Hypothese vom Ende der „Europabegeisterung“ steht, zeigt sich in mehreren vor kurzem erschienenen Beiträgen. Bernard Cassen meint, dass eine Lektion des Brexit „sowohl für die Anhänger der einen oder anderen Form des Leave oder der Neugründung der EU“ gilt. Nachdem er auf die Boomerang-Effekte und Sackgasse des Brexit verwiesen hat, sagt er: „Eine Mehrheit der Wähler missbilligt die Politik (und einige von ihnen sogar die Existenz) der EU und des Euro, aber eine andere Mehrheit missbilligt diejenigen, die sie bekämpfen, ohne aber glaubhafte Alternativen formulieren zu können!“ „Der Weg ist also sehr eng“, fährt er fort, „für diejenigen, die glauben, dass ein anderes – solidarisches und fortschrittliches – Europa nicht unmöglich ist. Daher kann die Umsetzung eines Planes B – auch wenn sie von einer souveränen nationalen Entscheidung ausgelöst wurde – kaum der Frage von Bündnissen mit einer kritischen Masse von Kräften aus anderen europäischen Ländern, die die gleichen Zielsetzungen teilen“, ausweichen. Dies erforderte einen Entwicklungssprung in der europäischen alternativen Linken und die Überwindung der Entweder-Oder-Ansätze (Bewegungen für nationale oder europäische Rechte; Unterordnung unter die EU/WWU oder Austritt) und der Charakterisierung der Austrittsoption als einziger „Opposition zur EU“. Die Klärungen der Streitpunkte in der Debatte könnten der Formel des „Lexit“ die breite Bedeutung der „Gegnerschaft zur Logik und den Verträgen der EU“ geben, ohne die verbindliche Linie eines Austritts. Aus dem Brexit ließe sich die Lehre ziehen, dass dringend auf europäischer Ebene eine Alternative aufgebaut werden muss. Sie müsste als fortschrittlicher Gegenblock Kraft gewinnen und einen europäischen „alternativen politischen Raum“ anstoßen, eine Art „Europe Debout!“ (Aufstehen, Europa!), das sich mit allen egalitären und ökologischen Widerstandsbewegungen gegen die herrschenden Politiken und Institutionen verbinden müsste.
Jede linke Opposition gegen die EU in einem Land könnte organisch in das Netzwerk von diesem Europe Debout in anderen Ländern eingebunden werden. Statt einzeln und ungeordnet die Frage der Schulden mit der EZB und der Eurogruppe zu verhandeln, könnte ein in einem ähnlichen Kampf wie Syriza sich befindendes Volk nach einem Bürgeraudit ein Moratorium der Rückzahlung der Schulden beschließen und sich gleichzeitig mit Europe Debout für eine europäische Konferenz über die öffentlichen Schulden einsetzen, auf der dann gemeinsame Regeln ausgearbeitet würden. Alle Verhandlungen und Forderungen von Seiten der europäischen Regierungen würden überall in der EU öffentlich gemacht und mit anderen interessanten Positionen, die alle Völker der Union betreffen, verglichen, um zu einem Prozess der demokratischen kollektiven Rebellion zu kommen, der die Forderung nach einer Konstituante erhebt, oder aber sich für gemeinsame Projekte zusammenzuschließen. Ein „Europe Debout“ würde von unten sein Gewicht in mögliche Alternativen einbringen, mit den eigenen Zeitplänen der Kämpfe und Debatten, es würde alle fortschrittlichen Kampagnen und Rebellionen gegen die herrschenden „Regeln“ unterstützen und die grundlegenden Rechte und Bedürfnisse verteidigen. Es könnte die heute noch vereinzelten Kämpfe oder sich abzeichnenden Brüche, die ohne günstiges Kräfteverhältnis und Glaubwürdigkeit sind, europäisieren und damit Verbindungen ermöglichen, also eine Aneignung der Kämpfe und Revolutionen des 20. Jahrhunderts von unten und auf pluralistische Weise ermöglichen, nicht als nostalgische Betrachtung der Vergangenheit, sondern als Gegengift gegen die Kriminalisierung des Widerstandes gestern und heute. Aber Europe Debout müsste (wie Nuit Debout) in den jungen Generationen verankert sein und Räume anbieten, die es ermöglichen, Erfahrungen und Meinungen zu verbinden. Die Popularität des freien Reiseverkehrs bei den jungen Menschen muss ein Pluspunkt für eine Studentenbewegung für ein anderes Europa werden, die in ihren Unterschieden recht farbig ausfällt, die jedoch dieselben „Gemeingüter“ verteidigt, die Initiativen ergreift und Plena abhält, die der Zivilgesellschaft und den Kämpfen offen stehen, wie dies in Kroatien geschehen ist. Gleichermaßen kann man die Erfahrungen mit der Rekommunalisierung des Wassers in Frankreich und Italien auf europäischer Ebene sichtbar machen, oder gegen die Banken und ihre toxischen Kredite das Recht, ein Dach über dem Kopf zu haben und sich gegen Vertreibungen aus den Wohnungen wehren, wie dies im spanischen Staat geschehen ist. Gegen das Verschwinden der Inprekorr 6/2016 29
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Gewerkschaften in den nationalen und europäischen Institutionen muss man die transnationalen Streikerfahrungen, sowie die Kämpfe, die Arbeitende und Kunden gegen multinationale Firmen zusammengebracht haben, weitergeben. Des Weiteren muss man die gemeinsamen Projekte, die es zwischen rebellischen Städten gibt, zeitlich strecken und auf möglichst viele Länder ausdehnen, in denen gleiche soziale Rechte und ökologische Ziele, sowie eine aktive Solidaritätsarbeit mit MigrantInnen und Geflüchteten in Gegnerschaft zu jeder Form des Rassismus verteidigt werden. Nach dem Vorbild der Aktionen und Kampagnen der Blockade gegen TTIP müsste man die Pläne für neue Verträge in der EU öffentlich machen (etwa die der „fünf Präsidenten“) und ihre antisozialen und antidemokratischen Zielsetzungen und Vorgehensweisen herausarbeiten. Statt den fremdenfeindlichen und nationalistischen Kräften die Möglichkeit zu überlassen, diese Kritik zu verbreiten, muss man ihnen solidarischen, egalitären, europäischen, also auch antirassistischen Widerstand entgegensetzen und die Forderung aufstellen, dass ein demokratischer Prozess begonnen wird, um solche Verträge zu verhindern. Reziproke Solidaritätsaktionen müssen verallgemeinert werden nach dem Vorbild von Blockupy international, das Nuit Debout und den Widerstand gegen das Arbeitsgesetz in Frankreich unterstützt hat.12 Die Initiativen des Altersummit13 müssen debattiert und verbreitert werden; ebenso die Projekte des Netzwerkes Diem2514 oder des europäischen Netzes für den „Lexit“15, das gerade gestartet wurde. Auf der Basis von bereits vor allem auf dem Altersummit erarbeiteten und diskutierten Projekten könnte eine WebSite Europe Debout alle diese Initiativen und Reflexionen sichtbar machen und bei der Aktualisierung eines Manifestes zur Verteidigung der Gemeingüter und der europäischen Rechte helfen, was auch eine gemeinsame Basis gegen die herrschende Politik auf nationaler und europäischer Ebene bei kommenden Wahlen sein könnte. Man müsste sich in eine solche Dynamik einbringen können, gleich ob man Mitglied von Syriza ist oder nicht, Mitglied des linken Flügels, AnhängerIn oder nicht der Volkseinheit, Anhänger oder nicht des Brexit oder der Kampagne „ein anderes Europa ist möglich“ im Rahmen des „Remain“ (Drinbleiben) – unter der Bedingung, die demokratische Diskussion zu respektieren und somit jede auf Hegemonie bedachte Verhaltensweise zu unterlassen; aber auch durch praktisches Engagement zugunsten der Mobilisierungen von unten als wesentliche Bedingung für die Entwicklung einer Haltung, die sich einem Verstecken und Misserfolgen widersetzt. Eine solche Front entstünde in Gegnerschaft zu den „Zivilisationskriegen“ und 30 Inprekorr 6/2016
gegen jede Politik, die die subalterne Bevölkerung zueinander in Konkurrenz setzt und egalitäre Rechte abbaut (im Bereich des Sozialen, des Geschlechts oder der „Rassen“). Dabei müssen Gemeingüter verteidigt werden (von der Natur zu den gemeinsam verwalteten Gütern und Dienstleistungen). Der Aufbau von Europe Debout wäre auch eine wichtige Unterstützung der nationalen und internationalistischen Kämpfe zugunsten anderer Kontinente. Übersetzung: HGM und Paul B. Kleiser
1 Für Jacques Sapir können Bündnisse mit dem FN auf diesem Gebiet umso mehr ins Auge gefasst werden, als er sich geändert habe. 2 Jacques Nikonoff ist der frühere Vorsitzende von attac; er hat die neue Partei PARDEM (Partei der Entglobalisierung) gegründet und legitimierte in einem der LCI gegebenen Interview seine Unterstützung des Front National-Kandidaten Nicolas Dupond-Aignan bei den Wahlen von 2012 wegen dessen „souveränistischer Haltung“. 3 Die britische radikale Linke hat klar gegen die rassistische extreme Rechte Position bezogen. Obwohl er für den Austritt steht, hat sich auch F. Lordon gegen die Orientierung von Jacques Sapir zu diesem Punkt ausgesprochen. 4 Siehe hierzu Angela Klein, „The Crisis of the European Union and the Left“ (http://internationalviewpoint.org/spip. php?article4665) 5 Vgl. die von CADTM veröffentlichte wichtige Debatte, „Was mit den Banken geschehen soll ? “, 6 Bruno Théret, http://www.cadtm.org/spip. php?page=imprimer&id_article=13659 7 Vgl. vor allem http://www.ebrd.com/what-we-do/sectorsand-topics/vienna-initiative.html 8 http://contretemps.eu/interventions/construire-lespacepolitique-europen-danshorscontre-lunion-europeenne-endefense-commun 9 Vgl. http://blog.mondediplo.net/2013-05-25-Pour-unemonnaie-commune-sans-l-Allemagne-ou-avec 10 Vgl. Stathis Kouvelakis, http://la-bas.org/les-emissions-258/les-emissions2015-16/brexit-un-choc-historiqueune-chance-historique. 11 Diese Hoffnung besteht nach der Lektüre des Aufrufs (http://lexit-network.org/appel). Der Text freut sich keineswegs über den Brexit und verweist darauf, dass der Aufruf „vor der Volksabstimmung über den Brexit verfasst und veröffentlicht wurde und nicht die Absicht hatte, die Entscheidung des Volkes in irgendeiner Form zu beeinflussen“. Andererseits soll die Debatte über einen „linken Ausstieg“ eröffnet und geführt werden. 12 https://blockupy.org/fr 13 http://www.altersummit.eu/?/lang=fr 14 htpps://diem25.org/home-fr/ 15 Vgl. http://medelu.org/Lancement-d-unreseau-europeen
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SCHIMON PERES AUS DER PERSPEKTIVE SEINER OPFER Ein notwendiger Nachruf, der an die ganz andere Bedeutung des Friedensnobelpreisträgers und israelischen Siedlungspolitikers als die andere Seite der Wahrheit erinnert. Ilan Pappe
Die Nachrufe auf Schimon Peres sind bereits veröffentlicht worden; zweifellos wurden sie schon geschrieben, als die Nachricht über seinen Krankenhausaufenthalt die Medien erreichte. Das Urteil über sein Leben ist sehr klar und wurde schon vom US-Präsidenten Barack Obama verkündet: Peres war ein Mann, der den Verlauf der Menschheits-Geschichte durch sein unnachgiebiges Bemühen um Frieden im Mittleren Osten veränderte. Ich gehe davon aus, dass nur wenige Nachrufe das Leben und die Handlungen von Peres aus der Perspektive der Opfer von Zionismus und Israel untersuchen werden. Er hatte viele politische Ämter inne, die große Auswirkungen auf PalästinenserInnen, wo immer sie sich befanden, hatten. Er war Generaldirektor des israelischen Verteidigungsministeriums, Verteidigungsminister, Minister für die Entwicklung von Galiläa und des Negevs (arabisch an-naqab), Premierminister und Präsident. In allen diesen Rollen trugen seine Entscheidungen und die von ihm verfolgte Politik zur Zerstörung des palästinensischen Volkes bei. Sie leisteten keinen Beitrag für die Sache des Friedens und der Versöhnung zwischen Palästinensern und Israelis.
Geboren wurde er 1923 als Szymon Peres in einer Stadt, die damals Teil von Polen war und heute zu Weißrussland gehört. 1934 emigrierte er nach Palästina. Als Teenager in einer Landwirtschaftsschule wurde er politisch aktiv in der zionistischen Arbeiterbewegung, die die zionistische Bewegung und später den jungen israelischen Staat führte. Als Führungspersönlichkeit unter den Jugendkadern der Bewegung zog Peres die Aufmerksamkeit des Oberkommandos der Haganah, der jüdischen paramilitärischen Kräfte im von Britannien beherrschten Palästina, auf sich. Die Atombombe
1947 wurde Peres Vollmitglied der Organisation und von ihrem Führer David Ben-Gurion ins Ausland geschickt, um Waffen zu kaufen, die später 1948 bei der Nakba, der ethnischen Vertreibung der PalästinenserInnen, und gegen die arabischen Kontingente, die in diesem Jahr nach Palästina kamen, eingesetzt wurden. Nach einigen Jahren im Ausland, hauptsächlich in den Vereinigten Staaten, wo er damit beschäftigt war, Waffen zu kaufen und die Infrastruktur für die israelische Rüstungsindustrie aufzubauen, kehrte er zurück und wurde Generaldirektor des Verteidigungsministeriums. Inprekorr 6/2016 31
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Peres beteiligte sich aktiv am Zustandekommen der geheimen Zusammenarbeit Israels mit Großbritannien und Frankreich bei der Invasion in Ägypten im Jahr 1956. Als Gegenleistung erhielt Israel von Frankreich die Mittel, um Atomwaffen zu produzieren. Es war in der Tat Peres selbst, der Israels geheimes Atomwaffenprogramm im Wesentlichen überwachte. 1 Nicht weniger wichtig war der Eifer, den Peres unter Ben-Gurions Führung und Inspiration bei der Judaisierung Galileas an den Tag legte. Trotz der ethnischen Säuberung von 1948 war dieser Teil Israels noch in hohem Maß ein palästinensisch geprägtes Gebiet. Peres stand hinter der Idee, palästinensisches Land zu konfiszieren, um ausschließlich jüdische Städte wie Karmiel und Upper Nazareth zu bauen, sowie Militär in der Region zu stationieren, um die territorialen Verbindungen zwischen den palästinensischen Dörfern und Städten zu unterbrechen. Diese Ruinierung des palästinensischen Gebiets führte zum Verschwinden der traditionellen palästinensischen Dörfern und zur Verwandlung von Bauern in eine unterbeschäftigte und machtlose städtische Arbeiterklasse. Vorkämpfer der Siedler
Als sein Meister Ben-Gurion, der Gründungspremierminister Israels, 1963 von einer jüngeren Generation von Führern beiseite gedrängt wurde, verschwand Peres eine Zeit lang von der politischen Bildfläche. Nach dem Krieg 1967 kam er zurück und das erste Amt, das er inne hatte, war das eines Ministers für die besetzten Gebiete. In dieser Rolle legitimierte er, oft im Nachhinein, die Siedlungsaktionen in der Westbank und in Gaza. Viele von uns erkennen heute, dass die jüdische Siedlungsinfrastruktur insbesondere in der Westbank eine Zweistaatenlösung zu einer unmöglichen Option gemacht hatte, als die Pro-Siedler-Partei Likud 1977 an die Macht kam. 1974 verband sich Peres’ politische Karriere eng mit der seines Erzfeindes Jitzchak Rabin. Die beiden Politiker konnten sich nicht leiden, mussten aber zusammenarbeiten, um politisch zu überleben. In Bezug auf Israels Strategie gegenüber den Palästinensern teilten sie jedoch die zionistisch-koloniale Siedlerperspektive, sich so viel palästinensisches Land wie möglich anzueignen mit so wenig Palästinensern wie möglich. Sie arbeiteten gut zusammen bei der brutalen Unterdrückung des palästinensischen Aufstands, der 1987 begann.2 32 Inprekorr 6/2016
Peres’ erste Rolle in dieser schwierigen Partnerschaft war die des Verteidigungsministers in der Regierung Rabin von 1974. Die erste wirkliche Krise für Peres war die massive Ausweitung des Kolonisierungsvorhabens der messianischen Siedlerbewegung Gusch Emunim in und um die Stadt Nablus in der Westbank. Rabin war gegen die neuen Siedlungen, aber Peres unterstützte die Siedler. Und die Kolonien, die jetzt Nablus ersticken, existieren da dank seiner Unterstützung. 1976 bestimmte Peres die Regierungspolitik in Bezug auf die besetzten Gebiete. Er war überzeugt, dass ein Übereinkommen mit Jordanien möglich wäre, wodurch die Westbank unter jordanische Zuständigkeit bei gleichzeitiger effektiver israelischer Herrschaft gestellt werden könnte. Er ließ Gemeinderatswahlen in der Westbank abhalten, aber zu seiner großen Überraschung und Enttäuschung wurden die Kandidaten gewählt, die mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) identifiziert wurden und nicht die, die gegenüber der jordanischen Haschemiten-Dynastie loyal waren. Aber Peres blieb der sogenannten „jordanischen Lösung“ treu, sowohl als Oppositionsführer nach 1977, als auch nach seiner Rückkehr an die Macht in der Koalition mit dem Likud zwischen 1984 und 1988. Er trieb die Verhandlungen auf Basis dieses Konzepts voran, bis König Hussein im Jahr 1988 entschied, jegliche politische Verbindung zwischen Jordanien und der Westbank zu beenden. Das Gesicht Israels im Ausland
Die 1990er Jahre bescherten der Welt einen gereifteren und kohärenteren Peres. Er war das Gesicht Israels im Ausland, als Regierungsmitglied oder außerhalb der Regierung. Er spielte diese Rolle selbst dann noch, als der Likud zur stärksten politischen Kraft im Land geworden war. An der Macht: In Rabins Regierung Anfang der 1990er, als Premierminister nach Rabins Ermordung 1995 und dann als Minister im Kabinett von Ehud Barak zwischen 1999 und 2001 trieb er ein neues Konzept voran, das er „Frieden“ nannte. Anstatt die Macht in der Westbank und im GazaStreifen mit Jordanien oder Ägypten zu teilen, wollte er das nun mit der Befreiungsorganisation Palästinas tun. Die Idee wurde vom PLO-Führer Jassir Arafat akzeptiert, der wahrscheinlich hoffte, auf dieser Basis ein neues Projekt für die Befreiung Palästinas aufzubauen.
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Das Konzept, so wie es in den Osloer Verträgen von 1993 festgeschrieben war, wurde von Israels internationalen Verbündeten enthusiastisch begrüßt. Peres war der führende Botschafter dieser Friedensprozess-Farce, die für Israel einen internationalen Schutzschirm bot, um Fakten zu schaffen für ein großes Apartheid-Israel mit einigen verstreuten kleinen palästinensischen Bantustans3. Dass er den Nobelpreis für einen Prozess erhielt, der die Ruinierung Palästinas und seiner Bevölkerung vorantrieb, ist ein weiterer Beweis für das Missverstehen, den Zynismus und die Gleichgültigkeit der Regierungen der Welt gegenüber ihren Leiden. Wir leben zum Glück in einer Zeit, in der die internationale Zivilgesellschaft diese Farce entlarvt hat und durch die Boykott-, Desinvestment- und Sanktions-Bewegung (BDS), sowie die wachsende Unterstützung für die EinStaat-Lösung, einen hoffnungsvolleren und echten Weg vorwärts anbietet. Qana
Als Premierminister leistete Peres einen zusätzlichen „Beitrag“ zur Geschichte des palästinensischen und libanesischen Leidens. Als Antwort auf die endlosen Auseinandersetzungen zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee im Südlibanon, wo Hisbollah und andere Gruppen gegen die israelische Besatzung kämpften, die 1982 begann und die im Jahr 2000 mit ihrer Vertreibung endete, befahl Peres im April 1996 die Bombardierung des gesamten Gebietes. Während der Operation, die Israel „Operation Früchte des Zorns“ nannte, wurden durch israelischen Beschuss mehr als 100 Menschen in der Nähe des Dorfes Qana getötet. Bei ihnen handelte sich um Zivilisten, die vor den Bombardierungen flohen, und Mitglieder der UN Friedenstruppe aus der Republik Fidschi. Trotz einer Untersuchung der UN, die Israels Erklärung, dass es sich um einen Unfall gehandelt hätte, als „unwahrscheinlich“ einstufte4, wurde Peres internationale Reputation als „Friedensstifter“ durch das Massaker nicht beschädigt. In diesem Jahrhundert war Peres mehr eine Symbolfigur als ein aktiver Politiker. Er gründete das „Peres Center for Peace“ (Peres Zentrum für Frieden), das auf konfisziertem Land palästinensischer Flüchtlinge in Jaffa erbaut wurde5 und nach wie vor die Idee eines palästinensischen „Staates“ mit wenig Land, wenig wirklicher Unabhängigkeit oder Souveränität als beste mögliche Lösung verkauft.
Das wird nicht funktionieren, aber wenn die Welt weiterhin an Peres’ Hinterlassenschaft festhält, wird es kein Ende für die Leiden der PalästinenserInnen geben. Peres symbolisiert die Beschönigung des Zionismus, aber die harten Fakten demonstrieren seine Rolle bei dem Anrichten von viel Leid und vielen Konflikten. Das Wissen über die Wahrheit hilft uns, zumindest einen Weg vorwärts zu finden und einen großen Teil des Unrechts, das mit Peres’ Hilfe geschaffen wurde, wiedergutzumachen. Ilan Pappe ist Auto vieler Bücher. Er ist Geschichtsprofessor und Direktor des Europäischen Zentrums für palästinische Studien an der Universität von Exeter. Übersetzung: W. W.
1 https://www.nytimes.com/books/first/c/cohen-israel.html 2 https://electronicintifada.net/blogs/ali-abunimah/forcemight-and-beatings-indelible-images-first-intifada 3 http://www.sahistory.org.za/article/homelands 4 https://electronicintifada.net/blogs/ali-abunimah/naftalibennett-and-qana-massacre 5 https://electronicintifada.net/content/jaffa-eminence-ethnic-cleansing/8088
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EIN (SCHWACHER) STAAT, ZWEI (STARKE) LÄNDER Die krachende Niederlage des Friedensprozesses im Referendum vom Sonntag, den 2. Oktober 2016 zeigt, dass es nicht reicht, ein Abkommen zu paraphieren, um die Versöhnung zu besiegeln. Kolumbien ist in zwei Hälften gespalten, die sich gegenseitig nicht anerkennen und das auch nicht tun werden, weil sie die Möglichkeit brauchen, zusammenzukommen und miteinander in Dialog zu treten, aber nicht in der elitären und abgehobenen Weise des Prozesses von Havanna. Raúl Zibechi
Die zwei Kolumbien, die am Sonntag, dem 2. Oktober aufeinanderprallten, verkörpern Welten, die sich gegenseitig fürchten. Das ist eine Realität, die vor der ideologischen Positionierung rangiert und als Rechtfertigung für kulturelle Unterschiede dient, die über die politischen Differenzen hinausgehen. Diese zwei Welten hatten mehr Gewicht als die langen Verhandlungen von Havanna zwischen Regierung und FARC, mehr als die massive internationale Unterstützung für die Unterschrift unter das Friedensabkommen und machten den bisher stärksten und ernsthaftesten Versuch, einen 52-jährigen Krieg zu beenden, zunichte. Das „Ja“ hatte alles auf seiner Seite, von der Unterstützung seitens der Regierung und der gemäßigten Linken, die im „Demokratischen Pol“ versammelt ist, bis hin zu den Regierungen der Region und den internationalen Finanzinstitutionen, daneben auch diverser sozialer Bewegungen. Die Generaldirektorin des Weltwährungsfonds Christine Lagarde selbst hatte in Cartagena versprochen, bei Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen Regierung und Guerilla eine spezielle Kreditlinie für Kolumbien in Höhe von 11 Milliarden Dollar zu eröffnen, wenn das „Ja“ gewinnen würde. 34 Inprekorr 6/2016
Alle Welt glaubte außerdem an die Ergebnisse der Umfragen, die eine Mehrheit von bis zu 60 % für das „Ja“ prognostizierten. Aber die Partei des „Nein“ mit dem „Demokratischen Zentrum“ von Álvaro Uribe, dem Expräsidenten und früheren Verbündeten des aktuellen Präsidenten Juan Manuel Santos an der Spitze, gewann. Uribe kann mit Recht als der Hauptgewinner des Referendums bezeichnet werden. Aber zweifellos sollte man ihn nicht als den sehen, der die Niederlage des „Ja“ zustande gebracht hat. Das Geschick des Expräsidenten bestand darin, die Wut der Hälfte der Kolumbianer auf die FARC zu benutzen, eine Antipathie, zu deren Verstärkung er als Regierungschef (2002–2010) wie nur wenige beigetragen hatte, indem er sich mit dem Militär und einem wesentlichen Teil der Unternehmer, insbesondere den Viehzüchtern, verbündete, und daneben auch mit Paramilitärs und Drogenhändlern. Erklärung für eine Überraschung
Ein wesentlicher Teil der Analysen des Ergebnisses des Referendums legte den Schwerpunkt auf einzelne Punkte betreffend Erfolge und Fehler der Kampagne. „Während die Nein-Kampagne vereint den Direktiven des Uribismus
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folgte, blieb die Ja-Kampagne zersplittert“, resümierte eine der angesehensten Zeitungen des Landes. (El Espectador, 4.10.2016). Das Blatt wies auf die Diversität der Unterstützung für das „Ja“ hin und bekräftigte, dass, wenn alle Unterstützer des Friedensschlusses eine gemeinsame Kampagne geführt hätten, das Ergebnis anders ausgefallen wäre. Neben weniger überzeugenden Argumenten gab es eines, das die Wahlenthaltung von mehr als 100 000 Menschen in der Region, die am stärksten für den Frieden war, auf den Hurrikan Matthew zurückführte, der über die karibische Küste zog. In die gleiche Richtung argumentieren diejenigen, die die geringe Beteiligung von nicht mehr als 37 % bejammern. Man muss daran erinnern, dass Wahlen in Kolumbien seit jeher durch eine niedrige Beteiligung charakterisiert sind. Jedenfalls sollte man an die Gründe denken, derentwegen die politische Führung eine derart geringe Glaubwürdigkeit hat. Das Portal „La Silla Vacía“ („Der leere Stuhl“ – ein Titel, der sich auf die Abwesenheit von Manuel Marulanda bei den Friedensverhandlungen von El Caguán in den Neunzigern bezieht), eines der solideren unter den Analysten der kolumbianischen Politik, führte fünf Gründe an, die das Scheitern des „Ja“ erklären sollen. Der erste ist die Unterschätzung der Feindschaft der Bevölkerung gegenüber der FARC, die Uribe zu nutzen wusste, um die Parole zu lancieren, dass das „Ja“ gleichzusetzen sei mit „Gauner zu sein, zahlt sich aus“. Während der Kampagne des Expräsidenten verbreitete er Ankündigungen in Form von Plakaten für „Timochenko ins Präsidentenamt“, damit unterstellend, dass langfristig das „Ja“ den derzeitigen Führer der FARC ins Präsidentenamt bringen würde. Der zweite Grund soll die Unterschätzung der Ablehnung von Santos sein. Tatsächlich hat die Regierung eine Zustimmungsquote von weniger als 30 %, weswegen sich der Präsident „vom Motor zu einer Belastung für das Referendum gewandelt hat“ (Lasillavacia.com, 3.10.2016). Dann wurde betont, dass die Parteigänger des „Nein“ nicht gegen den Frieden opponiert hätten, sondern für einen „besseren Vertrag“ eintreten würden. Das Portal bescheinigt sowohl Regierung wie auch FARC ein gewisses Maß an Hochmut. Der Präsident pflege einen autoritären und caudillistischen Stil, während die FARC sich „alles andere als demütig“ gebärdet habe. In Cartagena, vergangene Woche bei der Zeremonie zur Unterschrift unter den Friedensvertrag, trat Timochenko „wie ein Rockstar auf “ und stellte eine „moralische Überlegenheit“ zur Schau, die bei vielen Missfallen hervorrief, beobachtete die Publikation. Die Führer der Guerilla hät-
ten, so wurde hinzugefügt, nie verstanden, dass es darum ging, das Wohlwollen der anderen Hälfte des Landes zu gewinnen, die sie nur über die Negativpropaganda ihrer Feinde kenne. Schließlich wies eine Wochenzeitung auf den sprichwörtlichen Konservatismus der KolumbianerInnen hin – katholisch und homophob. Uribe rief dazu auf, die „traditionelle Familie“ zu retten, während der Prokurator Alejandro Ordóñez beteuerte, dass die Abkommen von Havanna heilige Institutionen wie die Ehe ändern würden. Die Regierung konnte in einer Versammlung mit Beteiligung von mehreren hundert christlichen Priestern die katholische Kirche nicht davon überzeugen, dass diese Anschuldigungen nicht wahr seien (Semana, 2.10.2016). Land und Stadt
Es ist eine Tatsache, dass die kolumbianische Gesellschaft seit Jahrzehnten eine tiefe und wachsende Polarisierung erlebt, an deren Anfang die Ermordung des liberalen Führers Eliecer Gaitan am 9. April 1948 stand – der Beginn eines Bürgerkriegs zwischen Liberalen und Konservativen, der die Bedingungen für die Geburt der FARC in den Sechzigern schuf. Aber dieser Krieg traf nicht alle Kolumbianer gleichermaßen, sondern in erster Linie die Landbevölkerung. Die Gruppe „Memoria Historica“ (Geschichtliche Erinnerung) beklagt, dass dieser Konflikt zwischen 1958 und 2012 220 000 Todesopfer gefordert hat, 80 % davon ZivilistInnen. Parallel dazu hat das „Registro Unico de Víctimas“ (einheitliches Opferregister) festgestellt, das bis 2013 25 000 Verschwundene und fast sechs Millionen Binnenflüchtlinge zu verzeichnen waren – in einem Land mit 48 Millionen Einwohnern. Die Verschwundenen und die Flüchtlinge stammen aus ländlichen Regionen, die mehrheitlich für den Frieden gestimmt haben, wie Choco, Cauca, Guaviare, Narino, Caqueta, Vaupes, Meta und Putumayo, wo das „Ja“ mit einem gewissen Abstand siegte. Deshalb kann man sagen, dass die Opfer des Krieges mit Ja abstimmten. Im Gegensatz dazu siegte in den großen Städten und den städtischen Regionen das „Nein“. Die Journalistin Constanza Vieira drückte es so aus: „Kolumbien demonstrierte seine eigenartige gespaltene Persönlichkeit, die einen von zwei Ländern sprechen lässt: Der am meisten entwickelte Teil, vorwiegend in der Andenregion, stimmte mehrheitlich mit „Nein“. Die dünner besiedelte Peripherie des Landes, votierte mit „Ja“, zusammen mit Bogotá mit seinen 8 Millionen Einwohnern“ (Ips, 3.10.2016). Inprekorr 6/2016 35
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Das Interessante und in der Tat Komplexe daran ist, dass das „moderne“ Land dem Frieden den Rücken kehrte und sich auf die Seite des ultrarechten Uribe schlug, außer in Bogotá, das während zweier Jahrzehnte progressistischer Stadtregierungen einen Prozess der Demokratisierung durchlebte. Für diese vermeintliche Diskongruenz zwischen Modernität und konservativer politischer Haltung gibt es grundsätzlich zwei Gründe. Der erste bezieht sich auf das Kriegsszenario. Für die Stadtbevölkerung ist der Konflikt etwas, das sich weit entfernt von ihrem täglichen Leben zwischen Gegnern abspielt, zu denen sie keinerlei Kontakt hat. Diese Population leidet nicht nur nicht unter dem Krieg, sondern sie wird auch durch Medien „informiert“, die ständig von einer Allianz aus militaristischem Staat und Unternehmern, die Freunde der Militärs sind, kontrolliert werden. Zweifellos gibt es in den Städten Prosperität neben extremer Armut. Aber in einem Land wie Kolumbien sehen sich die beiden Seiten nicht und haben praktisch nichts miteinander zu tun. Die gut 60 Prozent der Kolumbianer, die nicht wählen, gehören in der Regel der ärmeren Hälfte der Bevölkerung an, was erklärt, welch geringes Gewicht eine Linke hat, die dazu noch seit einiger Zeit von der Realität abgekoppelt ist. Die zweite Erklärung hat etwas zu tun mit dem wachsenden Gewicht der sogenannten „Garagenkirchen“, die in den letzten 20 Jahren dermaßen zugenommen haben, dass die Regierung beschloss, sie mittels eines Registers zu kontrollieren. Gemäß diesem „Kataster“ gab es vor drei Jahren, dem Datum der letzten Kontrolle, in Kolumbien 5071 beim Innenministerium angemeldete nichtkatholische Kirchen (Caracol, 17.1.2014). Jeden Tag gründen sich drei neue Kirchen, hinzukommen die, die „illegal“ operieren. In ihrer großen Mehrheit handelt es sich um kleine evangelikale oder pfingstlerische Kirchen, zu denen sich einige Dutzend Mitglieder bekennen. Wahrscheinlich haben sie ähnliche Auswirkungen wie die pfingstlerischen Kirchen in Brasilien, die auf einen mächtigen Medienapparat, große Kirchen und eine große Zahl von Abgeordneten und Senatoren zählen können. Aber in Kolumbien gibt es zu diesem Phänomen keine Studien, die es zuließen, die Zahl der Gläubigen und ihre Einstellungen abzuschätzen. Aber man weiß, dass das Einkommen aller dieser informellen Kirchen zusammen vor drei Jahren bei 10 Milliarden Pesos lag – fünf Mal so viel wie das staatliche Budget für Bildung (Dinero. com, 24.4.2013). Diese Tausende von Kirchen zeigten sich als dem Friedensabkommen abgeneigt. Eine der seltenen akademischen 36 Inprekorr 6/2016
Untersuchungen zu diesem Phänomen, durchgeführt von dem Journalisten Ricardo Sarmiento, teilt die Kirchen in drei Kategorien ein: die lokalen oder „Garagenkirchen“ mit einer einzigen Lokalität, die fast immer pfingstlerisch sind und Einfluss auf die Bevölkerung um ihren Sitz herum haben; die zweiten, die verschiedene Filialen in Bogota und verschiedenen Regionen des Landes haben; und dann die „Megakirchen“, die zu internationalen Kongregationen gehören. Dieses Universum geometrischer Ausbreitung hat einen machtvollen Einfluss auf das Verhalten der ärmeren Schichten. Grundsätzlich arbeiten die kleinen „Garagenkirchen“, die in den peripheren Wohnvierteln verankert sind, im familiären Bereich und verkörpern einen „informellen Protestantismus, der wächst, ohne fremde Mittel nötig zu haben“, wie es der Soziologe William Beltran in einer Mitteilung formulierte. Man kann sie als „eine Form des sozialen Widerstandes“ der Ärmsten betrachten, weil sie „Räume gemeinschaftlicher Organisierung für die Vertriebenen und Marginalisierten schaffen, die im Schoße dieser Gemeinschaften die Möglichkeit zur Sinn- und neuen Identitätsstiftung finden können“. Die andere Zuflucht der Armen sind die Streitkräfte, die sich Jugendliche greifen, die nach einem Lebenssinn und einem sicheren Einkommen suchen, wie man bei jedem Rundgang durch die kolumbianischen Städte feststellen kann. „Wenn Präsident Santos wirklich Frieden im ganzen Land schaffen will, dann muss er an das Militär, an Uribe und betreffend die Interessen und Ängste, die dieser repräsentiert, ein Angebot machen, das sie schützt“, so schrieb lange vor dem Referendum der Journalist Hector Abad Faciolince (El Espectador, 30.7.2016). „Ich fürchte, dass hier der Krieg weitergehen wird, wenn einige Militärs und Zivilisten mehr bestraft oder an den Pranger gestellt werden als KämpferInnen der Guerilla. Wenn Santos eine spezielle Regelung für alle Militärs und Zivilisten, die in den Konflikt verstrickt sind, treffen würde (und nur er hat die Macht dazu), so glaube ich, dass bis hin zum Demokratischen Zentrum alle für das „Ja“ beim Referendum stimmen würden. Hierzulande gibt es eine Rechte, die nicht ruhen will, bis sie die Guerilla gefangen oder tot sieht, und eine gewisse Linke, die nicht zufrieden sein wird, bis Uribe und seine Freunde im Gefängnis sitzen. Diese Rechte und diese Linke gilt es mittels einer allgemeinen Amnestie zu entwaffnen“, resümierte Abad. Übersetzung aus dem Spanischen: Klaus Engert
Die Internationale
38 POLITIK ALS STRATEGISCHE KUNST So wie „der Krieg nichts anderes als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist, bleibt die strategische Vorbereitung die entscheidende Vorbedingung zum Sieg.
44 GRUNDZÜGE EINER BEDÜRFNISORIENTIERTEN ÖKONOMIE Wenn klar ist, dass ein systemischer Umbruch unausweichlich ist, stellt sich die Frage, wie diese Transformation verläuft und in welche Richtung.
52 KAPITALISTISCHE GLOBALISIERUNG, IMPERIALISMEN, GEOPOLITISCHES CHAOS UND DIE FOLGEN Die strukturell instabile kapitalistische Globalisierung führt weltweit zum Zerfall der Legitimität und zu einem permanenten Krisenzustand.
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POLITIK ALS STRATEGISCHE KUNST In wieweit sind Kriege und Revolutionen vergleichbar und erfordern eine strategische Vorbereitung, um im entscheidenden Zeitfenster anzugreifen bzw. die Machtfrage zu stellen? Und ist die Partei als kollektiver Organisator der Massenmobilisierungen trotz aller Diskreditierung durch die bürokratischen Deformationen im vergangenen Jahrhundert und der zunehmenden Verbreitung plebiszitärer Modelle weiterhin der entscheidende Akteur in solchen Situationen? Diesen Fragen geht der Autor in diesem bisher unveröffentlichten Text nach. Daniel Bensaid
„Die Politik erhält den Primat über die Geschichte.“ Walter Benjamin1 „Die Prinzipien sind fest, nur ihre Umsetzung ist ungewiss.“ Guy Debord 2 Wenn die Politik den Primat über die Geschichte erhält, ist damit noch lange nicht das Band aufgelöst, das beide seit ihrem gemeinsamen Ursprung miteinander verbindet. Oder, wie Guy Debord es ausdrückt, es kann eine Bewegung, die historischer Kenntnisse weitgehend entbehrt, keine wirkliche Strategie – wir möchten hinzufügen: auch keine wirkliche Politik – entwickeln. Die postmoderne Vernachlässigung einer geschichtlichen Sichtweise und das Zusammenschmelzen langer Zeiträume zugunsten einer flüchtigen Gegenwart – ohne einem Davor und einem Danach – führen unweigerlich zu einer Krise des strategischen Denkens und damit auch der Politik, da sich diese weder auf Verwaltungswissenschaft noch auf institutionelle Techniken reduzieren lässt, sondern für die 38 Inprekorr 6/2016
Entscheidungsfindung einen scharfen Blick für den günstigen Moment und das zur Verfügung stehende Zeitfenster benötigt. Insofern handelt es sich also um eine strategische Kunst. Politik muss demnach „exakt vom Standpunkt der Akteure“ ausgehen. Anders ausgedrückt: Der Akteur muss „in bar zahlen, wenn er die Fortsetzung haben will“. Der Operationsschauplatz
Dieser Standpunkt der Akteure ist „sehr schwer“ durchzuhalten. Es geht darum, mitten im Getümmel „all dessen Umstände“ zu erfassen.3 Da er es ablehnte, den Krieg als Gegenstand einer „dogmatischen und positiven Wissenschaft“ zu begreifen, definierte Jomini4 ihn als „eine Kunst, die einigen Fundamentalgrundsätzen gehorcht“ und „als ein fesselndes Schauspiel“. Eine Sache leidenschaftlicher Vernunft also oder rationaler Leidenschaft, bei der es darum geht, sich auf den „günstigen Moment“ vorzubereiten, um rechtzeitig „ins Zentrum des Geschehens“ vorzustoßen. Wohlgemerkt, man muss sich vorbereiten und stets bereit
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sein, da jederzeit der entscheidende Augenblick zum Sieg eintreten kann, den man nicht verpassen darf. Genau darum geht es auch in der Politik. So wie der Krieg als deren Fortsetzung mit anderen Mitteln gelten kann, wird sie umgekehrt und mit ihren Mitteln zur Fortsetzung des grenzenlosen Kriegs. Auch sie ist eine Kunst, zu erkennen, welche Zeit ungünstig ist, wann die Konjunktur passend ist und wann der Augenblick günstig ist, um zum rechten Zeitpunkt „ins Zentrum des Geschehens“ vorzustoßen. Sowohl in der Revolution wie im Krieg „sind sich beide Seiten stets über die Lage des Gegners unsicher“. Daher muss man mit dieser Ungewissheit leben und „nach den Wahrscheinlichkeitsgesetzen“ vorgehen, da „es illusionär ist, einen Moment abpassen zu wollen, in dem alle Unklarheiten beseitigt sind.“5 Im Unterschied zu den Kriegen werden Revolutionen nicht „erklärt“, werden also nicht angekündigt. Beide aber werden vorbereitet: „Bei der Analyse […] des bestehenden Systems der Kräfteverhältnisse kann man sinnvollerweise auf das Konzept zurückgreifen, das man in der Militärtheorie „strategische Wechselfälle“ nennt, genauer gesagt, auf das Konzept, das den Grad der strategischen Vorbereitung des Kampfschauplatzes beschreibt, der ganz wesentlich von der Qualität der Führungskräfte und der Truppen, der vordersten Linie also abhängt. […] Der Grad der strategischen Vorbereitung kann dazu führen, dass auch offensichtlich schwächere Kräfte über ihren Gegner siegen.“6 Die strategische Vorbereitung dient also dazu, den Anschein an Menge und Masse einer genauen Prüfung zu unterziehen, sowie die Schwachstellen hinter den Stärken und die Stärken hinter den Schwachstellen zu entschlüsseln und diese Kräfteverhältnisse zu verändern. Der Ausgang einer Krise hängt davon ab, wie gut die entsprechenden Kräfte vorbereitet und geschult sind, und zwar nicht nur das „führende Personal“, sondern auch das Netz an Aktiven, das mit seinem Einfluss die gesamte Gesellschaft erreicht. Kurz nach der Französischen Revolution hat Clausewitz darüber geschrieben, inwiefern sich Taktik als Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht zum Zwecke des Sieges in der Schlacht und Strategie als Gebrauch dieser Siege, um die Zwecke des Krieges zu erreichen, unterscheiden. Vom lokalen Krieg über die Länder- und Weltkriege bis hin zum umfassenden Krieg hat sich daran nichts geändert, aber die Schauplätze sind immer größer und die Dauer der Operationen immer länger geworden. Im Zeitalter der Globalisierung nimmt sich der Klassenkampf wie ein weltweiter Bürgerkrieg aus. Was gestern noch als Strategie galt,
ist heute nur noch taktische Episode in einem Spiel auf zunehmend größerem Feld. Da Krieg und Gefecht in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen, muss man auch manchmal Gefechte verlieren können, um den Krieg zu gewinnen, oder Räume aufgeben, um Zeit zu gewinnen. Auf dem großen Schachbrett der Globalisierung sind die Kriege von gestern zu den Gefechten von heute geworden. Mit den Kategorien von Taktik und Strategie soll der unvermeidliche Anteil an Zufällen in jedem Gefecht verringert werden. In seinem Bemühen, den Krieg zunehmend durch Vernunft zu steuern, hat Moltke als getreuer Schüler von Clausewitz zugleich die Grenzen der Vorausplanung erkannt: „Die materiellen und moralischen Folgen jedes größeren Gefechts sind so weitreichender Art, dass durch dieselben eine völlig veränderte Situation geschaffen wird, die ihrerseits zum Ausgangspunkt neuer Maßnahmen wird. Deshalb reicht kein Operationsplan mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.“ Der Feldherr ist daher gezwungen, „Entscheidungen auf der Grundlage von Situationen zu treffen, die er unmöglich voraussehen kann.“7 Hier tritt die Geistesgegenwart an die Stelle des vorher ausgeklügelten Plans. Wäre zuvor jedoch nicht die Vernunft am Werke, liefe Kühnheit auf bloßen Leichtsinn und die Entscheidung auf ein Abenteuer hinaus. Strategie und Taktik, Offensive und Defensive, Zermürbungskrieg und Bewegungskrieg, Avantgarde und Massen – diese Begriffe aus dem militärischen Vokabular wurden in den Kontroversen über den Klassenkampf innerhalb der II. Internationale zu einer Zeit aufgegriffen, als sich Militärakademien zunehmend mit der Militärgeschichte befassten. Sie beinhalten eine schöpferische Rationalität, die sich nicht einfach auf die Zweckrationalität der instrumentellen Vernunft reduzieren lässt. Zur strategischen Rationalität gehören die Beobachtung des Terrains, Informationen über den Feind, seine Logistik und seine Nachschubgebiete, die allesamt die „objektiven Bedingungen“ des Konflikts ständig verändern. Die Sachkenntnisse hierüber sind zwangsläufig historischer, empirischer Natur und insofern sagt man den Militärs auch nach, dass sie stets dem Kriegsverlauf hinterher hinken. Denn der kommende Krieg ist notwendigerweise etwas Neues, selbst wenn man über die alten Kriege Bescheid wissen muss, um einen neuen führen zu können. Revolutionäre stecken in einer vergleichbaren Lage und laufen stets Gefahr, einer anstehenden Revolution hinterherzulaufen, da zwar die Kenntnis der vergangenen Revolutionen unumgängliche Lehren vermittelt, aber Inprekorr 6/2016 39
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niemand voraussagen kann, wie die künftigen Revolutionen aussehen werden. Die Rätsel der Revolutionen von heute
Wie soll eine Gesellschaftsklasse, die sowohl ökonomisch als auch politisch und kulturell beherrscht wird, den Anspruch erheben, eine neue Welt schaffen zu können, ohne von der ganzen Scheiße der alten Welt erdrückt zu werden? Wie soll der physisch und geistig durch eine entfremdete Arbeit deformierte Arbeiter zum Träger dieser Emanzipation werden? Darin liegen die Rätsel der zeitgenössischen Revolutionen. Angesichts des „Genozids“ an der Vendée empörte sich Babeuf: „Sie haben aus uns Barbaren gemacht!“8 Dabei wird die neue Welt mit den Menschen und dem Ausgangsmaterial der alten Welt geschaffen. Tabula rasa schaffen oder einen neuen Menschen auf einem unbeschriebenen Blatt entwerfen zu wollen, mündet zwangsläufig in autoritäre und bürokratische Sackgassen. In den Anfängen des Handelskapitalismus entstand die Bourgeoisie durch die Akkumulation wirtschaftlicher, politischer, symbolischer und kultureller Macht, die von den herrschenden Eliten angehäuft und an die Folgegenerationen weitergegeben wurde. Zum Proletarier zu werden bedeutete hingegen, die Herrschaft über seine Produktionsmittel und den Inhalt und Zweck seiner Arbeit zu verlieren und dem süßen Gift des Warenfetischismus zu erliegen. Dieses Gefangensein im Teufelskreis der gesellschaftlichen Reproduktion erweckt das Gefühl der „ewigen Wiederkehr des Immergleichen“ – der „Ewigkeit durch die Sterne“9. Sollte die Verdammnis zur Wiederholung tatsächlich keine andere Hoffnung zulassen, als immer wieder aufs Neue mit zersplitterten Kräften gegen die uneinnehmbaren Festungsmauern der Herrschaft anrennen zu müssen? In den Ländern mit langer parlamentarischer Tradition ist der „Stellungskrieg“ schon seit Langem zugange. Ohne eine mehr oder minder lange Erfahrung zwiefältiger Legitimität und einer Doppelherrschaft kann dort keine Alternative zu den bestehenden Institutionen entstehen.. Ein neues Rechtssystem, eine neue Hegemonie und neue Eigentumsverhältnisse können nicht durchgesetzt werden, ohne sich aus den bestehenden Gesetzesnormen gelöst und die Kräfteverhältnisse umgewälzt zu haben. Wenn eine Herrschaftsform verfällt, ohne dass der Wachwechsel vorbereitet ist, ist ein wirklicher Übergang mehr als unsicher. Kann eine provisorische Regierung, die sich auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stützen kann, „der parlamentarische Beginn“ einer sozialen Revolution 40 Inprekorr 6/2016
bzw. „der volkstümliche Ausdruck“ einer entstehenden revolutionären Macht sein?10 In ironischer Weise führte Debord aus: „Die Prinzipien sind fest, nur ihre Umsetzung ist ungewiss“. Damit eine Übergangsregierung den Bruch mit der bestehenden Ordnung in Gang setzt und nicht faktisch deren Bewahrung betreibt, muss sie sich auf einen Aufschwung der außerparlamentarischen Bewegungen stützen und von Beginn an sich kühn an die Kernbereiche der Staatsmacht und des Privateigentums wagen. Nach dem gescheiterten Putschversuch in Chile vom Juni 1973 befand sich die Rechte in der Defensive und die Arbeiter waren in höchstem Maße mobilisiert. Tagelang bestand damals eine gute Gelegenheit für eine revolutionäre Gegenoffensive. Die FührerInnen des linkssozialistischen MIR (Bewegung der revolutionären Linken) beabsichtigten, sich an der Regierung zu beteiligen, sofern diese auf den Putschversuch reagieren und sich auf die entstehenden Organe der Volksherrschaft stützen würde. Die Führung der Unidad Popular hingegen entschied sich für das Gegenteil, kooptierte Vertreter des Militärs (darunter Augusto Pinochet höchstselbst) in die Regierung, entwaffnete die aufständische Bevölkerung und zerschlug die demokratischen Organisierungsansätze innerhalb der Armee. Damit hatten die Generäle aller drei Waffengattungen freie Bahn, um von der Machtzentrale aus ihren Putsch vom 11. September in die Wege zu leiten. Nach dem Scheitern des Putschversuchs vom März 1975 in Portugal hätte auch dort die ausgebrochene politische Krise die Möglichkeit eröffnet, eine Regierung zu bilden, die den Widerstand der Bevölkerung gegen den Putsch verkörpert und sich auf die Radikalisierung der außerparlamentarischen Bewegungen (einschließlich der Armee) gestützt hätte, um somit den revolutionären Prozess voranzutreiben, der mit der Nelkenrevolution vom 25. April 1974 angestoßen worden war. In beiden Fällen hätte die Bildung einer Notstandsregierung, die sich gegen die putschistischen Manöver auf die Organe der Volksmacht gestützt hätte, nicht zur Beendigung, sondern zu einer Verschärfung der Legitimationskrise der bürgerlichen Institutionen geführt und die Zentralisierung einer alternativen Legitimität bewirkt, was unvermeidlich zur entscheidenden Machtprobe geführt hätte. Wenn sich, um Gramsci aus seinen Gefängnisheften zu zitieren, „die historische Einheit der herrschenden Klassen im Staat vollzieht“ und wenn „die subalternen Klassen […] solange sich nicht vereinigen können, wie sie nicht „Staat“
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werden können,“, dann bleibt die politische Machteroberung ein notwendiges Durchgangsstadium zur Emanzipation. Eben darum ist es auch das Anliegen der „intellektuellen und moralischen Reform“ und des Kampfs um die Hegemonie, dass sich die subalternen Klassen durch ihren Kampf um die politische Macht als herrschende Klassen konstituieren. Ihr Ziel ist nicht die korporative Durchsetzung bloß der ausgebeuteten Klasse, sondern die Ausbildung eines „Kollektivwillens der gesamten Nation“, der eine höhere Form der menschlichen Zivilisation anstrebt, um eine globale Krise der sozialen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse zu lösen.11 In den kapitalistischen Ländern mit relativ stabilen parlamentarischen Institutionen gilt der mit Massenerhebungen verbundene Generalstreik als die strategische Hypothese, die sich aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ergibt. Eine Hypothese ist weder ein Modell noch eine Vorhersage, sondern nur eine Handlungsanleitung und ein Orientierungshorizont, woraus sich verschiedene Aufgaben ergeben: die Entwicklung partizipativer Modelle der Selbstverwaltung, autonomer Organisierung und Kontrolle, aus denen Elemente einer Gegenmacht entstehen können; gesellschaftliche Aneignung als Gegensatz zur Privatisierung der Welt; die vermehrte Sozialisierung des Nationaleinkommens durch Ausbau der Öffentlichen Dienste und der sozialen Sicherung; Infragestellung der bestehenden Institutionen und der Berufspolitik; Förderung des Ungehorsams in der Armee etc. Daneben ergibt sich aus den Losungen „Generalstreik“ und „Rat der Aufständischen“ in den Ländern, wo die Lohnabhängigen die große Bevölkerungsmehrheit bilden, dass die Zusammenführung der Kämpfe und die Befähigung, Initiativen zu ergreifen, angesichts der hoch organisierten Gegenseite unabdingbar sind.12 Wenn sich in der Doppelherrschaft bestimmte Gesellschaftsschichten und Territorien unversöhnlich gegenüberstehen, wie damals die Pariser Kommune und Versailles, erfordert das geringe Zeitfenster rasches Handeln. Anders verhält es sich bei Revolutionen, die mit nationalen Befreiungskämpfen verbunden sind, oder in Gesellschaften, in denen die Agrarfrage im Vordergrund steht oder die Kontrolle des Staates über das Gesamtterritorium schwach ist.13 Die Lösung des Rätsels – wie nämlich aus Nichts Alles werden kann – ergab sich für Marx und Engels scheinbar naturwüchsig aus der Tatsache, dass das Industrieproletariat immer zunehmen und sich in immer größeren Produktionseinheiten konzentrieren würde, seine kollektiven
Organisationen stärker würden und sein Bewusstseinsstand graduell wachsen würde. Hundertfünfzig Jahre später ist dieser Optimismus der Vernunft nicht mehr angebracht. Freilich beschränkte sich diese Wette auf die historische Dynamik der sozialen Entwicklung nicht auf einen soziologischen Vulgärdeterminismus. Durch die Erfahrungen im Kampf entsteht vielmehr zunächst ein rebellischer Geist, der eine politische Dimension annimmt, wenn der Kampf des Arbeiters gegen seinen Boss zum Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie und die anonyme Herrschaft des Kapitals wird. Strategien und Parteien
So wie die Politik in den Institutionen, mit der die Parteien oft gleichgesetzt werden, haben diese inzwischen einen schlechten Ruf, oft zurecht, zumal wenn sie sich wie bürokratische Apparate ausnehmen, die nur der Karriere und den Pfründen dienen. Die revolutionären Parteien, die nützlich sind, um zu mobilisieren und Initiativen zu ergreifen, wenn es in der Gesellschaft brodelt, können, wenn die Bewegung abflaut, selbst zum Hort kleinlicher Intrigen, persönlicher Eitelkeit und sektiererischer Hirngespinste werden.14 Trotzdem lässt sich eine Strategie ohne eine Partei ebenso wenig vorstellen wie ein Kopf ohne Körper oder ein Generalstab ohne Truppen, der imaginäre Schlachten auf dem Reißbrett führt, wo sich Geisterarmeen gegenüberstehen. Die weltweite Tendenz zur Entsäkularisierung und zur sogenannten „Rückkehr“ des Religiösen ist ebenso eine Kehrseite des Niedergangs der politischen Ideologien wie die Parteifeindlichkeit, die heutzutage unter der alternativen Linken grassiert. Die exzessive Professionalisierung des politischen Geschehens, die Bürokratisierung der Organisationen und die eingestandene Ohnmacht linker wie rechter Politiker angesichts der Allmacht der Märkte werfen auf die Parteien zurecht den Verdacht von Manipulation, Karrierismus und Korruption oder schlichtweg der Überflüssigkeit. Der politische Kampf bleibt dennoch im Grunde ein Kampf zwischen Parteien, egal, welchen Namen oder welches Emblem sie führen. Als kollektive Organisation, die auf freiwilliger Zustimmung zu einem Programm und zu parteiinternen Regeln beruht, ist eine Partei noch immer die beste Garantie für eine relative Unabhängigkeit gegenüber der Macht des Geldes und der Manipulation durch die Medien. So wie die „Berufsrisiken der Macht“ sind die Risiken der Bürokratisierung keine Besonderheit der Parteiform, Inprekorr 6/2016 41
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sondern gründen auf der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, so der zwischen Hand- und Kopfarbeit oder zwischen Stadt und Land. Genauso davon betroffen sind die Gewerkschaften und die Verbände, kurzum jede Form von Organisation. In den heutigen komplexen Gesellschaften ist dies ein durchgängiger Wesenszug. Im Zeitalter der Kommunikationstechnologie und sozialer Netzwerke sind die informellen Bürokratien der „flüchtigen (Post)moderne“ nicht weniger schädlich und die Formen „direkter“ oder plebiszitärer Demokratie können letztlich sehr viel undemokratischer sein als die offene Konfrontation von Parteien und ihren Programmen. So wie die Demokratie weder eine Institution noch eine Sache ist, sondern „die Tätigkeit, die den oligarchischen Regierungen unaufhörlich das Monopol über das öffentliche Leben […] entreißt“15, so ist auch die Partei keine Institution oder Sache, sondern ein kollektiver Akteur, der seine Funktion und seine Ziele im Licht der Praxis ständig neu erfindet. Der Begriff der Avantgarde, der gleichfalls aus dem Militärvokabular entlehnt ist, ist noch suspekter als der der Partei. Während er zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Zeitgeist entsprach, ist er inzwischen aus der Mode gekommen. Damals wurde er nicht nur in der Politik, sondern auch auf die Neuerer in der Literatur, Malerei, Architektur verwandt. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die neuen Avantgardisten – Lettristen, Neu-Surrealisten, Situationisten – oft damit begnügt, die einstigen Avantgardisten des Dadaismus, Futurismus oder Surrealismus, deren subversives Potenzial die Umwälzungen und Hoffnungen im Gefolge der Oktoberrevolution widerspiegelte, zu persiflieren. Nachdem sich diese damaligen Erwartungen zerschlagen hatten, stand den politischen und kulturellen Avantgarden der Wirtschaftswunderzeit der Sinn eher nach Parodie, Skeptizismus und Unterhaltung. Wider den eigenen Willen wurden sie zu einer Art Reservearmee unter den Kopfarbeitern. Den Schriftstellern des „Nouveau Roman“ wie den „neuen Philosophen“ mangelte es an Originalität und ihre Moderne erschöpfte sich in Spiegelgefechten, launenhafter Mode, morbider Nachahmung des Vergangenen und neuen Klamotten aus dem Secondhandshop. Während Lucien Goldmann dies damals „die Avantgarde der Abwesenheit“ nannte, war es für Debord bereits bloß noch eine „Abwesenheit der Avantgarde“. Aber die Letzten werden die Ersten sein und die Nachhut, die den Rückzug sichert, wird sich am Ende an vorderster Front wiederfinden. Da sie nur den Auftakt zu einer neuen Entwicklung schlagen, werden die Avantgarden zwangsläufig ver42 Inprekorr 6/2016
schwinden, wenn sich das verwirklicht, was sie antizipiert und angekündigt haben. In dem Maß, wie ihre Betätigung nicht mehr auf die ferne Zukunft gerichtet ist, sondern der Beginn einer greif baren Veränderung ist, treten sie der bestehenden Ordnung im Namen einer Zukunft gegenüber, die Mühe hat, sich durchzusetzen. Ihre Krise ist weniger ihrer eigenen Ohnmacht geschuldet, als vielmehr dem Erwartungshorizont und dem kränklichen Schmachten unserer Zeit. Wenn sich eine Bewegung, sei sie minoritär oder massenhaft, durch freiwillige Organisierung selbst abgrenzt, sich Statuten und Regeln auferlegt, ein Programm verabschiedet und Initiativen ergreift, bildet sie, ob sie will oder nicht, eine Art von Avantgarde. Ob eng oder breit, die Zahl spielt an dieser Stelle so gut wie keine Rolle. Denn die Form ergibt sich noch immer aus dem Inhalt. Die Partei ist das zur Form gewordene Programm. Und was eine Partei zu einer Avantgarde werden lässt, das ist ihr spezifisches Verhältnis zur Politik und ihre politische Praxis, die die gesellschaftlichen Bereiche übergreifend wirkt, sowie der Umstand, dass sie sich nicht damit begnügt, einzelne Missstände zu kritisieren, sondern ihre Kritikpunkte zu einem politischen Entwurf bündelt. Sie steht daher grundsätzlich im Widerspruch zu der postmodernen Rhetorik der Stückwerk-Politik, die die geschichtlichen Bezüge ignoriert und beliebige Allianzen bildet. Die Protagonisten außerparlamentarischer Bewegungen sind sich zumeist bewusst, dass man „die verschiedenen Felder, in denen sich Widerstand regt, miteinander verknüpfen muss“. Aber nach welchen Kriterien? Und mit welchem Ziel? Wenn sich nicht eine Partei, die als intellektuelles Kollektiv funktioniert, diesen Fragen widmet, dann bleibt dies Experten und wissenschaftlichen Gremien überlassen, die dicke Bände darüber verfassen. Und damit wären wir paradoxerweise wieder bei den Avantgarden, diesmal bei den Gelehrten und Meisterdenkern. Erweisen sich außerparlamentarische Bewegungen und Parteien in dieser Hinsicht als inkompatibel, so dass man sich für das Eine oder das Andere entscheiden muss? Angesichts der Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts ist das Misstrauen gegenüber Parteiapparaten, Ideologien und Parteiläden verständlich. Parteiläden jedoch gibt es aller Arten, große und kleine, multinationale und mittelständische. Es gibt sogar Medienstars, die für sich einen eigenen Laden bilden. Ein paar Leute reichen schon aus, um eine Ansammlung zu bilden, und bereits der Ansatz zur Organisierung schafft einen solchen „Laden“. Da gibt es kein Entrinnen.
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Das tatsächliche Problem liegt darin, dass sich soziale Bewegungen und politische Organisationen unter klar definierten und öffentlich gemachten Bedingungen zueinander verhalten müssen. Dies und eine freie Aussprache führen weiter, als wenn hinter den Kulissen verhandelt wird. Denn nicht nur ist die Existenz von Parteien keinerlei Hindernis für die Demokratie, sondern vielmehr deren notwendige Voraussetzung. Ohne die dialektischen Beziehungen von Mittel und Zweck, Ziel und Wegen würde sich die Politik in Nichts auflösen. Sie würde sich auf routinehafte Verwaltung beschränken, ohne Projekt und ohne Vision, kurzum ohne jegliche Strategie. Daniel Bensaïd (1946-2010), Aktivist und Philosoph, spielte im Mai 68 als Mitglied des mouvement du 22 mars eine bedeutende Rolle und war 1969 (nachdem im Anschluss an den Mai 68 alle revolutionären Organisationen verboten worden waren) einer der Gründungsmitglieder der Ligue communiste, franz. Sektion der IV. Internationale. Später war er – neben seiner aktiven Rolle in der franz. Sektion – lange Zeit bis zum Ausbruch seiner schweren Erkrankung Mitglied in den Leitungsgremien der IV. Internationale. Mehr Angaben zu seiner Person finden sich unter http://danielbensaid.org, wo sich eine ganze Reihe seiner Schriften findet, darunter einige bisher noch nicht veröffentlichte. Der hier vorliegende Text wurde im August 2007 geschrieben und war bis vor kurzem unveröffentlicht. Das Original findet sich unter http://danielbensaid. org/La-politique-comme-art-strategique,1625. Die franz. Zeitschrift inprecor, von der wir diesen Artikel übernehmen, dankt Sophie Bensaïd für die Abdruckerlaubnis.
ebenso wenig imstande sein, wie eine neue Mode die Gesellschaft erneuern könnte.” 10 Diese Fragen blieben auch nach dem V. Kongress der Komintern, wo sie anlässlich des Scheiterns des Deutschen Oktobers (1923) äußerst kontrovers diskutiert worden waren, offen. 11 Für Gramsci ist der affirmative Bezug auf die Nation legitim, solange er innerhalb einer internationalistischen Perspektive steht. 12 Die Erfahrungen in Chile und Portugal haben gezeigt, dass die herrschenden Klassen, selbst wenn sie geschwächt und in der Defensive sind, noch immer ihre höhere Entscheidungs- und Initiativbefugnis dafür nutzen können, bspw. den Staatsstreich in Santiago vorzubereiten oder gegen eine zwar mächtige, aber gespaltene und gering organisierte Volksbewegung vorzugehen, wie im November 1975 in Portugal geschehen. 13 Diese Erkenntnis unterstrich Mao Zedong lange vor der Gründung der Republik von Yanan in seinem 1928 erschienenen Buch Warum kann die chinesische Rote Macht bestehen? 14 Insofern unterscheidet Marx zwischen der Partei „im großen historischen Sinn“, in der sich das Proletariat als „politische Klasse“ konstituiert, von der Partei im formellen Sinn, die als ephemere Organisation an bestimmte Konjunkturen gebunden ist. Daher hat er auch nicht gezögert, zweimal Parteien aufzulösen, die er selbst mitbegründet hat, nämlich den Bund der Kommunisten 1852 und die I. Internationale 1874. 15 Jacques Rancière, Der Hass der Demokratie, Berlin 2016
Übersetzung: MiWe
1 Walter Benjamin, Das Passagenwerk, Suhrkamp Vlg. 1982 2 Guy Debord, Das Kriegsspiel, Merve Vlg. 2016 3 Zitate sämtlich aus Guy Debord, Œuvres, Gallimard, 2006 4 Antoine-Henri de Jomini (1779-1869), Bankier, Historiker und militärstrategischer Theoretiker, gehörte zum Generalstab von Napoleon Bonaparte und später von Zar Alexander I. Die folgenden Zitate sind seinem Abriss der Kriegskunst, vdf Hochschulverlag 2009 entnommen. 5 Carl von Clausewitz, Nachrichten über Preußen in seiner großen Katastrophe 6 Antonio Gramsci, Gefängnisheft 13, Argument-Vlg. 7 Helmuth von Moltke, Über Strategie, 1871 8 Gracchus Babeuf prägte seinerzeit den Begriff populicide “ in seiner Schrift Du système de dépopulation ou La vie et les crimes de Carrier. 9 Zitat von Auguste Blanqui, Die Ewigkeit durch die Sterne, Berlin 2015, ein für Walter Benjamin zentraler philosophischer Text, den er in seinem Passagenwerk so kommentiert: „“In ihr [Blanquis Vision] figuriert die Menschheit als eine verdammte. Alles Neue, das sie erwarten könnte, wird sich als ein von jeher dagewesenes entschleiern; sie zu erlösen, wird es Inprekorr 6/2016 43
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GRUNDZÜGE EINER BEDÜRFNISORIENTIERTEN ÖKONOMIE Auch wenn die derzeitige Systemkrise des Kapitalismus (siehe z. B. Scheidler 2015) die Suche nach nichtkapitalistischen Formen des Wirtschaftens befördert, so sind alternative ökonomische Modelle nicht erst seit Ausbruch der Krise entwickelt worden. Bernhard Brosius
Die Suche nach einer anderen Ökonomie
Schon vor über 170 Jahren empörten sich die frühen Sozialisten über die schreiende Ungerechtigkeit im Kapitalismus und begannen mit der Suche nach einer Wirtschaftsform, die soziale Ungerechtigkeit unmöglich machen sollte. Die Konzepte dieser Frühsozialisten sind in die theoretischen Arbeiten von Marx eingeflossen. Marx hat zwar kein Buch zu einer nachkapitalistischen Ökonomie geschrieben und keinen Aufsatz. Doch in seinen Werken sind zahllose Gedanken enthalten zu einer Wirtschaft, die die Menschheit versorgen kann, ohne dass sie von Konkurrenz und Profitgier getrieben wird. Daher sind seine Texte wichtige Quellen bei der Suche nach einer anderen Wirtschaftsform. Diese Textstellen zeigen außerdem, dass Marx zwei Formen nichtkapitalistischer Ökonomie – Ökonomien, in denen alle notwendigen Arbeiten erledigt werden ohne Bezahlung, Geldverkehr und Tausch, indem die notwendigen Arbeiten verteilt werden nach Befähigung und die Güter nach Bedarf – deutlich vor Augen hatte: 44 Inprekorr 6/2016
Zum einen die Familie, in der die Zeit für das Annähen abgerissener Knöpfe nicht verrechnet wird gegen die Zeit für das Zubereiten einer Mahlzeit, – vielmehr werden alle notwendigen Tätigkeiten schlicht und einfach ausgeführt. Zum anderen die sehr viel ausgedehntere Ökonomie der vorindustriellen, bäuerlichen Großfamilie, in der gesponnen, geflochten, gewebt, geschneidert, gebaut, gekocht usw. wurde, ohne dass je innerhalb des Bauernhofes die Produkte getauscht worden wären. Derartige Beispiele verwendet Marx immer wieder, um theoretische Prinzipien einer nichtkapitalistischen, sozialen Ökonomie zu veranschaulichen. Mit Marx endete gewissermaßen die erste Welle der Suche nach der alternativen Ökonomie, gespeist aus der Empörung über die Ungerechtigkeit im Kapitalismus. Die zweite Welle entsprang der praktischen Notwendigkeit, nach der Oktoberrevolution in Russland eine nichtkapitalistische Ökonomie aufzubauen. Sie begann mit einer intensiven Debatte Anfang der 1920 Jahre, die später aufgearbeitet wurde unter anderem von Ernest Mandel
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KOMMUNISMUS OHNE HEXEREI – REFLEXIONEN EINES ANTHROPOLOGEN Der US-amerikanische Anthropologe David Graeber schreibt:
siert. Aber oft besteht da eine interessante Spannung, weil hier-
„Ich definiere Kommunismus hier als jede menschliche Bezie-
archische Kommandoketten nicht sonderlich effizient sind: Sie
hung, die nach dem Prinzip funktioniert „jeder nach seinen Fä-
fördern Dummheit bei den Leuten an der Spitze und gereizten
higkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. […]
Schlendrian beim Fußvolk unten in der Hierarchie. Je dringlicher
Fast alle, die bei einem beliebigen Projekt zusammenarbeiten, folgen diesem Prinzip. Wenn jemand beim Reparieren eines ka-
es ist, zu improvisieren, desto demokratischer wird die Kooperation in der Regel. […]
putten Wasserrohres sagt: „Gib mir den Schraubenschlüssel“,
Genauso verhalten sich Menschen mutmaßlich nach großen
wird sein Kollege in der Regel nicht antworten: „Und was be-
Katastrophen – einer Flut, einem Stromausfall oder einem wirt-
komme ich dafür?“ – nicht einmal, wenn die beiden für Exxon-
schaftlichen Zusammenbruch: Sie wenden sich einem improvi-
Mobil, Burger King oder Goldman Sachs arbeiten. Der Grund ist
sierten Kommunismus zu. Vorübergehend werden Hierarchi-
schlicht die Effizienz. […]
en, Märkte und dergleichen zu Luxusgütern, die sich niemand
Wenn Sie wollen, dass etwas wirklich erledigt wird, besteht
leisten kann. Wer so etwas einmal erlebt hat, betont den ganz
die effizienteste Methode darin, die Aufgaben nach Fähigkeiten
besonderen Charakter dieser Situation: Wie Fremde zu Brüdern
zu verteilen und den Menschen zu geben, was sie brauchen, um
und Schwestern werden und die Gesellschaft wie neugeboren
diese Aufgaben zu bewältigen. Man könnte es sogar als einen
erscheint. Das ist wichtig, denn es zeigt, dass wir nicht einfach
Skandal des Kapitalismus bezeichnen, dass die meisten kapitalis-
nur über Kooperation sprechen. Vielmehr gilt: Kommunismus ist
tischen Unternehmen intern kommunistisch operieren. Zugege-
das Fundament des menschlichen Zusammenlebens. Er macht
ben, sie operieren nicht sehr demokratisch; meistens sind sie mit
eine Gesellschaft überhaupt erst möglich.“
hierarchischen Kommandoketten im militärischen Stil organi-
und in seinen Werken ihren Niederschlag fand, z. B. in den letzten Kapiteln der „Marxistischen Wirtschaftstheorie“ (Mandel 2007: 640–738) oder in Aufsätzen (Mandel 1989). Die Debatte wiederholte sich nach der kubanischen Revolution 1960. Auch damals entstanden Texte, die für unsere heutige Positionierung relevant sind (z. B. Bettelheim et al. 1969, Tablada 1989), und sicher existieren weitere Schätze. Die dritte Welle begann um 2000, also nach Überwindung der Schockstarre, die aus dem Zusammenbruch des Ostblocks resultierte. Bereits 1993 erschien ein erstaunliches Buch, in dem entwickelt wird, wie sich die inzwischen erreichte, extrem hohe Produktivität in einer alternativen Ökonomie auswirken würde. Der Autor rechnet vor, dass zur Erhaltung des bereits erreichten Lebensstandards eine Fünfstundenarbeitswoche ausreichen würde. So heißt denn auch sein Buch: „5 Stunden sind genug“ (Dante 1993), das auch via Internet abruf bar ist. Seit Beginn der Zweiten Weltwirtschaftskrise 2007 und angesichts dessen, was da auf uns zukommen wird, hat sich die Beschäftigung mit einer anderen Ökonomie weiter intensiviert. Neue theoretische Aspekte werden thematisiert (z. B. Schäfer 2010, Harbach 2011, dort auch eine umfangreiche Lite-
(Graeber 2012: 100, 102, Hervorhebung im Original)
raturliste), aber es gibt auch zeitgenössische, praktische Erfahrungen. Cecosesola, eine große landwirtschaftliche Kooperative in Venezuela, feierte 2012 ihr 45-jähriges Bestehen (Cecosesola 2013). Und zahlreiche Industriebetriebe wurden nach dem Bankrott ihrer Eigentümer von den ArbeiterInnen übernommen und weitergeführt, z. B. in Argentinien. In der umfassenden (und vernichtenden) Zivilisationskritik unserer Epoche („Das Ende der Megamaschine – Die Geschichte einer scheiternden Zivilisation“) schreibt der Autor, Fabian Scheidler: „Die Kombination der ökologischen und sozialen Verwerfungen bringt eine extrem komplexe, chaotische Dynamik mit sich, und es ist prinzipiell unmöglich vorherzusagen, wohin dieser Prozess führen wird. Klar ist aber, dass ein tiefgreifender, systemischer Umbruch unausweichlich ist – und teilweise schon begonnen hat. Dabei geht es um weit mehr als um eine Überwindung des Neoliberalismus oder den Austausch bestimmter Technologien; es geht um eine Transformation, die bis in die Fundamente unserer Zivilisation reicht. Die Frage ist nicht, ob eine solche Transformation stattfinden wird – das wird sie auf jeden Fall, ob wir wollen oder nicht – sondern wie sie verläuft und in welche Inprekorr 6/2016 45
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Richtung sie sich entwickeln wird. … Die Frage des Wie und Wohin der Transformation ist daher eine Frage von Leben und Tod für große Teile der Weltbevölkerung. Art und Richtung des systemischen Umbruchs werden darüber entscheiden, in was für einer Welt wir und unsere Nachkommen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts leben werden.“ (Scheidler 2015: 13). Und gegen Ende des Buches, wenn es um die Alternativen geht, heißt es: „Der Motor der großen Maschine besteht darin, aus Geld mehr Geld zu machen, vollkommen unabhängig vom Sinn oder Unsinn der damit verbundenen Tätigkeiten. Aus dieser Logik auszusteigen bedeutet, die Sinnfrage wieder in die Ökonomie einzuführen. Anstatt zu fragen: ‚Wie können wir die Wirtschaft ankurbeln?‘ oder ‚Wie können wir Beschäftigung schaffen?‘, kehrt sich die Perspektive um: Wozu stellen wir Dinge her? Was brauchen wir wirklich? Wie können und wollen wir das produzieren und verteilen? Was können wir weglassen? Wie wollen wir darüber entscheiden, was und wie wir produzieren?“ (ebd. Seite 212) … „Die verschiedenen Ansätze, aus der Profit- und Akkumulationslogik auszusteigen, spiegeln recht unterschiedliche Auffassungen davon wider, welche Rolle dem Markt und dem Geld zukommen soll. … Trotz dieser Unterschiede zeigt sich aber tendenziell ein gemeinsamer Nenner: Die Sicherung des existentiell Notwendigen muss aus der Marktlogik herausgelöst werden. Für Wohnen, Ernährung, Wasserversorgung, Energie, Gesundheit, Bildung, Kultur, Kommunikation und Transport geht es darum, solidarische Formen der Produktion und Verteilung zu schaffen, sei es innerhalb von Kooperativen, landesweiten Netzwerken oder auch über öffentliche Institutionen.“ (ebd. Seite 216). Mit dieser Liste des „existentiell Notwenigen“ sind wir bereits mitten drin in der Diskussion um die menschlichen Bedürfnisse und die Möglichkeiten ihrer Befriedigung. Profitorientiert oder bedürfnisorientiert?
Kapitalistische Ideologen machen es sich einfach und sagen: „Es gibt so viele Bedürfnisse – nahezu unendlich viele –, dass nur der Kapitalismus sie befriedigen kann.“ Dieser Satz ist in dreifacher Hinsicht falsch: 1 Die kapitalistische Ökonomie kann nur solche Bedürfnisse befriedigen, die überhaupt durch eine auf Tausch basierende Ökonomie befriedigt werden können. Also die Bedürfnisse nach Gütern und Dienstleistungen, die einen Preis haben und gekauft werden können. Eine nichtkapitalistische Ökonomie hingegen hat – auch wenn es vielleicht paradox klingen mag – das Potential, auch außerökonomi46 Inprekorr 6/2016
sche Bedürfnisse zu befriedigen, z. B. das Bedürfnis, durch die Arbeitsprozesse nicht die Natur zu zerstören, – oder das Bedürfnis, Arbeit und Familie besser miteinander zu verbinden, – oder das Bedürfnis, die Güterproduktion auch mit kulturellen Aktivitäten zu kombinieren. 2 Kann der Kapitalismus denn wenigsten die Bedürfnisse nach käuflichen Gütern und Dienstleistungen befriedigen? Über 800 Millionen Menschen auf der Erde sind invalide infolge chronischer Mangel- und Unterernährung. Jedes Jahr verhungern etwa 30 Millionen Menschen. 1,3 Milliarden Menschen haben keinen dauerhaft gesicherten Zugang zu sauberem Wasser und jährlich sterben 3,3 Millionen Kinder, weil sie verschmutztes Wasser trinken müssen (Ziegler 2005: 100, 101, 256). Und um Unterversorgung an Trinkwasser, Nahrung und Medikamenten zu untersuchen, müssen wir nicht mehr ins Innerste Afrikas gehen (wo die Menschen sich übrigens hervorragend selbst versorgen konnten, bevor sie der kapitalistischen Wirtschaft unterworfen wurden): In den USA hungerten 2012 etwa 48 Millionen Menschen, fünfmal so viel wie 1960, „weil die Löhne so geschrumpft sind“ (McMillan 2014) und in Deutschland hungerten im gleichen Jahr sechs Millionen (Wöhrle 2014). Diese Zahlen standen nicht in einem linksradikalen Pamphlet, sondern im „National Geographic“. Kann der Kapitalismus die Bedürfnisse befriedigen? Oder ist es nicht gerade das himmelschreiende Versagen der kapitalistischen Marktwirtschaft, das uns zwingt, nach Alternativen zu suchen? 3 Gibt es überhaupt so unübersichtlich viele Bedürfnisse? Versuchen wir doch, sie näher zu bestimmen. Die eine Gruppe der elementarsten Bedürfnisse umfasst Schutz und Versorgung und Zuwendung in allen Fällen, in denen der Mensch schwächer ist als die Mitmenschen und deren Hilfe benötigt: in Kindheit, Krankheit und Alter. Gerade hier müssen wir uns fragen, ob diese Bedürfnisse im Kapitalismus überhaupt optimal befriedigt werden, ob sie im Kapitalismus überhaupt optimal befriedigt werden können. Die zweite Gruppe besteht aus einem Paket konkreter Güter und Dienstleistungen. Die Liste an Bedürfnissen, die Fabian Scheidler (2015: 216, siehe oben) erstellte, sieht nicht anders aus als die Listen anderer Autoren (z. B. Ernest Mandel 1989): Nahrung, Wasser, Kleidung, Wohnung, Energie, Hygiene, Bildung, Kultur, Gesundheit, Kommunikation, Transport. Dabei müssen wir aber einen einfachen Sachverhalt berücksichtigen: Wenn wir durstig sind, haben wir das Bedürfnis, etwas zu trinken. Ob dieses Bedürfnis jedoch befriedigt wird durch Wasser, Tee, Obst-
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saft, Wein, Bier oder Champagner, ist eine ganz andere Frage. Denn: Ob ein Bedürfnis als Grundbedürfnis, als erweitertes Bedürfnis oder als Luxusbedürfnis in Erscheinung tritt, charakterisiert nicht die Art des Bedürfnisses, sondern das Niveau seiner Befriedigung! Nur, wenn wir diese beiden Ebenen miteinander vermischen, kommen wir zu so unglaublich vielen Bedürfnissen. Heute wird produziert, was Abnehmer findet. Eine soziale Gesellschaft hingegen wird demokratisch entscheiden, auf welchem Niveau Bedürfnisse befriedigt werden nach Maßgabe dessen, was sie leisten kann und leisten will (Mandel 1989). Kriterien könnten sein: Arbeitsaufwand, Umweltbelastung (bei Herstellung, Betrieb und Entsorgung des Produktes), Fragen der Verteilungsgerechtigkeit etc. Und da die Konsumenten, deren Bedürfnisse befriedigt werden sollen, ja gleichzeitig auch die Produzenten sind, welche diese Güter herstellen, werden sie sicher auch Wege finden, Bedürfnisse auch auf Luxusniveau zu befriedigen. Die Behauptung, es gäbe nahezu unendlich viele Bedürfnisse, so dass nur der Kapitalismus alle befriedigen könne, entpuppt sich als platte ideologische Behauptung, als Zweckpropaganda, die uns davon abhalten soll, nach Alternativen zum Kapitalismus zu suchen.
einen Job finde, bekomme ich Geld dafür, dass ich arbeite, also meine Arbeitskraft verausgabe. Mit dem Geld gehe ich wieder auf den Markt (Supermarkt) und kaufe die benötigten Güter – an deren Produktion ich selbst zuvor beteiligt war! Schon hier drängt sich der Verdacht auf, dass das auch einfacher ablaufen könnte: 1 Zuerst stellen wir gemeinsam fest, was wir brauchen. 2 Danach entscheiden wir, wie die einzelnen Ressourcen auf die Produktion der benötigten Güter verteilt werden. 3 Dann produzieren wir das Benötigte. 4 Zuletzt werden die produzierten Güter verteilt und konsumiert. Das hat den großen Vorteil, dass wir nur noch das herstellen müssen, was wir hinterher auch konsumieren wollen. Was keiner braucht, wird gar nicht erst gemacht. Also kein gentechnisch verändertes Getreide, kein neues Sturmgewehr für die Bundeswehr, keine Atomkraftwerke, keine Kohlekraftwerke, keine Optionsscheine auf fallende oder steigende Aktienkurse, keine Reklameflut für unsere Briefkästen, …
Der Wirtschaftskreislauf
Auch wenn wir nach einer Wirtschaft suchen, welche die Bevölkerung versorgt, ohne durch Konkurrenz und Profitgier angetrieben zu sein, müssen wir doch zuerst schauen, wie die Versorgung heute erfolgt. Heute erfolgt die Versorgung durch Kaufen: Ich bekomme nur dann etwas, wenn ich etwas anderes, aber gleichwertiges (in der Regel Geld) dafür hergeben kann. Eine logische Konsequenz dieses Prinzips sind beispielsweise die Hungersnöte in Bangladesch. Wenn starke Regenfälle und Überschwemmungen Missernten im Süden des Landes verursachen, bleibt den Bauern dort nichts für den Eigenbedarf. Es bleibt ihnen auch nichts, was sie verkaufen könnten. Demzufolge haben sie kein Geld, um etwas zu kaufen. Die Bauern im Norden, deren Ernteerträge für alle Menschen im Land ausreichen würden, können die von ihnen erzeugten Nahrungsmittel aber nicht im Süden verkaufen, denn dort haben die Menschen ja kein Geld, um sie zu kaufen. Also verkaufen sie ihre Produkte nach Indien, wo noch Kaufkraft vorhanden ist – und die Menschen im Süden des Landes verhungern (Sen 1993). Wenn ich die Güter, die ich brauche, kaufen will, gehe ich wie folgt vor: Zuerst begebe ich mich auf den Markt (Arbeitsmarkt) und biete meine Arbeitskraft an. Wenn ich
Wir sehen, dass mit einer Umstellung der Wirtschaft auf die Bedürfnisorientierung eine enorme Schrumpfung des notwendigen Arbeitsaufkommens verbunden wäre. Da über die Verteilung der vorhandenen Ressourcen – und Arbeitszeit ist eine dieser Ressourcen – gemeinschaftlich entschieden würde, wäre das Resultat nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeitszeitverkürzung für alle. Betrachten wir nun im Einzelnen die vier entscheidenden Schritte der bedürfnisorientierten Ökonomie: 1 Messung des Bedarfs, 2 Aufteilung der Ressourcen, 3 Produktion des Benötigten, 4 Verteilung des Produzierten. Von der Messung des Bedarfs zur Produktion des Benötigten
Zur Messung des Bedarfs müssen wir – wie heute auch – dorthin gehen, wo die Dinge sind, die wir brauchen (Supermarkt, Einzelhandel, Internet), also dorthin, wo ein Vorrat der benötigten Dinge existiert. Dort entnehmen wir diesem Vorrat so viel, wie wir brauchen. Das bedeutet: Es muss für alle Güter ein Vorrat existieren über den Bedarf hinaus! Die Messung des Bedarfs ist dann nichts anderes als Inprekorr 6/2016 47
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die Messung der Geschwindigkeit, mit der die Güter dem Vorrat entnommen werden. Auch in einem zukünftigen Supermarkt werden die Produkte zuletzt an der „Kasse“ gescannt. Wir müssen sie dann zwar nicht mehr bezahlen, aber wir müssen weiterhin sehr wohl messen, wie schnell der Vorrat schwindet. Denn mit dieser Geschwindigkeit muss nachproduziert werden! Der Vorrat muss also so groß sein, dass er bis zur nächsten Lieferung nicht aufgebraucht ist, und zwar auch dann, wenn außergewöhnliche Nachfragespitzen auftreten. Nur so kann der Bedarf festgestellt werden. (Würde der Vorrat vorzeitig aufgebraucht, herrschte Mangel. Aber dann könnte nicht mehr gemessen werden, wie groß der Mangel ist.) Der Vorrat ist gesellschaftlicher Reichtum und keine Verschwendung, denn alle Güter aus dem Vorrat werden konsumiert. Die Größe des Vorrats bestimmt lediglich die zeitliche Verzögerung, mit der das Gut den Endverbraucher erreicht. Durch diese Vorgehensweise legen die Konsumenten selbst fest, was und wieviel sie brauchen. Eine Behörde oder Bürokratie, die den Bedarf schätzt, die Güter also zuteilt und den Menschen somit vorschreibt, was sie brauchen, kann gar nicht erst entstehen. Wenn klar ist, was und wieviel benötigt wird, folgt der zweite Schritt: Die Bereitstellung der benötigten Ressourcen. Arbeitszeit, Maschinen, Rohstoffe, Energie, Infrastruktur etc. müssen zur Verfügung stehen. Aber da für die Produktion von Maschinen, Rohstoffen, Infrastruktur etc. ebenfalls Arbeitszeit notwendig ist, lässt sich für die Herstellung aller Produkte und aller Ressourcen die notwenige Arbeitszeit berechnen. Die Gesellschaft wiederum hat nur ein begrenztes Budget an Arbeitszeit: Die Anzahl der Arbeitskräfte, multipliziert mit der durchschnittlichen Anzahl der Arbeitsstunden eines Menschen pro Jahr, ergibt die Gesamtzahl der verfügbaren Arbeitsstunden. Diese Arbeitsstunden müssen dem gemessenen Bedarf entsprechend auf die Produktion der benötigten Güter und Ressourcen aufgeteilt werden. Dazu gehört auch die Berücksichtigung des nötigen Zeitbedarfs für die Erziehung der Kinder und die Versorgung der Alten und Kranken! Die jeweils konkreten Entscheidungen zur Bereitstellung der Ressourcen wiederum sind Aufgabe der demokratischen Strukturen. Es müssen folglich bereits vor der Einführung der bedürfnisorientierten Ökonomie basisdemokratische, gesellschaftliche Strukturen existieren, die aus der Fülle von Informationen letztendlich zu Entscheidungen führen und diese auch umsetzen können. Grundlegend ist, dass diese Prozesse demokratisch ablaufen. Denn die bedürfnis48 Inprekorr 6/2016
orientierte Ökonomie ist ja nichts anderes als die Einführung der Demokratie in die Ökonomie! Und dann stehen beispielsweise dem Bedarf an Handys in den USA und der EU ganz sicher auch die Bedürfnisse der kongolesischen Arbeiter in den Coltanminen gegenüber … Es gibt also viele Entscheidungsebenen: Betrieb, Branche, Stadtteil, Stadt, Region … bis zur globalen Ebene. Generell ist dieser Aspekt also nur bedingt ein ökonomischer, wesentlich ist er ein politischer, eine Frage der Basisdemokratie. Denn auf den gleichen Wegen, auf denen die politischen und sozialen Informationen und Entscheidungen über den Planeten strömen werden, müssen auch die ökonomischen und ökologischen Informationen und Entscheidungen fließen. Keim eines neuen Widerspruchs wäre es, würden die ökonomischen Fragen in einer anderen Struktur abgehandelt als die sozialen Folgen, die sich aus ihnen ergeben. Der gleichen Frage nach der Bereitstellung der benötigten Ressourcen können wir uns auch noch auf einem anderem Wege nähern, nämlich indem wir uns anschauen, wie die Produktion der benötigten Güter erfolgt. Die Produktion des Benötigten ist nur möglich, wenn zuvor die Bedürfnisse der Produzenten befriedigt wurden. Denn nicht nur die Konsumenten haben Bedürfnisse, sondern auch die Produzenten. In ihrer Eigenschaft als Konsumenten haben die Menschen die Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Wohnung etc. In ihrer Funktion als Produzenten haben die gleichen Leute die Bedürfnisse nach Rohstoffen, Vorprodukten, Werkzeugen, Maschinen, Energie, Ersatzteilen, Räumlichkeiten, Wissen, Informationen, Infrastruktur … Erst wenn diese Bedürfnisse der Produzenten befriedigt sind, können sie damit beginnen, die Produkte für die Konsumenten herzustellen. Damit wird das Prinzip der Bedürfnisorientierung auf die nächste Ebene gehoben: von den Konsumgütern zur Produktion der Konsumgüter. Insofern Maschinen, Werkzeuge, Kraftwerke etc. zur Produktion der Konsumgüter notwendig sind, müssen diese ebenfalls hergestellt werden, und das Prinzip der Bedürfnisorientierung erreicht die nächste Stufe, die der Produktion der Produktionsmittel. Zuletzt geht es dann um die Produktion der Rohstoffe. Jede dieser Stufen wird erreicht, indem immer wieder dieselben beiden Grundfragen gestellt werden: 1 Was wird benötigt? 2 Was wird benötigt, um es herzustellen? Die damit verbundenen weiteren Fragen (Sinn der Produktion, Umweltbelastung, soziale Auswirkungen …)
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sind Gegenstand des demokratischen Diskurses und die gesellschaftlichen Antworten führen letztendlich zur Entscheidung über die Bereitstellung der benötigten Ressourcen, wie oben beschrieben. Dadurch aber, dass jede Stufe der Wirtschaft durch die immer gleichen beiden Grundfragen strukturiert wird, führt die Orientierung an den Bedürfnissen zur Entwicklung einer eigenen, inneren Logik – so, wie heute das Prinzip des Kaufens die innere Logik der Marktwirtschaft darstellt. Es bleibt nun noch die Frage, wie die Produkte zu den Konsumenten gelangen. Heute erfolgt die Aneignung der Güter dadurch, dass der Konsument an der Kasse die auf dem Preisschild angegebene Geldmenge abgibt. Wie aber erfolgt in der bedürfnisorientierten Ökonomie die Aneignung der Güter durch die Konsumenten? Die Verteilung der Güter
Die wichtigste Ressource der Produktion ist die menschliche Arbeitskraft. Da in einer basisdemokratischen Gesellschaft alle Informationen verfügbar sind und das produziert wird, was benötigt wird, ist der Sinn der eigenen Arbeit unmittelbar einsichtig. Er besteht nicht mehr primär im Geldverdienen, sondern unmittelbar in der Deckung des eigenen Bedarfs: Der Vorrat, dem ich die Güter entnehme, muss gefüllt bleiben. Ein Gebot der Verteilungsgerechtigkeit ist dann die Gleichverteilung der notwendigen Arbeit auf alle Arbeitsfähigen (Marx 1890: 552). Die unmittelbaren Folgen dieser Maßnahme sind: 1 Jeder kommt in den Genuss einer sinnvollen Tätigkeit. 2 Es gibt keine Arbeitslosigkeit mehr. 3 Wenn die Arbeit auf alle gleich verteilt wird, ist die Arbeitszeit für jeden am kürzesten. Damit aber werden keine Waren mehr produziert, die noch zu tauschen wären, sondern jeder bezahlt mit seiner Arbeit seinen Anteil am Gesamtprodukt! (Marx 1856: 104). Deshalb müssen die Produkte nicht mehr mit Geld bezahlt werden – sie sind bereits bezahlt mit der verausgabten Arbeit beim Produktionsprozess. Oder anders gesagt: Die Arbeit wird nicht mehr mit Geld bezahlt, sondern dadurch, dass man die Güter abholen kann, die man braucht. Gleichzeitig wird beim Abholen der Güter der Bedarf gemessen und der Wirtschaftskreislauf beginnt von neuem. Schauen wir noch einmal auf den erwähnten Satz von Marx, dass die Arbeitszeit für jeden am kürzesten ist, wenn die Arbeit auf alle gleich verteilt wird (Marx 1890: 552):
Die Gleichverteilung der Arbeit ist eine Maßnahme zur Arbeitszeitverkürzung! Wenn ein Teil der Arbeitsfähigen nicht arbeiten kann, weil er exerzieren muss, dann müssen andere umso mehr arbeiten. Wenn ein Teil der Bevölkerung nicht arbeitet, weil er reich ist, müssen andere umso mehr arbeiten … Arbeiten, die nicht benötigt werden, entfallen: Keine Rüstung, keine Reklameflut, kein Geldverkehr … Alle Banker und Börsianer bekommen endlich die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun. Eine Milliarde Menschen weltweit sind arbeitslos. Ihre Rückführung in die Produktion wird sie nicht nur dem Elend entreißen, sondern gleichzeitig eine erhebliche Arbeitszeitverkürzung für die übrigen Arbeitenden bewirken. Die ungeheure Vergeudung von Arbeitszeit durch Konkurrenz entfällt. Und weitere Wege zu weiteren Arbeitszeitverkürzungen lassen sich denken. Im Jahre 1993 rechnete ein Ökonom, der sich das Pseudonym „Darwin Dante“ einfallen ließ, diese Szenarien durch und konnte so zu quantitativen Angaben über die eingesparte Arbeitszeit gelangen. In dem Text „5 Stunden sind genug“ (unter diesem Suchbegriff im Internet abrufbar) führt er detailliert und gut nachvollziehbar aus, dass bei Gleichverteilung der Arbeit eine Arbeitszeit von fünf Stunden pro Woche ausreichend ist zur Produktion der benötigten Güter. Da es wenig sinnvoll ist, bis zum 60sten Lebensjahr jede Woche für fünf Stunden am Arbeitsplatz zu erscheinen, könnte man die Fünfstundenarbeitswoche auch in Lebensarbeitszeit umrechnen. Das Renteneintrittsalter nach der Grundproduktion läge dann vielleicht bei 30 bis 35 Jahren. Damit wiederum eröffnen sich ganz andere Perspektiven. Denn sicher wollen viele ihren Beruf nicht nach so kurzer Zeit wieder aufgeben, sondern länger arbeiten. Deshalb könnten unbeliebte Tätigkeiten mit einer noch kürzeren Lebensarbeitszeit angesetzt werden, sodass auch solche Tätigkeiten attraktiv werden für Menschen mit einem anderen Lebensentwurf. Die eigentliche Flexibilität zugunsten des einzelnen Menschen ist erst in einer bedürfnisorientierten Ökonomie möglich. Privateigentum oder Gemeineigentum?
In einer bedürfnisorientierten Ökonomie hat folglich jeder Mensch Zugang zu den von ihm benötigten Gütern und Dienstleistungen. In der profitorientierten Ökonomie wie Inprekorr 6/2016 49
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in jeder auf Tausch basierenden Ökonomie besteht das Recht, einem anderen Menschen eine Sache nicht zu geben, selbst wenn er diese Sache noch so dringend benötigt, wenn nicht etwas Anderes, Gleichwertiges (Geld) zurückgegeben wird. Deshalb wird beispielsweise das vorhandene Getreide nicht an die Verhungernden verteilt. Dieses Recht besteht dann, wenn Menschen nicht nur Besitzer, sondern Eigentümer sind. Deshalb ist für die innere Logik der bedürfnisorientierten Ökonomie die Abwesenheit von Privateigentum von besonderer Bedeutung. Die bedürfnisorientierte Ökonomie bewirkt die gerechte Verteilung der Güter nicht, indem jeder das gleiche Quantum erhält, sondern indem jeder erhält gemäß seinen Bedürfnissen. Wer viel braucht, kommt oft und holt viel, wer wenig braucht, kommt seltener und holt weniger (Widlok 2010: 102). Offensichtlich ist, dass eine solche Wirtschaftsform nur eingeführt werden und bestehen kann, wenn es eine gemeinsame Basis, ein gemeinsam erarbeitetes und eingehaltenes Regelwerk gibt zugunsten dieser Form der Ökonomie (ebd. Seite 97). Auf bau und Erhaltung der bedürfnisorientierten Ökonomie sind ein komplexer, kultureller Prozess, dem eine bewusste Entscheidung – eine „kulturelle Innovation“ – zugrunde liegt, – die Entscheidung, eben diese Wirtschaftsform einzuführen (ebd. Seite 103). Eine solche Ökonomie funktioniert vergleichbar dem Prinzip der „kommunizierenden Röhren“ – in allen miteinander verbundenen Röhren steht der Flüssigkeitsspiegel, der Gütervorrat, gleich hoch, unabhängig davon, ob die Röhren dick oder dünn sind. Jeder hat die Möglichkeit, sich in dieses System einzuklinken, Güter zu entnehmen und so am Wohlstand teil zu haben. Und alles, was in dieses System eingespeist wird, erhöht den Flüssigkeitsspiegel, den Wohlstand, in gleichem Maße bei Allen – der Güterfluss erreicht jeden. Und zwar ohne dass eine Regulierungsinstanz vorhanden sein muss und ohne die Notwendigkeit zur Standardisierung, alleine dadurch, dass die freie Bewegung der Güter nicht behindert wird (ebd. Seite 102). Dass in der bedürfnisorientierten Ökonomie der Güterfluss jeden erreicht, ohne dass eine Regulierungsinstanz vorhanden ist, alleine dadurch, dass die freie Bewegung der Güter nicht behindert wird, erinnert sehr an die aktuellen Forderungen neoliberaler Ökonomen. Doch je weiter der Freihandel vorangetrieben und staatliche Regulierungsinstanzen abgebaut werden, umso mehr vergrößert sich die Ungleichheit (Piketty 2014) und umso weniger Menschen werden von dem Güterfluss noch erreicht (Ziegler 2005). 50 Inprekorr 6/2016
Wir müssen daraus schließen, dass es heute entscheidende Regulierungsinstanzen und Behinderungen im Güterfluss gibt, die von all den neoliberalen Maßnahmen überhaupt nicht betroffen sind. Die alles entscheidende Regulierungsinstanz und Behinderung im Güterfluss ist der Geldverkehr selbst – der Zwang zum Tausch! Denn die Güter fließen nur dann, wenn Geld zurückfließt! Dass der Wert der Güter mit einem Gegenwert bezahlt werden muss, ist jene Regulierungsinstanz, die gerade nicht in Frage gestellt wird. Dabei ist es gerade diese Gesetzmäßigkeit – dass jeder Wert beim Tausch mit einem gleich großen Gegenwert abgegolten werden muss –, die das Ziel des freien Güterflusses unerreichbar macht. Immer mehr Menschen gelingt es nicht mehr, sich in den Güterfluss einzuklinken und ihren Lebensunterhalt adäquat zu fristen. Gleichzeitig gelingt es ihnen aber auch nicht mehr, durch ihre Arbeit Güter in das System einzuspeisen. Verdammt zur Arbeitslosigkeit, können sie weder durch ihre Arbeit den Wohlstand vergrößern noch an ihm teilhaben. Würde die Notwendigkeit des Tauschens Wert gegen Wert entfallen, könnten alle durch ihre Arbeit den Wohlstand mehren und durch das Prinzip des Teilens seine Früchte genießen. Dem allerdings steht entgegen das Privateigentum an Produktionsmitteln. Denn die Eigentümer der Produktionsstätten wollen ihre Produkte ja gerade nicht verteilen, sondern verkaufen, um Gewinn zu machen. Und deshalb wollen sie auch keine Arbeiter einstellen (und bezahlen), wenn diese dann mehr Güter erzeugen, als verkäuflich sind. Erneut stehen wir vor dem Privateigentum an Produktionsmitteln als der entscheidenden Barriere hin zu einer bedürfnisorientierten Ökonomie. Heute werden die Produkte der Arbeit auf dem Markt gekauft. Und in dieser Logik kaufen auch die Produzenten die benötigten Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen usw. auf dem Markt. In der bedürfnisorientierten Ökonomie werden die Produkte der Arbeit verteilt oder geholt. Und entsprechend müssen die Produzenten die benötigten Produktionsmittel erhalten, indem sie ihnen gegeben werden oder indem sie sich die Produktionsmittel holen. Dazu ist der ungehinderte Zugang zu und die freie Verfügung über die benötigten Ressourcen notwendig. Dies wiederum ist nur möglich, wenn es kein Privateigentum an Produktionsmitteln gibt! Denn der Eigentümer einer Ressource nutzt sein Eigentum sicher nicht, um die Produkte seiner Ressource nach Bedarf zu verteilen, sondern um sie zu
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verkaufen und einen Gewinn zu erwirtschaften. Deshalb ist eine bedürfnisorientierte Ökonomie nicht möglich auf der Basis von Privateigentum, sondern nur auf der Basis von Gemeineigentum. Wenn der Zugang zu den Ressourcen nicht durch Eigentumsverhältnisse geregelt ist, muss er auf andere Weise konfliktfrei (!) geregelt sein. Zur Entwicklung und Durchsetzung dieser Regeln wiederum ist es erneut notwendig, dass die bereits mehrfach erwähnten basisdemokratischen politischen Strukturen schon vor dem Übergang zur bedürfnisorientierten Ökonomie etabliert sind! Auf ebendieser politischen und ökonomischen Basis ist dann auch die Ressourcennutzung ohne zerstörerische ökologische Folgen möglich. Privateigentum an einer Ressource verhindert öffentliche Kontrolle, verhindert die frühzeitige Erkennung von Schäden und verhindert die rechtzeitige Schonung gefährdeter Biotope. Die Interessen des Eigentümers haben Vorrang. Gemeineigentum bedeutet jedoch, dass die Gemeinschaft die Ressourcen nicht nur nutzt, sondern auch kontrolliert. Und dann kann sie auch frühzeitig ökologische Schädigungen erkennen und angemessen darauf reagieren. Die gleichen basisdemokratischen Kommunikationswege, die für politische, soziale und ökonomische Zwecke genutzt werden, müssen auch der Verbreitung des ökologischen Wissens dienen. Diese Wege leiten dann aktuelle Beobachtungen von Umweltveränderungen zu allen Betroffenen und ermöglichen es, gesamtgesellschaftliche Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, ausgehend auch von Impulsen von Einzelpersonen. Die Menschen können dann nach dem richtigen Verhalten suchen, bis sie den optimalen Umgang mit der Natur gefunden haben. Abwesenheit von Privateigentum, öffentliche Kontrolle der Ressourcen, völlige Transparenz, offene Diskussionsprozesse und sorgfältige, verantwortungsbewusste Planung – all das, was Gemeineigentum eben ausmacht – werden dann nicht nur den ökonomischen, sondern auch den ökologischen Erfolg der freien Gesellschaft ermöglichen.
Dante, D., 1993, „5 Stunden sind genug – Das Gründungskonzept einer herrschaftsfreien Gesellschaft“, Manneck Mainhatten Verlag, Frankfurt. Graeber, D., 2012, „Schulden – Die ersten 5000 Jahre“, Klett–Cotta, Stuttgart. Harbach, H., 2011, „Wirtschaft ohne Markt – Transformationsbedingungen für ein neues System gesellschaftlicher Arbeit“, Karl Dietz Verlag, Berlin. Mandel, E., 1989, „Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft“, Oktober – Texte, 2. Mandel, E, 2007, „Marxistische Wirtschaftstheorie“, 640–738, isp, Köln. Marx, K., 1856, „Grundrisse der politischen Ökonomie“, MEW 42, Dietz, Berlin 1983. Marx, K., 1890, „Das Kapital“, Band 1, MEW 23 , Dietz, Berlin 1983. McMillan, T., 2014, „Das neue Gesicht des Hungers“, National Geographic Deutschland, August 2014, 62–83. Piketty, Th., 2014, „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, C. H. Beck, München. Schäfer, J., 2010, „Plädoyer für eine demokratisch geplante Wirtschaft“, Internationale Theorie, 36, 4–27, 2010. Scheidler, F., 2015, „Das Ende der Megamaschine – Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, Promedia, Wien. Sen, A., 1993, „Lebensstandard und Lebenserwartung“, Spektrum der Wissenschaft, November 1993, 38–45. Tablada, C., 1989, „Che Guevara – Economics and Politics in the Transition to Socialism”, Pathfinder, New York. Widlok, Th., 2010, “Sharing as a cultural innovation”, in: Benz, M., (Ed.), 2010, „The principle of sharing“, ex oriente, Berlin, 91–104. Wöhrle, Ch., 2014, “Wenn es einfach nicht reicht”, National Geographic Deutschland, August 2014, 84–88. Ziegler, J., 2005, “Das Imperium der Schande”, Bertelsmann, München.
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KAPITALISTISCHE GLOBALISIERUNG, IMPERIALISMEN, GEOPOLITISCHES CHAOS UND DIE FOLGEN Der folgende Text soll als Thesenpapier zur Vorbereitung des nächsten Weltkongresses dem Internationalen Komitee 2017 vorgelegt werden. Der vorläufig letzte Stand der Debatte ist hiermit auch auf Deutsch dokumentiert. Büro der IV. Internationale
Der Zusammenbruch der UdSSR und das Auseinanderbrechen des Sowjetblocks Anfang der 1990er Jahre erlaubte, die ursprünglich in Ländern wie Chile, Großbritannien und den Vereinigten Staaten umgesetzte neoliberale Politik allgemein einzuführen. Die kapitalistische Globalisierung hat einen vollen Aufschwung erlebt und eine neue internationale Herrschaftsform hervorgebracht, die vielfältige und tiefgreifende Folgen hat. Die neoliberale Ordnung bleibt jedoch unvollendet, instabil und mündet regelmäßig in eine chaotische internationale Lage. Gewisse traditionelle Imperialismen befinden sich unaufhaltsam im Niedergang, während neue kapitalistische Mächte aufkommen und die geopolitische Konkurrenz beleben. In mehreren Ländern und Regionen hat die allgemeine Brutalität der neoliberalen Diktate den sozialen Zusammenhalt zersetzt, scharfe Regierungskrisen und selbst Volkserhebungen ausgelöst, aber auch gefährliche konterrevolutionäre Entwicklungen losgetreten. Viele Völker zahlen bereits heute einen hohen Preis für die glo52 Inprekorr 6/2016
bale Umweltkrise – insbesondere, aber nicht nur in Form der sich laufend weiter verschärfenden Klimaerwärmung. Unterdessen konnten Erfahrungen mit der kapitalistischen Globalisierung und ihren Folgen gesammelt werden, die uns erlauben, aus einem gewissen Abstand unsere früheren Analysen zu aktualisieren und neue Themen aufzugreifen. Die nachfolgenden „Thesen“ erheben nicht den Anspruch, vollständig zu sein oder fertige Schlüsse zu bieten. Sie sollen vor allem einen kollektiven internationalen Reflexionsprozess anstoßen. Sie stützen sich oft auf bereits bestehende Argumente, versuchen aber, die Diskussion über ihre Folgen weiter voranzubringen. Dafür „blenden“ sie – auch auf die Gefahr hin, komplexe Realitäten zu sehr zu vereinfachen – laufende, oft unabgeschlossene Entwicklungen „aus“, um das Neue besser zu erfassen. I. Eine neue imperialistische Galaxie
Als Erstes gilt es festzustellen, dass sich die heutige Lage stark von der zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder der Jah-
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EINLEITUNG ZUM TEXT Entsprechend dem Beschluss des Internationalen Komitees von
Wir wollen verstehen, was es in der weltweiten Konstellation
Februar 2016 legt das Büro unter dem Titel „Kapitalistische Glo-
Neues gibt. Es lohnt sich, Formulierungen, Begriffe, ja auch Kon-
balisierung, Imperialismen, geopolitisches Chaos und die Fol-
zepte zu suchen, die dem Neuen Rechnung tragen. Hier werden
gen“ eine überarbeitete Version der Thesen zur Diskussion vor.
in mehr oder weniger hypothetischer Form bereits einige solcher
Durch ihre Übersetzung und Veröffentlichung sollen die vor drei
Begriffe vorgeschlagen. Oft haben wir es jedoch mit hybriden
Jahren begonnene Diskussion und die gemeinsame Reflexion
Realitäten, unabgeschlossenen Entwicklungen zu tun. Zudem
auf der Grundlage eines gemeinsamen Referenzdokuments über
haben viele Wörter je nach Land (oder politischer Tradition) un-
das Internationale Komitee hinaus ausgeweitet werden. In der
terschiedliche Bedeutungen. Die Festlegung auf einen Begriff
aktuellen Phase nimmt das Büro nicht zu den Details der Ana-
kann auch die Illusion vermitteln, eine Antwort zu haben, ob-
lyse eines „in Entstehung begriffenen“ Textes Stellung. Es hofft
wohl der Inhalt noch nicht definiert ist. Ein Ziel der Diskussion ist,
aber, dass im Herbst mit Blick auf das Internationale Komitee
unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeiten die Möglichkeit
von 2017 insbesondere dank der von nationalen Organisationen
und die Nützlichkeit eines der aktuellen Lage entsprechenden
eingebrachten Beiträge eine Resolution vorgelegt werden kann.
Vokabulars zu überprüfen.
Zwei weitere Texte liegen dem Internationalen Komitee zur
Schließlich können Anhänge ergänzt werden, um mit Unter-
Diskussion vor, einer zur Frage des Parteiaufbaus und einer über
stützung der betroffenen nationalen Organisationen bestimmte
das „revolutionäre Subjekt“. Diese Diskussionsfelder sind folg-
Fragen (Wirtschaftskrise …) und regionale Situationen vertieft
lich in die hier vorgelegten Thesen nicht direkt eingearbeitet. Die
analysieren zu können.
drei Dokumente werden sich in Zukunft gegenseitig bereichern können.
Das Büro der 4. Internationale
re 1950–1980 unterscheidet. Zu erwähnen sind insbesondere folgende Faktoren: Eine tiefgreifende Veränderung und Diversifizierung des Status der traditionellen Imperialismen: „Großmacht“ USA; Scheitern der Bildung eines integrierten europäischen Imperialismus; „Reduktion“ des französischen und des britischen Imperialismus; „zahnlose“ Militärimperialismen (vor allem Deutschland, aber auch Spanien gegenüber Lateinamerika); weiterhin untergeordnete Stellung des japanischen Imperialismus; Krisen des sozialen Zerfalls in manchen westlichen Ländern (Griechenland), die historisch zum imperialistischen Bereich gehören … Die Herausbildung neuer (Proto-)Imperialismen – allen voran China, das sich gegenwärtig als zweite weltweite Supermacht durchsetzt, wobei auch der Sonderfall Russlands nicht zu vergessen ist. Wichtige Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung, mit der Dominanz der Finanzmärkte (Finanzialisierung) in der Wirtschaft, der Deindustrialisierung vieler westlicher und insbesondere europäischer Länder, einer neuen Konzentration der globalen Warenproduktion
insbesondere auf Asien – wobei die Vereinigten Staaten, Deutschland und Japan weiterhin bedeutende Industriemächte sind. Eine ungleiche Entwicklung jedes Imperialismus, der jeweils in gewissen Bereichen Stärken und in anderen Schwächen aufweist. Die Hierarchie der imperialistischen Staaten ist heute folglich schwieriger feststellbar als in der Vergangenheit. Die Vereinigten Staaten sind natürlich noch immer die Nummer eins; sie sind die Einzigen, die in fast allen Bereichen den Anspruch auf eine Vormachtstellung erheben können, auch wenn in wirtschaftlicher Hinsicht sie einen relativen Niedergang erleben und die Begrenztheit ihrer Weltmachtstellung hinnehmen müssen. Die Charakterisierung der neuen Mächte ist also nicht die einzige Aufgabe, die sich stellt. Wir müssen auch erneut den sich wandelnden Status der traditionellen Imperialismen – und die imperialistische Ordnung in ihrer Gesamtheit – besser evaluieren. Klassische Begriffe wie die von „Zentrum“ und „Peripherie“, „Norden“ und „Süden“ müssen angesichts der wachsenden Diversifizierung inInprekorr 6/2016 53
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nerhalb jedes einzelnen dieser geopolitischen Räume neu beurteilt werden. II. Chronische geopolitische Instabilität
Als Zweites gilt es festzuhalten, dass die kapitalistische Globalisierung international zu keiner stabilen „neuen Ordnung“ geführt hat, ganz im Gegenteil. Es gibt einen dominanten imperialistischen Block, den man, da er um die Achse Nordamerika/Europäische Union strukturiert ist, als „atlantischen Block“ bezeichnen könnte – sofern man den Begriff geostrategisch und nicht geografisch versteht: Denn dazu gehören auch Australien, Neuseeland und Japan. Es ist ein hierarchischer Block unter US-amerikanischer Hegemonie. Die NATO ist sein bevorzugter permanenter bewaffneter Arm. Seine Aufstellung an der europäischen Grenze der „russischen Einflusszone“ hat ursprüngliche Funktion nichts an Aktualität eingebüßt, zumal diese Grenze wieder zur Konfliktzone geworden ist. Die NATO nimmt sich gegenwärtig heraus, weit über den Rahmen transatlantischer Operationen hinaus zu intervenieren. Die Nahostkrise zeigt jedoch, dass die Organisation als operativer Rahmen nicht in der Lage ist, so einfach ihr Gesetz durchzudrücken. Der militärische Beitrag der europäischen Mitglieder ist marginal. Gegenüber dem regionalen Stützpunkt Türkei bestehen intensive Spannungen. Für jedes operative Einsatzgebiet mussten neue Bündnisse mit Regimes geschmiedet werden, die sich gegenseitig feindlich gegenüberstehen, wie SaudiArabien und Iran. Zugleich intensiviert sich der innerkapitalistische Wettbewerb. Auf geopolitischer Ebene fordert China als Neuankömmling Zutritt zum Hof der Größeren. Russland interveniert in seiner erweiterten Einflusszone (Syrien). Die japanische Regierung versucht, ihre militärische Abhängigkeit von den USA zu lockern und sich von den pazifistische Klauseln der japanischen Verfassung zu befreien. Auf wirtschaftlicher Ebene herrscht ein scharfer Wettbewerb, da die Bewegungsfreiheit des Kapitals sogar „Subimperialismen“ erlaubt, über ihre regionale Sphäre hinaus mit anderen in Wettbewerb zu treten. In ideologischer Hinsicht erleben die herrschenden Klassen eine Legitimationskrise, sind häufig mit schweren institutionellen Dysfunktionalitäten konfrontiert und verlieren die Kontrolle über Wahlverfahren in Schlüsselländern, wie in den Vereinigten Staaten (Sieg von Trump bei den Vorwahlen der Republikaner) und in Großbritannien (Sieg des Brexit). Der Kriege ist ein Dauerzustand. Die Auswir54 Inprekorr 6/2016
kungen der globalen Umweltkrise sind bereits deutlich spürbar. In verschiedenen Weltteilen löst sich der soziale Zusammenhalt auf. Humanitäre Katastrophen und unfreiwillige Bevölkerungsbewegungen haben ein seit dem Zweiten Weltkrieg beispielloses Niveau erreicht. Die Völker bezahlen für die Durchsetzung der neuen neoliberalen Ordnung einen enorm hohen Preis. Die Ursachen der gegenwärtigen chronischen Krise sind mannigfaltig. Die imperialistischen Staaten haben nach wie vor die Aufgabe, günstige Bedingungen für die Kapitalakkumulation zu schaffen, doch das globalisierte Kapital operiert ihnen gegenüber unabhängiger als in der Vergangenheit. Diese Abkoppelung hat dazu beigetragen, die alten „geschützten Jagdgründe“, die nahezu exklusiven Einflusszonen der traditionellen Imperialismen in der Welt durchlässig zu machen und aufzulösen (mit Ausnahme weiter Teile Lateinamerikas?). Die enorme Mobilität des Kapitals hat verheerende Folgen für die gesellschaftlichen Gleichgewichte, was die staatliche Tätigkeit untergräbt. Die kapitalistische Globalisierung, die Finanzmarktdominanz und die zunehmende Internationalisierung der Produktionsketten ziehen auch die Fähigkeit der Staaten in Mitleidenschaft, Wirtschaftspolitiken umzusetzen. Das beispiellose Ausmaß der Finanzmarktdominanz, die Entwicklung von sogenannt „fiktivem“ Kapital, die dem modernen Kapitalismus eigen ist, hat in den letzten Jahren erhebliche Ausmaße angenommen. Das führt zu einer stärkeren Ablösung von Produktionsverfahren, ohne dass die Verbindung ganz aufgelöst worden wäre, während sich die Verbindung von ursprünglichem Kreditgeber und ursprünglichem Kreditnehmer lockert. Die Finanzmarktdominanz hat das kapitalistische Wachstum gestützt, aber ihre übermäßige Entwicklung spitzt die Widersprüche zu. Das Schuldensystem operiert mittlerweile im Norden wie im Süden. Es ist ein zentrales Mittel der vom Kapital über die Gesellschaften ausgeübten Diktatur und spielt, wie der Fall Griechenlands zeigt, eine unmittelbar politische Rolle in der Aufrechterhaltung der neoliberalen Ordnung. Zusammen mit den Freihandelsabkommen hindert es Regierungen daran, eine alternative Politik umzusetzen, die einen Ausweg aus der sozialen Krise bieten würde. Ein regelrechter „Währungskrieg“ (Devisen) findet statt – eine der Facetten innerimperialistischer Konflikte, da über den Rückgriff auf die Währung Kontrollzonen festlegt werden. Früher waren die geopolitischen Bündnisse durch den Ost-West-Konflikt einerseits und den Konflikt zwischen
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China und der Sowjetunion andererseits „festgefahren“ (was beispielsweise in Südasien die Achse Indien-Russland versus USA-Pakistan-China erklärt), heute sind sie fließender und ungewisser geworden. Lateinamerikanische Regimes haben eine Zeitlang versucht, den Zugriff Washingtons zu lockern. Die innerimperialistischen Rivalitäten nähren eine neue Spirale des Wettrüstens, selbst mit Atomwaffen, die Länder wie die Vereinigten Staaten und Frankreich zu „modernisieren“, d.h. im Rahmen lokaler Konflikte einsatzfähig und politisch akzeptabel zu machen versuchen. Der Aufschwung arabischer Revolutionen und die anschließende Brutalität der Konterrevolution in vielen Ländern dieser Region haben dazu beigetragen, dass in einem weiten Gebiet, das vom Nahen Osten bis in die Sahelzone und darüber hinaus in einen Teil Afrikas südlich des Sahel führt, eine unkontrollierbare Lage entstanden ist. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR verhielten sich die Bourgeoisien und die (traditionellen) imperialistischen Staaten in einer ersten Phase sehr offensiv, mit der Durchdringung der Märkte im Osten, der Intervention in Afghanistan (2001) und im Irak (2003) … Seither verzettelten sie sich militärisch und es kamen die Finanzkrise, der Aufstieg neuer Mächte, die arabischen Revolutionen … was alles zu einem Verlust an geopolitischer Initiative und Kontrolle führte: Washington reagiert heute eher auf dringliche Situationen, als zu planen, wie es seine Ordnung durchsetzen kann. Vor diesem Hintergrund erhalten die Subimperialismen und regionalen Mächte wie die Türkei, der Iran, Saudi-Arabien, Israel, Ägypten, Algerien … Südafrika, Brasilien, Indien, Südkorea erhebliches Gewicht. Obwohl sie im weltweiten Herrschaftssystem unter US-Hegemonie eine untergeordnete Rolle spielen, treiben sie zusätzlich zu ihrer Rolle als regionale Gendarmen (wie Brasilien in Haiti) auch ihr eigenes Spiel Eine der durch die Entwicklung der internationalen Lage aufgeworfene Frage ist, wie die Wende nach 1989 (erobernde Imperialismen) mit der Mitte der 2000er-Jahre einsetzenden Wende (geopolitische Instabilität) zusammenhängt. In dieser Hinsicht bedeutete die Finanzkrise 2007/08 einen klaren Wendepunkt. Sie legte die der kapitalistischen Globalisierung innewohnenden Widersprüche frei und hatte erhebliche Auswirkungen auf politischer Ebene (Delegitimierung des Herrschaftssystems), auf sozialer Ebene (in den direkt betroffenen Ländern mit ausgesprochener Härte) und strukturell, insbesondere mit der Schul-
THESENÜBERSICHT Einleitung I. Eine neue imperialistische Galaxie II. Eine chronische geopolitische Instabilität III. Globalisierung und Krise der Regierbarkeit IV. Die neuen (Proto-)Imperialismen V. Neue extreme Rechte, neue Faschismen VI. Autoritäre Regime, demokratische und solidarische Erfordernisse VII. Internationalismus gegen Lagerdenken VIII. Kapitalistische Expansion und Klimakrise IX. Eine Welt ständiger Kriege X. Die Grenzen der Supermacht XI. Humanitäre Krise XII. Wachsende Instabilität?
denexplosion. Sie bildet den Hintergrund für die großen Demokratiebewegungen, die einige Jahre später aufkamen (Besetzung von Plätzen), aber auch für reaktionäre, offen antidemokratische Entwicklungen, wie in Thailand die aus den großen Ängsten des Mittelstands genährten Weißhemden. In Verbindung mit der Umweltkrise und den massiven Bevölkerungsbewegungen bringt die strukturelle Instabilität der globalisierten Ordnung neue Formen von Armut hervor, die fortschrittliche Organisationen dazu zwingen, ihre Politik anzupassen. III. Globalisierung und Krise der Regierbarkeit
Die imperialistischen Bourgeoisien gedachten den Zusammenbruch des Sowjetblocks und die Öffnung Chinas zum Kapitalismus zu nutzen, um einen globalen Markt mit einheitlichen Regeln zu schaffen, in dem sie ihr Kapital nach Gutdünken investieren können. Die kapitalistische Globalisierung hatte zwangsläufig tiefgreifende Folgen – die zudem durch Entwicklungen verschärft wurden, die die imperialistischen Bourgeoisien in ihrer Euphorie nicht voraussehen wollten. Tatsächlich bedeutete dieses Projekt Folgendes: Die gewählten Institutionen (Parlamente, Regierungen …) werden ihrer Entscheidungsmacht in grundlegenden Fragen enthoben und dazu gezwungen, Beschlüsse in ihrer Gesetzgebung nachzuvollziehen, die anderenorts getroffen wurden: in der WTO, internationalen Freihandelsabkommen etc. Der klassischen bürgerlichen Demokratie wurde Inprekorr 6/2016 55
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damit der Todesstoß verpasst – auf ideologischer Ebene drückt sich dies in der Bezugnahme auf die „Regierbarkeit“ (Gouvernanz) statt auf die Demokratie aus. Die aus der spezifischen Geschichte der Länder und Regionen hervorgegangenen „geeigneten Formen“ bürgerlicher Herrschaft (historische Kompromisse europäischer Art, Populismus lateinamerikanischer Prägung, staatlicher Dirigismus asiatischer Prägung, Klientelwirtschaft mit Umverteilungsfunktion verschiedener Prägung …) werden im Namen des höher gewichteten Rechts auf „Wettbewerb“ als illegal erklärt. Faktisch errichten alle die ihren Interessen jeweils angepassten Beziehungen zum Weltmarkt, was die freie Entfaltung des imperialistischen Kapitals hemmt. Das gemeine Recht wird dem Recht der Unternehmen untergeordnet, denen der Staat auf Kosten des Rechts der Bevölkerung auf Gesundheit, eine gesunde Umwelt und einen gesicherten Lebensstandard die bei einer Investition erhofften Gewinne zu sichern hat. Das ist einer der Knackpunkte der neuen Freihandelsverträge, die die aus den großen internationalen Institutionen wie WTO, IWF und Weltbank bestehende Struktur ergänzen. Eine endlose Spirale der Zerstörung sozialer Rechte. Die traditionellen imperialistischen Demokratien haben die Schwäche der Arbeiterbewegung und ihre Krise in den Ländern des sogenannten Zentrums wirklich gut eingeschätzt. Unter Berufung auf die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt haben sie sie für eine anhaltende, systematische Offensive genutzt, um die insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpften kollektiven Rechte zu zerstören. Dabei streben sie keinen neuen, ihnen gewogeneren „Sozialvertrag“ an, sondern wollen mit solchen Abkommen generell Schluss machen und sich die potenziell gewinnträchtigen Sektoren des öffentlichen Dienstes, auf die sie bislang keinen Zugriff haben, wie Gesundheitswesen, Bildung, Rentensysteme, Transportwesen etc., unter den Nagel reißen. Eine Veränderung der dem Staat zugewiesenen Rolle und des Verhältnisses zwischen imperialistischem Kapital und Territorium. Von Ausnahmen abgesehen, sind die Regierungen bei bedeutenderen Industrieprojekten oder bei der Entwicklung von sozialen Infrastrukturen (Bildung, Gesundheit …) nicht mehr im Boot. Obwohl sie weiterhin „ihre“ Multis in der Welt unterstützen, fühlen sich Letztere (angesichts ihrer Macht und ihrer Internationalisierung nicht mehr wie in der Vergangenheit von ihren Ursprungsländern abhängig: Das Verhältnis ist so „asymmetrisch“ wie nie zuvor … Die nach wie vor wesentliche 56 Inprekorr 6/2016
Rolle des Staates beschränkt sich darauf, Regeln einzuführen, die die Freizügigkeit des Kapitals zur allgemeinen Regel machen, den gesamten öffentlichen Sektor dem Appetit des Kapitals zu öffnen, zur Zerstörung der sozialen Rechte beizutragen und die eigene Bevölkerung im Zaum zu halten. Wir haben es also mit zwei hierarchischen Systemen zu tun, die die weltweiten Herrschaftsverhältnisse strukturieren. Die, wie in Punkt I erwähnt, bereits komplexe Hierarchie der imperialistischen Staaten und die Hierarchie der bedeutenden Kapitalflüsse, die sich netzartig über die Welt ziehen. Diese beiden Systeme decken sich nicht mehr, auch wenn die Staaten im Dienste der Letztgenannten stehen. Die kapitalistische Globalisierung stellt eine neue weltweite Form der Klassenherrschaft dar, die unabgeschlossen und strukturell instabil ist. Tatsächlich führt sie in zahlreichen Ländern und ganzen Regionen in offene Krisen der Legitimität und der Unregierbarkeit, in einen permanenten Krisenzustand. Die vermeintlichen Zentren globaler Regulierung (WTO, UN-Sicherheitsrat …) sind unfähig, ihre Aufgabe tatsächlich auszuüben. Eine Klasse beherrscht eine Gesellschaft nicht dauerhaft ohne Vermittlung und soziale Kompromisse, ohne sich auf eine wie immer geartete historische, demokratische, soziale oder revolutionäre Legitimität stützen zu können … Im Namen der Freizügigkeit des Kapitals räumen die imperialistischen Bourgeoisien mit Jahrhunderten von „Knowhow“ in diesem Bereich auf, während die Aggressivität der neoliberalen Politiken in immer mehr Ländern den sozialen Zusammenhalt zerstört. Dass in einem westlichen Land wie Griechenland ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang mehr zu Pflege und Gesundheitsdiensten hat, ist bezeichnend für die Kompromisslosigkeit der europäischen Bourgeoisien. Im Zeitalter der Imperien galt es, die Stabilität der kolonialen Besitzungen sowie (wenn auch in geringerem Ausmaß) der Einflusszonen aus der Zeit des Kalten Krieges zu sichern. Was die Gegenwart betrifft, lässt sich sagen, dass es angesichts der Mobilität und der Finanzmarktdominanz vom jeweiligen Ort und Moment abhängt … So können ganze Regionen aufgrund der Auswirkungen der Globalisierung in eine chronische Krise stürzen. Die Umsetzung neoliberaler Diktate durch überholte diktatorische Regimes führte in der arabischen Welt zu Volksaufständen und in Afrika zu breiten Mobilisierungen, offenen Regimekrisen und gewaltsamen konterrevolutionären Gegenschlägen, die zu massiver Instabilität geführt haben.
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Die Besonderheit des globalisierten Kapitalismus ist, dass er sich mit der Krise als permanenten Zustand zu arrangieren scheint. Krisen werden zu einem wesentlichen Bestandteil des normalen Funktionierens des neuen globalen Herrschaftssystems. In diesem Fall muss unsere Vorstellung von „der Krise“ als besonderem Moment in einer langen Phase der „Normalität“ tiefgreifend überholt
Lässt sich China als neuer Imperialismus charakterisieren? Natürlich muss man präzisieren, was man im gegenwärtigen globalen Kontext, der das Thema des vorliegenden Textes ist, unter diesem Begriff versteht. Doch nachdem China zur zweitgrößten Weltmacht aufgestiegen ist, scheint es immer schwieriger, ihm diesen Status abzusprechen, wie fragil auch immer das aktuelle Regime
Dass in einem westlichen Land wie Griechenland ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang mehr zu Pflege und Gesundheitsdiensten hat, ist bezeichnend für die Kompromisslosigkeit der europäischen Bourgeoisien.“ werden – die ganze Tragweite davon können wir noch nicht beurteilen und müssen sie auch noch nicht voll tragen. IV. Die neuen (Proto-)Imperialismen
Nach 1991 gingen die traditionellen imperialistischen Bourgeoisien davon aus, sie könnten die Märkte der ehemaligen sogenannt „sozialistischen“ Länder so weit durchdringen, bis diese natürlich untergeordnet wären – und fragten sich sogar, ob die NATO gegenüber Russland noch eine Funktion habe. Diese Annahme war nicht aus der Luft gegriffen, wie die Lage Chinas zu Beginn des Jahrtausends und die (dem internationalen Kapital sehr gewogenen) Beitrittsbedingungen dieser Länder zur WTO zeigen. Doch die Dinge haben sich anders entwickelt – was von den etablierten Mächten offenbar ursprünglich nicht ernsthaft in Erwägung gezogen worden war. In China entstand eine neue Bourgeoisie innerhalb des Landes und der Partei, vor allem durch „Verbürgerlichung“ der Bürokratie, die sich über mittlerweile wohl bekannte Mechanismen selbst in eine besitzende Klasse verwandelte. Sie bildete sich also auf einer unabhängigen Grundlage (Erbe der maoistischen Revolution) und nicht als eine von Vornherein dem Imperialismus organisch untergeordnete Bourgeoisie erneut heraus. China wurde damit zu einer kapitalistischen Macht und gleichzeitig ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats mit Vetorecht (dasselbe gilt für Russland), auch wenn es weiterhin eine aus der ganz besonderen eigenen Geschichte übernommene Sozialstruktur aufweist.
und seine Wirtschaft sein mögen. Für viele Mitglieder der Linksopposition gegen das russische Regime gilt in Bezug auf Russland dasselbe, obwohl es ökonomisch stark von seinen Rohstoffexporten (worunter die Erdölprodukte 2/3 ausmachen) abhängig bleibt. Kann man in letzterem Fall von einem „schwachen Imperialismus“ oder einer geringen Fähigkeit sprechen, eine imperialistische Wirtschaftspolitik zu entfalten? Die BRICS-Länder haben mit mäßigem Erfolg versucht, gemeinsam auf dem Weltmarkt aufzutreten. Nicht alle Länder dieses schwachen „Blocks“ spielen in derselben Liga. Brasilien, Indien, Südafrika können vermutlich als Subimperialismen charakterisiert werden – ein Begriff, der auf die 1970er-Jahre zurückgeht – und als regionale Polizisten, wenn auch mit einem erwähnenswerten Unterschied in Bezug auf die Vergangenheit: Sie profitieren von einer wesentlich größeren Freiheit des Kapitalexports (siehe das in Afrika eröffnete „große Spiel“, in dem die Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Indien, Brasilien, Südafrika, China, Katar, Türkei, Nigeria und Angola in Konkurrenz zueinander stehen). Drei erste Schlussfolgerungen:
1 In dem Maß, wie vor allem China, aber auch Russland in Osteuropa und im Nahen Osten ihre Stellung behaupten, belebt sich der Wettbewerb zwischen kapitalistischen Mächten. Dabei handelt es sich tatsächlich um Konflikte zwischen kapitalistischen Mächten, d.h. um etwas qualitativ anderes als in früheren Phasen. Inprekorr 6/2016 57
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2 Allgemeiner gesprochen können (sogar untergeordnete) Bourgeoisien und die Multis des „Südens“ in Sachen Kapitalfreizügigkeit die nach 1991 von den traditionellen imperialistischen Bourgeoisien aus Eigeninteresse entworfenen Regeln insbesondere für Investitionen nutzen, was den weltweiten Wettbewerb gegenüber früher komplexer macht. Was die Warenströme betrifft, geht die allgemeine In-Konkurrenz-Setzung der ArbeitnehmerInnen zwar weiterhin von den Unternehmen der traditionellen imperialistischen Zentren aus, die den Zugang zu den Verbrauchermärkten der industrialisierten Länder kontrollieren, und nicht von den Firmen in den produzierenden Ländern; für China, aber auch Indien und Brasilien gilt dies heute allerdings weniger. 3 Es gibt nicht nur eine Legitimitätskrise der herrschenden Klassen, sondern auch eine ideologische Krise. Sie zeigt sich im Ausmaß der institutionellen Krise, in der sich die „schlechten“ KandidatInnen gegenüber dem und gegen das Establishment durchsetzen und Wahlen an sich nach Ansicht eines wachsenden Teils der Bevölkerung jede Glaubwürdigkeit einbüßen. Aus Unfähigkeit, darauf zu reagieren, werden sie immer mehr auf das Prinzip „teile und herrsche“, auf Rassismus, Islamfeindlichkeit und Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und Stigmatisierungen setzen, sei dies gegen KoreanerInnen in Japan oder AfroamerikanerInnen in den USA und Brasilien, MuslimInnen in Indien, SchiitInnen, SunnitInnen oder ChristInnen in muslimischen Ländern. Der Kampf gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit ist mehr denn je ein wesentlicher Teil des Widerstands auf internationaler Ebene. Dasselbe gilt für andere Formen der (sexistischen, sozialen …) Diskriminierung. V. Neue extreme Rechte, neue Faschismen
Eine erste Folge der ungeheuer destabilisierenden Macht der kapitalistischen Globalisierung ist der ebenso spektakuläre Aufstieg neuer rechtsextremer Strömungen und Faschismen mit (potenzieller) Massenbasis. Manche geben sich relativ klassisch fremdenfeindlich, wie die Goldene Morgenröte in Griechenland, oder sie richten sich in neuer Fremdenfeindlichkeit und Isolationismus/Abschottung ein. Andere entstehen in der Gestalt religiöser oder nationalreligiöser Fundamentalismen, und zwar in allen „großen“ Religionen (Christentum, Buddhismus, Hinduismus, Islam … bzw. extrem rechter Zionismus) … Diese Strömungen stellen heute in Ländern wie Indien, Sri Lanka, Israel eine erhebliche Bedrohung dar und konnten in so wichtigen Ländern wie den USA (unter Bush) Ein58 Inprekorr 6/2016
fluss auf die Regierungspolitik nehmen. Die muslimische Welt stellt hier keinen Sonderfall dar; doch dort hat diese Entwicklung international ein besonderes Gewicht erhalten, mit „grenzüberschreitenden“ Bewegungen wie dem Islamischen Staat oder den Taliban (siehe die Situation in Pakistan), Netzwerken, die von Marokko bis Indonesien und den südlichen Philippinen mehr oder weniger formal miteinander in Kontakt stehen. Allgemein müssen die neuen rechten Strömungen – ob religiös oder nicht – genauer analysiert werden. Denn dabei handelt es sich nicht um simple Neuaufgüsse von etwas Vergangenem, sondern um Ausdrucksformen der Gegenwart! Das gilt insbesondere für die fundamentalistischen religiösen Strömungen. Um zu verstehen, welche Rolle sie spielen, müssen sie politisch charakterisiert werden (es sei daran erinnert, dass vor nicht allzu langer Zeit ein nicht unerheblicher Teil der internationalen radikalen Linken in ihnen den Ausdruck eines „objektiv“ fortschrittlichen, wenn auch ideologisch reaktionären Antiimperialismus sah). Dies ist auch nötig, um „essentialistische“ Interpretationen eines „Kampfs der Kulturen“ zu bekämpfen. Es handelt sich um extrem rechte, konterrevolutionäre Strömungen. Sie haben dazu beigetragen, die Dynamik der im „arabischen Frühling“ entstandenen Volksrevolutionen zu beeinträchtigen. Sie haben weder ein Monopol auf Gewalt (siehe das Assad-Regime!) noch auf „Barbarei“ (die imperialistische Ordnung ist „barbarisch“), üben aber über die Gesellschaft eine Kontrolle und einen „von unten kommenden“ Terror aus, die in vielerlei Hinsicht an die Faschismen der Zwischenkriegszeit erinnern, bevor diese an die Macht kamen. Wie alle politischen Begriffe ist der Faschismusbegriff oft abgedroschen oder wird unterschiedlich interpretiert. Doch auch unsere eigenen Organisationen diskutieren neben der Frage des Islamischen Staates die Entwicklung fundamentalistischer und rechtsextrem-nationalistischer Strömungen, ob sie nun als faschistisch bezeichnet werden können oder nicht, beispielsweise in Pakistan (TalibanBewegung) oder Indien (RSS [hindu-nationalistische, radikal-hinduistische Organisation, Anm. d. Red.]). „Theofaschismus“ könnte unabhängig von der jeweiligen Religion ein Überbegriff für diese Art von Strömungen sein. Wie auch immer sich diese neuen rechtsextremen Kräfte charakterisieren lassen, ihre zunehmende Bedeutung stellt unsere Generation an AktivistInnen vor die bislang unbekannte politische Aufgabe des Auf baus eines „antifaschistischen“ Widerstands im großen Maßstab. Daran muss
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gearbeitet werden, und dafür müssen wir die Analysen wie auch die nationalen und regionalen Erfahrungen kollektivieren. Allgemeiner gesagt, gibt die erneut aufkommende radikale Rechte einem sehr gefährlichen reaktionären Aufschwung Nahrung, die vor allem grundlegende Rechte der Frauen und LGBT* infrage stellen wollen, wofür sie
vorherrschende Reaktion auf diese schwindende Legitimität besteht darin, plötzlich oder schleichend autoritäre Regimes einzuführen, die sich der Souveränität des Volks entziehen (als Ausnahme, die die Regel bestätigt, waren manchmal auch ehemalige Militärdiktaturen, beispielsweise in Birma, gezwungen, einen Teil ihrer Macht abzutreten oder zu teilen). Im Namen von Abkommen oder
Die vorherrschende Reaktion auf diese schwindende Legitimität besteht darin, plötzlich oder schleichend autoritäre Regimes einzuführen, die sich der Souveränität des Volks entziehen.“ sich in der Frage der Abtreibung (Spanien, wo ein skandalöser Gesetzesentwurf für das Verbot des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs verhindert werden konnte) und des Familienrechts (Werbung für die Rückkehr zu einem sehr konservativen Bild der Rolle der Frau …) auf institutionelle Kirchen stützen können, oder sogar eine regelrechte Hexenjagd auf Homosexuelle (Iran, afrikanische Länder, in denen evangelikale Strömungen großen Einfluss haben …) oder Transsexuelle betreiben. Die Reaktion greift also das Recht auf Selbstbestimmung von Frauen und von Menschen (Anerkennung der Vielfalt der sexuellen Orientierung) frontal an – mithin Rechte, die in langen Kämpfen errungen wurden. Dieser Aufstieg reaktionärer rechter Bewegungen wird durch die heute von den bürgerlichen Regierungen im Namen des Kampfs gegen den Terrorismus oder die „illegale“ Immigration betriebene Ideologie der nationalen Sicherheit begünstigt. Die genannten Regierungen nutzen die so genährten Ängste wiederum, um das Strafrecht zu verschärfen, zunehmend Polizeiregimes einzurichten und freiheitsfeindliche Maßnahmen durchzudrücken: ganze Bevölkerungen werden als „verdächtig“ behandelt und unter Überwachung gestellt. VI. Autoritäre Regimes, demokratische und solidarische Erfordernisse
Die kapitalistische Globalisierung hat die sogenannt demokratischen Institutionen, wo es diese gab, und den bürgerlichen Parlamentarismus in eine Krise gestürzt. Die
Regulierungen sprechen Regierungen ihren Bevölkerungen das Entscheidungsrecht ab. Das demokratische Gebot – „echte Demokratie jetzt!“ – erhält damit eine subversivere Dimension, die im Vergleich zur Vergangenheit unmittelbarer ist und erlaubt, damit einen alternativen, populären Inhalt zu transportieren. Ebenso können sich dank der Universalität der neoliberalen Politik und der damit einhergehenden Vermarktung von Gemeingütern als Waren soziale Widerstandsbewegungen einander annähern, wie dies im Rahmen der globalisierungskritischen Bewegung geschehen ist. Die schon heute spürbaren Folgen des Klimawandels bieten ebenfalls ein neues Feld von potenziell antikapitalistischer Annäherung. Die dauerhaften Folgen der Niederlagen der Arbeiterbewegung, die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus sowie der Verlust der Glaubwürdigkeit sozialistischer Alternativen untergraben jedoch diese positiven Tendenzen. Es ist schwierig, die oft beträchtlichen Erfolge der Protestbewegungen auf Dauer zu sichern. Die Heftigkeit der Unterdrückung kann in diesem Umfeld den auf Abschottung setzenden „geschlossenen“ Widerstand unterdrückter Gemeinschaften verstärken, sodass sie sich gegenüber der Unterdrückung anderer Gemeinschaften gleichgültig verhalten (wie im Fall des „Homonationalismus“). Die religiöse Aufladung vieler Konflikte trägt auch zur Spaltung von Ausgebeuteten und Unterdrückten bei. Die neoliberale Ordnung kann sich nur durchsetzen, wenn sie die bestehenden Solidaritäten zerstören und das Inprekorr 6/2016 59
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Aufkommen neuer Solidaritäten verhindern kann. So nötig Solidarität ist, so wenig können wir davon ausgehen, dass in Reaktion auf die Krise „natürlich“ neue Solidaritäten entstehen, genauso wenig, wie sich der Internationalismus angesichts des globalisierten Kapitals von selbst entwickelt. Dafür bedarf es der Zustimmung zu systematischen gemeinschaftlichen Bemühungen. VII. Internationalismus gegen Lagerdenken
Es gibt keine „nicht-“ oder „anti-“kapitalistische Großmacht mehr (eine Kategorie, zu der Kuba nicht zählt). Die Schlussfolgerungen daraus sind in aller Konsequenz zu ziehen. Obwohl wir uns nie an der chinesischen Diplomatie orientiert haben, hatten wir in der Vergangenheit die Volksrepublik (und die Dynamik der Revolution) gegen das japanisch-amerikanische Bündnis verteidigt – in diesem Sinn standen wir in diesem Lager. Unabhängig von unserer Haltung zum stalinistischen Regime haben wir uns gegen die NATO gestellt; dennoch vertraten wir kein „Lagerdenken“, denn dies hinderte uns nicht an unserem Kampf gegen die stalinistische Bürokratie. Wir agierten einfach in einer Welt, in der die Konfliktlinien Revolution/Konterrevolution, Ostblock/Westblock und China/Sowjetunion miteinander verzahnt waren. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Die Logik des „Lagerdenkens“ hatte schon immer zur Folge, die Opfer (die auf der falschen Seite standen) im Namen des Kampfs gegen den „Hauptfeind“ im Stich zu lassen. Heute gilt dies noch mehr als früher, denn es führt dazu, sich dem Lager einer kapitalistischen Macht (Russland, China) anzuschließen oder im Gegenteil dem westlichen Lager, wenn Moskau oder Peking als Hauptbedrohung angesehen werden. Damit nährt man aggressive Nationalismen und heiligt Grenzen, die aus der Zeit der Blöcke übernommen wurden, wo wir diese doch gerade auflösen sollten. Das Lagerdenken kann uns dazu verleihen, in Syrien das mörderische Assad-Regime und die russische Intervention zu unterstützen – oder das Bündnis unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten, an dem insbesondere auch Saudi-Arabien teilnimmt. Andere Strömungen begnügen sich damit, die imperialistische Intervention im Irak oder in Syrien zu verurteilen (was korrekt ist), ohne aber zu sagen, was der Islamische Staat ist und tut und ohne zum Widerstand gegen diesen aufzurufen. Diese Art von Position verhindert, dass die Gesamtheit der Aufgaben klar benannt wird, die sich der Solidarität 60 Inprekorr 6/2016
stellen. Es genügt nicht, an die historische Verantwortung der Imperialismen, die Intervention von 2003 oder die uneingestandenen Ziele der aktuellen Intervention zu erinnern. Die konkreten Aufgaben der Solidarität müssen vom Standpunkt der (humanitären, politischen und materiellen) Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerungen und der Widerstandsbewegungen aus gedacht werden. Was nicht möglich ist, ohne das Assad-Regime und die konterrevolutionären fundamentalistischen Bewegungen anzugreifen. Dasselbe gilt für Grenzstreitigkeiten, die gegenwärtig Osteuropa spalten, wie im Fall der Ukraine. Unsere Ausrichtung war, uns in allen Ländern in und außerhalb der EU für ein Europa einzusetzen, das auf dem freien Zusammenschluss souveräner Völker gegen alle (nationalen, sozialen …) Herrschaftsverhältnisse beruht – unser Verständnis von Sozialismus. VIII. Kapitalistische Expansion und Klimakrise
Mit der Wiedereingliederung des chinesisch-sowjetischen Blocks in den Weltmarkt hat sich der geografische Raum, in dem das Kapital dominiert, enorm erweitert. Darauf stützt sich der Optimismus der imperialistischen Bourgeoisien. Darauf stützt sich aber auch eine in vielfältiger Weise dramatische Beschleunigung der weltweiten Umweltkrise. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo in den großen Ländern des Südens mit hohem Ausstoß die Treibhausgasemissionen ebenfalls unverzüglich gesenkt werden müssen und nicht nur im Norden. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die Begleichung der „ökologischen Schuld“ an den Süden nicht die globale kapitalistische Entwicklung fördert und weder japanisch-westlichen Multis mit Standorten im Süden noch den Multis des Südens (vom Typ der brasilianischen Agroindustrie etc.) zugutekommt, denn das würde sozialen und Umweltkrisen nur noch mehr Vorschub leisten. Selbstverständlich besteht nach wie vor Bedarf an Solidarität zwischen „Norden und Süden“, beispielsweise in der Verteidigung der Opfer von Klimachaos. Doch mehr denn je steht im „Nord-Süd“-Verhältnis aus Sicht der Arbeiterklassen ein gemeinsamer „antisystemischer“ Kampf an: das heißt ein gemeinsamer Kampf für eine antikapitalistische Alternative, eine andere Vorstellung von Entwicklung im „Norden“ wie im „Süden“ (die Anführungszeichen sollen daran erinnern, dass „Norden“ und „Süden“ heute so heterogen sind, dass die Begriffe auch in die Irre führen können). Der Ausgangspunkt muss der ökosoziale Kampf für „eine Veränderung des Systems und nicht des Klimas“ sein;
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seine Basis sind die sozialen Bewegungen und nicht einfach spezifische Klimabündnisse. Also muss auf eine Verbindung zwischen beiden hingearbeitet werden. Wenn man dem sozialen Kampf keine ökologische Dimension verleiht (gemäß dem, was in Bauern- oder Stadtkämpfen teilweise bereits passiert), wird die zahlenmäßige Ausbreitung von „Klima“Mobilisierungen an der Oberfläche der Dinge verharren.
mehr an, wird auch der Meeresspiegel wesentlich mehr ansteigen. Die besiedelten Küstenregionen auf der ganzen Welt sind bedroht, ebenso wie Inselbevölkerungen oder sehr flache Länder und Regionen. Mehr als 50% von Bangladesch sind direkt bedroht. Dazu kommt heute eine weitere neue Dimension: Die ausgedehnte Eiskappe der westlichen Antarktis weist Anzei-
Wenn man dem sozialen Kampf keine ökologische Dimension verleiht, wird die zahlenmäßige Ausbreitung von „Klima“-Mobilisierungen an der Oberfläche der Dinge verharren.“ Die Folgen des Klimachaos sind bereits spürbar und die Organisierung der Opfer, ihre Verteidigung und die Hilfe für ihre Selbstorganisation sind bereits Teil der Grundlage des ökologischen Kampfs. Die Folgen eines auf fossile Brennstoffe gestützten globalen Energiesystems liegen heute deutlich auf der Hand. Angesichts der weltweiten Klimaerwärmung schmelzen die Polkappen, steigt der Meeresspiegel, breiten sich die Wüsten aus, wird Wasser knapper, ist die Landwirtschaft bedroht und werden extreme Klimaphänomene häufiger. Die Folgen des Taifuns Haiyan auf den Philippinen übersteigen im Ausmaß das, worauf man bereits vorbereitet war. Die vorausgesagte Zukunft ist bereits eingetreten. Das hat destabilisierende Folgen, die weit über die direkt betroffenen Gebiete hinausreichen und in Kettenreaktionen Spannungen erzeugen (siehe die Flüchtlinge aus Bangladesch und die Konflikte mit Indien in der Migrantenfrage). Die Fachwelt ist sich einig darüber, dass eine durchschnittliche Erhöhung der Erdtemperatur von 2° gegenüber dem Stand vor der Industrialisierung Klimafolgen auslösen wird, die, wenn sie einmal eingetreten sind, nicht mehr aufhaltbar sind. Damit stellt sich eine Reihe von noch völlig ungelösten schwierigen Fragen. Das Abschmelzen der Gletscher und der Eiskappe könnte eine katastrophale Erhöhung des Meeresspiegels nach sich ziehen. Selbst wenn die Erhöhung der Temperatur auf 2° stabilisiert werden kann, wird bis Ende des Jahrhunderts der Meeresspiegel vermutlich um 0,6 bis 2 Metern angestiegen sein. Steigen die Temperaturen noch
chen von Destabilisierung auf, und ihr Abschmelzen könnte zum Anstieg des Meeresspiegels um 7 Meter führen. Es lässt sich vorhersehen, dass die Temperaturerhöhung der Erdoberfläche verheerende Folgen für die Trinkwasserreserven haben wird, mit einer Zunahme von Dürren und Hitzewellen. Die Gletscher schwinden mit beispielloser Geschwindigkeit und die Grundwasser trocknen aus. Die Flüsse verlieren ihre Kapazität. Mehr als die Hälfte des weltweiten Trinkwassers kommt aus den Bergen (Rieseln, Gletscherschmelze). Die Kriege um die Kontrolle von Wasservorräten werden deutlich häufiger werden. Wie soll die Weltbevölkerung ernährt werden, ohne vermehrt auf (agro-)industrielle Landwirtschaftsbetriebe und den steigenden Einsatz von Pestiziden, Herbiziden und GVO zu setzen, die die Biosphäre zerstören? Im Süden ist die zentrale Frage die der Nahrungssouveränität, die den Völkern das Recht und die Mittel gibt, das ihnen adäquate Nahrungssystem selbst zu definieren. Sie gibt die Macht eher in die Hände von ProduzentInnen, VerteilerInnen und KonsumentInnen statt in jene der Großunternehmen und der Marktinstitutionen, die heute diesen Sektor dominieren. Sie erlaubt es, den Landraub zu stoppen, und erfordert eine umfassende Landwirtschaftsreform, um den ProduzentInnen die Böden zurückzugeben. Der zerstörerischste Einzelaspekt der Umweltkrise ist vielleicht der Einfluss, den sie auf die Artenvielfalt hat – man spricht immer häufiger vom „sechsten Artensterben“. Eine Erhöhung der Erdtemperatur von rund 3 °C würde beispielsweise bedeuten, dass die Hälfte aller Arten zum Inprekorr 6/2016 61
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Aussterben verurteilt wäre. Ein Viertel aller Säugetiere ist bedroht. Die laufende Übersäuerung der Weltmeere würde den Tod von Korallenriffen sowie von Organismen bedeuten, die von der Verkalkung ihrer Schalen abhängen. Die Zukunft unserer Spezies kann nicht losgelöst von dieser Krise der Artenvielfalt gesehen werden. IX. Eine Welt permanenter Kriege
Vermutlich steuern wir nicht auf einen dritten Weltkrieg nach dem Muster des Ersten oder Zweiten Weltkriegs zu, denn einen Konflikt um die territoriale Aufteilung der Welt im selben Sinn wie früher gibt es heute nicht. Doch die Kriegsfaktoren reichen tief und sind vielfältig: neue Konflikte zwischen Großmächten, Konkurrenzen auf dem Weltmarkt, Zugang zu Ressourcen, Zerfall von Gesellschaften, Aufstieg neuer Faschismen, die der Kontrolle ihrer Schöpfer entgleiten, Kettenreaktionen im Klimachaos und umfassende humanitäre Krisen … Wir stecken mittendrin in einer Welt permanenter Kriege (im Plural). Jeder Krieg muss in seinen Besonderheiten analysiert werden. Wir sind mit sehr komplexen Situation konfrontiert, wie heute im Nahen Osten, wo innerhalb eines einzigen Kriegsschauplatzes (Irak-Syrien) Konflikte mit ihrer spezifischen Ausprägung (syrisches Kurdistan, Region von Aleppo etc.) zusammentreffen. Diese permanente Kriegssituation betrifft nicht nur internationale Konflikte. Sie kennzeichnet auch die innere Lage von Ländern Afrikas und Lateinamerikas, etwa Mexiko. Die Kriege herrschen und werden in vielfältiger Gestalt auch weiter herrschen. Wir müssen neu analysieren, wie sie geführt werden, insbesondere wie der Widerstand an der Basis aussieht, um besser die Bedingungen des Kampfes, die Realität jeder Situation, die konkreten Erfordernisse der Solidarität zu verstehen … Wir brauchen aber „stabile Ausgangspunkte“, um in der sehr komplexen geopolitischen Lage nicht die Orientierung zu verlieren: Klassenunabhängigkeit gegenüber den Imperialismen, den Militarismen, den Faschismen und dem Aufkommen von „antisolidarischen“ (rassistischen, islamfeindlichen und antisemitischen, ausländerfeindlichen, kastenspezifischen, fundamentalistischen, homophoben, frauenfeindlichen, maskulinistischen …) identitätsbetonten Bewegungen.
gleicher zu sein als andere; die Vereinigten Staaten erlauben sich Dinge, die sie bei anderen nicht durchgehen lassen. Sie setzen auf die Bedeutung des Dollars, um ihr „Recht“ auf Strafverfolgung zu „exportieren“; sie kontrollieren über weite Strecken die fortschrittlichsten Technologien und befehligen eine unvergleichbare Militärmacht. Ihr Staat bewahrt globale Regulierungsfunktionen, die andere nicht haben – oder für die anderen die Mittel fehlen. Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor die einzige Supermacht weltweit – und trotzdem verlieren sie alle Kriege, die sie angezettelt haben, von Afghanistan bis Somalia. Die Schuld daran liegt vielleicht in der neoliberalen Globalisierung, die verhindert, dass sie vorübergehende militärische Erfolge (im Bündnis mit den lokalen Eliten) gesellschaftlich konsolidieren können. Es ist vielleicht auch eine Folge der Privatisierung von Armeen, da Söldnerfirmen ebenso wie „nicht offizielle“ bewaffnete Truppen im Dienst von Sonderinteressen (Großunternehmen, bedeutenden Besitzerfamilien …) eine wachsende Rolle spielen. Es liegt aber auch daran, dass dieses Macht, so vorherrschend sie auch sein mag, nicht über die Mittel verfügt, rundum unter strukturell instabilen Bedingungen zu intervenieren. Sie bräuchte nachgeordnete imperialistische Mächte, die sie unterstützen könnten. Frankreich und Großbritannien verfügen nur noch über sehr begrenzte Kapazitäten; Japan muss erst den zivilen Widerstand gegen seine vollständige Remilitarisierung überwinden. Der Brexit versetzt der Herausbildung eines vereinten europäischen Imperialismus den Gnadenstoß: Großbritannien befehligt eine der zwei einzigen einsatzfähigen Armeen der Union, eines der wichtigsten diplomatischen und finanziellen Netzwerke und eine der wichtigsten Ökonomien des Subkontinents. Wer von Kriegen spricht, muss auch von der Antikriegsbewegung sprechen. Da sich die Kriege stark voneinander unterscheiden, entstehen sich gegenseitig unterstützende Antikriegsbewegungen nicht von selbst. Aus der Perspektive (west-)europäischer AktivistInnen besteht in dieser Frage Anlass zu Pessimismus, da das „Lagerdenken“ die wichtigsten auf diesem Gebiet entstandenen Kampagnen zersetzt und handlungsunfähig gemacht hat. Dennoch gibt es Antikriegsbewegungen, insbesondere in Asien – und in Eurasien wird die Überwindung der aus der Ära der Blöcke übernommenen Grenzen insbesondere entlang dieser Frage erfolgen. XI. Humanitäre Krise
X. Die Grenzen der Großmacht
Die einheitlichen Regeln der globalisierten kapitalistischen Weltordnung hindern gewisse Länder nicht daran, 62 Inprekorr 6/2016
Neoliberale Politik, Kriege, Klimachaos, wirtschaftliche Verwerfungen, sozialer Zerfall, zügellose Gewalt, Pogrome, Zusammenbrüche von Sozialversicherungssystemen, verheeren-
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de Epidemien, Versklavung von Frauen, Zwangsmigration: langsam verdurstende Kinder, die mitten in der Sahelzone mit ihren Eltern im Stich gelassen wurden … Der triumphierende ungezügelte Kapitalismus gebiert eine Welt, in der sich humanitäre Krisen häufen und ein Ausmaß an Leid hervorbringen, das für alle, die es nicht selbst erleben, unvorstellbar ist – und unbeschreiblich für die, die es erlebt haben.
Anstatt angesichts dieser Dringlichkeiten das Völkerrecht zu stärken, wird es von den Nationalstaaten mit Füssen getreten. Die Europäische Union gibt nicht einmal mehr vor, in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen das Völkerrecht einzuhalten. Davon zeugt das ruchlose Abkommen, das mit der Türkei ausgehandelt wurde. Dasselbe gilt für das Schicksal der Rohingya in Südostasien.
Nach einer Phase, in der der Begriff des Internationalismus an sich oft verunglimpft wurde, ist er mit der Welle der Globalisierungskritik wieder zu seinem Recht gekommen. Der Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung trifft mit voller Wucht auf Staaten oder Länder wie Pakistan (das im Besitz von Atomwaffen ist) oder Mexiko, wo die Mafias gemeinsam mit der politischen Klasse ihre Herrschaft mittels Terror durchsetzen – weshalb von gescheiterten, mafiösen Staaten und Drogenterrorismus gesprochen wird.
Auf diese moderne Barbarei muss mit einer Ausweitung des internationalistischen Aktionsfeldes geantwortet werden. LinksaktivistInnen und soziale Bewegungen müssen insbesondere sicherstellen, dass sich eine Solidarität „von Volk zu Volk“ zwischen den Opfern der humanitären Krise entwickeln kann.
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Nach einer Phase, in der der Begriff des Internationalismus an sich oft verunglimpft wurde, ist er mit der Welle der Globalisierungskritik und der Zunahme von „Besetzungen“ von Plätzen und Stadtteilen wieder zu seinem Recht gekommen. Der wiederbelebte Internationalismus muss nun dauerhaftere Formen auf allen Ebenen des Widerstands finden. XII. Wachsende Instabilität?
[Dieser Abschnitt muss je nach der Entwicklung der Lage, dem Austausch und dem Fortschritt anderer Dokumente (insbesondere in Bezug auf den letzten Absatz) nochmals überarbeitet werden.] Im aktuellen Kontext ist es ziemlich müßig, die Zukunft voraussagen zu wollen. Die Instabilität wird jedoch eher zu- als abnehmen und es wird in zahlreichen Ländern und Regionen zu bedeutenden „Wendepunkten“ kommen. Zu erwähnen sind insbesondere folgende Faktoren: In Lateinamerika kommt ein Zyklus zum Abschluss, jener der „fortschrittlichen Regierungen“, die sich von Washington abgesetzt haben. Das Auslaufen dieses Zyklus äußert sich in offenen Krisen in Venezuela und Brasilien. In Europa haben der Zustrom an Flüchtlingen 2015, die politische Entwicklung in Ländern wie Ungarn und der Sieg des Brexit in Großbritannien eine tiefe Gespaltenheit und zentrifugale Kräfte innerhalb der EU offengelegt. Das Projekt der europäischen Integration ist ein Misserfolg. Weiter im Osten kann Putin mit seiner Kriegspolitik die Schwere der wirtschaftlichen Krise und die Abnutzung des Regimes nicht übertünchen. In Ostasien hat die KMT die letzten Wahlen in Taiwan verloren und die neue Regierung bemüht sich um eine gegenüber Peking unabhängigere Politik, sodass zwischen China, Japan und den Vereinigten Staaten besonders heftige Spannungen bestehen. Auf geopolitischer Ebene kann man sagen, dass sich das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und China „vom Wettbewerb in wechselseitiger Abhängigkeit“ zu „wechselseitiger Abhängigkeit in Konfrontation“ entwickelt. In Indien greift der Hindu-Nationalismus (BJP-RSS) die laizistischen Grundlagen des Staates selbst an. Im Nahen Osten hat die massive tödliche Intervention Russlands die Ausgangslage verändert und das Assad-Regime gestärkt. Der US-amerikanische Imperialismus hat die sehr begrenzte Militärhilfe, die der nicht fundamentalistischen arabischen Opposition zugesprochen wurde, eingestellt. Die westlichen Medien präsentieren unterdessen die militärischen Rückeroberungen durch das Bündnis 64 Inprekorr 6/2016
Russland-Assad als „Befreiung“ einer Stadt oder eines Gebiets. Dabei zeigten wichtige Mobilisierungen an der Basis, dass der Widerstand gegen die Diktatur Assads nach wie vor lebt und unsere Unterstützung verdient. Was die Weltwirtschaft betrifft, stellen sich verschiedene Fragen, die unterschiedlich zu beantworten sind. Eine neue Finanzkrise droht, ohne dass man weiß, was der Auslöser und was die Folgen sein werden. Befinden wir uns in einer Phase langer Stagnation? Werden die technologischen Innovationen in Verbindung mit der Informatik spürbare Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität haben oder nicht? In einem besteht jedoch Gewissheit: Die Prekarisierung der Arbeit und der Zerfall des sozialen Gefüges werden weitergehen. Der globalisierte Kapitalismus führt einen globalisierten Sozialkrieg. Die Ablehnung der neoliberalen Ordnung und der Widerstand gegen diesen Klassenkrieg äußern sich in vielfältiger Form, selbst in den hochindustrialisierten kapitalistischen Ländern wie den Vereinigten Staaten (hinter Sanders), Großbritannien (hinter Corbyn), Spanien (Krise des Zweiparteiensystems und Podemos) oder Frankreich (Bewegung gegen die Zerschlagung des Arbeitsrechts). Die Frage des Zusammenlaufens der Kämpfe innerhalb jedes Landes und auf internationaler Ebene erweist sich heute als wichtiger denn je. Übersetzung: Tigrib