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Bernhard Schäfers
03710 Einführung in die Soziologie: Felder des Sozialen, Sozialstruktur und Theorien
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I Entwicklung der Soziologie
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Eigenständige Theorien als Basis
2.1
Amerika als Vorreiter
Die Etablierung der Soziologie erstreckte sich über einen Zeitraum von etwa einhundert Jahren. Wichtige Voraussetzung wurde bereits genannt: Die Entwicklung eines Gegenstandsbereichs, der nicht mehr durch bereits etablierte Wissenschaften abgedeckt wurde; die zunehmende Dominanz des Sozialen und des Gesellschaftlichen als eine bewusst wahrgenommene, eigene Sphäre. Entwicklungszentren der neuen Wissenschaft waren jene Länder und Städte, in denen die Umbrüche zur Industriegesellschaft besonders deutlich waren: England und Frankreich, Deutschland, Österreich und seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vor allem die USA. Dass die USA eine Führungsrolle in der Etablierung der Soziologie übernahmen, ist nicht verwunderlich, weil es in diesem Land der (damals) „unbegrenzten Möglichkeiten“ – auch hinsichtlich des Bevölkerungsund Städtewachstums – kaum Vorbehalte und Eifersüchteleien der etablierten Fachwissenschaften gab. Die wichtigsten Persönlichkeiten der frühen amerikanischen Soziologie, allen voran Albion W. Small (1854-1926), hatten in Europa studiert, Small bei dem Völker- und Kulturpsychologen Wilhelm Wundt (1832-1920) in Leipzig und bei Georg Simmel (1858-1918) in Berlin. Small hatte seit 1892 an der Universität
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Chicago den ersten Lehrstuhl für Soziologie weltweit; er gründete im Jahr 1895 die erste soziologische Fachzeitschrift, das heute noch existierende American Journal of Sociology. Small war Mitbegründer einer der ersten wissenschaftlichen soziologischen Gesellschaften, der American Sociological Society. Seine Schüler trugen zur weiteren empirischen und theoretischen Ausdifferenzierung des Faches bei. In der Chicago School of Sociology wurde ein bis heute wichtiger Ansatz der empirischen (sozialökologischen) Stadtforschung entwickelt (über die Bedeutung dieses Ansatzes, aber auch über Chicago als Zentrum der modernen Stadtentwicklung, vgl. Schäfers 2010: 62 f.). Damit sind jene Elemente genannt, die den Status einer selbstständigen Wissenschaft anzeigen, die sich in Deutschland weder örtlich noch zeitlich so gedrängt aufweisen lassen wie in Chicago.
2.2
Die Entwicklung soziologischer Theorien in der Etablierungsphase
2.2.1
Karl Marx und Friedrich Engels als Gesellschaftswissenschaftler
Am Ende des 19. Jahrhunderts lagen ausdifferenzierte soziologische Theorien vor, die bis heute zum Kanon gehören. Wenn mit Karl Marx und Friedrich Engels begonnen wird, hat das Gründe, die heute weniger bewusst sind als noch vor gut zwanzig Jahren. Bis in die Umbruchsituation um 1989/1990 beriefen sich viele Gesellschaften auf den Marxismus-Leninismus als Grundlagentheorie ihrer Gesellschaftssysteme. Max Weber, in der breiteren Öffentlichkeit wohl der bekannteste Soziologe, schrieb sein Werk nicht zuletzt gegen die zu seiner Zeit wissenschaftlich und praktisch einflussreiche Gesellschaftstheorie von Karl Marx und Friedrich Engels, um die Dominanz ihres ökonomisch-materialistischen Standpunktes zu überwinden. Ist die von Marx und Engels begründete Theorie des Wissenschaftlichen Sozialismus und Historischen Materialismus (Histomat) ein Grund, auf ihr Werk hinzuweisen, so ist ein weiterer von weltgeschichtlichem Rang: Ihre Theorie, ergänzt durch praxisbezogene Theorien und „Anweisungen“ Wladimir I. Lenins (18701924), lieferte die Grundlage für die revolutionäre Umgestaltung zahlreicher Gesellschaften weltweit. Dies konnte nach Marx und Engels nur in den fortgeschrittensten Ländern des Kapitalismus und der „Großen Industrie“ (Marx 1971: 527) erfolgreich sein; zur Umgestaltung feudaler, äußerst rückständiger Herrschafts-, Arbeits- und Lebensverhältnisse, wie in Russland 1917, war sie nicht gedacht. Karl Marx wurde 1818 in Trier, das damals zu Preußen gehörte, geboren, er starb 1883 im Londoner Exil. Die Promotion in Philosophie erfolgte 1841 in Jena; Hoffnungen auf eine akademische Karriere zerschlugen sich schnell. Die preußische Zensurbehörde vertrieb den kritischen Journalisten zunächst nach Paris, von
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dort nach Brüssel. Seit 1849 lebte er in London. Sein Hauptwerk ist „Das Kapital“; der erste Band erschien 1867 in Hamburg, der zweite Band und dritte Band, von Friedrich Engels zum Druck befördert, 1885 und 1894. Friedrich Engels wurde 1820 als Sohn eines Fabrikanten in Barmen (Wuppertal) geboren, er starb 1895 in London. Durch Aufenthalte in Manchester, dem Hauptort der kapitalistischen Expansion und des Manchester-Liberalismus, lernte er das Massenelend kennen. Ab 1845 trat er zu Marx in eine enge freundschaftliche Beziehung und wissenschaftliche Kooperation. Wer die Humboldt-Universität in Berlin betritt, findet im Eingangsbereich eine Erinnerung an Karl Marx, die als Quintessenz seines Werkes gelten kann, die 11. und letzte der Thesen über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.“ (Marx 1971: 341) Den Hebel zur Veränderung der kapitalistischen Arbeits- und Produktionsform sah Marx zunächst darin, die Rechts- und Staatsphilosophie Hegels „vom Kopf auf die Füße zu stellen“ (Marx 1971: 20 ff.); das hieß im Kern: Es ist nicht nur nach den ideellen Bedingungen von Freiheit zu fragen - für den preußischen Staatsphilosophen das Ziel der Weltgeschichte -, sondern nach deren materiellen Voraussetzungen. Hegels und Kants Theorie der bürgerlichen Rechtsgesellschaft war letztlich auf das Bürgertum bezogen, das über Eigentum verfügte. Das Zugeständnis gleicher Rechte für alle blieb in seiner faktischen Wirkung eingeschränkt. Die immer größer werdende unterständische Schicht des „Lumpenproletariats“ (Marx 1971: 536) und der labouring poor im expandierenden Fabriksystem war hiervon nur zu offenkundig ausgenommen. Friedrich Engels’ Werk, „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1964), schilderte drastisch die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Fabrikarbeiter und gab zugleich ein Panorama des unvorstellbaren Wohnungselends der frühen Industriestädte Manchester und London. Der Gedanke, dass diese in die Überzahl geratende proletarische Bevölkerung die Bedingungen ihrer Befreiung und Freiheit selbst diktieren müsse, lag nahe, ebenso die Vorstellung, dass die Verfügung über gesellschaftlich relevantes Produktionseigentum dem einzelnen Kapitalisten (dem Ausbeuter, Expropriateur) zu entziehen sei. Nach Marx und Engels hatte die Kapitalisierung aller Produktionsfaktoren auch zur Folge, dass die menschliche Arbeitskraft zur Ware degradiert wurde. Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848, das sie gemeinsam in Brüssel verfassten, wird die Quintessenz aus diesen Einsichten gezogen: Die Spaltung der Gesellschaft in zwei sich antagonistisch gegenüber stehende Klassen, Bourgeoisie und Proletariat, ist nur auf revolutionärem Wege zu lösen, durch Expropriation der Expropriateure.
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Das Manifest fasziniert nicht nur sprachlich und theoretisch. Im Jahr 1998, 150 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, wurde es als ein frühes und hellsichtiges Dokument der weltweiten kapitalistischen Entwicklung auch von der konservativen Presse gewürdigt. Seine Lektüre bleibt unverzichtbar zum Verständnis von Kapitalismus – dieser „schicksalsvollsten Macht des modernen Lebens“ (Weber 2002: 560; vgl. hierzu auch Kap. V, Pt. 8).
2.2.2
Herbert Spencer: Gesellschaft als Organismus im Evolutionsprozess
Einige der Schriften des Engländers Herbert Spencer wurden bald nach ihrer Veröffentlichung auch ins Deutsche übersetzt, unter ihnen Werke, die zu den ersten gehören, bei denen sich der Begriff Sociology im Titel findet: The Study of Sociology, 1872; The Principles of Sociology, 3 Bde., 1876-1896 (vgl. die Bibliographie zu Spencer von Schmid 1991). Herbert Spencer wurde 1820 in Derby/England geboren und verstarb 1903 in Brighton. Spencer hatte breit gestreute wissenschaftliche Interessen, die auch Mechanik und Naturwissenschaften einbezogen. Rund acht Jahre arbeitete er als Eisenbahningenieur. Eine Erbschaft, der Erfolg seiner journalistischen Tätigkeit und seiner Bücher erlaubten ihm ab 1848, das Leben eines Privatgelehrten zu führen. Seine Vortragstätigkeit in den USA dürfte zur anhaltenden Skepsis in diesem Land gegenüber staatlicher Sozialpolitik beigetragen haben. Spencer traf mit seiner Theorie den Zeitgeist; dieser wurde vom Gedanken des Fortschritts und der biologisch-zoologisch fundierten Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809-1882) beherrscht. Dessen Hauptwerk, Die Entstehung der Arten, hatte den englischen Titel: The Origin of Species by Means of natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Es bedeutete eine Epochenschwelle der Wissenschafts- und Mentalitätsgeschichte; die erste Auflage war noch am Erscheinungstag (24.11.1859) vergriffen (Darwin 1967: 679). Spencer, der nach allgemeiner Auffassung Darwins Theorie auf menschliche Gesellschaften übertrug, gehörte zu den Vorläufern, wie Darwin in der Einleitung zu seinem Hauptwerk, „Geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Ansichten von der Entstehung der Arten“, hervorhob. Lobend wurde Spencer, wie auch Goethe, in die Ahnenreihe der Ideengeber aufgenommen (vgl. die Ausgabe bei Reclam 1967). Ein breites völkerkundliches Material aus allen Erdteilen diente Spencer als Basis seiner Theorien. Mit dessen Bearbeitung durch vergleichende und soziographische Methoden trug Spencer zur empirischen Fundierung der Soziologie als Wissenschaft bei. Anders als bei Karl Marx und Friedrich Engels spielten ökonomische Faktoren nur eine untergeordnete Rolle.
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Spencers soziologische Theorie ist bis heute von Einfluss. Zentrale Begriffe - wie Struktur und Funktion, System und Institution - lassen sich auf seine Betrachtung der Gesellschaft als Organismus und die Entwicklung sozialer Einheiten von ungegliederter Vielheit zu gegliederter Einheit zurückführen. Das Zusammenwachsen von Stämmen und kleineren staatlichen Einheiten zu Nationen, das die Politik seiner Zeit beherrschte, diente Spencer als ein Beispiel. Die Übertragung biologisch fundierter Evolutionstheorien auf menschliche Gesellschaften wird als Sozialdarwinismus bezeichnet; Spencer gilt als wichtiger „Vordenker“. Der Struggle for Life und das Überleben der Besten gaben nicht nur dem britischen Kolonialismus ein gutes, von zivilisatorischem Missionseifer beseeltes Gewissen, woran sich ja auch Deutschland als „verspätete Nation“ (Plessner 1974) nach der Berliner Konferenz von 1888 beteiligte. Im Nationalsozialismus ging die biologistisch fundierte Evolutionstheorie in rassistisch begründete Ausrottungstheorien über. Dafür kann Spencer nicht verantwortlich gemacht werden (zu Leben und Werk von Spencer vgl. Kaesler 1999, Bd. I, Schmid 1991).
2.2.3
Émile Durkheim: Die Integration der Gesellschaft über verbindliche Normen
Eine weitere Perspektive der soziologischen Theoriebildung zeigt die Soziologie von Émile Durkheim. Émile Durkheim wurde 1858 in Épinal (Lothringen) als Sohn eines Rabbiners geboren und starb 1917 in Paris. Er war ein Repräsentant des französischen Laizismus. Im Jahr 1896 erhielt er den für ihn eingerichteten Lehrstuhl für Pädagogik und Sozialwissenschaften in Bordeaux, ab 1906 für Pädagogik und Soziologie an der Sorbonne in Paris. Seine Aktivitäten hatten die Bildung einer soziologischen Schulrichtung zur Folge - in Europa wohl die erste. Integrierend wirkte die von Durkheim begründete Zeitschrift, L’Année Sociologique, in der er unermüdlich selbst publizierte und die mit ihren Rezensionen wichtiger soziologischer Publikationen zur Fundierung des Fachverständnisses beitrug. Der Stellenwert von Durkheim für die Etablierung der Soziologie in begrifflichtheoretischer, methodologischer und methodischer Hinsicht wird anhand von drei Werken verdeutlicht. Les Règles de la méthode sociologique, Paris 1895. In seiner umfangreichen Einleitung zur deutschen Neuausgabe des Werkes, Die Regeln der soziologischen Methode (1965), schreibt René König (S. 21): Er sei überzeugt, „dass in diesem Buche Durkheims eine ähnlich wichtige Schöpfung für die Soziologie vorliegt wie in Descartes’ Discours de la Méthode von 1637 für die allgemeine Philosophie […].“
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Zentraler Gegenstand des Buches und sein bleibender Wert auch in methodologischer Hinsicht ist die Herausarbeitung eines genuin soziologischen Gegenstandsbereichs, der durch das Eigengewicht der faits sociaux bestimmt wird. Die häufig anzutreffende Übersetzung von fait social (Pl. sociaux) mit “soziologische Tatsache“ ist nicht korrekt; es sind soziale Tatsachen, die soziologisch analysiert werden. Die bekannte Definition lautet: „Ein sozialer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereich einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.“ (Durkheim 1965: 114) Soziale Tatsachen sind z.B. Geld oder Institutionen, Grußformen oder Gesetze. Eine Anzahl weiterer Grundbegriffe der Soziologie wird in diesem Werk systematisch eingeführt: Institution, Kollektivbewusstsein, soziales Handeln, soziales Milieu, sozialer Zwang. Auch zur Methodologie, der erkenntnistheoretischen Fundierung der Soziologie, liegt mit den Regeln… ein Grundlagenwerk vor. In großer Klarheit werden die Gegenstände der Soziologie von anderen Objekten und ihren spezifischen Analysen, z.B. der Psyche und der Psychologie, getrennt. „Die psychischen Erscheinungen sind naturgesetzte Zustände des Subjekts und von ihm überhaupt nicht zu trennen…Im Gegensatz dazu besitzen die sozialen Phänomene viel unmittelbarer dingliche Eigenschaften.“ (Durkheim 1965: 127) – und sie gelten allgemein, wie man hinzusetzten könnte. „Die Gesellschaft ist nicht bloß eine Summe von Individuen, sondern das durch deren Verbindung gebildete System stellt eine spezifische Realität dar, die einen eigenen Charakter hat.“ (Durkheim 1965: 187) Le Suicide. Étude de sociologie, 1897 (dt. Der Selbstmord, 1999) Das Werk über den Selbstmord ist eine der frühesten empirischen Untersuchungen der Soziologie; es hat zur Entwicklung ihrer Methoden und Sozialstatistik beigetragen. Der Gegenstand ist gut gewählt. An der persönlichsten Entscheidung, die sich denken lässt, am Selbstmord, werden die dahinter stehenden sozialen Tatsachen aufgezeigt. Sozialstatistisch wird deutlich, wie groß die Differenzen u.a. nach Geschlecht, Alter, Religionszugehörigkeit und Ländern sind. Von den Arten des Selbstmords sei der anomische Selbstmord hervorgehoben. Er hat eine Ursache in sich plötzlich ändernden Lebensumständen, für die es quasi kein Normgerüst gibt (a-nomos heißt: ohne Normen; sozial orientierungslos).
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Nach Durkheim liegen die Ursachen des anomischen Selbstmords in sozialer Desorientierung, hervorgerufen durch den damaligen rasanten sozialen Wandel von Agrar- zu Industriegesellschaften. Die entsprechenden Ausführungen zur Anomie wurden ein Grundpfeiler in den Theorien des abweichenden Verhaltens (vgl. Kap. II, Pt. 8). De la division du travail social. Étude sur l’organisation des sociétés supérieures, 1893, dt. Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, 1977. Das Thema Arbeitsteilung spielte in allen Gesellschaftstheorien und ökonomischen Theorien seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine überragende Rolle, so in Adam Smiths (1723-1790) epochalem Werk über die Ursachen des Wohlstands der Nationen (engl. 1776; dt. 1776). Durkheim interessierte sich vor allem für die Frage der sozialen Integration und der Solidarität der Gesellschaftsmitglieder trotz hochgradiger Arbeitsteilung. Das Besondere der neuen Stufe von Arbeitsteilung macht Durkheim durch die Gegenüberstellung von zwei Gesellschaftstypen und ihre spezifischen Solidaritätsformen deutlich: archaische Gesellschaften schaffen Solidarität auf der Grundlage kleiner, segmentärerer sozialer Einheiten und durch ein unmittelbar wirksames Kollektivbewusstsein. Durkheim spricht von mechanischer Solidarität. Kommt es zu komplexeren Formen der Arbeitsteilung, solchen, in denen persönliche Bekanntschaft und Imitation ausgeschlossen sind, müssen andere Formen der Solidarität wirksam werden; ihnen liegt das Bewusstsein von organischer Verbundenheit zugrunde. Differenzierte Berufsgruppen und ihre Assoziationen sind nun Träger der organischen Solidarität. Bei Durkheim ist die Soziologie immer auch science morale, was im französischen Verständnis auf die durch Sitten und Bräuche, Normen und Solidarität gegebene Basis gesellschaftlicher Integration verweist. Zu Recht wird dieser Ansatz als „normatives Paradigma“ der soziologischen Theorie bezeichnet (vgl. Kap. V). Durch diesen Impetus seines Werkes trug Durkheim zur Grundlegung der Pädagogischen Soziologie bei. Auch die Religionssoziologie verdankt ihm einen wichtigen Ansatz. Anders als Weber suchte Durkheim in dem Werk Les Formes Élementaires de la Vie Religieuse, 1912, (dt. Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 1981) nicht nach den Antriebskräften des kapitalistischen Geistes, sondern nach einer Grundform menschlicher Existenz. Auch hier gibt es Einsichten, die fortwirken, so z.B. der Gegensatz bzw. das Ineinanderspiel von „heilig“ und „profan“. Das Werk hat den Untertitel: Le Système Totémique en Australie.
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2.2.4
Max Weber: Sinnverstehen als Zugang – Idealtypen als Methode
Max Weber wurde 1864 in Erfurt geboren und verstarb 1920 in München. 1869 zog die Familie nach Berlin. In der Villa in Charlottenburg lernte Weber bedeutende Politiker und Geistesgrößen der Zeit kennen. Ab 1882 folgten drei Semester Jura-Studium in Heidelberg, dann eine Militärzeit in Straßburg, das seit 1871 zu Deutschland gehörte. Ab 1884 Studium und Promotion in Berlin. 1895 Berufung auf einen Lehrstuhl für VWL in Freiburg/Br., 1896 nach Heidelberg. Wegen eines Nervenleidens Aufgabe der Professur im Jahr 1903. 1904 unternahm Weber eine für sein Werk wichtige Amerikareise. 1919 Annahme eines Rufes nach München; dort am 14. Juni 1920 verstorben. Webers Zeit in München war von großen politischen und sozialen Unruhen und Umbrüchen geprägt; er war Zeuge der Münchener Räterepublik, die - wie in anderen deutschen Städten - im Anschluss an den verlorenen Krieg in der Novemberrevolution des Jahres 1918 errichtet wurde. Auf Einladung des Freideutschen Studentenbundes hielt Max Weber im Januar 1919 zwei Vorträge, die bis heute nachhallen und Pflichtlektüre aller Studierenden sein sollten: Wissenschaft als Beruf; Politik als Beruf. Wissenschaft als Beruf: „’Persönlichkeit’ auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient…Der wissenschaftliche Fortschritt ist ein Bruchteil, und zwar der wichtigste Bruchteil, jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen…Wissenschaft ist heute ein fachlich betriebener ‚Beruf’ im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, und nicht eine Heilsgüter und Offenbarung spendende Gnadengabe von Sehern und Propheten über den Sinn der Welt…Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: der Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit.“ (Weber 2002: 510) Die genannten Vorträge finden sich in: Weber 2002 (Kröner-TB 233); dort sind weitere Schriften abgedruckt, die zum Kanon der Soziologie gehören: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis; Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus; Der Sinn der “Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften; Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen; Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft; Soziologische Grundbegriffe. „Soziologie soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln’ soll dabei ein menschliches Verhalten…heißen,
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wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales’ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Weber 2002: 653) Dieser Definition folgen umfangreiche Erörterungen zu den „Methodischen Grundlagen“, die insofern auch methodologisch zu nennen sind, als es erkenntniskritisch um die Sicherheit soziologischer Aussagen geht und wie sie zu gewinnen sind. Weber behandelt die Möglichkeit sinnhaften Verstehens sozialen Handelns, die Schwierigkeit ihrer kausalen Deutung und als Methode die Notwendigkeit der Bildung von Idealtypen. Im Anschluss daran werden u.a. folgende Soziologische Grundbegriffe definiert: Soziales Handeln, Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung, Verband, Betrieb, Verein und Anstalt, Politischer Verband, Staat. Eine der bekanntesten Definitionen aus den Soziologischen Grundbegriffen lautet: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber 2002: 711) – Macht deutet auf Willkür; Herrschaft auf Legitimation. Chance ist ein Zentralbegriff der Weberschen Methodologie. Die Soziologie kann „nur“ zu Regelmäßigkeiten des sozialen Handelns, kaum zu kausal definierbaren Gesetzmäßigkeiten vorstoßen. In diesem Zusammenhang entwickelte Weber ein Arbeitsinstrument, dass er Idealtypus nannte - eine unglückliche Bezeichnung, wie sich herausstellen sollte. Um die Eindeutigkeit ihrer Aussagen zu erhöhen, muss die Soziologie (Ideal-)Typen von allen sozialen Gebilden aufstellen, um die Regelmäßigkeiten des jeweils relevanten Handelns deutlich zu machen und zu zeigen, wann und wo die Chance besteht, dass dieser Typus auftaucht. „Die Soziologie bildet Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens“ (Weber 2002: 667). Als Beispiele für (Ideal-)Typen nennt Weber: Handwerk, die antike und die mittelalterliche Stadt, aber auch Individualismus, Imperialismus (über die methodischen Besonderheiten und die Erkenntnisleistung des Idealtypus vgl. Weber 2002: 125-146). Max Weber gehörte zwar zu den Mitbegründern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1909), sprach sich aber eher gegen die Verselbstständigung dieses Faches in eigenen Studiengängen aus. Soziologie sollte auf der Basis etablierter Bezugswissenschaften betrieben werden, wozu er, seiner Ausbildung und seinen
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Professuren entsprechend, Jura und Rechtsgeschichte, VWL und die Wirtschaftsgeschichte rechnete. Sein Hauptwerk, Wirtschaft und Gesellschaft (zuerst 1922), seine Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie (3 Bde., 1920), die Gesammelten Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik (1924) und andrer Schriften erschienen posthum und wurden von seiner Witwe Marianne Weber herausgegeben. Sie trug wesentlich zur Entwicklung mehrerer Spezieller Soziologien bei: Wirtschaftssoziologie, Rechts- und Staatssoziologie, Stadtsoziologie, Musiksoziologie und Rechtssoziologie. Vom Umfang her nimmt die Religionssoziologie im Werk Webers den größten Platz ein. Mit der zuerst im Jahr 1905 erschienenen Schrift, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (Weber 2002: 150-227), trat eine Frage ins Zentrum seines Lebenswerkes: Was waren die Gründe für die Entstehung des modernen Kapitalismus? Nach Weber stand im Zentrum ein Rationalisierungsund Intellektualisierungsprozess, der im antiken Judentum begann, nach und nach alle Daseinsbereiche erfasste und in der Protestantischen Ethik mit ihrem Arbeitsund Berufsethos auf der Basis „innerweltlicher Askese“ seinen Höhepunkt erreichte (Weber 2002: 197). Der Rationalisierungsprozess erstreckte sich aber auch auf das Recht oder die Musik, so bei der Entwicklung ihrer Kontrapunktik, Harmonik und Notenschrift. Um dies nachzuweisen, verfasste Max Weber eine frühe Musiksoziologie: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik (1972).
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