Transcript
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 1 2 3
Sitzung
des
Arbeitskreises
„Hilfen
am 29. September 2015
für
Gefährdete“
DV 05/07/15 AF III 25. August 2015
Tischvorlage zu TOP 4
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Leistungsberechtigte in besonderen sozialen Schwierigkeiten
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bedarfsdeckend unterstützen.
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Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Anwendung der Hilfe nach §§ 67 ff.
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SGB XII
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Inhalt 1. Zielsetzung ............................................................................................................................... 2 2. Leistungsgewährung in der Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII ..................................................... 3 2.1 Ermittlung und Feststellung des Bedarfs ............................................................................ 3 2.2 Auswahl, Gestaltung und Festlegung geeigneter und notwendiger Maßnahmen ............... 5 a) Die Maßnahmen an den Zielen der Hilfe ausrichten .................................................... 5 b) Die Hilfe an den mit sozialen Schwierigkeiten verbundenen besonderen Lebensverhältnissen anknüpfen................................................................................... 6 c) Die Form der Leistungserbringung bestimmen ............................................................ 7 3. Leistungsgewährung bei mehrfachen Hilfebedarfen ........................................................... 7 3.1 Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen oder Suchtproblematiken ........................ 8 3.2 Junge Erwachsene ............................................................................................................ 10 3.3 Ältere Menschen mit und ohne Pflegebedarf .................................................................... 12
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1. Zielsetzung
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Mit der Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII stellt die Sozialhilfe eine Leistung zur Überwindung
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einer sozialen Notlage bereit, die über die sozialrechtlich abgedeckten allgemeinen Risi-
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ken des Lebens wie Krankheit, Behinderung, Einkommensarmut etc. hinausgeht. Diese
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Notlage führt zu einem Zustand sozialer Ausgrenzung, der herkömmlich mit „Elend“ be-
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zeichnet werden kann.1 Es geht also um einen Zustand vor allem der Schutzlosigkeit, der
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Vereinsamung, des Ausgestoßenseins, des Fremdseins, letztendlich um einen Zustand
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besonderer Not. Wegen dieser in der Regel für die Hilfesuchenden existenziell bedrohli-
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chen sozialen Lage kommt der zügigen Gewährung dieser Hilfe als eine eigenständige
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Hilfe eine besondere Bedeutung zu. Zu beachten ist dabei, dass in solcher sozialen Not
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vielfach auch andere Bedarfe vorhanden sind, die die besondere soziale Notlage häufig
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verstärken (mehrfache Problemlagen). Diese Hilfe ist nach der speziellen Vorschrift zum
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Nachrang in § 67 Satz 2 SGB XII als auch nach dem allgemeinen Nachrang gemäß § 2
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SGB XII immer dann vorrangig heranzuziehen, wenn damit in der besonderen von § 67
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SGB XII erfassten sozialen Notlage tatsächlich zumindest teilweise geholfen wird. Dabei
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ist davon auszugehen, dass in der Regel – wie in § 2 Abs. 3 Satz 3 Durchführungsver-
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ordnung (DVO) zu § 69 SGB XII vorgezeichnet – „der verbundene Einsatz der unter-
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schiedlichen Hilfen… anzustreben“ ist und zwar einschließlich der Hilfe nach §§ 67 ff.
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SGB XII, denn diese anderen Hilfen haben einen anderen Bedarfsfokus als § 67
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SGB XII, selbst wenn sie in Teilbereichen die besondere soziale Notlage miterfassen.
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Die leistungsberechtigte Person hat auf die Hilfe nach §§ 67 SGB XII einen Rechtsan-
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spruch. Allerdings sind grundlegende Tatbestandsmerkmale der Leistungsberechtigung
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in unbestimmte Rechtsbegriffe gefasst. Diese müssen von den zuständigen Fachkräften
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bei der Ermittlung des Bedarfs unter gerichtlich vollumfänglicher Überprüfbarbarkeit aus-
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gelegt und festgestellt werden. Der Bedarfsbestimmung kommt eine besondere Bedeu-
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tung zu, um gerade bei mehrfachen Problemlagen den Auftrag zum verbundenen Einsatz
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der Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII und den anderen Leistungsbestimmungen einzuleiten
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und gegebenenfalls auch mit vorrangigen Leistungen (Teil-) Bedarfe, die aus der beson-
1
„Das Wort „elend“ (althochdeutsch „elilenti“, mittelhochdeutsche „ellende“) bedeutet ursprünglich „aus der Fremde kommend, nicht einheimisch“. Es bezeichnet den, „dessen (Heimat)land ein anderes ist“ als das, in dem er sich (schutzlos) aufhält. Seit dem 11. Jahrhundert meint „elend“ auch „bedürftig, unglücklich, jammervoll“. Aus dem Adjektiv entwickelt sich das Substantiv „Elend“ – „Fremde, Aufenthalt in der Fremde“ (9. Jahrhundert), seit 1000 auch „leidvolles Dasein“. In heutigen Sprachgebrach meint „Elend“ einen Zustand der Not, der Armut und des Unglücks. Es wird als Adjektiv und als Substantiv genutzt. Siehe: Wolfgang Pfeifer (Leitung): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München 1995, digital unter: http://www.dwds.de/.
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deren sozialen Notlage resultieren, zu befriedigen (Berücksichtigung des Nachrangs).
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Hinsichtlich der zu wählenden Hilfeform, nicht jedoch hinsichtlich der zu befriedigenden
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Ansprüche (siehe dazu Abschnitt a) im Kapitel 2.2), hat der Sozialhilfeträger ein Aus-
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wahlermessen im Rahmen des § 39 SGB I, das sich auch auf die zeitliche Dimension der
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Leistungserbringung erstreckt.
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Mit den folgenden Praxis-Empfehlungen will der Deutsche Verein Fachkräften bei den
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zuständigen Sozialhilfeträgern und den von ihnen beauftragten Stellen Hinweise an die
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Hand geben, um in der Einzelfallbearbeitung die einschlägige Anspruchsgrundlage zu
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finden und die Hilfe bedarfsgerecht zu gewähren. Die Empfehlungen sollen einen Beitrag
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zur Vereinheitlichung der Rechtsanwendung leisten.
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2. Leistungsgewährung in der Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII
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2.1 Ermittlung und Feststellung des Bedarfs
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Bei der Ermittlung des Bedarfs besteht kein Ermessen. Um Rechtskonformität sicherzu-
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stellen, bedarf es deshalb einer strukturierten Vorgehensweise entlang der in der
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Rechtsvorschrift des § 67 SGB XII aufgeführten Tatbestandsmerkmale.2 Hierzu gibt der
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Deutsche Verein folgende Empfehlungen:
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1. „Besondere Lebensverhältnisse“: Zu prüfen ist, ob Lebensumstände vorliegen, die die
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Führung eines menschenwürdigen Lebens gefährden können. Dies ist zum Beispiel
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dann der Fall, wenn die hilfesuchende Person – außerhalb einer betreuten Einrich-
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tung – über keinen privatrechtlich abgesicherten Wohnraum verfügt oder in einer
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Wohnung lebt, die elementaren Anforderungen an menschenwürdiges Wohnen (z.B.
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Wärme, Trockenheit, Hygiene) nicht entspricht, wenn sie keinen verlässlichen regel-
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mäßigen Einkommenszufluss zur Bestreitung des Lebensunterhalts hat, sich in einer
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Lebenssituation befindet, die durch Gewalterfahrung oder Gewaltbedrohung geprägt
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ist (beispielsweise häusliche Gewalt oder Zwangsprostitution) oder wenn sie aus ei-
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ner geschlossenen Einrichtung (Haft, freiwillige oder gerichtlich angeordnete stationä-
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re Behandlung oder Unterbringung) ohne eine gesicherte Anschlussperspektive ent-
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lassen wird (§ 1 Abs. 2 DVO). Besondere Lebensverhältnisse werden auch durch
2
Gemäß § 67 SGB XII sind Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, Leistungen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu gewähren, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sind. Dabei ist der Nachrang zu beachten.
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vergleichbare Umstände begründet, die elementare Lebensbedürfnisse einschränken.
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Dies trifft zum Beispiel zu, wenn kein Zugang zu einer gesundheitlichen Versorgung
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besteht.
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2. „Soziale Schwierigkeiten“: Hier ist zu ermitteln, ob die hilfesuchende Person in Ver-
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bindung mit den ermittelten besonderen Lebensverhältnissen Schwierigkeiten in der
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Interaktion mit seiner Umwelt hat, die die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft
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wesentlich, d.h. erheblich und mehr als vorübergehend einschränkt. Die Schwierigkei-
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ten können in der hilfesuchenden Person (z.B. in Form von Verhaltensauffälligkeiten)
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oder in dem Verhältnis zu ihrer Umwelt (z.B. als erschwerter Marktzugang zu grund-
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legenden Versorgungsbereichen) begründet sein. Erhebliche Bedeutung ist einer sol-
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chen Ausgrenzung zuzumessen, wenn sie einen Zusammenhang mit der Erhaltung
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oder Beschaffung einer Wohnung, mit der Erlangung oder Sicherung eines Arbeits-
92
platzes, mit familiären oder anderen sozialen Beziehungen oder mit Straffälligkeit
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aufweist (§ 1 Abs. 3 DVO). Beispielsweise kann eine ordentliche oder außerordentli-
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che Kündigung eines Wohnverhältnisses durch den Vermieter eine soziale Schwie-
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rigkeit darstellen, da mit ihr in der Regel ein drohender Wohnungsverlust verbunden
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ist.
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3. Selbsthilfekräfte: Es muss versucht werden, die Selbsthilfekräfte der hilfesuchenden
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Person zu erschließen. Dies ist bereits Teil der Hilfe nach § 67 ff. SGB XII. Verfügt die
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hilfesuchende Person nicht über ausreichende Fähigkeiten und Mittel der Selbsthilfe,
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um den ermittelten Hilfebedarf ohne Hilfe durch Dritte zu decken, ist die Inanspruch-
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nahme der Hilfe durch entsprechende Unterstützungsleistungen zu gewähren ermög-
102
lichen. Äußere Anzeichen für fehlende Selbsthilfekräfte sind zum Beispiel die Dauer
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des Hilfebedarfs, das wiederholte Auftreten eines Hilfebedarfs oder Wünsche der hil-
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fesuchenden Person nach Unterstützung.
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4. Nachrang im Verhältnis zu anderen Leistungen: Hinsichtlich der Umsetzung der Re-
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gelungen zum Nachrang wird ausdrücklich auf die Ausführungen oben unter 1. („Ziel-
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setzung“) hingewiesen. Soweit Leistungen im Rahmen der Hilfe gemäß §§ 67 ff.
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SGB XII zur Bedarfsbefriedigung notwendig werden, weil andere vorrangig verpflich-
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tete Leistungsträger tatsächlich nicht leisten, sind die Kosten nach den Regelungen
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zur Kostenerstattung und den Erstattungsansprüchen der Leistungsträger unterei-
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nander zu erstatten (§ 2 Abs. 1 Satz 4 zweiter Halbsatz DVO). Ferner müssen die Deutscher Verein Michaelkirchstraße 17/18 D-10179 Berlin-Mitte www.deutscher-verein.de
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rechtlich vorrangigen Hilfen den Bedarf der leitungsberechtigten Person tatsächlich
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und vollständig decken, um den Anspruch auf Hilfe gemäß §§ 67 ff. SGB XII entfallen
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zu lassen. Andernfalls sind ergänzende Leistungen nach §§ 67 ff. SGB XII zu erbrin-
115
gen.
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2.2 Auswahl, Gestaltung und Festlegung geeigneter und notwendiger Maßnahmen
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a) Die Maßnahmen an den Zielen der Hilfe ausrichten
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Die Auswahl und die Ausgestaltung der Maßnahmen sind an den in den Gesetzesvor-
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schriften genannten Zielen der Hilfe auszurichten, die identisch sind mit den drei Zielen
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der Sozialhilfe insgesamt – Sicherung eines menschenwürdigen Lebens, Ermöglichung
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der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und Befähigung zur Selbsthilfe (§ 9
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SGB I). Im Hinblick auf den besonderen Bedarf, der nach §§ 67 ff. SGB XII zu befriedi-
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gen ist – die mit der sozialen Notlage verbundene soziale Ausgrenzung –, kommt dem
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Ziel, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, hervorragende Be-
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deutung zu. Gesetzlich vorgegebene Anknüpfungspunkte sind dabei die sozialen
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Schwierigkeiten und die besonderen Lebensverhältnisse in der je individuell gegebenen
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Verknüpfung. Der Grad der Zielerreichung bemisst sich an dem Grad der angestrebten
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und erreichten Überwindung der anspruchsauslösenden Tatbestandsvoraussetzungen,
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also konkret daran, wie weit besondere Lebensverhältnisse und die damit verbundenen
130
sozialen Schwierigkeiten so verändert werden konnten, dass die selbstständige Teilnah-
131
me am Leben in der Gemeinschaft menschenwürdig möglich ist.
132
Wenn das gesamte Sozialhilferecht davon ausgeht, dass die Berücksichtigung der
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Selbsthilfe bei der Überwindung einer Notlage zu ihren wesentlichen Voraussetzungen
134
gehört, dann ist zu beachten, dass mit der Formulierung in § 67 SGB XII „aus eigener
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Kraft nicht fähig“ ein ausdrücklicher Hinweis darauf gegeben wird, dass hier die soziale
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Notlage den Leistungsberechtigten die Selbsthilfe besonders erschwert. Die mit der sozi-
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alen Ausgrenzung einhergehende existenzielle Bedrohung erfordert daher zunächst re-
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gelmäßig die zügige Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse (z.B. Unterkunft,
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Schutz vor Gewalt, materielle Absicherung für die Bedürfnisse des täglichen Lebens),
140
wobei hier die Leistung nach § 67 SGB XII in der Regel in der vorläufigen Bedarfsde-
141
ckung bis zur Erschließung vorrangiger Leistungen wie z.B. nach SGB II besteht. Nur
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wenn diese Bedrohung unmittelbar oder je nach persönlicher Situation sukzessive besei-
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tigt wird, kann die „Unterstützung der Hilfesuchenden zur selbstständigen Bewältigung Deutscher Verein Michaelkirchstraße 17/18 D-10179 Berlin-Mitte www.deutscher-verein.de
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ihrer besonderen sozialen Schwierigkeiten … sie in die Lage versetzen, ihr Leben ent-
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sprechend ihren Bedürfnissen, Wünschen und Fähigkeiten zu organisieren und selbst-
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verantwortlich zu gestalten“ (§ 2 Abs. 1 Satz 2 DVO). Anzuknüpfen ist dabei an vorhan-
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dene Fähigkeiten und Neigungen, um die gebotene Mitwirkung an der Überwindung der
148
sozialen Schwierigkeiten zu erleichtern. Auch geschlechts- und altersbedingte Beson-
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derheiten sind zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 2 Satz 3 DVO). Wesentlich dabei ist, dass
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der „Eigensinn“ der Hilfesuchenden, der z. B. in der einer Verweigerung zum Ausdruck
151
kommen kann, eine ergänzend in Betracht gezogene Eingliederungshilfe anzunehmen,
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nicht zur Annahme fehlender Mitwirkung und Verweigerung der Hilfe nach §§ 67 ff.
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SGB XII führen darf. Das Recht zur Nichtbeanspruchung gesetzlicher Leistungsansprü-
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che ist die rechtsstaatliche Garantie dagegen, dass „im wohlverstandenen Eigeninteres-
155
se“ dem Einzelnen staatliche Leistungen aufgedrängt werden. Die sozialrechtlichen Mit-
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wirkungspflichten beziehen sich auf die Leistungen, die die leistungsberechtigte Person
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beansprucht und erhält und nicht darauf, bestimmte Leistungen auch in Anspruch zu
158
nehmen. Entsprechend besteht auch kein „Ermessen“ zur Festlegung der zu verwirkli-
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chenden Ansprüche gegen den Willen der Leistungsberechtigten. Die Annahme von Hilfe
160
ist für die Leistungsberechtigten stets freiwilliger Natur.
161
b) Die Hilfe an den mit sozialen Schwierigkeiten verbundenen besonderen Lebensver-
162
hältnissen anknüpfen
163
Wegen der Verbindung der besonderen Lebensverhältnisse mit den sozialen Schwierig-
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keiten hat die Hilfe sowohl einen subjektiv-individuellen Anknüpfungspunkt – die sozialen
165
Schwierigkeiten – als auch einen objektiven – die besonderen Lebensverhältnisse. Dabei
166
zeichnet das Gesetz bei der Maßnahmenauswahl und -gestaltung einen differenzierten
167
Begriff der „Überwindung“ vor. In Abhängigkeit vom Einzelfall kann es erforderlich sein,
168
soziale Schwierigkeiten abzuwenden, also eine unmittelbar drohende Notlage zu vermei-
169
den, soziale Schwierigkeiten zu beseitigen, zu mildern, ihre Verschlimmerung zu verhü-
170
ten oder einen drohenden Wiedereintritt besonderer sozialer Schwierigkeiten abzuwen-
171
den (§ 68 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 15 SGB XII; § 2 Abs. 2 Satz 1 DVO). Damit ist ein brei-
172
tes Spektrum an Maßnahmen möglich. Im konkreten Einzelfall sind die Maßnahmen zu
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ergreifen, die notwendig, das heißt unabweisbar sind, um das Hilfeziel zu erreichen (§ 68
174
Abs. 1 Satz 1 SGB XII).
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c) Die Form der Leistungserbringung bestimmen
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In Abhängigkeit vom Hilfebedarf und den angestrebten Hilfezielen ist die Form der Leis-
178
tungserbringung als Dienst-, Geld- oder Sachleistung zu bestimmen. Insbesondere sind
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Beratung und persönliche Unterstützung zu erbringen (§ 68 Abs. 1 Satz 1 SGB XII; § 3
180
DVO). Orientiert am Ziel, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft möglichst zu er-
181
reichen, setzen die gesetzlichen Regeln vor allem auf die Normalität fördernde Maßnah-
182
men, wie die Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung (welche im Einzelfall auch ma-
183
terielle Hilfen beinhalten kann)3 die Vermittlung einer Ausbildung, die Erlangung und Si-
184
cherung eines Arbeitsplatzes sowie Hilfen zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung sozialer
185
Beziehungen und zur Gestaltung des Alltags (§ 68 Abs. 1 Satz 1 SGB XII; §§ 4-6 DVO).
186
Leistungen in Form stationärer Hilfen sollen nur nachrangig gewährt werden, soweit ver-
187
fügbare ambulante oder teilstationäre Hilfe nicht geeignet sind. In diesen Fällen ist re-
188
gelmäßig – ggf. auch noch unverzüglich nach Beginn der Hilfe – die Erstellung eines Ge-
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samtplans unter Beteiligung des zuständigen Trägers der Sozialhilfe notwendig. Bei
190
(teil-)stationärer Hilfe ist die vorläufige Befristung die Regel und diese spätestens alle
191
sechs Monate zu überprüfen (§ 2 Abs. 5 Satz 1-3 DVO). Generell gilt, dass Veränderun-
192
gen im Hilfeprozess bei der Leistungserbringung stetig zu beachten sind, insbesondere,
193
wenn die Hilfe ihr Ziel nicht oder nicht mehr erreichen kann oder der Wille zur Mitwirkung
194
beim Hilfeempfänger fehlt (§ 2 Abs. 4 DVO).
195
3. Leistungsgewährung bei mehrfachen Hilfebedarfen
196
In der besonderen sozialen Not, in welcher nach §§ 67 ff. SGB XII zu helfen ist, sind viel-
197
fach auch andere Bedarfe vorhanden, die die besondere soziale Notlage häufig verstär-
198
ken (mehrfache Problemlagen). Hier ist es geboten, im Rahmen der Hilfe nach §§ 67 ff.
199
SGB XII möglichst auch diese anderen Hilfen zu erschließen. Dabei ist – wie unter 1.
200
ausgeführt – immer der besondere, in § 67 SGB XII gemeinte Bedarf im Blick zu behal-
201
ten. Hierbei ist zu beachten, dass Hilfen nach anderen Leistungsbestimmungen diesen
202
Bedarf nicht zentral im Fokus der jeweiligen Bedarfsbefriedigung haben (können), also
203
ergänzend sind. Für die Leistungsgewährung bei mehrfachen Hilfebedarfen gibt der
204
Deutsche Verein folgende Empfehlungen:
3
Siehe hierzu auch: Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Prävention von Wohnungslosigkeit durch Kooperation von kommunalen und freien Trägern, NDV 11/2013 S. 490-500.
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3.1 Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen oder Suchtproblematiken
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Neben der Bedarfssituation nach §§ 67 ff. SGB XII können Anzeichen einer psychischen
207
oder Suchterkrankung erkennbar sein, die das Maß einer wesentlichen Behinderung im
208
Sinne von § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erreichen oder
209
zumindest die Annahme rechtfertigen, dass eine solche Behinderung droht. Für diesen
210
Bedarf kommen Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII in Betracht.
211
Die Zielsetzung der Eingliederungshilfe im Sinne von § 9 SGB I – die Ermöglichung der
212
gesellschaftlichen Teilhabe – ist dabei identisch mit dem Ziel der Hilfe nach §§ 67 ff.
213
SGB XII. Unterschiede zeigen sich jedoch in der ziel- und bedarfsorientierten Ausrich-
214
tung und Gestaltung der Hilfeprozesse: Während die Eingliederungshilfe primär bei der
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Kompensation der zugrundeliegenden personalen Fähigkeitsbeeinträchtigung (= Behin-
216
derung) ansetzt und darüber hinaus die gesellschaftliche Teilhabe erreichen will, fokus-
217
siert die Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII in erster Linie auf die Überwindung der akuten situa-
218
tionsbezogenen sozialen Schwierigkeiten, die die Behebung einer konkreten sozialen
219
Notlage ggf. mit umfasst. In dieser sozialinklusiven Gestalt ist die Hilfe nach §§ 67 ff.
220
SGB XII auch eine Hilfe zur Existenzsicherung im weiteren Sinne und ermöglicht dadurch
221
die „Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft“.
222
Im Falle der potenziellen Indikation einer psychischen Beeinträchtigung oder einer
223
Suchterkrankung ist im Rahmen einer Gesamtfallprüfung daher neben § 67 SGB XII
224
auch ein Bedarf nach Leistungen der Eingliederungshilfe zu prüfen und ggf. ein Zugang
225
zu diesen Leistungen zu ermöglichen. Im Einzelfall geht in einer solchen Bedarfslage die
226
Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII als Leistung gemäß dem internen Nachrang-
227
grundsatz nach § 67 Satz 2 SGB XII rechtlich der Hilfeleistung nach § 67 SGB XII vor,
228
sofern der ermittelte Gesamtbedarf tatsächlich und vollumfänglich durch Leistungen nach
229
§§ 53 ff. SGB XII gedeckt wird. Dabei ist zu beachten, dass die Eingliederungshilfe ne-
230
ben der realen Bedarfsbefriedigung tatsächlich auch den Bedarf, der nach § 67 SGB XII
231
zu decken wäre, gezielt und mit Aussicht auf Erfolg deckt (siehe dazu auch die Ziffer 4 im
232
Kapitel 2.1).4 Ist dies nicht der Fall, sind gemäß § 2 Abs. 2 Satz 3 der DVO ergänzend
233
Leistungen nach § 67 SGB XII als eigenständige Leistung „im Verbund“ mit der Einglie-
234
derungshilfe zu erbringen.
4
Roscher in LPK-SGB XII, 9. Aufl. 2012, Rdnr. 28f. zu § 67.
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Ausdrücklich ist festzuhalten, dass es nach Wortlaut und Sinn der gesetzlichen Regelun-
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gen bei den „mehrfachen Problemlagen“ keinen Vorrang oder Nachrang der Bedarfe
237
gibt, sondern allenfalls bei der tatsächlichen Deckung eines konkreten Bedarfs aus
238
§§ 67 ff. SGB XII durch Leistungen nach anderen Vorschriften diese der Leistung nach
239
§ 67 Satz 1 SGB XII vorgehen. Allenfalls gehen Leistungen nach anderen Vorschriften
240
der Leistung nach § 67 Satz 1 SGB XII vor, wenn sie den konkreten Bedarf aus §§ 67 ff.
241
SGB XII tatsächlich decken. Das Gesetz kennt also nur den Vorrang/Nachrang von Leis-
242
tungen. Die Bedarfe nach §§ 67 ff. SGB XII müssen wegen der besonderen Not, die
243
damit verbunden ist, zügig und zeitnah gedeckt werden, auch wenn eine möglicherweise
244
erst zu erschließende Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII im weiteren Verlauf des
245
Hilfeprozesses einen Teilbedarf befriedigt.
246
In der Praxis werden Leistungen nach §§ 67 ff. SGB XII bei Leistungsberechtigten mit
247
psychischen oder Suchterkrankungen oft vorbereitend, in Einzelfällen auch nachberei-
248
tend zu einer Maßnahme im Rahmen der Eingliederungshilfe erbracht. Auch eine kombi-
249
nierte Leistungserbringung von Leistungen nach §§ 67 ff. SGB XII und Leistungen nach
250
§§ 53 ff. SGB XII im Sinne des verbundenen Einsatzes der Hilfen (§ 2 Abs. 3 Satz 2
251
DVO) ist möglich und anzustreben. Dafür ist eine Bedarfsermittlung, -feststellung und
252
Hilfeplanung erforderlich, die trägerübergreifend die Bedarfe ermittelt und feststellt und
253
eine ganzheitliche Erbringung der Leistung ermöglicht.5 Eine weitere Voraussetzung ist,
254
dass die Bestandteile der ggf. erforderlichen verschiedenen Leistungen leistungsrechtlich
255
zugeordnet werden können. Zur Durchführung der erforderlichen Maßnahmen ist in ge-
256
eigneten Fällen ein Gesamtplan zu erstellen (§ 68 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, § 2
257
Abs. DVO).
258
Die Umsetzung des verbundenen Einsatzes der unterschiedlichen Hilfen stößt in der
259
Praxis jedoch häufig auf Schwierigkeiten. Ursachen hierfür können unterschiedliche
260
sachliche oder verwaltungsorganisatorische Zuständigkeiten auf der Ebene der Leis-
261
tungsträger sein oder eine unzureichende Ausrichtung der Hilfekonzepte anderer sozialer
262
Dienste auf die Hilfebedarfe des Personenkreises nach §§ 67 ff. SGB XII. Um Übergänge
263
und Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Leistungen zu ermöglichen, müssen
264
Hilfsangebote deshalb mittels verbindlicher Verfahren der Kooperation vor Ort gut ver-
5
Vgl. für die Koordination und Kooperation der Rehabilitationsträger: Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Weiterentwicklung des SGB IX vom 20.3.2013, NDV 2013, 246.
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netzt und am Versorgungsbedarf von Personen mit sozialen und gesundheitsbezogenen
266
Problemlagen ausgerichtet sein.6 Zu diesem Zweck sollten sich die Anbieter der Hilfe
267
gemäß §§ 67 ff. SGB XII in die Gremien der gemeindepsychiatrischen Versorgung (z.B.
268
örtliche Psychiatriebeiräte, psychosoziale Arbeitsgemeinschaften) aktiv einbringen. Eine
269
wichtige Ergänzung können auch modularisierte Angebote sein, die es zum Beispiel er-
270
möglichen, in einer stationären Einrichtung der Wohnungslosenhilfe ein Modul der
271
Suchthilfe nach §§ 53 ff. SGB XII anzubieten und zu finanzieren.7 Dies ist dann möglich,
272
wenn die Landesrahmenverträge nach dem 10. Kapitel des SGB XII entsprechende Mo-
273
dule vorsehen.
274
3.2 Junge Erwachsene
275
Für junge Erwachsene bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres in sozialen Notlagen
276
kann auch der Träger der Jugendhilfe zuständig sein. Die Hilfe für junge Volljährige
277
(nach § 41 SGB VIII) ist als Soll-Leistung ausgestaltet. Sie kann in einer individuellen
278
materiellen und psychosozialen Notsituation qualifizierte Hilfe zu einer möglichst eigen-
279
verantwortlichen Lebensführung leisten und dabei Bedarfe abdecken, die vergleichbar in
280
einer Situation nach §§ 67 ff. SGB XII auftreten. Im Verhältnis von § 67 SGB XII zu § 41
281
SGB VIII ist die Zuständigkeitsregelung des § 10 SGB VIII zu berücksichtigen, wonach
282
grundsätzlich der Vorrang der Jugendhilfe gilt. Zu beachten ist dabei, dass die Zielrich-
283
tung im Unterschied zur Leistung des Sozialhilfeträgers auf die altersspezifischen Be-
284
darfslagen in der Lebensphase junger Heranwachsender zugeschnitten ist. Zweck ist die
285
Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung und der eigenverantwortlichen Lebensfüh-
286
rung (§ 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Das Hilfeprogramm ist daher prinzipiell anders ge-
287
staltet als das nach §§ 67 ff. SGB XII. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung
288
des 21. Lebensjahres gewährt. In begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzten
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Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden (§ 41 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
290
Gleichwohl suchen immer wieder Personen, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet
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haben, um Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII nach. Für die Bestimmung der Leistungszustän-
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digkeit gibt der Deutsche Verein folgende Empfehlungen:
6
Siehe hierzu: Zugänge zu gesundheitlichen Hilfen für wohnungslose Menschen verbessern. Empfehlungen des Deutschen Vereins für eine Kooperation sozialer und gesundheitsbezogener Hilfen, in NDV 08/2014.
7
In ähnlicher Weise sieht es das Bundessozialgericht (BSG) als geboten an, dass in einer stationären Einrichtung der Eingliederungshilfe für wohnungslose Menschen mit Störungen in körperlichen, psychischen und sozialen Bereichen auch Leistungen der ambulante Krankenhilfe abgerufen werden können (Beschluss vom 25. Februar 2015, B 3 KR 10/14 R und B 3 KR 11/14 R).
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Sucht eine Person, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, um Hilfe nach
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§§ 67 ff. SGB XII nach, ist regelmäßig ein möglicher Anspruch auf Hilfe für junge Voll-
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jährige (§ 41 SGB VIII) in Betracht zu ziehen. Hierzu sollen die Tatbestandmerkmale,
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die auf einen lebensalterspezifischen und auf die Entwicklung der Persönlichkeit be-
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zogenen Hilfebedarf hinweisen, dokumentiert und dem öffentlichen Träger der Ju-
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gendhilfe mit der Aufforderung zur Stellungnahme, ob § 41 SGB VIII zu gewähren ist,
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mitgeteilt werden. Die anspruchsauslösenden Merkmale können lebensgeschichtli-
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cher Art (z.B. gestörte familiäre Entwicklung, lange Heimaufenthalte, Schul- und Aus-
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bildungsabbrüche) oder situationsbezogen sein (z.B. ungesicherte Wohnverhältnisse,
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Entlassung aus der Psychiatrie oder dem Strafvollzug, Suchtgefährdung). Ausschlag-
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gebend für einen Hilfebedarf ist, dass die ermittelten Problemlagen die individuelle Si-
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tuation des Hilfesuchenden prägen und nur durch Hilfen zur Persönlichkeitsentwick-
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lung und eigenverantwortlichen Lebensführung behoben werden können. Dabei emp-
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fiehlt es sich, die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Leistungsträgern durch
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Absprachen in Gestalt von Kooperationsvereinbarungen verbindlich zu vereinbaren.
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Liegen die Anspruchsvoraussetzungen des § 41 SGB VIII vor, ist möglicherweise
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trotzdem die Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII bei jungen Erwachsenen bis zur Vollendung
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des 21. Lebensjahres unter zwei Fallvoraussetzungen zu gewähren:
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1. Können die Anspruchsvoraussetzungen auf eine Hilfe nach § 41 SGB VIII nicht
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unmittelbar geklärt werden, leistet der Sozialhilfeträger aufgrund der Unumgäng-
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lichkeit des Hilfebedarfs Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII bis zur Klärung des Hilfebe-
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darfs durch den Jugendhilfeträger. Der Träger der Jugendhilfe sollte zeitnah einen
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Hilfeplan erstellen und dabei gegebenenfalls den Sozialhilfeträger beteiligen.
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Ergibt sich hierdurch die Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers, übernimmt dieser
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die Fallverantwortung und erstattet dem Sozialhilfeträger die bereits entstandenen
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Kosten. Ergibt sich, dass Jugendhilfemaßnahmen nicht in Betracht kommen, also
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der Jugendhilfeträger nicht zuständig ist, verbleibt die Leistungspflicht beim Sozi-
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alhilfeträger.
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2. Lehnt die junge erwachsene Person eine Inanspruchnahme der angebotenen Hilfe
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nach § 41 SGB VIII ab oder ist sie nicht dazu bereit, in einem ihr zumutbaren Um-
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fang an der Durchführung der Hilfe nach § 41 SGB VIII mitzuwirken, sind zunächst
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Maßnahmen erforderlich, um die Bereitschaft zu wecken und zu fördern, derartige Deutscher Verein Michaelkirchstraße 17/18 D-10179 Berlin-Mitte www.deutscher-verein.de
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Hilfen in Anspruch zu nehmen. In diesem Falle ist Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII zu
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gewähren. Für die Durchführung der Hilfe ist ein Gesamtplan zu erstellen und mit
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dem Jugendhilfeträger fachlich abzustimmen. Sobald der/die junge Volljährige hin-
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reichend motiviert ist, die vorrangige und weiterführende Jugendhilfe in Anspruch
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zu nehmen, soll eine Fallübergabe an den Jugendhilfeträger erfolgen. Das Min-
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destmaß an Mitwirkungsbereitschaft ist gegeben, wenn die betreffende Person ih-
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re aktuelle Lebenssituation als belastend empfindet und bereit ist, an Maßnahmen
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der Beratung und Unterstützung mitzuwirken, die auf eine persönliche Fortent-
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wicklung oder Verhaltensänderungen zielen. Eine Motivation zur Inanspruchnah-
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me von geeigneten Hilfen ist als Mitwirkungsbereitschaft zu werten.
335
Bei Leistungsberechtigten, die bereits das 21. aber noch nicht das 27. Lebensjahr
336
vollendet haben, kommt Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII nur dann in Be-
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tracht, wenn der Hilfebedarf bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres dem Ju-
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gendhilfeträger bekannt war oder die Hilfe beantragt wurde.
339
3.3 Ältere Menschen mit und ohne Pflegebedarf
340
Bei Leistungsberechtigten nach §§ 67 ff. SGB XII treten körperliche und psychische Ein-
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schränkungen in der Lebensphase „Alter“ in der Regel stärker und auch früher zu Tage
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als bei Personen gleichen Alters in gesicherten Lebensverhältnissen. Oft haben sie ein
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energieraubendes und die gesundheitliche Situation stark beeinträchtigendes Leben zwi-
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schen Straße und provisorischen Versorgungen hinter sich, das sie angesichts nachlas-
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sender Kräfte nicht mehr fortführen können. Diese Menschen benötigen längerfristige
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oder auch dauerhafte Wohnangebote mit ambulanter bedarfsgerechter sozialer und ge-
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sundheitsbezogener Versorgung.8 Dabei ist zu beachten, dass die Bestimmungen zu den
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Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten grundsätzlich keine Alters-
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grenzen kennen. Hinsichtlich der Gewährung von Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII für ältere
350
Leistungsberechtigte nach §§ 67 ff. SGB XII gibt der Deutsche Verein der folgende Emp-
351
fehlungen:
352
353
Bei älteren Leistungsberechtigten nach §§ 67 ff. SGB XII ist regelmäßig in Betracht zu ziehen, ob ein Bedarf an Pflege und/oder Betreuung gegeben ist. Neben körperlichen
8
Siehe: Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (Hrsg.): Prinzipien einer normalitätsorientierten gemeindenahen Versorgung älterer und / oder pflegebedürftiger wohnungsloser Männer und Frauen Eine Empfehlung der BAG Wohnungslosenhilfe, 2013.
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Einschränkungen sind auch psychische Erkrankungen oder geistige Behinderungen
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zu berücksichtigen. Pflegebedürftigkeit kann bestehen, ohne dass die Bedingungen
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für Pflegestufe 1 erfüllt sind.9 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Hilfebedarf im
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Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung und gleichzeitig ein er-
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heblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung gegeben sind (er-
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heblich eingeschränkte Alltagskompetenz). Wann eine erhebliche Einschränkung der
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Alltagskompetenz vorliegt, ist in § 45a SGB XI geregelt. Zudem muss die Einschrän-
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kung dauerhaft, das heißt voraussichtlich für mindestens sechs Monate, vorhanden
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sein. Voraussetzung der Anerkennung sind ein Antrag und eine Prüfung durch den
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Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder andere unabhängige Gutachter.
364
Der Deutsche Verein empfiehlt, Leistungsberechtigte nach §§ 67 ff. SGB XII dann auf
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solche Verfahren zur Feststellung einer Einschränkung der Alltagskompetenz hinzu-
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weisen, wenn Anzeichen dafür vorliegen, dass die ältere, nach §§ 67 ff. SGB XII leis-
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tungsberechtigte Person krankheits- oder behinderungsbedingt in ihrer Fähigkeit einer
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eigenständige Lebens- und Haushaltsführung nicht nur vorübergehend eingeschränkt
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ist. Anzeichen hierfür sind gegeben, wenn sich die ältere leistungsberechtigte Person
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über lange Zeiträume oder wiederholt in unbetreuten Unterkünften oder auf der Stra-
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ße aufgehalten hat oder ein auffälliges psychisches Verhalten aufweist.
372 373
Da die Leistungsberechtigten nicht immer die versicherungsrechtlichen Vorausset-
374
zungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach dem
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SGB XI erfüllen bzw. Leistungen nach dem SGB XI noch nicht gewährt werden kön-
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nen, weil der festgestellte Pflegebedarf noch unterhalb der Pflegestufe 1 gemäß § 15
377
Abs. 1 Nr. 1 SGB XI liegt und zudem die Leistungen nach dem SGB XI regelmäßig
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nicht bedarfsdeckend sind (Teilkaskoprinzip), kommen zur Deckung pflegerischer Be-
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darfe regelmäßig Leistungen der Hilfe zur Pflege nach den Siebten Kapitel SGB XII –
380
Hilfe zur Pflege nach §§ 61 ff. SGB XII – ergänzend oder vollumfänglich in Betracht.
381
Dabei können Leistungen der Hilfe zur Pflege nach §§ 61 ff. SGB XII in ambulanter
382
Form in jedweder Wohnform für Leistungsberechtigte nach §§ 67 ff. SGB XII gewährt
383
werden.
9
Siehe: Bundesministerium für Gesundheit: Pflegeleistungen ab dem 01. Januar 2015: http://www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/Downloads/P/Pflegestaerkungsgesetze/Tabellen_Plegeleistungen_BRat_071114.pdf.
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Wenn es der Pflegebedarf erforderlich macht und die leistungsberechtigte Person
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dies wünscht, ist die Aufnahme in eine geeignete stationäre Einrichtung, die ein ent-
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sprechendes Pflegeangebot vorhält, zu ermöglichen. Mit Vorrang soll die Vermittlung
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in eine Einrichtung der Altenhilfe angestrebt werden. Dies setzt ein erreichbares An-
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gebot an Einrichtungen voraus, die in ihrer Konzeption die spezifischen Hilfebedarfe
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des Personenkreises nach §§ 67 ff. SGB XII berücksichtigen. Stationäre Einrichtun-
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gen der Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII können dann Leistungen der Pflege erbringen,
391
wenn sie über eine Zulassung zur Pflege durch Versorgungsvertrag (gemäß § 72
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SGB XI) verfügen. Andernfalls ist die Erbringung der erforderlichen Pflegeleistungen
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durch einen externen (zugelassenen) Pflegedienst in der Einrichtung erforderlich.10
394
Soweit alters- und lebenslagebedingt keine Aussichten auf eine Reintegration in eine
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selbstständige Lebensführung bestehen, soll der leistungsberechtigten Person ein
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dauerhaftes Wohnangebot mit begleitender sozialer und pflegerischer Unterstützung
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unterbreitet werden, das ihrem Hilfebedarf entspricht. Dabei ist ein mietvertraglich ab-
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gesicherter eigener Wohnraum, ggf. in einer Wohngruppe, mit einem hiervon getrenn-
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ten Vertrag über Betreuungs- und Pflegeleistungen das erste Mittel der Wahl. Dies
400
kann z.B. in entsprechenden Seniorenwohnanlagen erfolgen, die bei Bedarf durch ei-
401
ne Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII begleitet werden. Gegebenenfalls können hierfür be-
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stehende kommunale Belegrechte genutzt werden.
403
Sofern es sich um einen längerfristigen Hilfebedarf handelt, ist die Hilfe nach §§ 67 ff.
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SGB XII jeweils so lange zu gewähren, als dies notwendig ist, um die sozialen
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Schwierigkeiten zu mildern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. Dabei ist die Ziel-
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erreichung der in der Hilfeplanung vereinbarten Hilfeziele regelmäßig zu überprüfen
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und in der Fortschreibung der Hilfeplanung ggf. durch eine Anpassung der Hilfekon-
408
zeption zu berücksichtigen. Das Hilfeziel der Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII trifft nicht
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mehr zu, wenn sich aus dem Hilfeverlauf und den Ergebnissen der Hilfe ergibt, dass
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derzeit keine Aussichten bestehen, die soziale Schwierigkeiten zu beseitigen, zu mil-
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dern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. In diesem Falle ist nach einer sorgfälti-
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gen Prüfung der Bedarfssituation ein Wechsel in eine andere bedarfsgerechte Hilfe-
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form und eine Beendigung der Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII erforderlich. Die Beendi-
10
Siehe hierzu auch die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 25.02.2015 – B 3 KR 10/14 R –.
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gung einer Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII schließt eine mögliche erneute Hilfegewäh-
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rung bei Wiedereintritt der Anspruchsvoraussetzungen nicht aus. Zur Gewährleistung
416
der Existenzsicherung sollen in Verbindung mit erforderlichen Leistungen zum Le-
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bensunterhalt nach §§ 27 ff. SGB XII oder der Grundsicherung im Alter und bei Er-
418
werbsminderung nach §§ 41 ff. SGB XII persönliche Hilfen im Rahmen der Beratung
419
und Unterstützung zur aktiven Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft nach § 11
420
SGB XII ggf. in Verbindung mit Leistungen der Altenhilfe nach § 71 SGB XII in Be-
421
tracht gezogen werden. Das Angebot einer unbetreuten ordnungsrechtlichen Unter-
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bringung oder eine Entlassung „auf die Straße“ ist die Herbeiführung des Hilfebedarfs
423
„durch Dritte“ im Sinne des § 1 Abs. 3 der DVO zu § 69 SGB XII und damit keine an-
424
gemessene Beendigung der Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII. Dies ist zu vermeiden.
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