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Zum Spannungsverhältnis von Integration und Segregation
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Zugänge zur Realität von Integration und SegregaSegregation
In diesem Kapitel stelle ich acht theoretische oder empirische Zugänge zur Realität von Integration und Segregation dar. Im historischen Rückblick stellt Jean-Claude Schmitt die These auf, dass Außenseiter entlang dem Kriterium „Nützlichkeit“ für die anderen integriert werden oder in der Segregation gehalten werden (vgl. 3.1). Elias arbeitet heraus, dass Außenseiter und Etablierte eine Figuration bilden, also in einer für die Handelnden funktionalen Beziehung zu einander stehen, die durch ein Machtgefälle gekennzeichnet ist (vgl. 3.3). Nach Bourdieu bilden feine Unterschiede die Grenzen zwischen solchen Segmenten der Gesellschaft, die nicht durch markante Machtunterschiede der Gruppen gezogen werden – soziale Klassen werden durch den Habitus, den Lebensstil konstituiert (vgl. 3.4). Max Weber problematisiert ethnische Grenzen, die nichts mit unbestreitbaren gemeinsamen Merkmalen zu tun haben, aber dafür umso mehr mit einem Glauben an Gemeinsamkeit (vgl. 3.5). In 3.6 wird die Problematik der Zurechnung entlang nationaler Grenzen an einigen Beispielen aufgezeigt. Ich reiße danach die Homogenisierungs- und Formierungsbestrebungen von Nationalstaaten an und zeige deren Strategie, Gemeinsamkeit auf einem staatlichen Territorium zu stiften, die von den Bewohnern so nicht geteilt wird (vgl. 3.7). Die Innenseite der Außenseiterproduktion wird im autobiographischen Text von Steele deutlich: Der Versuch, Diskriminierung einer Gruppe zu einem Problem des Individuums zu machen, will durchschaut werden (vgl. 3.8). Zum Schluss überprüfe ich einige liebgewordene Annahmen zur räumlichen Segregation, zur Ghettosituation und deren Ursachen und Folgen sowie zu deren Funktion für Außenseiter (vgl. 3.9).
3.1
Zur Geschichte der Außenseiter 1
Schmitt gibt einen Abriss der Geschichte der Außenseiter und hebt dabei hervor, dass eine Gruppe mit gleichen Merkmalen zeitweilig eine Außenseiterposition zugewiesen erhalten und in anderen Zeiträumen keine Außenseiter, sondern Insider darstellen kann. Die Liste dieser Außenseiter im Lauf der Geschichte ist umfassend: Fleischer, Abdecker, Scharfrichter, Entleerer der Fäkaliengruben, Tucharbeiter (Walker, Weber und Färber), Geldleiher, Händler, Prostituierte, Juristen, Juden, Leprakranke, als Häretiker bezeichnete Abweichler, fahrende Schüler, Arme, Zigeuner, Angehörige von Bettelorden, Arbeitslose, ‚Hexen’, Nutzlose (Gauner, Bettler, Krüppel, Narren), ... . (Der Sammelband von Hergemöller (1990) umfasst Aufsätze zu „Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft“ über Prostituierte, Henker, Spielleute, Hebammen, Narren, Aussätzige, Juden, Hexen und Sodomiter: Also fast der gleiche Katalog mit anderen Bezeichnungen wie bei Schmitt – nur die „Sodomiter“ (Sammelbegriff für sexuelle Abweichler/mehrheitlich Homosexuelle) tauchen zusätzlich auf.) Schmitt stellt die Hypothese auf, „daß eine Gesellschaft sich in der Einstellung zu ihren Randzonen als ganze enthüllt. Theoretisch bieten sich zwei Möglichkeiten an: die Eingliederung oder der Ausschluß der Außenseiter. Konkret haben wir beide Tendenzen beobachtet – die erste repräsen-
Außenseiter, Insider, wieder Außenseiter
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tierten zum Beispiel die Händler, die zunächst beargwöhnt wurden, deren Ruf sich jedoch allmählich ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung anpaßte und deren Sprecher bald eine gewichtige Rolle in der Definition der Normen für die ganze Gesellschaft spielten; der gegenläufigen Tendenz waren zum Beispiel die Geisteskranken unterworfen, die schrittweise isoliert, zurückgewiesen, verborgen und schließlich eingesperrt wurden, oder die Juden, die zunächst immer stärker isoliert, dann zunehmend integriert, im 19. Jahrhundert in Frankreich sogar assimiliert wurden, bis die Dreyfus-Affäre und die Welle des Antisemitismus die schlimmste Version der Ausgrenzung Wahrheit werden ließen. Es gibt also in jeder Epoche eine Trennungslinie, die über Eingliederung oder Ausschluß der Marginalen entscheidet und in der (um einen Begriff der Zeit zu gebrauchen, der uns für die in betracht gezogenen Fälle angemessen erscheint) das Kriterium der gesellschaftlichen ‚Nützlichkeit’ festgeschrieben wird. Das Wort ist hier in seinen verschiedenen Bedeutungen gemeint. Es gibt erstens an, welchen materiellen Profit die Gemeinschaft von den sozialen Akteuren erwartet; in diesem Sinn begünstigt das Kriterium der ‚Nützlichkeit’ die Integration der Händler, Wucherer und Weber, ermöglicht jedoch gleichzeitig, die Müßiggänger zu stigmatisieren, die körperlich in der Lage wären, mit ihren Händen zu arbeiten. Dieses Wort zieht auch die Grenze, jenseits derer die Sicherheit des Besitzes, der Personen und die Ordnung zu Recht oder zu Unrecht bedroht scheinen. Schließlich markiert die soziale ‚Nützlichkeit’ eine Grenze des Denkbaren, wo jene zusammenkommen, an denen die sozialen Taxinomien scheitern, jene, die keinen ‚Stand’ haben. Man kann das sehr gut an der Ankunft der Zigeuner in Europa beobachten“ (Schmitt 1990, S. 236 f.).
Den Außenseitern ist gemeinsam, dass ihnen unterstellt wird, dass sie nicht nur die Normen der Gesellschaft brechen, sondern dass sie ohne Normen, ohne Regeln leben.
regellose Außenseiter?
„Im Verhältnis zur Gesellschaft waren [die Außenseiter] a-sozial. Heißt das, daß sie in ihrem ‚Milieu’ nicht ihre eigenen sozialen Regeln hatten? Oder muß man davon ausgehen, daß sie eine ‚Gegengesellschaft’ bildeten?“ (Schmitt 1990, S. 228).
Einen Rand der Gesellschaft kannte nach Schmitt auch das Mittelalter. Dieser Rand sei „eine unsichtbare Zone“ innerhalb der Gesellschaft gewesen. Erst im Laufe des Prozesses zunehmender Vergesellschaftung am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit mit dem Ausbau eines Staatsapparates zur Durchsetzung von Ordnungsvorstellungen mit Hilfe von Polizei und Justiz wurden Außenseiter außerhalb der Gesellschaft gestellt. „Die mittelalterliche Gesellschaft hatte sich durch Integration gebildet; die nun entstehende definierte sich über Gegensätze – der Vagabund und der Verbrecher wurden gebrandmarkt, verbannt, auf die Galeere geschickt“ (Schmitt 1990, S. 239).
Der Außenseiter war in der mittelalterlichen Gesellschaft also integriert, wenn auch in Randzonen der Gesellschaft – so die Hypothese von Schmitt. In modernen Gesellschaften sind Außenseiter hingegen aus der Gesellschaft ausgegliedert, marginalisiert, in die Segregation getrieben. Außenseiter werden seitdem für die Integration der anderen funktionalisiert. Außenseiter müssen seitdem das Spannungsverhältnis zwischen Integration und Segregation als Individuen bzw. innerhalb der Gruppe der Außenseiter aushalten. Diese Hypothese wird parallel von Hans Mayer geteilt; das Material Mayer’s ist allerdings belletristische Literatur. In seiner Untersuchung „Außenseiter“ zeichnet Mayer die Ausgrenzungslinien gegenüber Frauen, Homosexuellen und Juden nach (vgl. Mayer 1977). Mayer resümiert in einem späteren Vortrag:
moderne Staaten produzieren Außenseiter
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„Ich möchte auch hier, wie in meinem Buch, von der Behauptung ausgehen, daß das Problem eines gesellschaftlichen Außenseitertums in der europäischen Neuzeit, oder seit dem Zerfall des mittelalterlichen Corpus christianum, als Vorgang der Säkularisation verstanden werden muß. Der christliche Monotheismus kannte den Außenseiter nur im Bereich der Glaubenseinheit. Es gab die Exoterik und die Esoterik. Ungläubige Heiden, Juden der Synagoge mit der Binde vor den Augen, gute Katholiken, Häretiker, Ketzer. Alles reduziert auf ein Innen oder Außen in Bezug auf die christliche Glaubensgemeinschaft. Außenseiter durch ihre Taten und Meinungen sind sündige Menschen. Nur ein einziges existentielles Monstrum bevölkert die Welt der Evangelien: der verräterische Apostel Judas Ischariot. Jener Jude und Apostel, der zum Judas schlechthin werden sollte. Die Erkenntnis aber, daß Außenseiter möglich sind jenseits von Mythos und Dogma, vollzieht sich in der Tat als Säkularisationsprozeß. Sie weitet sich aus in der Renaissance und gehört dem frühen bürgerlichen Denken an. Damals sind die großen Außenseitergestalten der Literatur entstanden, die immer wieder, auch heute noch, verstören und faszinieren: Doktor Faustus und Prinz Hamlet und Don Quijote de la Mancha. Allein gerade die Gestaltung dieser Außenseitertypen oder Figuren der Grenzüberschreitung war das Werk von Außenseitern, wie man, jenseits aller historisch-biographischen Kenntnis über Marlowe oder Shakespeare oder Cervantes, den Werken selbst entnehmen darf“ (Mayer 1983, S. 9 f.).
Diese mittelalterliche Ausgrenzungslinie Christen versus Heiden/Ungläubige wird nicht in jedem Fall zu Ende des Mittelalters aufgegeben. Stefi Jersch-Wenzel berichtet, dass der preußische Staat 26 Jahre benötigte, um in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „Heiden, Juden und Zigeuner“ davon zu befreien, „vogelfrei“ zu sein. „(...) es gab auch noch Relikte aus dem Mittelalter: Erst 1842 fühlte sich das preußische Ministerium des Innern verpflichtet zu verkünden, daß in der früheren reichsunmittelbaren Grafschaft Wittgenstein, die seit 1816 zu Preußen gehörte, eine rechtsgültige Polizeiverordnung von 1573 nicht mehr angewendet werden sollte, derzufolge Heiden, Juden und Zigeuner für vogelfrei erklärt worden waren“ (Jersch-Wenzel 1996a, S. 55).
3.2
Exkurs: Die Ausgegrenzten der flüchtigen Moderne
Zygmunt Bauman analysiert in seinem Buch „Verworfenes Leben“ (2005) die Nebenfolgen von Fortschritt, Wettbewerbsorientierung und Konsumismus, an dem nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung teilhaben kann: Die gesellschaftliche Ordnung der Moderne und der allgemeine wirtschaftliche Fortschritt der globalen neoliberalen Ordnung produzieren – so Bauman kritisch – menschlichen Abfall: „nutzlose Menschen“ (Bauman 2005, S. 14). Diese ‚nutzlosen Menschen’ sind in der Logik der neoliberalen, kapitalistischen Ordnung die „Kollateralverluste des Fortschritts“ (Bauman 2005, S. 25). Sie gelten als überflüssig. „nutzlose Menschen“
„‚Überflüssig’ zu sein bedeutet, überzählig und nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden – wie auch immer der Nutz- und Gebrauchswert beschaffen sein mag, der den Standard für Nützlichkeit und Unentbehrlichkeit liefert. Die anderen brauchen dich nicht; sie kommen ohne dich genauso zurecht, ja sogar besser. Es gibt keinen einleuchtenden Grund für deine Anwesenheit und keine nahe liegende Rechtfertigung für deinen Anspruch, hierbleiben zu dürfen. Für überflüssig erklärt zu werden bedeutet, weggeworfen zu werden, weil man ein Wegwerfartikel ist – wie eine leere Einwegplastikflasche oder eine Einmalspritze, eine unattraktive Ware, für die sich keine Käufer finden, oder ein fehlerhaftes oder beschädigtes, nutzloses Produkt, das die Qualitätsprüfer vom Fließband pflücken. ‚Überflüssig’ bewegt sich im gleichen semantischen Umfeld wie ‚Ausschussware’, ‚fehlerhaftes Exemplar’, ‚Müll’ – wie Abfall. Die Arbeitslosen – die ‚industrielle Reservearmee’ – sollten noch ins aktive Erwerbsleben zurückge-
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holt werden. Der Bestimmungsort von Abfall ist die Abfallecke im Hinterhof, die Müllhalde“ (Bauman 2005, S. 20 f.).
Hierbei ist nicht nur fehlende Arbeit das Problem der ausgeschlossenen ‚Nutzlosen’, sondern auch eine allgemeine Perspektivlosigkeit und fehlende Teilhabemöglichkeiten z. B. am Konsumismus. Aber: „Konsumenten sind die wichtigsten Aktivposten der Konsumgesellschaft; schlechte Konsumenten sind ihre lästigsten und kostspieligsten Passiva“ (Bauman 2005, S. 58). Der, der nicht konsumiert, wird zu einer unnützen Größe in einer nach ökonomischem Kosten-Nutzen-Kalkül funktionierenden Welt. In der Hierarchie der ‚Nutzlosen’ sind Einwanderer, staatenlose Flüchtlinge der Abfall der Gesellschaft; sie sind die Peripherie der Peripherie: „Flüchtlinge, Heimatlose, Asylbewerber, Migranten, alle Menschen ohne Papiere – sind der Abfall der Globalisierung“ (Bauman 2005, S. 85). Diesen ‚nutzlosen Menschen’ wird aber durchaus innerhalb der Nationalstaaten und global betrachtet eine soziale Funktion zuteil: „Diese Menschen umwandern den Globus auf der Suche nach einem Auskommen und versuchen sich dort niederzulassen, wo sie ein solches Auskommen finden. So bieten sie ein leichtes Ziel für das Abreagieren von Ängsten, die von der weitverbreiteten Furcht genährt werden, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden; in dieser Dynamik müssen sie wider Willen den Regierungen dazu dienen, deren angeschlagene und schwächelnde Autorität zu stärken“ (Bauman 2005, S. 90).
Und weiter: „Es ist viel opportuner und zweckmäßiger, den Staatsfeind Nummer eins unter den unglücklichen Bewohnern der banlieues und der Asylbewerberlager auszumachen. Vor allem aber bringt es weniger Ärger mit sich. Einwandererviertel, in denen es von potentiellen Taschendieben und Straßenräubern nur so wimmelt, lassen sich viel effektiver und kostengünstiger als Schlachtfeld im großen Krieg um Recht und Ordnung verwenden, den die Regierung mit großem Einsatz und noch mehr Publicity führen, wobei sie keine Vorbehalte gegen das ‚Subsidaritätsprinzip’ haben und Unteraufträge an private Sicherheitsfirmen und Bürgerinitiativen vergeben“ (Bauman 2005, S. 91).
Die Anwesenheit ‚nutzloser Menschen’ wird folglich instrumentalisiert und bedingt erstens eine Veränderung der staatlichen Strukturen vom Sozialstaatsmodell zum starken, strafenden Staat mit Repressionsapparat sowie zweitens eine Ghettoisierung entsprechender Bevölkerungsgruppen, eine Kriminalisierung sozialer Probleme und die Ethnisierung sozialer Konflikte. Die Produktion von Furcht und Ressentiments dient als Legitimationsquelle für strafendes und segregierendes Handeln seitens des Staates. In gleicher Weise argumentiert Loic Wacquant, der eine rassistische Kriminalisierung von Elend und Armut in den USA und Europa beobachtet. Der Wohlfahrtsstaat – so Wacquant – entwickelt sich zusehends zu einem strafenden Überwachungsstaat. Nicht die Prävention, sondern die rassistisch geprägte Reaktion auf Phänomene und Folgeerscheinungen der Verelendung wird von staatlicher Seite praktiziert: „Amerika hat sich entschieden, für seine Armen eher Haft- und Strafanstalten zu bauen als Ambulanzen, Kindergärten und Schulen“ (Wacquant 2000, S. 78). Für Bauman lebt der moderne Mensch in ständiger Sorge nutzlos zu werden. Der „Schrecken des Ausschlusses“ (Bauman 2005, S. 183) – so Bauman resümierend – ist allgegenwärtig: „Ein Gespenst schwebt über den Bewohnern der flüchtigen modernen Welt und all ihren Tätigkeiten und Hervorbringungen: das Gespenst des
Kriminalisierung des Elends
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Überflüssigseins“ (Bauman 2005, S. 136). Wer in der heutigen Zeit erfolgreich mitspielen will, muss seinen Nutzen der Gesellschaft verdeutlichen können und dementsprechend z. B. flexibel auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes reagieren können.
3.3 3.3
Zu Norbert Elias’ Theorie The orie von EtabliertenEtablierten- AußenseiterAußenseiter2 Beziehungen
Nach Elias und seinem Schüler John L. Scotson gehört es zum normalen Selbstbild von Gruppen, dass sie sich von anderen, weniger mächtigen Gruppen dadurch absetzen, dass sie diese durch Etikettierung herabsetzen. Elias führt hierzu eine Reihe von Beispielen an und führt fort: „Gemeinsam ist all diesen Fällen, daß die mächtigere Gruppe sich selbst als die ‚besseren’ Menschen ansieht, ausgestattet mit einem Gruppencharisma, einem spezifischen Wert, an dem ihre sämtlichen Mitglieder teilhaben und der den anderen abgeht. Und mehr noch: In all diesen Fällen können die Machtstärkeren die Machtschwächeren selbst immer wieder zu der Überzeugung bringen, daß ihnen die Begnadung fehle – daß sie schimpfliche, minderwertige Menschen seien“ (Elias 1990a, S. 8).
mächtige Etablierte
Ein Ergebnis seiner Feldstudie in Winston Parva ist, dass die Zugewanderten das Stigma der Alteingesessenen übernehmen und akzeptieren. Die Etablierten/Alteingesessenen: „behandelten die Neuankömmlinge samt und sonders als Menschen, die nicht dazugehörten – als ‚Außenseiter’. Die anderen selbst schienen nach einer Weile mit einer Art verwirrter Resignation hinzunehmen, daß sie zu einer minderwertigen, weniger respektablen Gruppe zählten (was von ihrem faktischen Verhalten her, wie sich zeigte, nur für eine kleine Minorität berechtigt war)“ (Elias 1990a, S. 9).
ohnmächtige Außenseiter
Die Minderwertigkeit konnte als „Wahrheit“ in den Köpfen der Etablierten wie der Außenseiter verankert werden, obwohl es außer dem Zeitpunkt der Sesshaftwerdung in einer bestimmten Gemeinde kein trennscharfes Merkmal zur Unterscheidung der beiden Gruppen gab. „Es gab zwischen ihnen keine Differenzen der Nationalität, der ethnischen Herkunft, der ‚Hautfarbe’ oder ‚Rasse’; ebenso wenig unterschieden sie sich in Beruf, Einkommenshöhe oder Bildung – mit einem Wort, in ihrer sozialen Klasse. Beide Wohngebiete waren Arbeiterviertel. Als einziger Unterschied blieb, daß die Bewohner des einen Bezirks Alteingesessene waren, die seit zwei oder drei Generationen in der Nachbarschaft lebten, und die des anderen Neuankömmlinge“ (Elias 1990a, S. 10).
Die Etabliertengruppe behauptete ihren Vorrang durch Ausschluss der Außenseiter von allen sozialen Positionen in der Gemeinde und hielt die Außenseiter durch Stigmatisierung in der Außenseiterposition. Der Etabliertengruppe kam dabei zu Hilfe, dass sie über ein hohes Ausmaß an Kohäsion, an Binnenintegration verfügte. „Ihr stärkerer Zusammenhalt gibt einer solchen Gruppe die Möglichkeit, soziale Positionen mit einem hohen Machtgewicht für die eigenen Leute zu reservieren, was seinerseits ihren Zusammenhalt verstärkt, und Mitglieder anderer Gruppen von ihnen auszuschließen; und genau das ist der Kern einer Etablierten-Außenseiter-Figuration“ (Elias 1990a, S. 12).
Machterhalt durch Ausschluss
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Die Einleitung aus Elias und Scotsons Studie finden Sie in Moodle.
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Elias hält fest, dass die Beziehungen, die er in Winston Parva empirisch zwischen Etablierten und Außenseitern erfasste, allgemein gelten. Er spricht von „strukturellen Regelmäßigkeiten der Etablierten-Außenseiter-Beziehung“ und beschreibt diese am empirischen Beispiel: „Wie die Untersuchung in Winston Parva lehrte, neigt eine Etabliertengruppe dazu, der Außenseitergruppe insgesamt die ‚schlechten’ Eigenschaften der ‚schlechtesten’ ihrer Teilgruppen, ihrer anomischen Minorität, zuzuschreiben. Und umgekehrt wird das Selbstbild der Etabliertengruppe eher durch die Minorität ihrer ‚besten’ Mitglieder, durch ihre beispielhafteste oder ‚nomischste’ Teilgruppe geprägt. Diese pars-pro-totoVerzerrung in entgegengesetzter Richtung erlaubt es den Etablierten, ihre Glaubensaxiome vor sich und anderen als begründet zu erweisen: sie haben immer Belege dafür parat, daß die eigene Gruppe ‚gut’ ist und die andere ‚schlecht’“ (Elias 1990a, S. 13).
Beide Gruppen bilden eine Figuration, das Verhalten einzelner Gruppenmitglieder in dieser Figuration lässt sich nicht als individuelles beschreiben, sondern nur als gruppenspezifisches. Auf diesem Hintergrund wendet sich Elias dagegen, das beobachtbare Verhalten der Gruppenmitglieder in individualpsychologischen Kategorien zu fassen. „Gegenwärtig besteht eine Tendenz, das Problem sozialer Stigmatisierung so zu erörtern, als ob es einfach bedeute, daß Individuen eine markante Abneigung gegen andere Individuen entwickeln. Eine verbreitete Art, einschlägige Beobachtungen begrifflich zu fassen, ist die, daß man sie als ‚Vorurteil’ klassifiziert. Aber damit nimmt man als ein individuelles Geschehen wahr, was nur verständlich wird, wenn man es zugleich als ein Gruppengeschehen wahrnimmt. Viele Forscher versäumen es, den Unterschied – und die Beziehung – zwischen Gruppenstigmatisierung und individuellem Vorurteil herauszuarbeiten. In Winston Parva wie auch sonst machten die Mitglieder einer Gruppe die einer anderen nicht wegen individueller Eigenschaften oder Mängel schlecht, sondern weil die anderen einer Gruppe angehörten, die ihnen en bloc als fremd und minderwertig galt. Man kann den Schlüssel zu dem Problem, das gewöhnlich unter Überschriften wie ‚soziales Vorurteil’ diskutiert wird, nicht finden, wenn man ihn allein in der Persönlichkeitsstruktur einzelner Menschen sucht. Er liegt in der Figuration der zwei (oder mehr) betroffenen Gruppen, d. h. im Muster ihrer Interdependenz“ (Elias 1990a, S. 13 f.).
soziale Stigmatisierung und Vorurteil
Die Gruppen sind in ihrem Verhältnis durch ein Machtgefälle gekennzeichnet. Die relativ größere Macht der Etabliertengruppe erlaubt dieser, die Stigmatisierung der Außenseitergruppe zu betreiben, solange ein Machtausgleich (noch) nicht stattgefunden hat. Die Etabliertengruppe verfolgt daher mit allen Mitteln das Ziel, dass Machtgefälle aufrecht zu halten. Diesem Ziel dient die Überbewertung der eigenen Gruppe und ihrer Mitglieder („Gruppencharisma“) und die Diffamierung der fremden Gruppe und deren Mitglieder („Gruppenschande“). Die Mitglieder der Außenseitergruppe sind (in den Augen der Etablierten) unfähig, den Normen zu folgen, die in der Etabliertengruppe gelten. Die Mitglieder der Etabliertengruppe erleben die Erfüllung der Normen ihrer eigenen Gruppe dadurch selbst dann als Beitrag zu eigener Zufriedenheit, wenn sie diese Normen individuell als unangenehm oder lästig empfinden, weil sie nur so ihre Zugehörigkeit zur Etabliertengruppe sichern können. Die Bedrohung der eigenen Position bei Nichterfüllung der Normen wird durch die stigmatisierte Außenseitergruppe ständig vor Augen geführt. Eine Nichtbefolgung der Normen führt für den „Täter“ selbst zu einer Außenseiterposition. Wohlverhalten innerhalb der Gruppe der Etablierten wird also dadurch honoriert, dass man nicht ausgestoßen wird. Wohlverhalten erhält so den eigenen Status und vermindert die Gefahr des individuellen Abstiegs in eine Außenseiterposition. „Die Strafe für Abweichung, und manchmal
etabliert und normkonform
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bereits für vermutete Abweichung, ist Machtverlust und Statusminderung“ (Elias 1990a, S. 40). Wohlverhalten in der Etabliertengruppe und damit ständige Einübung in das Ritual der Abgrenzung von Außenseitern wird zur Bedingung der Zugehörigkeit zu den Etablierten. Wohlverhalten wird gleichzeitig zur Bedingung, die eigene Selbstachtung zu erlangen und aufrecht zu halten. Führt Wohlverhalten innerhalb der Etabliertengruppe über die Höherbewertung („Gruppencharisma“) der Eigengruppe zu Selbstachtung bei den Gruppenmitgliedern, so führt permanente, ungebrochene Stigmatisierung („Gruppenschande“) der Außenseitergruppe bei deren Mitgliedern zu Selbstverachtung und Minderwertigkeitsgefühlen. „Immer mehr Hinweise (...) sprechen dafür, daß das Aufwachsen in einer Gruppe von stigmatisierten Außenseitern zu bestimmten intellektuellen und emotionalen Defiziten führen kann“ (Elias 1990a, S. 26).
Landläufig werden diese ‚Defizite’ dann als Gruppenmerkmale mit konstantem, unausweichlichem Charakter (biologisch, genetisch determiniert) beschrieben. Dies ist nach Elias eine Fehldeutung:
ethnische Grenzen
„Es ist durchaus kein Zufall, daß man in Etablierten-Außenseiter-Beziehungen, die nicht mit rassischen oder ethnischen Unterschieden zusammenhängen, ähnliche Sachverhalte entdeckt wie in Beziehungen, die damit zusammenhängen. Das verfügbare Material legt den Schluß nahe, daß auch im zweiten Fall individuelle Entwicklungsunterschiede nicht von rassischen oder ethnischen Faktoren herrühren, sondern von dem Umstand, daß es sich einmal um eine machtstärkere Etabliertengruppe handelt und das andere Mal um eine erheblich machtschwächere Außenseitergruppe, die von jener gedemütigt und ausgegrenzt werden kann“ (Elias 1990a, S. 26).
Die Zuschreibung von Merkmalen zu Gruppen, die entlang ‚rassischer’ oder ‚ethnischer’ Kriterien unterscheidbar scheinen, wird so zu einem Beitrag, das Machtgefälle zwischen Etablierten und Außenseitern zu verschleiern. „Es scheint, daß Begriffe wie ‚rassisch’ oder ‚ethnisch’, die in diesem Zusammenhang sowohl in der Soziologie als auch in der breiteren Gesellschaft weithin gebraucht werden, Symptome einer ideologischen Abwehr sind. Durch ihre Verwendung lenkt man die Aufmerksamkeit auf Nebenaspekte dieser Figuration (z. B. Unterschiede der Hautfarbe) und zieht sie ab von dem zentralen Aspekt (den Machtunterschieden). Ob sich die Gruppen, bei denen man je nachdem von ‚Rassenbeziehungen’ und ‚Rassenvorurteil’ redet, nach ihrer ‚rassischen’ Herkunft und Körperbildung unterscheiden oder nicht, ausschlaggebend für ihre Beziehung ist, daß sie in einer Weise aneinander gebunden sind, die der einen Gruppe sehr viel größere Machtmittel zuspielt und sie befähigt, die Mitglieder der anderen von den Bastionen dieser Macht auszuschließen und ihnen den engeren Verkehr mit ihren eigenen Mitgliedern zu verweigern, was die anderen in die Position von Außenseitern verbannt. Auch wo daher in solchen Fällen Unterschiede des körperlichen Aussehens und sonstiger biologischer Aspekte, auf die wir mit dem Wort ‚rassisch’ abzielen, vorhanden sind, wird die Soziodynamik der Beziehung zwischen Gruppen, die als Etablierte und Außenseiter miteinander verflochten sind, durch die Art ihrer Verflechtung bestimmt und nicht durch irgendwelche davon unabhängigen Merkmale ihrer Angehörigen“ (Elias 1990a, S. 27).
Elias warnt davor, die Etablierten-Außenseiter-Figuration nur in ökonomischen Kategorien zu begreifen. Nicht nur dann, wenn das Machtgefälle zwischen Gruppen besonders groß, die ökonomischen Ungleichgewichte besonders ausgeprägt sind, finden wir die Etablierten-Außenseiter-Figuration. Vielmehr erhält die Figuration gerade dann auch besonderes Gewicht, wenn es um die Abgrenzung von relativ ähnlichen Gruppen geht (vgl. hierzu 3.4).
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Das Selbstbild einer Gruppe (das „Wir“-Gefühl) in Abgrenzung zu Anderen (den „Sie“) ist bei Elias ebenso Teil des Selbstbildes eines Individuums wie die nur auf die Person bezogenen Zuschreibungen.
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Selbstbilder von Gruppen und Einzelnen
„Das Wir-Bild und Wir-Ideal eines Menschen ist ebenso ein Teil seines Selbstbildes und Selbstideals wie das Bild und Ideal seiner selbst als der einzigartigen Person, zu der er ‚Ich’ sagt“ (Elias 1990a, S. 44).3
Diese Position ist ebenso eine Absage an das autonome Individuum, das sein Verhalten völlig unabhängig – z. B. nur seinem Gewissen folgend – trifft, wie eine Absage an das außengeleitete Gruppenmitglied, das nur konform agieren kann. „Die heute verbreitete Vorstellung, daß ein psychisch gesundes Individuum völlig unabhängig von der Meinung aller seiner Wir-Gruppen werden könne und insofern absolut autonom, ist nicht minder irreführend als die entgegengesetzte Vorstellung, daß seine Autonomie jemals in einem Kollektiv von Robotern aufgehen könne“ (Elias 1990a, S. 41).
Diese Darstellung der Etablierten-Außenseiter-Figuration zeigt exemplarisch das Spannungsverhältnis zwischen Integration und Segregation. Beide Gruppen verfügen über ein hohes Maß an Binnenintegration, anfänglich in der Gruppe der Etablierten als Abwehr der Zuwanderer entstanden und so zur Segregation von den Außenseitern funktionalisiert, führt die Binnenintegration der Etablierten zur Binnenintegration der Außenseiter und damit wiederum zur Abgrenzung. So entstehen stabile Beziehungen innerhalb der Gruppen und feste Außengrenzen, die nicht durch individuelle Wahl überschritten werden können. Außenseiter haben weder als Gruppe noch als Einzelne eine Chance, zur Etabliertengruppe überzugehen. Etablierte können durch Verletzung der Normen selbst zu Außenseitern werden. Die Beziehungen zwischen Etablierten und Außenseitern sind also durch Segregation voneinander und durch Binnenintegration innerhalb der Gruppen gekennzeichnet. Dabei ist die Binnenintegration bei den Etablierten eine Folge der Abgrenzungsbedürfnisse von den Außenseitern, während die Binnenintegration bei den Außenseitern eine Folge der Abgrenzung der Etablierten ist und erst durch die Diskriminierungserfahrung in der Gruppe der Außenseiter entsteht. Integration in der einen Gruppe ist Folge und Ergebnis der Segregation von der anderen Gruppe.
3.4 3.4
Ausgrenzungslinie Lebensstil
Bourdieu hat uns auf die feinen Grenzen von Segmenten der Gesellschaft mit seinem Hinweis auf „die feinen Unterschiede“ aufmerksam gemacht (Bourdieu 1984). Die Grenzen dieser Segmente werden durch den Habitus gezogen. Der Habitus eines Menschen ist das Ergebnis eines lebenslangen Sozialisations- und Lernprozesses, in welchem sich der Mensch die Welt aktiv aneignet und die sozialen Regeln und das für ihn relevante gesellschaftliche Wissen verinnerlicht. Die Konstruktion des individuellen Habitus erfolgt somit im Verlauf der sozialisatorischen Praxis, d. h. der prägenden Interaktion zwischen Welt und Subjekt, wobei die maßgebliche Prägung und Internalisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nach Bourdieu in der Kindheit erfolgt.
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Elias vermeidet hier den unglaublich populären und inflationär verwendeten Begriff „Identität“, der nur scheinbar geklärt ist und bleibt bei der operationalisierten Kategorie „Wir-Gruppe“.
feine Unterschiede zur Abgrenzung