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Leseprobe - Ferdinand Schöningh

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Michael Jonas/Ulrich Lappenküper/Bernd Wegner (Hg.) STABILITÄT DURCH GLEICHGEWICHT? OTTO-VON-BISMARCK-STIFTUNG WISSENSCHAFTLICHE REIHE Herausgegeben von Lothar Gall Band 21 STABILITÄT DURCH GLEICHGEWICHT? BALANCE OF POWER IM INTERNATIONALEN SYSTEM DER NEUZEIT MICHAEL JONAS/ ULRICH LAPPENKÜPER/ BERND WEGNER (Hg.) STABILITÄT DURCH GLEICHGEWICHT? Balance of Power im internationalen Sytem der Neuzeit 2015 FERDINAND SCHÖNINGH Titelbild: Équilibre Européen (Homoré Daumier, 1866) Die Otto-von-Bismarck-Stifung wird gefördert aus dem Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-78374-5 Inhaltsverzeichnis MICHAEL JONAS/ULRICH LAPPENKÜPER/BERND WEGNER Einleittung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 URSPRÜNGE UND ENTFALTUNG DES GLEICHGEWICHTSDENKENS IM ALTEN EUROPA KLAUS MALETTKE Universalmonarchie, kollektive Sicherheit und Gleichgewicht im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 BERNHARD R. KROENER Gleichgewichtsdenken im späten 18. Jahrhundert. Die Balance of Power der europäischen Pentarchie in der Bewährung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 NEUNZEHNTES JAHRHUNDERT TIMOTHY BLANNING Von der Balance of Power zum politischen Äquilibrium? Krieg und Frieden in Europa 1750 bis 1815 . . . . . . . . . . . . . . 57 MATTHIAS SCHULZ Mächterivalität, Rechtsordnung, Überlebenskampf. Gleichgewichtsverständnis und Gleichgewichtspolitik im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 GLEICHGEWICHT IM ZEITALTER DER EXTREME PATRICK O. COHRS Auf der Suche nach einem legitimen Aquilibrium. Das britische Streben nach europäischer Stabilität und einer neuen internationalen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 6 Inhaltsverzeichnis BERND WEGNER Die Welt aus der Balance. Europa im internationalen System der 1930er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 JOST DÜLFFER »Balance of Power« im nuklearen Zeitalter? . . . . . . . . . . . . . . 159 SYSTEMTHEORETISCHE BETRACHTUNGEN UND PERSPEKTIVEN ZU BEGINN DES 21. JAHRHUNDERTS MICHAEL SHEEHAN Gleichgewicht der Kräfte in einem anarchischen Staatensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 FLORIAN KÜHN Was ist Gleichgewicht? Zur Einordnung von Staaten in System und von Systemen in ihren genealogischen Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 MICHAEL STAACK Von der »Pax Americana« zur multipolaren Konstellation. Perspektiven einer neuen Weltordnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 AUTORENVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Einleitung von MICHAEL JONAS/ULRICH LAPPENKÜPER/ BERND WEGNER Als der liberale britische Politiker und Industrielle Richard Cobden sich 1835 daran machte, seine Ablehnung des Begriffs Balance of Power zu begründen, nahm er von den praktischen Maßgaben der Alltagspolitik bewusst Abstand. In der Praxis habe es so etwas wie eine Balance ohnehin niemals gegeben; die internationalen Beziehungen seien – abseits rhetorischer Inszenierung – stets staatlichen wie imperialen Egoismen unterworfen gewesen. Die Theorie des Mächtegleichgewichts1 freilich sei hinfällig: »The balance of power, which has for a hundred years been the burden of kings’ speeches, the theme of statesmen, the ground of solemn treaties, and the cause of wars; which has served, down to the very year in which we write, and which will, no doubt, continue to serve for years to come as a pretence for maintaining enormous standing armaments by land and sea, at a cost of many hundreds of millions of treasure – the balance of power is a chimera! It is not a fallacy, a mistake, an imposture, it is an undescribed, indescribable, incomprehensible nothing.«2 Obgleich Cobdens Ablehnung durchaus kategorische Züge trägt, lässt er sich auf eine Diskussion unterschiedlicher Definitionsversuche des Mächtegleichgewichts ein. Polemisch vergröbert er dabei die seit dem 18. Jahrhundert virulenten Vorstellungen von einer mal kontinentalen, mal globalen Balance, in deren Zentrum stets das aufkommende britische Empire steht. Zugleich deuten Cobdens Ausführungen eine erstaunliche Sensibilität für die Unzulänglichkeiten modischer Gleichgewichtsmetaphorik an, für den schillernden und doch obskuren, in jedem Fall künstlichen Charakter des Begriffs, weit abseits politischpragmatischer Konkretisierbarkeit.3 Modern gewendet, ließe sich von 1 2 3 Die Begriffe Balance of Power und Mächtegleichgewicht (bzw. Gleichgewicht der Kräfte) werden, obgleich in ihrer historischen Semantik unterschiedlich nuanciert, im Folgenden aus pragmatischen Erwägungen größtenteils synonym verwendet. Richard Cobden, Political Writings. London 1878 [Erstdruck 1835], 111-114. Zur Metaphorik des Gleichgewichtsbegriffs vgl. Richard Little, The Balance of Power in International Relations: Metaphors, Myths and Models. Cambridge 8 Einleitung der sozialkonstruktivistischen Funktion des Begriffs sprechen, die Cobden zu enthüllen versucht. In der skeptischen Distanz zum Begriff freilich ist Cobden den zentralen Denkern des gleichgewichtstheoretischen Diskurses seiner wie der heutigen Zeit näher, als dies angesichts der Radikalität seiner Ausführungen anzunehmen wäre. Selbst der von ihm kasteite englische Philosoph und Staatsmann Bolingbroke hatte ein Jahrhundert zuvor seine Idee von Großbritannien als Schlichter im Streit der Staaten und als Hüter der Freiheit ergänzt um die Formulierung, London müsse auch als Bewahrer jenes Gleichgewichts auftreten, »which has been so much talked of, and is so little understood.«4 An dieser Diagnose hat sich auch in den folgenden beinahe drei Jahrhunderten nur wenig geändert. Was die frühen Gleichgewichtsdenker umtrieb, scheint auch heute keineswegs ausgeräumt. Vielmehr hat, so wird einhellig konstatiert, die sich intensivierende Beschäftigung mit der Balance of Power im 20. Jahrhundert, zumal nach 1945, zu einer nicht gänzlich neuen Unübersichtlichkeit geführt.5 Obgleich sich hier auch weiterhin ein weites Feld an Ansätzen zur Systematisierung bietet, befindet sich die Forschung zur Tradition und Theorie des Mächtegleichgewichts noch immer in einem »unsatisfactory state«, wie es Paul W. Schroeder – der Doyen der Gleichgewichtshistoriker – bereits in den späten 1980er-Jahren erfasst hat.6 Diese intensiv empfundene Stagnation dürfte sich auch aus der an sich unkomfortablen Ausgangslage erklären: Der Begriff – Balance of Power – lässt sich angesichts der ihm eigenen historischen Semantik bestenfalls als schwer fassbar, mehrdeutig, gleichsam proteushaft bezeichnen. Selbst abseits grob unterschiedlicher historisch eingelassener Bedeutungsebenen ist bereits die Bestimmung der Kriterien für das, was eine Balance of Power überhaupt ausmacht, umstritten. Ist es die 4 5 6 2007, 17-88; Niels F. May, Eine Begründungsmetapher im Wandel. Das Gleichgewichtsdenken in der Frühen Neuzeit, in: Frieden übersetzen in der Vormoderne: Translationsleistungen in Diplomatie, Medien und Wissenschaft, hrsg. von Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst. Göttingen 2012, 89-112. Henry St. John Bolingbroke, The Idea of the Patriot King, in: ders., Political Writings, hrsg. von David Armitage. Cambridge 1997 [1738, Erstdruck 1749], hier 278. Forschungsüberblicke u. a. bei Michael Sheehan, The Balance of Power. History and Theory. London u. a. 1996; Arno Strohmeyer, Gleichgewicht der Kräfte, in: Enzyklopädie der Neuzeit, hrsg. von Friedrich Jäger, Bd. 4. Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 925-931, der konstatiert (Sp. 926): »Eine moderne Forschungsgeschichte gibt es trotz der breiten, kaum überschaubaren Literatur nicht.« Paul W. Schroeder, The Nineteenth Century System: Balance of Power or Political Equilibrium?, in: Review of International Studies 15, 1989, 135-153, hier 135. Einleitung 9 gleichmäßige Verteilung von Macht in einem gegebenen internationalen System, die Balance erst schafft, oder die Abwesenheit von das System bestimmenden Koalitionen, oder aber das Vorhandensein von Möglichkeiten zur Koalitionsbildung, die der Etablierung einer Vormacht vorbeugen? Erschöpft sich die Balance of Power gar in einer Art bündnispolitischer Flexibilität, oder benötigt sie, um sich als funktionstüchtig zu erweisen, tatsächlich die wiederum systemisch eingehegte Hegemonie als Ordnungsfaktor, wie Ludwig Dehio vorgeschlagen hat? Diese Fragen, ganz offensichtlich Schroeders nahezu klassischen Betrachtungen entlehnt, sind nicht – oder nur sehr bedingt – der Resignation angesichts der Doppelbödigkeit und schweren Konkretisierbarkeit des Themas geschuldet.7 Sie sind somit auch nicht der Versuch einer quasi vorauseilenden Fahnenflucht hin in die definitorische Beliebigkeit. Sie sollen vielmehr die Notwendigkeit nahelegen, über die umrissenen Hindernisse hinweg Begriff, Theorie und – nicht zuletzt – politische Praxis des Mächtegleichgewichts aus unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen. Diesem Ansatz sieht sich der vorliegende Sammelband verpflichtet, der auf eine gemeinsame Tagung der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh und der HelmutSchmidt-Universität, Hamburg, vom Frühjahr 2013 zurückgeht. Gestützt auf eine seit Dehio und Kissinger ins Unüberschaubare angewachsene Forschung, die sich ihrer eigenen Tradition bisher freilich nur unzulänglich versichert hat, werfen die hier vorgestellten Beiträge das Kernproblem des internationalen Mächtegleichgewichts in einem historischen Längsschnitt erneut auf.8 Ein solcher Längsschnitt dürfte dabei gleichermaßen geeignet sein, Genese und Ursprünge des Gleichgewichtsdenkens zu skizzieren und über dessen Entfaltungen und Erschütterungen im 19. und 20. Jahrhundert Auskunft zu geben. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob bzw. in welchem Maße Gleich7 8 Vgl. neben Schroeder, Nineteenth Century System (wie Anm. 6), 135f.; ders., The Transformation of European Politics 1763-1848. Oxford 1994; ders., Did the Vienna Settlement Rest on a Balance of Power?, in: American Historical Review 97, 1992, 683-706, 733-735; zuletzt ders., The Transformation of European Politics. Some Reflections, in: Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongress 1815 bis zum Krimkrieg 1853, hrsg. von Wolfram Pyta/Philipp Menger. Köln 2009, 25-41. Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. Krefeld 1948; Henry A. Kissinger, Peace, Legitimacy, and the Equilibrium: A Study of the Statesmanship of Castlereagh and Metternich (PhD, Harvard University, 1954, veröffentlicht als: A World Restored: Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace, 1812-22. Boston 1957). 10 Einleitung gewichtskonstruktionen das internationale System stabilisiert und den Frieden befördert haben – oder aber, wie Kant einmal meinte, doch eher Kartenhäusern glichen, die zusammenbrächen, wenn sich nur ein Sperling auf ihnen niederlasse. Die folgenden Vorüberlegungen mögen das hierbei verfolgte Erkenntnisinteresse ein wenig konkretisieren. Die Absicht, Staatensysteme mittels einer Balance von vorhandenen Kräften zu stabilisieren, findet sich als ordnendes Element sowohl der politischen Theorie als auch der klassischen Diplomatie bereits in der Antike. Der Grundgedanke von Gleichgewichtspolitik ist dabei in zeittypischer Form bei Thukydides und nicht zuletzt bei Polybios angelegt.9 Jene eigentliche, den Begriff als solches auch explizit benennende Theorie der Balance of Power ist freilich in erster Linie frühneuzeitlichen Ursprungs und nimmt ihren Anfang vor dem Hintergrund der Genese des modernen Völkerrechts im 16. und insbesondere 17. Jahrhundert. Lassen sich bereits in der komplexen stadtstaatlichen Machtpolitik Norditaliens seit dem späten 15. Jahrhundert erste Ansätze von Gleichgewichtsdenken in Theorie und Praxis finden, so etabliert sich die Balance of Power in den folgenden Jahrzehnten als fundamentales Prinzip von Politik und Diplomatie im europäischen Mächtesystem. Ihren Kulminationspunkt erreichte diese Entwicklung im Zusammenhang mit der Befriedung der Spanischen Erbfolgekriege und hier vor allem im Frieden von Utrecht von 1713, der ein Gleichgewicht der Mächte international verbindlich fixierte.10 Konterkariert wurde diese Tendenz zur Verrechtlichung und systemischen Stabilisierung indes vom ungebrochen bellizistischen Charakter des Mächtesystems. Folgt man erneut Schroeder, so lässt sich der an sich friedensbewahrende Balance-Gedanke dieser Zeit faktisch auf 9 10 Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden, eingeleitet und übersetzt von Hans Drexler. Zürich 1961, I, Kap. 83; Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, hrsg. und übersetzt von Georg Peter Landmann. Düsseldorf 2002, I, Kap. 55-72; zur Relativierung der antiken Tradition vgl. u. a. Herbert Butterfield, The Balance of Power, in: ders./Martin Wight (Hrsg.), Diplomatic Investigations. London 1966, 133. Zum Kontext vgl. Frederik Dhondt, From Contract to Treaty. The Legal Transformation of the Spanish Succession, 1659-1713, in: Journal of the History of International Law 13, 2011, 347-375; Klaus Malettke, Hegemonie – multipolares System – Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1648/16591713/1714. Paderborn u. a. 2012, 461-470; Andreas Osiander, The States System of Europe, 1640-1990: Peacemaking and the Conditions of International Stability. Oxford 1994, 90-165. Relativiert wird dies durch die Arbeiten von Randall Lesaffer, u. a., The Peace of Utrecht, the Balance of Power, and the Law of Nations, in: Tilburg Law School Legal Studies Research Paper No. 05/2014, URL: http://ssrn.com/abstract=2384467. Einleitung 11 eine »pure balance of conquests« reduzieren – ein Umstand, der nicht unwesentlich zur allgemeinen kontinentaleuropäischen Sicherheitskrise des 18. Jahrhunderts beitrug.11 Um diesen historischen Hintergrund zu vergegenwärtigen, ist die erste Sektion des vorliegenden Sammelbandes auf die Genese des Leitbegriffs vom Mächtegleichgewicht und dessen Ort im politischen Denken der Frühen Neuzeit abgestellt. Klaus Malettke umreißt dabei den frühen Entwicklungskontext im 17. Jahrhundert, während Bernhard Kroener sich mit den höchst variablen Vorstellungen von Gleichgewicht in der pentarchischen – und dabei höchst instabilen – Ordnung des 18. Jahrhunderts auseinandersetzt. Nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Hegemonie auf dem europäischen Kontinent konsolidierte sich die zeitgenössisch als »Konzert« firmierende Großmächteordnung, die die Geschicke des Kontinents bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bestimmen sollte. Die europäische Pentarchie galt in der Forschung lange als beinahe idealtypische Entfaltung der Balance of Power. Ausgehend von einer Neuinterpretation der Wiener Ordnung von 1814/15 stellte Schroeder dieser Annahme seit den 1980er-Jahren die Vorstellung vom 19. Jahrhundert als Phase eines »politischen Equilibriums« gegenüber. Dieses Equilibrium ist dabei nicht in erster Linie als dem 18. Jahrhundert verhaftetes Mächtegleichgewicht zu verstehen, sondern als neuartige »balance of satisfactions, a balance of rights and obligations and a balance of performance and pay-offs«, in der die Kontrolle des potentiellen Hegemon nicht über die bündnispolitische Isolation desselben, sondern über dessen Einbindung in ein um Ausgleich bemühtes internationales System vonstatten ging.12 Die Dichotomie von Balance of Power und Äquilibrium bewusst aufnehmend, entwickelt Tim Blanning in seinem Beitrag anhand dieser groben Wegmarkierungen eine Transformationsgeschichte des Gleichgewichtsdenkens vom späten 18. bis ins frühe post-napoleonische Europa. In Absetzung von Schroeder steht in deren Zentrum freilich weniger die revolutionäre Umformung als die graduelle Reform der existierenden Gleichgewichtsordnung durch die europäischen Großmächte. An Blannings Ausführungen schließt sich der Beitrag von Matthias Schulz an, der sich mit den Normen und der einschlägigen Praxis internationaler Beziehungen im europäischen Mächtekonzert während des langen 19. Jahrhunderts beschäftigt. Im Mittelpunkt seiner Be11 12 Schroeder, The Transformation of European Politics (wie Anm. 7), 33. Ders., Nineteenth Century System (wie Anm. 6), 143. 12 Einleitung trachtungen steht der Prozess der Etablierung und Bewährung einer neuen europäischen Großmachtordnung und damit auch der eines neuartigen Gleichgewichtsdenkens, wie es sich bereits im Vertrag von Chaumont 1814 andeutet. Als Kern und künftige Handlungsprämisse dieses Systems, verdichtet in der Kongressdiplomatie der folgenden Jahrzehnte, erscheint die Verflechtung zwischen Gleichgewicht auf der einen und internationalem Recht auf der anderen Seite. Mit der schleichenden Zerrüttung dieser »rechtlichen Rückbindung« im Laufe der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts löst sich auch das BalanceDenken der Zeit auf und wird zunehmend durch imperialistische und sozialdarwinistische Begriffe von Großmächterivalität und Überlebenskampf ersetzt. Die dritte Sektion, in deren Zentrum die Beschäftigung mit dem Mächtegleichgewicht im 20. Jahrhundert steht, scheint nur auf den ersten Blick thematisch gewagt. Bereits zeitgenössisch wurde die im Gefolge des Ersten Weltkriegs etablierte multilaterale Weltordnung und das mit dieser einhergehende System kollektiver Sicherheit als Antithese zur Großmachtpolitik des imperialen Zeitalters gesehen. Woodrow Wilson erklärte bereits im Frühjahr 1918 programmatisch vor dem Kongress, dass jenes »great game, now forever discredited, of the balance of power« abgeschafft gehöre.13 Auch ein Großteil der Forschung, nicht zuletzt die frühe realistische Schule der Internationalen Politik, sah sich durch das krisenhafte Ende der kollektiven Sicherheitsordnung in den 1930er-Jahren in seiner fundamentalen Kritik am verfehlten Idealismus der Zwischenkriegszeit bestätigt.14 Erst spät bemühte sich die einschlägige Forschung zum Thema darum, das Verhältnis zwischen dem System kollektiver Sicherheit der 1920er- und 1930er-Jahre und der Tradition und Frage nach dem Mächtegleichgewicht auszuloten – ein Prozess, der im übrigen noch vergleichsweise unabgeschlossen wirkt und auf dessen begriffliche, analytische und interpretatorische Kernprobleme die skizzierte Sektion strukturierter Bezug nimmt, als dies bisher der Fall war. Am Beispiel der britischen 13 14 U.S. Präsident Woodrow Wilsons Rede vor dem Kongress, 11. Februar 1918, abgedruckt in: Edmund Marhefka (Hrsg.), Der Waffenstillstand 1918-1919. Berlin 1928, 6f. Verdichtet in der Person und im Werk E. H. Carrs, vor allem: The Twenty Years’ Crisis: An Introduction to the Study of International Relations, hrsg. von Michael Cox. Basingstoke 2001 [Erstdruck 1939]; vgl. Graham Evans, E. H. Carr and International Relations, in: British Journal of International Studies 1, 1975, 77-97; John Mearsheimer, E. H. Carr vs. Idealism: The Battle Rages On, in: International Relations 19, 2005, 139-152; Michael Cox, E. H. Carr and the Crisis of Twentieth-Century Liberalism: Reflections and Lessons, in: Millennium: Journal of International Studies 38, 2010, 1-11. Einleitung 13 Außenpolitik setzt sich Patrick Cohrs in diesem Rahmen mit der Stabilisierung Europas in den 1920er-Jahren auseinander und lotet dabei insbesondere aus, inwieweit Versailles und das mit dem Friedensprozess assoziierte System sich von den bisherigen Ausprägungen und Traditionen des europäischen Gleichgewichtsdenkens absetzten. An Cohrs’ Ausführungen schließen sich Bernd Wegners Betrachtungen zur Frage an, inwieweit die 1930er-Jahre als eine Phase der Zerstörung jeglicher Equilibriumsordnungen in Europa und Asien mit gleichgewichtstheoretischen Begriffen überhaupt heuristisch sinnvoll zu erfassen sind. Abgerundet wird dieser Teil mit dem Versuch, den geschichtlichen Ort der Balance of Power in der Nachkriegszeit zu bestimmen, vornehmlich im Hinblick auf das »Gleichgewicht des Schreckens« (Balance of Terror) im Zeitalter der nuklearen Blockkonfrontation, wie es der spätere kanadische Premierminister Lester B. Pearson 1955 eingängig formulierte.15 Hier begegnen wir sowohl Elementen einer eher klassischen Gleichgewichtspraxis als auch vollends neuartigen, durch die radikale Bipolarität des Kalten Krieges bedingten Aspekten wie der beiderseitigen und systemisch stabilisierend wirkenden nuklearen Abschreckung (MAD-Doktrin), so dass Michael Sheehan für diesen Zeitraum von einer Mischform der Balance of Power gesprochen hat.16 Die komplexen Ausprägungen von Gleichgewichtsdenken im Kalten Krieg, wie sie hier nur angedeutet werden können, sind dabei Gegenstand des Beitrags von Jost Dülffer. Der letzte Teil des vorliegenden Sammelbandes bemüht sich, den primär historischen Zugang zur Problematik um die Theorie und nicht zuletzt die aktuelle Dimension der Gleichgewichtsfrage zu erweitern. Die Ausführungen von Michael Sheehan brechen dabei ganz bewusst das (neo-)realistische Paradigma der Balance-Forschung auf und stellen diesem eine den Begriff und dessen Anwendung historisierende Neukonzeptualisierung entgegen. Der sich anschließende Beitrag von Florian Kühn lässt die überwiegend historisch akzentuierte Annäherung des Bandes hinter sich und rekurriert auf Grundlage von Kernfragen der Internationalen Politik auf den konstruktivistischen Gehalt systemtheoretischer Überlegungen. Kühns Ausführungen stellen dabei vor allem den analytischen Wert historischer und politikwissenschaftlicher Gleichgewichtsmodelle in Frage und ergänzen in ihrer Kritik nicht unwesentlich die von Sheehan entworfene Position. In 15 16 Rede des kanadischen Außenministers Lester B. Pearson, Seventh Meeting of Representatives of UN Members, San Francisco, 24. Juni 1955, URL: http:// www.un.org/Depts/dhl/anniversary/stsg6h.pdf. Sheehan, Balance of Power (wie Anm. 5), 181ff. 14 Einleitung seiner umfassenden Gegenwartsdiagnose skizziert Michael Staack abschließend den Zustand unserer post-sowjetischen, unilateral auf die USA bezogenen Weltordnung – einer Weltordnung freilich, die sich zunehmend multipolar zu verselbstständigen beginnt. Zum Schluss bleibt den Herausgebern die angenehme Pflicht des Dankes an die Alfred-Töpfer-Stiftung für die Übernahme eines Teils der Tagungskosten und an das Bundessprachenamt in Hürth für die Anfertigung von Übersetzungen. Es bleibt ihnen zudem die Hoffnung, dass der vorliegende Sammelband als jene »interessante und nützliche Studie« dienen kann, die Otto von Bismarck sich einst gewünscht hat, um »zu verfolgen, welche Vorstellungen und welche Zwecke seit Ludwig XIV. mit […] dem Ausdruck Erhaltung des Gleichgewichts gedeckt worden sind.«17 17 Bismarck an Prinz Heinrich VII. Reuss, 3. Oktober 1885, in: Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe, Abt. III 1871-1898 Schriften, Bd. 6: 1884-1885, bearb. von Ulrich Lappenküper. Paderborn u. a. 2011, 719-721, hier 721. URSPRÜNGE UND ENTFALTUNG DES GLEICHGEWICHTSDENKENS IM ALTEN EUROPA Universalmonarchie, kollektive Sicherheit und Gleichgewicht im 17. Jahrhundert von KLAUS MALETTKE Die Geschichte der internationalen Beziehungen im 17. Jahrhundert lässt erkennen, dass Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung des europäischen Staatensystems und den jeweiligen Leitkategorien außenpolitischen Handelns der damaligen Führungsmächte bestanden – z. B. im Hinblick auf die Realisierung einer intendierten bzw. von den Gegnern bekämpften Universalmonarchie. Gleiches gilt für die Konzepte kollektiver Sicherheit und des Gleichgewichts der Mächte, aber auch für die Idee des Arbiters in Europa. Deshalb skizziere ich im ersten Teil meiner Ausführungen die Entwicklung des Staatensystems im 17. Jahrhundert. Der zweite Teil ist der Behandlung der angesprochenen Wechselwirkungen gewidmet. I. Bis zum frühen 17. Jahrhundert wies das sich formierende europäische Staatensystem einen im Wesentlichen bipolaren Charakter auf. Es war vom Dualismus und Antagonismus Habsburg – Valois/Bourbon geprägt. Frankreich und die Casa de Austria – darunter bzw. unter dem Sammelbegriff Hauß Österreich verstand man die »kaiserlichen Erblande und die Länder der spanischen Krone […] als politische Einheit«1 – hoben sich als Leit- und Führungsmächte von den anderen staatlichen Formationen ab, an denen sich diese im Für und Wider ausrichteten.2 Es ist weiterhin zu konstatieren, dass die bipolare Struktur des 1 2 Christoph Kampmann, Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit. Paderborn u. a. 2001, 16, Anm. 62. Vgl. dazu Heinz Duchhardt, Das Reich in der Mitte des Staatensystems. Zum Verhältnis von innerer Verfassung und internationaler Funktion in den Wandlungen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Das europäische Staatensystem im 18 Gleichgewichtsdenken im Alten Europa Staatensystems mit Entwicklungen konfrontiert wurde, die auf Veränderungen in Richtung auf ein multipolares Staatensystem angelegt waren. Seit Beginn des Dreißigjährigen Krieges gelangten Frankreich, die um ihre Unabhängigkeit von der spanischen Krone kämpfende Republik der Vereinigten Niederlande und das die Machtzunahme des Kaisers im Reich mit zunehmender Sorge beobachtende Schweden mehr und mehr zu der Überzeugung, dass das Haus Österreich, die Casa de Austria, in Anknüpfung an universal-imperiale Konzepte Karls V. die Verwirklichung einer Universalmonarchie plane. Anders und auf das Staatensystem bezogen formuliert: Frankreich, die Generalstaaten und Schweden glaubten befürchten zu müssen, dass die Entwicklung zu einem multipolaren System prinzipiell gleichberechtigter souveräner Staaten durch die Machtambitionen der Casa de Austria nicht nur nicht gestoppt, sondern auch in eine völlig entgegengesetzte Richtung verändert würde: zu einem vom Haus Österreich allein dominierten, also zu einem durch die Etablierung der habsburgischen Universalmonarchie monopolisierten Staatensystem. Wie schon in den vorangegangenen Epochen beinhaltete das Bild von der Universalmonarchie die Vorstellung »von einer die Einzelstaaten Europas übergreifenden Herrschaftsform, von der bestimmender Einfluss auf die Gestaltung zwischenstaatlicher Beziehungen in Europa ausgehe«.3 Gegen diese von den Gegnern der Casa de Austria als existentiell empfundene Gefahr formierte sich unter maßgeblicher Führung des Kardinals Richelieu, des »Prinzipalministers« Ludwigs XIII., europäischer Widerstand. Für Richelieu war »die Sicherung des Staatenpluralismus« ebenso wie zuvor für Franz I., Heinrich II. und Heinrich IV. »Grundvoraussetzung aller Mächtepolitik in Europa und darüber hinaus in Übersee«.4 Ziel des Kardinals war es, dieses spanische System aufzubrechen, zu beseitigen und dessen Wiederbelebung ebenso wie jegliche Universalmonarchie für die Zukunft zu verhindern. An dessen Stelle 3 4 Wandel. Strukturelle Bedingungen und bewegende Kräfte seit der Frühen Neuzeit, hrsg. von Peter Krüger. München 1996, 1-9, hier 2; Klaus Malettke, Das europäische Staatensystem im 17. und 18. Jahrhundert, in: Macht und Moral – Politisches Denken im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Markus Kremer/ Hans-Richard Reuter. Stuttgart 2007, 39-58; ders., Hegemonie – multipolares System – Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1648/1659-1713/1714. Paderborn u. a. 2012, 14f. Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der Frühen Neuzeit. Göttingen 1988, 121. Heinz Schilling, Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit, in: Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit, hrsg. von Peter Krüger. Marburg 1991, 19-46, hier 31. Gleichgewicht im 17. Jahrhundert 19 sollte ein – in jüngster Zeit jedoch in Frage gestelltes5 – System kollektiver Sicherheit errichtet werden, in welchem dem französischen König eine Führungsrolle zukommen sollte.6 Die von Mazarin, dem Nachfolger Richelieus, im Westfälischen Frieden von 1648 und im Pyrenäenfrieden von 1659 für die französische Krone sowohl in territorialer als auch in machtpolitischer Hinsicht erreichten Ergebnisse brachten den französischen König der angestrebten Führungsrolle im europäischen Staatensystem, dessen Veränderungsprozesse noch stärker von Frankreich beeinflusst werden sollten, erheblich näher.7 Seit dem Beginn der persönlichen Regierung Ludwigs XIV. im Jahre 1661 wurde immer deutlicher, dass er die internationale Ordnung von 1648 und 1659 im Interesse Frankreichs zu verändern sich bemühte. Mag auch in neueren Darstellungen von manchem französischen Historiker8 der beim Sonnenkönig keineswegs zu negierende defensive Zug seiner zahlreichen Kriege überbetont werden, ist doch der insgesamt hegemoniale Charakter seiner Außenpolitik nicht bestreitbar, die sich mit der Zurückdrängung der Casa de Austria nicht zufrieden gab, sondern für Frankreich allein die dominierende Position im europäischen Staatensystem anstrebte. Wie man des Königs außenpolitische Zielsetzungen auch immer beurteilen mag, nicht zu leugnen ist, dass in ersten Anzeichen seit 1664/65 und ganz deutlich seit den 1670er-Jahren seine Gegner ihm – und nicht mehr der Casa de Austria – Ambitionen auf die Errichtung einer Universalmonarchie attestierten und durch ihn die Pluralität der gleichberechtigten Staaten in Europa bedroht sahen.9 Nach den Friedensschlüssen von Nijmegen 1678/79, die den durch den französischen Überfall auf die Vereinigten Niederlande im Jahre 1672 verursachten Krieg beendeten, einen Krieg, der bald durch die Bildung einer großen antifranzösischen Koalition europäische Dimensionen angenommen hatte, schien Ludwig XIV. der Verwirklichung der französischen Hegemonie im europäischen Staatensystem sehr nahezukommen. Unter dem Einfluss der französischen Außenpolitik schien sich die europäische Staatenwelt im Wandel zu befinden 5 6 7 8 9 So von Françoise Hildesheimer, L’Europe – ›grand dessein‹ de Richelieu?, in: Macht und Moral (wie Anm. 2), 238-249, hier 246f.; dagegen eher zustimmend Joseph Bergin, Richelieu vu de l’étranger, in: Richelieu de l’évêque au ministre. Actes du colloque tenu à Luçon le 25 avril 2008, hrsg. von Françoise Hildesheimer/ Laurent Avezou. La Roche-sur-Yon 2009, 273-287, hier 280f. Vgl. Malettke, Hegemonie (wie Anm. 2), 14f. Ebd., 16. So von François Bluche, Louis XIV. Paris 1986; partiell auch von Olivier Chaline, Le règne de Louis XIV. Paris 2005. Malettke, Hegemonie (wie Anm. 2), 16f. 20 Gleichgewichtsdenken im Alten Europa von einem multipolaren System, dessen Struktur durch die Existenz einer variierenden Anzahl mehr oder minder gleichstarker Mächte und einer größeren Zahl kleinerer Staaten charakterisiert war, zu einem von Frankreich dominierten und zunehmend monopolisierten Staatensystem, dessen Multipolarität mehr und mehr zugunsten eines kontinuierlichen Ausbaus der französischen Machtposition reduziert zu werden drohte.10 Hatten sich seit den frühen 1680er-Jahren Indikatoren eines Wandels im europäischen Staatensystem vermehrt manifestiert, der sich zu Lasten der hegemonialen Stellung Frankreichs und Ludwigs XIV. vollzog, ließen die gegen Ende der 1680er- und in den 1690er-Jahren eintretenden Ereignisse und Entwicklungen diesen Wandel in vollem Umfang erkennen. Im Kontext der internationalen Politik erfolgte in den Jahren 1688/89 die Weichenstellung zugunsten eines Ordnungsprinzips, das fortan insbesondere von England verfolgt wurde, der Politik der Balance of Power zur Eindämmung von Hegemonialmächten auf dem europäischen Kontinent.11 Von allen politischen Akteuren war Wilhelm III. von Oranien der hartnäckigste Gegner Ludwigs XIV. Das politische Gewicht des Oraniers wurde noch erheblich größer, nachdem er dank der Glorious Revolution von 1688 den englischen Königsthron erlangt hatte. Konstitutiv für die Gestaltung des europäischen Staatensystems war für ihn die Durchsetzung des Konzepts des Gleichgewichts der Mächte, als dessen spiritus rector er gelten kann. Dieses Konzept basierte »auf der Vorstellung, dass das tatsächliche, vermeintliche oder drohende Übergewicht einer Macht in Europa (und auch in Übersee) bei den übrigen Staaten einen Automatismus in Gang setzen müsse, einer solchen Gefahr bzw. einem solchen Zustand mit politischen und gegebenenfalls auch militärischen Mitteln entgegenzutreten«.12 Der Neunjährige Krieg von 1688 bis 1697 und der ihn beendende Friede von Rijswijk (1697) setzten der »Phase der französischen He- 10 11 12 Ebd., 376f. Ebd., 406 u. 419. Duchhardt, Altes Reich und die europäische Staatenwelt 1648-1806. München 1990, 23. – Zur Metapher »Gleichgewicht« vgl. auch: Richard Little, The Balance of Power in International Relations. Metaphors, Myths and Models. Cambridge 2007; Feng Zhang, Reconceiving the Balance of Power. A Review Essay, in: Review of International Studies 37, 2011, 641-651; Niels F. May, Eine Begründungsmetapher im Wandel. Das Gleichgewichtsdenken in der Frühen Neuzeit, in: Frieden übersetzen in der Vormoderne. Translationsleistungen in Diplomatie, Medien und Wissenschaft, hrsg. von Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst. Göttingen 2012, 89-111. Gleichgewicht im 17. Jahrhundert 21 gemonie in Europa«13 ein definitives Ende, auch wenn das die damaligen politischen Hauptakteure so noch nicht gesehen haben mögen. Aus staatengeschichtlicher Perspektive betrachtet und unter Nichtberücksichtigung des außereuropäischen Akzents stoppten sie den von Ludwig XIV. in Gang gesetzten Entwicklungsprozess, an dessen Ende ein von Frankreich dominiertes und monopolisiertes europäisches Staatensystem entstanden wäre. Indem Rijswijk diesen Prozess nicht nur unterbrach, sondern auch definitiv beendete, knüpften die damaligen Friedensverträge wieder an die – zunächst durch die Casa de Austria, dann durch Ludwig XIV. unterbrochene – Entwicklung des Staatensystems in Richtung auf ein multipolares System an und verhalfen dieser Entwicklung zum Durchbruch. Die Friedensverträge von Rijswijk markieren aber auch einen Übergang insofern, als die Idee des Mächtegleichgewichts im Kontext mit dem Frieden von 1697 von den politischen Akteuren mehr und mehr als politische Norm zur Gestaltung des europäischen Staatensystems akzeptiert wurde.14 Die Ergebnisse der Friedensschlüsse von Utrecht, Rastatt und Baden von 1713/14, mit denen der 1701 begonnene Spanische Erbfolgekrieg beendet wurde, bestätigten erneut, dass insbesondere Großbritannien und die Vereinigten Niederlande nicht bereit waren, die Hegemonie einer einzelnen Macht hinzunehmen. Das mit dem Frieden von Rijswijk zum Durchbruch gelangte multipolare Staatensystem hatte eine erneute Herausforderung bestanden. Es war ihm gelungen, der mit dem Aussterben der spanischen Linie der Habsburger im Jahre 1700 abermals drohenden Hegemonie einer Universalmonarchie – sei es unter den österreichischen Habsburgern oder unter den Bourbonen, die Nachfolgeansprüche in Spanien verfochten – erfolgreich zu begegnen.15 Das mit den Friedensverträgen von Utrecht wieder stabilisierte multipolare Staatensystem war bei genauerer Betrachtung »ein System der ›präponderierenden Mächte‹ […], zwischen denen ein zwar stets gefährdetes, aber auch immer wieder ausbalanciertes politisches Kräfteverhältnis bestand«.16 13 14 15 16 Duchhardt, Reich (wie Anm. 12), 24; vgl. auch: Klaus Malettke, Der Friede von Rijswijk (1697) im Kontext der Mächtepolitik und der Entwicklung des europäischen Staatensystems, in: Der Friede von Rijswijk 1697, hrsg. von Heinz Duchhardt. Mainz 1998, 1-45. Malettke, Hegemonie (wie Anm. 2), 446. Ebd., 507. Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert: Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongress. Darmstadt 1976, 70. 22 Gleichgewichtsdenken im Alten Europa II. Wie im ersten Teil angesprochen, war Richelieu überzeugt, dass die Casa de Austria, zu seiner Zeit in erster Linie Spanien, hegemoniale Machtambitionen verfolge. »Spanien strebe die Universalherrschaft«,17 die Universalmonarchie18, an. Wenn sich Spanien als »Verteidiger des Katholizismus«19 geriere, so sei das nur ein Vorwand, um seinen wahren Herrschaftsanspruch in Europa zu kaschieren. Seine Maxime sei: »Avoir Dieu et la Vierge en la bouche, la religion en apparence, un chapelet en la main et les seuls intérêts temporels au cœur.«20 Diese Grundüberzeugung Richelieus spiegelt sich in der Instruktion wider, die er während seines ersten kurzen Ministeriats 1617 einem französischen Repräsentanten im Reich erteilte und in der er diesen beauftragte, die Reichsfürsten vor den spanischen Machtambitionen zu warnen sowie diesen die französische Unterstützung bei deren Abwehr anzubieten: »il faudra prendre occasion de leur tesmoigner, à nostre proffict, que nous ne désirons point l’advancement d’Espagne; nous offrons, quoyque discretement, à les assister contre les pratiques que le roy d’Espagne faict pour faire tomber avec le temps les couronnes de Hongrie et de Bohême, celle du roy des Romains et l’impérialle, sur la teste de l’un de ses enfans.«21 Seit den großen militärischen Erfolgen der Spanier und des Kaisers in den Jahren 1620/21 wurde in zunehmendem Maße in der französischen antihabsburgischen Publizistik das Streben der Casa de Austria nach der Etablierung der habsburgischen Universalmonarchie thematisiert.22 So liest man in der 1623 publizierten Flugschrift »Progrez Des Conquestes du Roy d’Espagne et Maison d’Autriche«: »Les Espagnols 17 18 19 20 21 22 Jörg Wollenberg, Richelieu. Staatsräson und Kircheninteresse. Zur Legitimation der Politik des Kardinalpremier. Bielefeld 1977, 41. Vgl. Hermann Weber, ›Une Bonne Paix‹: Richelieu’s Foreign Policy and the Peace of Christendom, in: Richelieu and his Age, hrsg. von Joseph Bergin/ Laurence Brockliss. Oxford 1992, 45-69, hier 47, Anm. 6, 48, 54, 67; Klaus Malettke, Frankreichs Reichspolitik zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens, in: 1648. Krieg und Frieden in Europa. Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, hrsg. von Klaus Bußmann/Heinz Schilling. München 1998, 177-186, hier 178; Klaus Malettke, Les relations entre la France et le Saint-Empire au XVIIe siècle. Paris 2001, 114. Wollenberg, Richelieu (wie Anm. 17), 41. Zit. nach: ebd. Zit. nach: Weber, ›Une Bonne Paix‹ (wie Anm. 18), 47, Anm. 6. Kampmann, Arbiter (wie Anm.1), 145 ff.; Rainer Babel, Frankreichs Gegner in der politischen Publizistik der Ära Richelieu, in: Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, hrsg. von Franz Bosbach. Köln u. a. 1992, 95-116, hier 101f. Gleichgewicht im 17. Jahrhundert 23 pour tousiours advancer leur Monarchie universelle, de laquelle ils ont ietté les fondemens dés le temps & sous l’Empire de Charles Quint, & n’en demordent iamais le dessein, ont si bien & heureusement travaillé depuis dix ou douze ans en plusieurs endroits de l’Europe, & mesmes és environs de la France, qu’il ne leur reste que fort peu à conquerir pour nous environner de tous costez:«23 Generell ist zu konstatieren, dass Richelieu überzeugt war, es sei nach wie vor das Ziel der spanischen Politik, auf der gesamthabsburgischen Basis eine Universalmonarchie zu errichten. Von derartigen Ambitionen sei aber nicht allein Frankreich, sondern die gesamte Christenheit betroffen. Wenn also der französische König, dessen Reich auf allen Seiten vom Haus Habsburg umschlossen und unmittelbar bedroht sei, der ehrgeizigen Hegemonialpolitik entgegentrete, die Spanien unter dem Vorwand verfolge, Verteidiger des Katholizismus zu sein, dann war für den Kardinal diese Entscheidung seines Herrn nicht nur ein Akt gerechtfertigter Selbstverteidigung, sondern auch – und vor allem – eine Maßnahme zum Schutz der gesamten Christenheit und ein französisches Engagement, das im Interesse der Wiederherstellung eines dauerhaften Friedens in Europa liege. Während seiner gesamten Amtszeit als »Prinzipalminister« (16241642) war es ein zentrales Anliegen Richelieus, einen Universalfrieden – une paix sûre et prompte24 – mit Einschluss aller seit 1618 Krieg führenden Staaten zu erreichen und durch geeignete vertragliche Vereinbarungen dauerhaft zu sichern. Resultat seines Reflektierens über diese Problematik war schließlich sein Projekt, eine auf der Sicherheit aller basierende Ordnung der europäischen Staatenwelt – de toute la Chrétienté25 – zu errichten. Die Formel une honorable, sûre & durable Paix oder Paix generale pour toute la Chrestienté26 wurde sowohl in französischen offiziellen und offiziösen Verlautbarungen und in der damaligen französischen politischen Publizistik zahlreich verwendet. Richelieus Projekt enthielt die wesentlichsten Elemente eines modernen Systems kollektiver Sicherheit, also »eine vertraglich vereinbarte internationale Ordnung, in der die Anwendung von Gewalt zu indi23 24 25 26 Zit. nach: ebd., 145, Anm.91. Hermann Weber, Une paix sûre et prompte. Die Friedenspolitik Richelieus, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von Heinz Duchhardt. Köln u. a. 1991, 111-129; ders., Dieu, le Roi et la Chrétienté. Aspects de la politique du Cardinal de Richelieu, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 13, 1985 (1986), 233-245. Vgl. auch Hermann Weber, Chrétienté et équilibre européen dans la politique du Cardinal de Richelieu, in: XVIIe Siècle 166, 1990, 7-16. Kampmann, Arbiter (wie Anm. 1), 174. 24 Gleichgewichtsdenken im Alten Europa viduellen Zwecken – abgesehen von der Selbstverteidigung […] – untersagt und der Schutz des einzelnen wie der internationalen Rechtsordnung der gemeinsam durch das Recht sanktionierten Aktion aller Staaten einer universalen oder regionalen Staatenorganisation überantwortet ist.«27 Richelieus Projekt kollektiver Sicherheit ist am konkretesten in den in den Monaten von Ende 1636 bis Februar/März 1637 und August/ September 1641 bis Juli 1642 ausgearbeiteten Instruktionen für die französischen Friedensunterhändler enthalten, die Frankreich bei den zu erwartenden Friedensverhandlungen vertreten sollten.28 Dieses Projekt war nicht gegen einen bestimmten Staat, sondern gegen jeden möglichen Friedensbrecher gerichtet. Es beinhaltete den Verzicht der Mitgliedstaaten auf eigenmächtige Gewaltanwendung. Deren Schutz war vielmehr Angelegenheit der Staatengemeinschaft. Es war nicht nur gegen Außenstehende konzipiert, sondern auch gegen jedes Mitglied des Systems selber, das den Frieden brechen oder den Status quo verletzen sollte. Angestrebt war die jedem kollektiven Sicherheitssystem eigene Universalität, weil Richelieu von vornherein ganz Europa in sein Projekt einbeziehen wollte. Die Friedensgarantie sollte sich zudem auf alle Mitglieder gemeinsam und jedes einzelne erstrecken, sie sollte also kollektive und Einzelgarantie sein.29 Die weitreichenden Pläne Richelieus waren unter den damaligen außenpolitischen Konstellationen nicht realisierbar. Deshalb sah sich Mazarin, der an der Ausarbeitung der erwähnten Friedensinstruktionen beteiligt gewesen war, gezwungen, schon vor Beginn des Friedenskongresses in Westfalen Korrekturen vorzunehmen. Noch größere Abstriche machte er dann, als die konkreten Verhandlungen in Münster und Osnabrück begonnen hatten. Zwar berichteten die beiden Friedensunterhändler d’Avaux und Servien in ihrer Relation vom 28. 27 28 29 Wörterbuch des Völkerrechts, hrsg. von Hans-Jürgen Schlochauer. 2. Aufl. Berlin 1961, 242; zur Problematik kollektiver Sicherheit vgl. auch: Ernst-Otto Czempiel, Friedensstrategien. Systemwandel durch Internationale Organisation, Demokratisierung und Wirtschaft. Paderborn u. a. 1986, 94-98. Zur Datierung und Entstehung der Friedensinstruktionen vgl. Acta Pacis Westphalicae, Serie I, Instruktionen, Bd. 1: Frankreich, Schweden, Kaiser, bearbeitet v. Fritz Dickmann/Kriemhild Goronzy/Emil Schieche/Hans Wagner/ Ernst Manfred Wermter. Münster 1962, 5-14. Detaillierte Angaben bei Klaus Malettke, Konzeptionen kollektiver Sicherheit in Europa bei Sully und Richelieu, in: Frankreich, Deutschland und Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zum Einfluß französischer politischer Theorie, Verfassung und Außenpolitik in der Frühen Neuzeit, hrsg. von dems. Marburg 1994, 263-285, hier 275-285; ders., Das europäische Staatensystem im 17. und 18. Jahrhundert (wie Anm. 2), 50 ff. Gleichgewicht im 17. Jahrhundert 25 Januar 1646, deren Kopie sich in den hessen-kasselischen Friedensakten befindet, über eine positive Reaktion der Reichsstände auf das Projekt zur dauerhaften Friedenssicherung.30 Die Reichsstände waren aber im Endeffekt nicht beglückt über die Aussicht, in ein völkerrechtliches System dieser Art eingespannt zu werden. Sie befürchteten die schwer abzuschätzenden Verpflichtungen und Konsequenzen. In den Garantiebestimmungen des Münsteraner und Osnabrücker Friedens vom 24. Oktober 1648 konnte Richelieus Projekt nur ansatzweise und sehr bruchstückhaft realisiert werden.31 Der Westfälische Friede wurde bekanntlich nur unter die Garantie der transactionis consortes, der vertragschließenden Parteien, also Frankreichs, Schwedens, des Kaisers und des Reiches gestellt. Letztere waren allerdings gemeinsam Garant.32 Damit der französische König seine Funktion als Protektor der Sicherheit Europas wahrnehmen könne, sollte er gemäß Richelieus Plänen die führende Rolle in diesem Sicherheitssystem übernehmen. Er sollte damit in die Lage versetzt werden, als Arbitre des differents de la Chrétienté zu agieren, wie es in einer antispanischen Flugschrift aus dem Jahre 1631 hieß.33 In der damaligen französischen politischen Publizistik wurde immer wieder betont, dass Ludwig XIII. der Rang des Arbitre »mehr bedeute als irgendwelche Eroberungen«.34 Auf Grund seiner Forschungsergebnisse hat Christoph Kampmann zu Recht konstatiert, »daß die Vorstellung eines schiedsrichterlichen Vorrangs der französischen Krone zentrale Bedeutung in der Publizistik der Bons Français besaß, und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen wurde die Position Frankreichs als Arbiter auf die gesamte Christenheit bezogen, zum anderen auf die aus Sicht der Bons Français notwendige Führungs- und Schiedsrichterstellung des bourbonischen Königtums in einer großen, konfessionsübergreifenden Allianz. Die intensive Verwendung dieser Vorstellungen in der öffentlichen 30 31 32 33 34 Die Kopie der Relation befindet sich im Hessischen Staatsarchiv Marburg, Kriegssachen, 4 h, Nr. 1694 II, Blatt 530 recto. Vgl. dazu auch Klaus Malettke, Les traités de Westphalie (24 octobre 1648) et l’idée de ›l’ordre européen‹. Mythe ou réalité?, in: 350e anniversaire des Traités de Westphalie. Une genèse de l’Europe, une société à reconstruire. Actes du Colloque International tenu à l’Université Marc Bloch, Université des Sciences humaines et de la Ville de Strasbourg, Strasbourg 15 au 17 octobre 1998, hrsg. von Jean-Pierre Kintz/ Georges Livet. Strasbourg 1999, 161-173, hier 168. Klaus Malettke, Le concept de sécurité collective de Richelieu et les traités de paix de Westphalie, in: L’Europe des traités de Westphalie. Esprit de la diplomatie et diplomatie de l’esprit, hrsg. von Lucien Bély. Paris 2000, 55-66. Heinz Duchhardt, Westfälischer Friede und internationales System, in: Historische Zeitschrift 249, 1989, 529-543. Kampmann, Arbiter (wie Anm.1), 152f. Ebd., 152.