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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Glauben SCHICHTEN DER SEELE WIE ERFAHRUNGEN FRÜHERER GENERATIONEN UNS PRÄGEN VON FRIEDERIKE WEEDE SENDUNG 05.06.2016 / 12.05 UHR Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft
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Musik (sphärisch, seelenmäßig) Zitator: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich heraus geführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, bis in die dritte und vierte Generation. Sprecher: Ist Jahwe, der Gott der Bibel, ein Gott mit einem Elefantengedächtnis, ein nachtragender Gott? Oder ist es ganz einfach eine menschliche Grunderfahrung, die aus den Worten des Buches Exodus spricht: Die Erfahrung, dass es Erlebnisse gibt, Gefühle – glückliche wie schreckliche, in den Worten der Bibel Segen und Fluch – Erfahrungen, die sich nicht innerhalb einer Lebensspanne aufarbeiten lassen. Die weiter wirken in Kindern und Kindeskindern und möglicherweise sogar darüber hinaus. Musik Sprecher: Das menschliche Gedächtnis ist schwach. Studien zeigen: Unsere Gedächtnisspanne umfasst gerade einmal sieben Elemente. Nennt man Versuchspersonen mehr als sieben Worte, Zahlen, Begriffe hintereinander, die sie sich merken sollen, vergessen sie in der Regel sofort etwas. Die Seele hingegen hat ein scheinbar unendliches Fassungsvermögen. Tropfendes Wasser oder hallender Sound wie in einem Gewölbe Sprecher: Die Seele ist weit mehr als ein göttlicher Hauch, der Menschen bei der Zeugung verliehen, sozusagen in fertiger Form eingegeben wird und der sie nach ihrem Tod – etwa durch den Mund, wie es dem Volksglauben entspricht – wieder verlässt, um in den Himmel, das Jenseits oder gar in einen neuen Körper zu entweichen. Die Seele gehört untrennbar zum Körper, formt diesen und wird von ihm geformt. Sie wächst und entwickelt sich ein Leben lang. Der evangelische Theologe Christoph Gestrich ist überzeugt: Unsere 2
Seele ist ein Konstrukt, ein organisches Netz, gestrickt aus Beziehungen. Und wie diese verändert sich auch die Seele im Laufe des Lebens, so Gestrich. ZSP Gestrich: „Es geht darum, dass wir den Menschen und überhaupt viele Wesen in ihren Beziehungen erfassen. Beziehungen machen manchmal die Existenz und das Wesen einer Sache aus. Denken Sie zum Beispiel an die Zeit. Die Zeit, die ist natürlich eine Wirklichkeit. Aber sie ist nur dadurch eine Wirklichkeit, dass ein Weg und ein etwas, was sich bewegt, in einer Beziehung zueinander stehen. Und auch der Mensch ist so konstituiert, dass ihn seine Beziehungen im Wesentlichen ausmachen.“ Sprecher: Unausgeglichene Beziehungen, Verstrickungen, wie Psychologen sagen, hinterlassen demnach immer Verletzungen im Netz der Seele. Sie können vernarben, sie können sich aber auch wie Laufmaschen durch das ganze Leben ziehen und es instabil machen. An der Seele reifen hingegen, sich seiner seelischen Wurzeln bewusst werden, seiner Kraftquellen – das stabilisiert das Netz, ist also „Spiritual Care“ im besten Sinne, Seelenpflege an sich selbst. ZSP Gestrich: „Früher ist die Seele als Substanz aufgefasst worden, aber nicht als Beziehung. Und ich möchte sie als genau das sehen. Es ist Beziehung, es ist Prozess, angesprochen und gerufen Werden und dadurch in eine bestimmte Richtung gehen und sich entwickeln. Das ist bei der Seele so, dass sie ein Ohr dafür hat: Sie spornt an, nicht stehen zu bleiben, sondern sich zu öffnen, sich zu entfalten, sich zu geben und etwas zu tun oder zu werden – biblisch gesprochen – zu Gottes Lob. Zusammengefasst ist die Seele so etwas wie die Agentin der Liebe. Die Agentin des Reiches Gottes, das uns dazu beruft, etwas Schönes zu werden.“ Sprecher: Beziehung, Liebe, Sozialsinn, Nächstenliebe – Traumata hindern Menschen gerade in diesem Bereich daran, ihre Seele voll zu entfalten. Machen es ihnen schwer sich auf Verbindlichkeiten einzulassen, ob es um den Wohnort, den Job oder einen festen Partner geht. Die Kölner Journalistin 3
Sabine Bode hat in ihren Bücher die versteckten Traumata der Kriegskinder und sogar der Kriegsenkel untersucht und festgestellt, dass die Kriegsgeneration – ihre Schuld, Scham, ihren Verlust, ihre Todesangst in veränderter Form weitergegeben hat an die Kinder und Kindeskinder, die doch Krieg eigentlich nur aus Geschichtsbüchern kennen. Bis ins zweite und dritte Glied. Was die Verfasser des Exodusbuches einst niederschrieben, wird heute mehr und mehr durch wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigt: Spiegelneuronen übertragen seelische Zustände der Eltern auf die Kinder – per „Gefühlsansteckung“. Natürlich spielt die Erziehung eine große Rolle. Und sogar die Chromosomen sind mitverantwortlich für die Prägung der Seele, wie man heute weiß. Diese Erkenntnisse spielen auch für die christliche Seelsorge eine große Rolle. Hat man in der Theologie – und gerade in der evangelischen – das Reden von der Seele lange vernachlässigt, weil man einem esoterischen oder vermeintlich heidnischen Menschenbild nicht das Wort reden wollte, so entdeckt man nun den Menschen als Seelenwesen neu – in all seiner Versöhnungs- und Heilungsbedürftigkeit, beobachtet zumindest Christoph Gestrich. ZSP Gestrich: „Viele sagen heute, die Psychotherapie hat die Seelsorge überflüssig gemacht, sie trägt nichts bei zur Spiritualität und darum müssten wir ein kritisches Verhältnis zur Psychotherapie einnehmen. Ich habe eine Zeit lang bei Tillich studiert und der hat das anders gesehen. Er sagt: Die Psychotherapie gehört zu den guten Werken und ist die Möglichkeit, dass ein in sich verschlossener Mensch, der die Öffnung zum Kollektiven hin nicht schafft und der darum einen steinernen Gottesbegriff hat oder gar keinen, dass der für die Liebe geöffnet wird und dass er auch wieder ein Ohr für Gott gewinnt.“ Mönchischer Gesang Sprecher: Die frühen christlichen Mönche, die sogenannten Wüstenväter, Einsiedlermönche in der nordafrikanischen Wüste, verbrachten ihr Leben in 4
Kontemplation und Gebet. Sie haben die Seele als tiefes, unruhiges Gewässer gedeutet. Durch die bewegte, gekräuselte Wasseroberfläche sieht man nicht auf den Grund. Erst wenn es windstill wird und die Oberfläche zur Ruhe kommt, vermag der Betrachter zugleich sein Spiegelbild im Wasser zu erkennen und in die Tiefe zu schauen. Wie in einem tiefen Teich, sammeln sich in den dunklen Gewässern der Psyche die Erfahrungen, Eindrücke, Anmutungen, Gefühle, Leidenschaften, Ängste und Sehnsüchte eines ganzen Lebens. Musik (leicht verrückt, schräg, passend zum Psychodrama) Sprecher: Und vielleicht sogar mehr als nur eines Lebens. Gong Sprecher: Der Psychologe Franz Ruppert spricht lieber von der Psyche als von der Seele. Doch auch er hat die Erfahrung gemacht, dass die Psyche durch Verletzungen der Vergangenheit in der Gegenwart eingeschränkt sein kann. Die Seele gespalten sein kann. Generationenübergreifend. ZSP Ruppert: „Wenn erst einmal ein Trauma in so einem Beziehungssystem wie einer Familie da ist, dann hat das Auswirkungen auf die Beziehungen. Dass man irgendwo aus der inneren Gespaltenheit heraus versucht eine Beziehung zu führen. Und das löst ganz viele Konflikte aus und viel gegenseitiges Missbrauchen.“ Sprecher: In seiner Münchner Praxis macht Franz Ruppert so genannte „transgenerationale Aufstellungen“. Ein Patient formuliert ein Anliegen zu seinem seelischen oder körperlichen Problem. Dann wählt er für jeden Begriff seines Anliegens eine Person als Stellvertreter und positioniert diese im Raum. Im gemeinsamen Psychodrama der Beteiligten kristallisieren sich in der Aufstellung die verborgenen Hintergründe des aktuellen Konflikts heraus, erklärt Franz Ruppert.
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ZSP Ruppert: „Die Menschen kommen ja jetzt nicht und sagen: Ich bin traumatisiert. Sie kommen und sagen: Ich habe Beziehungsprobleme, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen,. Ängste, ich kann nicht einschlafen. In der Regel liegen selbst hinter einfachen Symptomatiken relativ schwere Traumaerfahrungen. Darum geht es dann, da eine Verbindung herzustellen. Und so kommt man auf das Trauma und darauf, was Trauma spezifisch macht, nämlich diese Aufspaltung unsrer Psyche, so dass das Ich, das Erinnern, das Fühlen, das Wahrnehmen, dass die nicht mehr miteinander arbeiten, sondern gegeneinander arbeiten. Und das Ziel der Therapie wäre es dann, das Aufgespaltene wieder zu einer Einheit zusammen zu führen, die wieder tut, was das Ich will und entscheidet.“ Musik (leicht schräg, Gesangsfetzen, Ticken) Sprecher: Mit der so genannten „empirischen Wende“ der 1970er Jahre hielt in der Theologie die Erkenntnis Einzug, dass man an Pädagogik, Soziologie, Psychologie anknüpfen muss, um den Anschluss an wissenschaftliche Diskurse der Zeit nicht zu verpassen. Seelsorge bekam infolgedessen erstmals eine therapeutische und systemische Perspektive. Der Mensch wird nicht länger losgelöst von seinem sozialen Kontext betrachtet, sondern in all seinen seelischen Verstrickungen. Die Erkenntnis über den Ursprung eines Problems ist der erste Schritt in Richtung Heilung, sagt Franz Ruppert. Natürlich kann eine Aufstellung nicht alle Konflikte lösen, schon gar nicht in der Vergangenheit. ZSP Ruppert: „Das ist eine Illusion, die teilweise vorhanden ist, als könnte man Probleme in der Vergangenheit lösen, vielleicht sogar noch für jemand anderen. Das geht nicht. Die Dinge, die passiert sind, sind passiert. Was wir erleben, sind die Auswirkungen. Und darum geht es, dass wir an denen so arbeiten, dass die Traumatisierung sich auflösen kann.“ Sprecher: Besonders an der Aufstellung ist der Part der Stellvertreter: Sie agieren und reagieren nicht als bloße Platzhalter im Raum, sondern wie eine Art Antenne, die bestimmte Gefühlsresonanzen auffängt und so die 6
Verstrickungen der Seele sichtbar macht. Durch „repräsentierende Wahrnehmung“ empfinden sie und fühlen sogar körperlich wie diejenigen, die sie repräsentieren. Keine Zauberei, sagt Franz Ruppert. Möglicherweise sind dafür wiederum die Spiegelneuronen verantwortlich. ZSP Ruppert: „Wir haben die Möglichkeit aufzunehmen von anderen. Über die Stimme, Gefühle, den Blick, die Hauttemperatur beim Berühren der Hände, das sind ja alles Informationen. Und dann scheint es da noch eine Reihe von Spezialphänomenen zu geben im Gehirn, wie die Spiegelneuronen, die in der Lage sind, unmittelbar zu imitieren und quasi mitzuerleben. Unsere Psyche ist perfekt darauf vorbereitet, diesen Resonanzboden zu bieten.“ Sprecher: In den Aufstellungen zeigt sich, wie untrennbar Seele und Körper miteinander verbunden sind. Der Körper kann seelische Signale übermitteln und empfangen. Genau so kann die Seele körperliche Reaktionen auslösen. Um Traumata zu heilen, die – wie er sagt – zu einer Spaltung der Psyche führen, muss man immer den ganzen Menschen in den Blick nehmen, meint Franz Ruppert. ZSP Ruppert: „Dieser Dualismus der abendländischen Philosophie, also seit Descartes haben wir ja den Leib-Seele-Dualismus, den müssen wir irgendwie überwinden. Denn der führt dazu, dass diese Spaltungen, mit denen wir ja eh schon solche Probleme haben, dass wir die noch durch die Wissenschaften verstärken: Hier ist die Medizin, die kümmert sich um den Körper, da ist die Psychologie, die kümmert sich um die Seele. das funktioniert so nicht.“ Musik (Trommeln, Klangschalen) Sprecher: Ursula Yngra-Wieland sitzt entspannt zwischen orangefarbenen Kissen und Klangschalen und trinkt Kräutertee. Trommeln verklingt
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Sprecher: In ihrer Praxis in Kirchheim bei München führt die Heilpraktikerin für Psychotherapie Gesprächstherapien nach der Methode des USamerikanischen Psychologen Carl Rogers durch, Traumatherapien, aber auch Hypnosesitzungen oder astrologische Beratungen. Als Symbol für ihre Arbeit prangt an der Praxistür von Ursula Yngra-Wieland das Bild eines Phönix. Für die Heilpraktikerin symbolisiert das Aufsteigen aus der Asche das Durchleben einer Krise, aus der man auch gestärkt und gewandelt hervorgehen kann. So interpretiert sie ihre therapeutische Arbeit – als Hilfe zur „Selbstwerdung“. ZSP Yngra-Wieland: „Man bringt die Veranlagung mit, die zum Beispiel im Horoskop sichtbar wird. Das sind die Bausteine der Seele, die man mitbringt. Der Teil der Seele, der man schon immer war und immer sein wird. Dann wird man natürlich durch die Eltern geprägt, das beginnt schon in der Schwangerschaft. Dann geht es durch die Erziehung weiter und dadurch bekommen wir auch das Sippengedächtnis mit. Also das, was unsere Eltern und Großeltern schon tragen. Und je nachdem, wie viel Trauma da drin ist, tragen wir daran mit und haben mehr oder minder Probleme. Flucht ist ein gutes Stichwort. Ich habe das immer mal wieder gehabt, dass Menschen kamen, die ruhelos sind, die nicht ankommen konnten. Und da war es dann oft so, dass das Menschen waren, deren Großeltern vertrieben wurden damals durch den Krieg.“ Sprecher: Yngra-Wieland ist überzeugt: Die Vergangenheit wirft lange Schatten. Unter Umständen so lange, dass die Menschen ihr Seelenerbe sogar aus einem früheren Leben übernommen haben oder von einem entfernten Vorfahren. In Reinkarnationstherapien oder Rückführungen finden ihre Klienten Zugang zu den Wurzeln ihrer Seele, die weitaus älter sind als sie selbst. Unter Umständen hunderte Jahre, so die Therapeutin. ZSP Yngra-Wieland: „Das geht durch Trance, durch Hypnose. Und dann kommen Bilder. Und mir ist es sehr wichtig, dass ich denen nicht sage: Dein Großvater hat so und so, denn das sehe ich hier in meiner Glaskugel, sondern ich versuche, den Menschen anzuleiten, dass er seine eigenen Bilder 8
entwickelt, die aus ihm rauskommen. Und das kann man im Gespräch oft in Relation setzen. Das müssen nicht immer großartige Dramen sein. Das kann sein, dass eine Magd von ihrem Dienstherren vergewaltigt wurde. Was natürlich eine Tragödie ist, aber damals eben noch mehr an der Tagesordnung war als heute.“ Sprecher: Aber nicht nur seelische Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben. Auch Charakter, Talente, persönliche Vorlieben haben nach Yngra Wielands Erfahrung häufig Wurzeln, die tief in die Familiengeschichte hinein reichen. ZSP Yngra-Wieland: „Ich finde das oft, wenn man Arbeit mit dem Genogramm macht, also mit den Ahnen, wenn man so will, bis zu den Urgroßeltern. Dann war da vielleicht irgendeine Urgroßmutter mit einer sehr großen Liebe zu Heilpflanzen. Und dann entdeckt irgendeine Enkelin oder Urenkelin das auch bei sich, ohne dass es durch die Eltern oder die Familie gefördert worden wäre. Sowas gibt es natürlich auch: Talente, Ressourcen. Das ist ja auch eine große Stärke, die wir von unseren Ahnen bekommen. Wenn man sich vorstellt: Hinter uns stehen unsere Eltern und hinter denen stehen deren Eltern. Das ist ein Riesenstrom, eine Riesenenergie, die durch uns fließt. Und wenn man überhaupt keinen Bezug dazu hat, dann steht man sehr verloren da und sehr unsicher im Leben.“ Gong Sprecher: Das Erbe der Ahnen als früheres Leben. Das Christentum freilich kann mit dem Gedanken an einen wiederkehrenden Lebenskreislauf nichts anfangen. Im Gegenteil: Die christliche Theologie betont die Einzigartigkeit des menschlichen Lebens. Ein Großteil der Menschen, übrigens auch der Christen, glaubt heute hingegen an Wiedergeburt oder Seelenwanderung. Unsere wachsende Kenntnis über die weit verzweigten Wurzeln der Seele könnte hier eine Brücke schlagen. Denn Wiedergeburt ist ja nur eine Bezeichnung der Erfahrung, dass wir mehr sind als die Summe aus 9
Lebensgeschichte und Genen. Die Idee einer Weltseele wie beim Philosophen Platon, Carl Gustav Jungs kollektives Unbewusstes oder auch das christliche Bekenntnis zur communio sanctorum, zur Gemeinschaft der Heiligen – letztlich alles Annäherungen an ein und dieselbe Erfahrung, dass unsere Geschichte über die Eckdaten der Biografie hinausreicht. Musik (Psalmengesang) ZSP Müller: „Wir sprechen vom Lebensskript, das ein Mensch im Laufe des Lebens schreibt. Von seiner Psychografie, die ihn prägt. Und die ist genetisch, aber auch durch Erziehung. Wenn die Kinder jetzt Negatives erleben. Abwesenheit der Eltern oder Strenge, Perfektionismus, Angst, Leistungsdruck und dergleichen mehr, dann prägt das die Seele und zwar nicht gut. Wir reden von Lebenslügen: Ich kann das nicht, ich schaffe das nicht, mich mag keiner – Lebenslügen. Das ist auch der Grund, warum Patienten zu uns kommen. Die leiden, aber sie wissen nicht warum.“ Sprecher: Der Pallottinerpater und klinische Psychologe Jörg Müller leitet in Freising die so genannte „Heilende Gemeinschaft“, eine Art christliche Kurzzeittherapie für Menschen mit den unterschiedlichsten psychischen und psychosomatischen Beschwerden. Für drei Wochen gehen die Klienten im Tagungshaus der Pallottinergemeinschaft in Freising in Klausur. Unter der Anweisung von Therapeuten der unterschiedlichsten Fachgebiete betreiben sie die Sorge um die eigene Seele. Viele von ihnen leiden unter den verschiedensten Formen von Traumata, die sie zum Teil von ihren Eltern oder sogar Großeltern „geerbt“ haben, erklärt Pater Jörg Müller. ZSP Müller: „Das ist heute uns allen bekannt, dass man von einer Erbschuld zwar theologisch spricht, aber psychologisch ist das eine weitergegebene ungelöste Schuld und Problematik in der Familienstruktur. Etwa wenn ein Großvater zum Beispiel Nazi war, totgeschwiegen wurde in der Familie, dann kann es sein, dass nun ein Enkel das Gefühl hat, nicht gewollt zu sein oder ausgegrenzt zu sein. Wer meine Gebote hält, wird bis zur letzten Generation 10
gesegnet, wer sie nicht hält, der muss die Konsequenzen bis zur dritten Gegenration tragen. Deswegen forschen wir nach bis zur dritten Generation.“ Sprecher: Nach der dritten Generation ist seiner Ansicht nach kein sinnvoller Zugang zu alten Verletzungen mehr möglich. Wenn man nur weit genug zurückgeht, findet jeder irgendeinen Makel in seiner Vorgeschichte. Unter Umständen kann die Traumatherapie sogar zur Sucht werden, warnt Jörg Müller. ZSP Müller: „Man deutet dann unter Umständen alle Problemchen: Ja, da muss was gewesen sein. Das ist gefährlich. Ich denke, das Angebot aus dem Exodus „bis zur dritten Generation“ sehr sinnvoll und mehr nicht.“ Sprecher: Von den Verletzungen ihrer Seele – ihren „Lebenslügen“, wie Pater Müller es nennt, wissen zu Beginn der Therapie die Wenigsten. Für die Patienten äußern sie sich vordergründig als Burn-Out-Syndrom, Depression, Angstzustände, Panikattacken oder psychosomatisch, als chronische Schmerzen, Hautkrankheiten, Bluthochdruck, Haarausfall, Schlafstörung. ZSP Müller: „Nicht alles ist gleich psychisch bedingt. Aber es hat schon Einfluss. Und wir müssen halt auf die Organsprache schauen. Der Magen reagiert sauer, wenn ich es nicht tue, die Haut schlägt aus, wenn ich es nicht tue, das Blut kocht vor Wut, wenn ich es nicht tue. Also wir müssen schauen, was sagt der Körper.“ Sprecher: Die Palette der Methoden, die in der Heilenden Gemeinschaft angewendet werden, ist umfassend: Einzelgespräche, Gruppensitzungen, Atem- und Körpertherapie, Aufstellungen, Kunsttherapie, Bibliodrama, autogenes Training, Gebet. Nicht immer braucht ein Klient das ganze Repertoire, um zum Kern seines Problems vorzustoßen. Doch mindestens zwei verschiedene therapeutische Zugänge sind erfahrungsgemäß nötig, um der eigenen Seele auf die Schliche zu kommen, sagt Jörg Müller. Dann gibt die Seele vergangene Geschichten preis, verblichene Personen, gut gehütete 11
Geheimnisse, die den Klienten nicht bewusst sind, die aber ihr Leben Tag für Tag beeinflussen. ZSP Müller: „Wir haben festgestellt: Wo Abtreibungen stattfanden, in der Regel sind dann die Kinder und Enkel gestört insoweit, dass sie das Gefühl haben, nicht gewünscht zu sein. Wir sind verwundert und erstaunt oft, wenn in einer Aufstellung fremde Personen Rollen übernehmen und Dinge sagen, die sie gar nicht wissen können. Etwa: Ich fühle mich irgendwie unerwünscht, ich habe das Gefühl, gar nicht leben zu dürfen. Dann fragen wir nach: Was war denn da. Und spätestens dann kommt die Wahrheit raus: Da war ein Suizid, ein Mord, eine Abtreibung. Da war was.“ Sprecher: Nach drei Wochen Therapie machen Jörg Müllers Klienten in der heilenden Gemeinschaft mit den Brüchen in ihrer Lebensgeschichte ihren Frieden und vergeben – soweit es ihnen möglich ist – sich selbst und anderen. Versöhnung gehe dann noch ein Schritt weiter, so der Psychologe. Ein Schritt, der unter Umständen ein Leben lang andauern kann, wie Müller betont. ZSP Müller: „Unterscheiden wir zwischen vergeben und versöhnen. Vergeben ist ein von Gott gewollter Willensakt: Ich werfe es Dir nicht mehr vor. Aber bleibe mir vorerst aus den Augen. Es gilt die Regel: Nur Gekränkte kränken. Und der Kränkende ist ja auch Opfer, nicht nur Täter. Und das wird in Rollenspielen versucht zu erklären. Und im gespielten Dialog erkennt der Patient plötzlich andere Sichtweisen im Täter, die ihn milder stimmen und Vergebung erleichtern.“ Sprecher: Versöhnung und Vergebung – eine explizit christliche Psychotherapie kann hierfür eine große Chance sein, ist der Pallottiner überzeugt. Archetypen helfen bei der Heilung und die Bibel ist voll von Archetypen und Versöhnungsgeschichten. Viele seiner Klienten finden beim Bibliodrama sich und ihre eigenen Geschichte in den Überlieferungen der Bibel wieder. Sie üben zu vergeben nach dem Vorbild des verlorenen Sohnes und sie finden Trost im alten christlichen Vergebungsritual der Beichte. Das 12
überzeitliche Ritual, die geprägte Form wird in Verbindung gesetzt mit dem eigenen Lebensskript, dessen Geflecht ebenfalls überzeitlich ist, über die Spanne zwischen Geburt und Tod hinausreicht. ZSP Müller: „Wenn jemand gestorben ist – unversöhnt – wenn ich keine Aussprache hatte mit jemandem, wenn ich Schuldgefühle habe oder wütend bin, das bindet wie Pattex. Hass und Schuldgefühle binden unsäglich. Das kann man nur lösen durch den Schritt der Vergebung. Das üben wir. Lassen Briefe schreiben zum Beispiel an Gott oder den Täter oder sich selbst, die werden im Gottesdienst auf den Altar gelegt und verbrannt. Das hilft vielen Menschen.“ Musik (ab und aufsteigende Flötentonleitern) Sprecher: Die Seele ist mehr als das, was wir wissen. und das, was wir früher höchstens ahnen konnten, das wird uns heute immer wahrscheinlicher: Wir sind aus dem Stoff von Generationen gewebt und sind doch zugleich freie Individuen. Und in dieser Freiheit liegt vielleicht gerade die Aufgabe, uns aus alten Verstrickungen zu lösen und so die Eltern, Großeltern und vielleicht sogar Urgroßeltern zu befreien. Musik (ab und aufsteigende Flötentonleitern) endet
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