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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde Beflügelte Frauen (1) Schreibende Frauen Von Sabine Weber Sendung:
Montag, 14. März 2016
9.05 – 10.00 Uhr
Redaktion: Ulla Zierau
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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SWR2-Musikstunde mit Sabine Weber 14.03.2016 Beflügelte Frauen 1. Schreibende Frauen Signet MODERATION Heute und diese Woche mit Sabine Weber. Herzlich Willkommen! Titelmusik MODERATION Das Frauenbild – unser Frauenbild – ist in den letzten Monaten erschüttert worden. Die massierten sexualisierten Gewaltakte in der Silvesternacht stellen in Frage, wofür Frauen Jahrhundertelang gekämpft haben. Das Recht, sich angstfrei, unversehrt und selbstverständlich in und durch öffentliche Räume in Deutschland zu bewegen. Auch wenn Frauen bei uns sich als emanzipierte Mitglieder innerhalb der Gesellschaft weitgehend gleichberechtigt fühlen. Ohne Bevormundung auskommen zu dürfen, ist noch lange kein Standard überall. Und da hat mich natürlich gefreut, dass ich diese Woche ganz aktuell – obwohl lange vor Silvester geplant – dazu etwas beitragen kann. Sicherlich werden die SWR2 Musikstunden die Befürchtungen und Fragen nicht alle ausräumen. Das ist Aufgabe der Politik und des zivilgesellschaftlichen Diskurses. Indem wir aber ein Schlaglicht auf Frauen werfen, die unbeirrt umsetzen, woran sie glauben, wenn wir daran erinnern, dass Frauen sich immer wieder gegen Einschüchterung gewehrt, gegen Bevormundung durchgesetzt haben, und wir ihre Leistungen in den Fokus stellen, schaffen wir Voraussetzungen dazu. Denn: Frauen sind zu allen Zeiten stark gewesen. Diese Woche geht es: um wissende Frauen, um Unternehmerfrauen, um Frauen, die aus der Deckung heraus sogar einen lokalen Musikstil prägen konnten. Und fabelhafte exzentrische Frauen fehlen auch nicht. Die femme fatale und die Kultfrau bekommen ihren Auftritt. Und jetzt: schreibende Frauen. Literatinnen, Dichterinnen und Librettistinnen. Sie sind die Musen für Musiker UND Musikerinnen, Komponisten UND Komponistinnen gewesen und sind es noch heute. Einige Frauen haben sowohl Worte, als auch Musik geschrieben. So die bayerische Kurprinzessin Maria Antonia Walpurgis. Librettistin und Komponistin in Personalunion. In ihrem Dramma per musica Talestri von 1763 schickt sie auch noch starke Weiber auf die Bühne. Die Amazonen und ihre Königin! 2
1 LC2336 KAMMERTON 1998 op.7/98 Länge: 2'22 Maria Antonia Walpurgis, Allegro aus Ouvertüre zu Talestri, regina delle amazzoni, Daniel Deuter LTG
MODERATION Die Batzdorfer Hofkapelle mit der Ouvertüre aus Talestri von Maria Antonia Walpurgis. Bei der Uraufführung in Schloss Nümphenburg 1760 oder 63 – das Datum ist nicht zweifelsfrei belegt - muss man sich jetzt vergegenwärtigen: Der ganze Hofstaat ist versammelt. Der Vorhang geht auf! Und sie selbst steht geharnischt auf der Bühne! Maria Antonia Walpurgis IST die Amazone Talestri! Die bayerische Kurprinzessin hat nicht nur das Libretto geschrieben und die Oper vertont. Sie hat das Libretto auch sich selbst auf den Leib geschrieben. Ausgebildet von Johann Adolf Hasse, dem damals führenden Opernkomponisten. Schreibschule bei dem damals führenden Librettoliferanten Metastasio, hat sie auch noch Gesangsunterricht gehabt bei Nicola Porpora, dem Kastratenguru schlechthin. Und ihre Botschaft ist unmissverständlich fürs Publikum: Ich bin eine glänzende Herrscherin! Das Zeug dazu hat sie zweifellos! Wenn der Schwiegervater August der Starke als polnischer König in Warschau weilt, dann übernehmen sie und ihr Gemahl Christian Friedrich, Sohn Augusts des Starken, die Regierungsgeschäfte. Maria Antonia Walpurgis lässt sich nicht in den Hintergrund drängen. Sie leitet Kabinettsitzungen. Sie übernimmt die Staatsfinanzen und entwickelt auch noch Schlachtpläne. Es tobt der Siebenjährige Krieg. Mit ihrem Kurprinzengemahl entwirft sie sogar ein aufklärerisches Reform- und Sparprogramm für Sachsen. Die Finanznot aufgrund der verschwenderischen Herrschaftsführung Augusts des Starken ist dramatisch. Auch seine Mätressenwirtschaft verschlingt Unsummen. Als das Kurprinzenpaar dann endlich an die Macht kommt, beginnen sie sofort mit der Umsetzung des Reformprogramms. Doch Friedrich Christian stirbt noch im selben Jahr, ausgerechnet an den Pocken. 74 Tage herrschen sie gemeinsam. Dann ist der Traum vorbei. Die Amazone muss sich mit Friedrich Christians Bruder in die Regierung einer gemeinsamen Vormundschaft für den Sohn schicken. Und der lässt die Amazone keine Kabinettsitzungen leiten. Und als ob die musikalischen Ambitionen mit den politischen gestorben wären: Maria Antonia Walpurgis komponiert auch nicht mehr. Was für eine Vergeudung von Talent! Mit der Oper Talestri ist sie dennoch unsterblich geworden. Als eine aufgeklärte Herrscherin hat sie sich musikalisch verewigt. Als eine 3
Amazonenkönigin, die ihr persönliches Wohl dem Wohl des Staates unterordnet. Auch wenn es weh tut!
2 LC2336 KAMMERTON 1998 op.7/98 Länge: 6'22 Pallid'ombra che d'intorno, Arie der Talestri, Jana Frey, Sopran, Batzdorfer Hofkapelle, Daniel Deuter LTG
MODERATION Pallid'ombra che d'intorno. Die Arie der Amazonenkönigin Talestri mit Jana Frey. Die Batzdorfer Hofkapelle hat begleitet unter der Leitung ihres Konzertmeisters Daniel Deuter. Diese Oper, die nach der Titelfigur Talestri heißt, hat eine starke Frau komponiert, die auch Gefühl zeigen kann. Die bayerische Kurprinzessin und Komponistin Maria Antonia Walpurgis hat auch das Libretto verfasst. Ihr Talestri-Libretto ist übrigens von weiteren Komponisten vertont worden. Von Giovanni Battista Ferrandini (1760), Johann Gottfried Schwanberger (1764) und Domenico Fischietti (1773). In der heutigen SWR2 Musikstunde unter dem Wochentitel Beflügelte Frauen geht es um Überfliegerinnen in der Literatur. Und die gab es schon im Mittelalter! Auf Miniaturbildern ist (spr franz kristin de pisæ) Christine de Pizan eine zierliche Frau im blauen Kleid mit lang herunterhängenden Ärmelenden. Und mit typisch mittelalterlichem Kopfputz, der wie zwei betuchte Hörner in die Höhe steht. Da glaubt man nicht die erste Streiterin für die Emanzipation der Frauen zu erkennen. Aber das ist sie gewesen! In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Venedig geboren wächst sie in Paris auf. Sie übersetzt Auszüge aus Boccaccios Decamerone oder aus dessen Frauenbuch de claris mulieribus ins Französische. De claris mulieribus ist übrigens die erste Zusammenstellung historischer und mythologischer Frauenbiographien. Und sie greift selbst zur Feder. Ihr bis auf den heutigen Tag berühmtestes Buch ist Die Stadt der Frauen. Eine fulminante Streitschrift zur Verteidigung des weiblichen Geschlechts, die im 16. und 17. Jahrhundert immer noch eifrig zitiert wird. Mit den weiblichen Problemen ihrer Zeit hat sie einschlägige Erfahrungen machen müssen. Mit 15 Jahren verheiratet und früh verwitwet schreibt sie: „Sorgen bedrängen mich von allen Seiten, und ich bin umgeben von Klagen und Prozessen, wie es nun einmal das tägliche Brot von Witwen ist“. Das spricht Bände. Verarmt muss sie sich 11 Jahre hinter Klostermauern flüchten, schreibt aber immer weiter. 4
Gedichte, Balladen oder spielerische Dialoge über Liebe, Krieg, Glück und Zweifel, voll Biographischer Bezüge und auch Reaktionen auf tagespolitisches Geschehen. Christine de Pizans Schriften überdauern in aufwendig illuminierten Abschriften. Heute kostbare Schätze in großen Bibliotheken. Hätten Sie es gewusst? Ich hätte es nicht gewusst, wenn mir diese CD mit dem ungewöhnlichen Musikprojekt nicht in die Hand gefallen wäre. Das Damenquartett VocaMe ist von den großartigen Chansons und Balladen dieser Frau so angetan gewesen, dass sie die Texte als Kontrafakte vertont hat. Das heißt, sie haben ihre Texte mit vorhandenen mittelalterlichen Melodien unterlegt und auch mehrstimmig bearbeitet, wie das für das ausgehenden 15. Jahrhundert Usus gewesen ist. Wir hören gleich ihr Opus summus so vertont. Das ist ein Loblied auf die wohl stärkste Frau ihres Jahrhunderts. Damit hat Christine de Pizan im Jahr 1492 auch ihr Gesamtwerk abgeschlossen. Es ist die Jungfrau von Orléans. Christine de Pizan verschweigt zwar, dass die heutige Nationalheilige als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Dafür konzentriert sie sich um so mehr auf das Wunder einer 16jährigen, die die Kraft findet, zur Retterin Frankreichs aufzusteigen. Das Loblied beginnt übrigens ganz selbstbewusst mit „Ich Christine ...“ Und erst einmal drückt sie dem Leser - und gleich dem Hörer - aufs Auge, dass sie im Kloster bei Knäckebrot hat schreiben müssen. Schnell wechselt sie dann aber vom Weinen zum Lobgesang, und beginnt ihren großartigen Bericht. 3 LC06203 BERLIN CLASSICS 0300699BC Länge: 4'10 Ditié de Jehanne d'Arc, VocaMe, Michael Popp LTG
MODERATION Ditié de Jehanne d'Arc, ein Ausschnitt aus der Hymne auf die Pucelle in 61 Strophen von Christine de Pizan. La Pucelle - so nennen die Franzosen noch heute ihre Nationalheldin: „Jeanne d'Arc, die Frankreich die Brust reicht,/ Aus der Frieden und süße Nahrung fließen/ und die Rebellen niederwirft/ Die als Zierde des weiblichen Geschlechts und als Heerführerin an Kraft und Mut Herakles übertrifft!“ Zeilen aus der Feder einer ebenfalls starken Frau. Von der Schriftstellerin, Übersetzerin und Verlegerin Christine de Pizan 1492 zu Papier gebracht. Wir hörten die Worte in einer mittelalterlich angelehnten Vokalvertonung von Michael Popp. Gesungen hat VocaMe. Das sind Sigrid Hausen, Sarah Newman, Petra Noskaiova und Gerlinde Sämann – das Ensemble VocaMe erinnert in seinem jüngsten CD-Musikprojekt in bemerkenswerter Weise an die emanzipierte Literatin Christine de Pizan.
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Sie hören die SWR2-Musikstunde: Um Begflügelte Frauen geht es diese Woche, um schreibende Frauen heute. „Dieses Buch schrieb und notierte mit großem Fleiß Anna Hachenberch. Ihre Seele möge ruhen in Frieden.“ Das Buch von dem die Rede ist, ist ein persönliches Gesangbuch. Es ist in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden und befindet sich heute im Museum Schnütgen in Köln. Dazu muss man wissen: das Museum ist ursprünglich eine Kirche gewesen, der heiligen Cäcilie geweiht, mit angeschlossenem Klosterbau. Aber wer war diese Anna Hachenberch? Eine Kölner Bürgerin und oder eine Augustinerin von Sankt Cäcilien? Hat sie beim Schreiben ihres Antiphonariums eigene musikalische dichterische Beiträge eingebracht? Oder hat sie aus früheren Büchern kopiert? Die außergewöhnlichen vokalen Verzierungen bei Textstellen, die sich auf die heilige Cäcilie beziehen, sind auffällig. Das Antiphonar der Anna Hachenberch enthält jedenfalls Offiziumstexte und gregorianische Gesänge, die in keiner anderen Handschrift zu finden sind. Das Ensemble Candes Lilium bringt die Unikate zum Klingen. Klösterliche Gesänge, die in der Kölner Sankt Cäcilien-Kirche mehrmals täglich zu hören waren.
4 LC00572 MARC AUREL EDITION C2010 Längen: 0'28; 3'05 Invitatorium; Responsorium Sancta Cecilia Christi martir Ensemble Candens Lilium, Norbert Rodenkirchen LTG
MODERATION Gesänge aus dem Antiphonar der Anna Hachenberch um 1520 zusammengetragen. Dokumente, die in einzigartiger Weise das Musikbrauchtum zu Ehren der heiligen Cäcilie in Köln überliefern. Hier aufgenommen mit dem Ensemble Candens Lilium unter der Leitung eines Kölner Experten für mittelalterliche Musik: Norbert Rodenkirchen. Heutzutage ein Opernlibretto zu schreiben ist angsichts der vielen Opern, die es gibt und der vielen Geschichten über die Opern, für Niemanden leicht. Elisabeth Gutjahr ist von Haus aus beschäftigt mit Bewegungstheater. Sie hat Rhythmik in Köln studiert. Ist heute Professorin für Rhythmik an der Trossinger Musikhochschule. Und hat dennoch Opernlibretti geschrieben. Die Faszination von Neuer Musik und die Idee von verräumlichter Musik habe sie zum Musiktheater und Librettoschreiben gebracht. Sieben Libretti hat sie geschrieben. Drei sind von dem Komponisten Franz Hummel vertont worden. 6
Die Kammeroper An der schönen blauen Donau über eine in der Nazizeit verfolgte Regensburger Grundschullehrerin ist von der Opernwelt zur besten Oper des Jahren 1994 gekürt worden. Zur Eröffnung des Opernhauses in Kaiserslautern ist 1996 die zweiaktige Oper Gesualdo aus der Taufe gehoben worden. Das dem Künstler Joseph Beuys gewidmete Musiktheater Beuys ist an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf im Juli 1998 uraufgeführt worden. Im Zentrum ihrer Libretti stehen meist bekannte historische Persönlichkeiten. Dabei steht für Gutjahr weniger eine Handlung als das, was die Personen in uns auslösen könnten im Vordergrund. Jede ihrer Figuren hat etwas Fantastisches. Das sei für die Oper wichtig, so Gutjahr. Denn erst das Besondere, das Wesentliche, was die Figur ausmacht, führe auch zu ihrer persönliche Musik. Das Libretto gibt diesen Figuren eine Sprache, damit Musik erklingen kann.
5 LC3480ARTENOVA74321380232 Länge: 1'05 Franz Hummel, Hier ist es still aus An der schönen blauen Donau, Gabriele Schmid, Sopran, Georgian Chamber Orchestra, Alexei Kornienko LTG
MODERATION Gabriele Schmid mit Hier ist es still, der Arie der Elli aus der Kammeroper An der schönen blauen Donau von Franz Hummel. Noch ahnt die Grundschullehrerin Elli nicht, dass sie bei den Nationalsozialisten unter Kommunismus-Verdacht steht und bald in die Psychiatrie eingewiesen und vernichtet wird. Die Geschichte hat Librettistin Elisabeth Gutjahr in einem Schauspielfragment von Ödon von Horváth entdeckt. In ihrem Libretto habe sie versucht, „wie eine subjektive Kamera in die Innenwelt von Elli hinein zu spüren, ihre Zustandsentwicklung durch die zunehmende Bedrohungen erlebbar zu machen.“ Ihre Worte beginnen mit den inneren Bohrungen – die mit Musik fortgesetzt werden. Musik Wenn Elisabeth Gutjahr schreibt, hat sie kein festes Schema. Jeder Stoff braucht eine eigene Form. Die darf sich an alte Formen anlehnen oder sie durchbrechen. In dieser Kammeroper ist es eine freie Form. Das ist der lyrisch traumartigen Dramatik auch entsprechend. Alles fließt frei ohne äußerer Handlung. In der Oper Gesualdo treibt ihr Libretto die Handlung zielstrebig auf 7
den Mord des Fürsten von Venosa zu. Tote gibt es bereits zu Anfang zu beklagen. Der Familienclan sitzt beim Leichenschmaus und hackt aufeinander ein. Kontrastiert wird das von heiligem Chorgesang.
6 LC3480ARTENOVA74321407372 Länge: 2'04 Franz Hummel, Der Leichenschmaus aus Gesualdo, Gesangsensemble, Chor und Orchester des Pfalztheaters Kaiserslautern, Lior Shanbadal LTG
MODERATION Ein Ausschnitt aus dem Uraufführungsmitschnitt der Oper Gesualdo von Franz Hummel. Elisabeth Gutjahr hat das Libretto zu dieser Oper geschrieben. Das Dichten ist ein persönliches Anliegen für Elisabeth Gutjahr. Nicht nur das Verdichten einer Handlung, sondern auch im Sinne von Poesie. „Poesie ist etwas Berauschendes, Befreiendes. Sprache, die zu sich kommt, entschlackt von allem Unnötigen, von Übergängen, die komisch, traurig zu einer eigenen Schönheit findet.“ Sagt Elisabeth Gutjahr, die uns Einblicke ins Librettoschreiben und zuletzt ins Dichten gegeben hat. Nach Ingeborg Bachmanns erster Lesung als frisches Mitglied der Gruppe 47 ist sofort „von neuer Poesie die Rede“. Von einer Art „Kahlschlag-Literatur“. Als Reaktion gegen den Missbrauch der schönen poetischen Sprache durch die Nationalsozialisten. Und immer wieder ziehen sich „existentialistische Schmerzen“ durch ihre Texte. Bachmann selbst hat sie zurückgeführt auf persönliche Erfahrungen im Hitlerfaschismus. Eine antifaschistische Mentalität ist für die Gruppe 47 auch konstituierend gewesen. Aber da ist noch etwas anderes. Bei Lesungen trägt sie leise, fast flüsternd ihre Texte vor. Sie „weint“ Ihre Gedichte, wird behauptet. Ist sie so verletzlich, scheu zurückhaltend und schweigsam gewesen wie oft behauptet? Die Thematisierung einer ungesicherten weiblichen Existenz in ihren Prosatexten, in Malina das Verschwinden in einer Wand oder im Fall Franza die Dekonstruktion der Person, die gegen die Wand rennt, hat durchaus einen autobiographischen Bezug für Ingeborg Bachmann. 1926 in Klagenfurt geboren, kommt sie mit 47 Jahren in Rom ums Leben, bei einem Brandunfall verursacht durch eine brennende Zigarette. In noch unbeschwerterer Zeit - während einer Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1952 - lernt Bachmann Hans Werner Henze kennen. Die 26jährige Bachmann 8
stellt sich dem gleichaltrigen Komponisten als „Heimatschriftstellerin“ vor. Nachdem Henze eine ihrer auratischen Lesungen gehört hat, lädt er sie zu gemeinsamen Ferien in Italien ein. Eine intensive Arbeitsfreundschaft entsteht. Im Frühling 1957 vertont Henze erstmals zwei ihrer Gedichte und fügt sie als Arien in seine Nachtstücke ein. Darunter im Gewitter der Rosen. „Es hat anfangs nur aus einem Vierzeiler bestanden ...“, so Henze. „... Bis sie mir für die Komposition, aus Gründen der Symmetrie, noch einen zweiten Vierzeiler hinzuschrieb, der das Gedicht noch viel schöner macht“. Eigentlich eine Frechheit! Von der sprachgewaltigen Bachmann fordert ein Henze, ihr Gedicht nach seinen Wünschen „schöner zu machen“. Aber das lassen wir jetzt dahin gestellt. Und hören, wie Henzes Musik die zwei Vierzeiler deutet!
7 LC14498 GO LIVE Länge: 3'27 Hans Werner Henze, Im Gewitter der Rosen aus Nachtstücke und Arien nach Ingeborg Bachmann, Claudia Barainsky, Gürzenich-Orchester, Markus Stenz LTG
MODERATION Hans Werner Henzes Vertonung von Im Gewitter der Rosen von Ingeborg Bachmannn. Vielleicht haben Sie es gar nicht so empfunden. Aber „zu romantisch schwülstig! Eine Missdeutung der Bachmann'schen Avantgarde-Dichtung!“, schreien die Hartliner bei der Uraufführung in Donaueschingen. Pierre Boulez verlässt sogar aus Protest den Saal. Hat sich Henze der zerrissenen Romantik der frühen Gedichte Bachmanns etwa nicht gewachsen gezeigt? Ist das zu simpel, nur den reinen Sprachklang ihres Gedichtes in und mit Musik zu verstärken? ... Luigi Nonos musikalische Antwort auf die Radikalität von Bachmann-Versen fällt anders aus. Wie sie gleich hören werden. Seine musikalische Antwort auf ihr letztes Gedicht Keine Delikatessen ist Sprach- und Klangfragmentierung. Nono löst die Worte im Sprachklang auf. Und kreiert eine musikalische Ästhetik, die sowohl die biografischen Nöte einer existentiell betroffenen Frau zum Ausdruck bringt, die ihren Schmerz durch Metaphern hindurch schreit, als auch das Bewusstsein davon, dass die Gefühle und Bedürnisse ungehört und unerhört bleiben ...
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8 WDR Produktion Länge. 2'08 Luigi Nono, Risonanze erranti, Susanne Otto, Ensemble, Hans-Peter Schaller, Klangdesign, André Richard LTG
MODERATION Ingeborg Bachmanns letztes Gedicht Keine Delikatessen zur Sprachlosigkeit verarbeitet. Ein ganz anderer Klangeindruck als Hans Werner Henzes Vertonung von Bachmanns Im Gewitter der Rosen. Den hat Luigi Nono hier in den Risonanze erranti 1986 entwickelt für Alt, Flöte, Tuba, 6 Schlagzeuger und live-Elektronik. In einer Notiz zu dieser Komposition hat Nono seine personliche Erschutterung über und durch die Stimme Ingeborg Bachmanns festgehalten und deren Verzweiflung in ihrem letzten Gedicht. Ob sich Nono und Bachmann jemals begegnet sind, weiß ich nicht. Die große Existentialistin der Nachkriegsprosa, Ingeborg Bachmann, hat jedenfalls mit Henze zusammenarbeiten wollen. Und ihm nicht nur Gedichtszeilen zugestanden, sondern auch zwei Opernlibretti geschrieben. „Es sei möglich, ohne sich an vorhandener Literatur zu orientieren Prosa und Gedichte hervorzubringen“, so Bachmann in ihren Notizen zum Libretto (GA1, S4). „Aber es scheint mir unmöglich zu sein, ein brauchbares Libretto zu schreiben, ohne das Phänomen der Oper studiert zu haben.“ Und die Oper hat sie aufmerksam studiert. In einer Generalprobe zu La Traviata inszeniert von Luchino Visconti in Mailand sei sie von der Oper angefressen gewesen. Da sei der Regenbogen über dem Phänomen Oper für sie aufgegangen (1956). Und die große Bachmann, damals schon viel berühmter als ihr Komponistenkollege, unterwirft sich dem Librettoschreiben. „Ein Libretto wird für den Komponisten und seine Musik im Erraten des Wegs dieser Musik und ihrer vorhandenen und noch zu erweckenden Potenzen geschrieben“, schreibt Bachmann. „Das verlange Unterwerfung … unter die allein wichtige Arbeit des Komponisten. Denn es ist sein Werk in der Öffentlichkeit.“ Im dreiaktigen Libretto Prinz von Homburg nach dem fünfaktigen Kleist-Drama und mit Der junge Lord nach Der junge Engländer von Wilhelm Hauff bereitet sie die Stoffe auf, die Henze vertont. Das Faszinierende am Librettoschreiben und das zugleich Schwerste sei für sie gewesen: „die Überlappung von Texten und der gleichzeitige Ablauf von kontradiktorischen, variierten oder zur Deckung kommenden Textstellen. Dass die Personen vom Duett bis Ensemble nicht nacheinander, sondern
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gleichzeitig, gegeneinander und nebeneinander zu Wort kommen. Das sei eine den Schreibenden erregende Besonderheit der Oper...“
9. LC0173DG 449875 CD21 Länge: 2'38 Hans Werner Henze, Eine gewisse nationale Roheit! aus Der junge Lord, Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin, Christoph von Dohnány LTG
MODERATION Ein Ausschnitt aus dem letzten Bild im zweiten Akt der komischen Oper Der junge Lord von Hans Werner Henze. Das Libretto zu dieser Oper hat Ingeborg Bachmann verfasst. Eine Ausnahmearbeit in ihrem auratischen für sich selbst sprechenden Schriftwerk. Das im gewissen Sinne ihre Lansmännin Elfriede Jelinek fortführt. „Bachmann wäre von meinem Schreiben angeekelt!“, hat Jelinek allerdings einmal in einem Interview gesagt. „Was die Bachmann mit Geheimnissen umgeben hat, nenne ich geheimnislos beim Namen. Das Ergebnis ist dasselbe....!“ Und damit meint Jelinek die Unmmöglichkeit von Selbstfindungprozessen einer Weiblichkeit, die in die Normen des Patriarchats hineingepresst sich nur auflösen kann. Ewiges Thema der Bachmann, so Jelinek. „Es gibt keine weiblichen Kriterien der Beurteilung. Und die Lobesmaschine der von Bachmann begeisterten Gruppe 47 sei über sie hinweg gerollt in der ständigen Verneinung dessen, was sie eigentlich hinaus geschrieen habe. Die Ortlosigkeit von Frauen! Und auch die reale männliche Gewalt habe sie thematisiert, die ja letztendlich zum Faschismus geführt hat. Bachmann: „Und die brüllende Gewalt der Nazis, wo sei die dann nach dem Krieg hingegangen? Die sei ja nicht plötzlich verschwunden. Sie ist in die Familien gegangen...“ Unser letzter Hörbeitrag heute konzentriert sich noch einmal auf das Weibliche. Und wirbelt alles durcheinander. Mit Sprachwitz, analytischer Psychologie die Librettistin Jeliniek. Mit einer computeranimierten Klangcollage die Komponistin Neuwirth. Sie rücken dem Frau-sein-wollenwerden und einigen damit verbundenen Klischees zu Leibe. In dem Hörstück „Der Tod und das Mädchen“ II. Ein bisschen Dornröschen, und das Gelächter von Anne Bennent und Hanna Schygulla – alles sehr skurril!
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10 LC07989COL LEGNO WWE 20261 Länge: 3'34 Olga Neuwirth, Der Tod und das Mädchen II, Anne Bennent und Hanna Schygulla, Stimmen, Musik und Regie, Olga Neuwirth
MODERATION O doch es muss noch viel passieren – vielleicht nicht mehr in diesem Hörstück von Olga Neuwirth Der Tod und das Mädchen II. Denn unsere SWR2 Musikstundenzeit ist heute abglaufen. Aber morgen geht es weiter, mit wissenden Frauen, die musikalisch bewundert und auch gefürchtet wurden.
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