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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde Das Schisma und die sächsische Symbiose – Musik im „Kernland“ des Protestantismus in den zwei Jahrhunderten nach Luther (4) Von Frieder Reininghaus Sendung:
Donnerstag 12. Januar 2017
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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SWR2 Musikstunde mit Frieder Reininghaus Das Schisma und die sächsische Symbiose – Musik im „Kernland“ des Protestantismus in den zwei Jahrhunderten nach Luther (4) SWR 2, 09. Januar – 13. Januar 2017 - 9h05 – 10h00
Signet SWR2 Musikstunde Das Schisma und die sächsische Symbiose – Musik im „Kernland“ des Protestantismus. Dazu begrüßt Sie Frieder Reininghaus. Titelmusik Keine Frage: Die Reformation in vielen Regionen nördlich der Alpen erwies sich auch in kirchenmusikalischer Hinsicht als Erneuerungsbewegung. Auf produktive Momente des Lutherischen Chorals im weiteren Verlauf der Musikgeschichte vor allem im deutschsprachigen Raum wurde in den letzten Tagen immer wieder verwiesen. Doch wie alle großen Umbrüche auf dem Gebiet der Satzkunst und Stilistik – z.B. der Siegeszug der Monodie und des Generalbasses um 1600 oder der mitteleuropäische Moderne vor dem ersten Weltkrieg – bedeutet auch das, was sich im Auftrag und Namen des Protestantismus entwickelte, Zugewinn und Verlust. Die kunstvoll komponierte Musik hatte sich seit dem Hochmittelalter vor allem in Wechselwirkung zwischen Errungenschaften Italiens und denen im Nordwesten Europas, im „franco-flämischen Raum“, so gut wie ausschließlich im kirchlichen Raum entwickelt. Auch wenn die Hofmusik dann von dieser Evolution profitierte: Der religiöse Kontext war die Basis – und die besaß, bei allen speziellen regionalen und individuellen Ausprägungen ein bemerkenswertes Maß an Einheitlichkeit. Damit war es nun fürs erste vorbei. Das Separatistische der neuen Glaubens- und Gottesdienstformen zog auch musikalische „Sonderwege“ nach sich. Fünfzig Jahre nach dem Beginn der Reformation galt Jan Pieterszoon Sweelinck als der talentierteste Organist der Niederlande. Schon in jungen Jahren wurde er, in Nachfolge seines Vaters, Organist an der Oude Kerk in Amsterdam. Als die Stadt 1578 zum Calvinismus übertrat, ging auch die Oude Kerk in deren Eigentum über und Sweelinck wurde städtischer Angestellter. Da im calvinistischen Gottesdienst unbegleitet gesungen wurde, fing er an, täglich öffentliche Orgelkonzerte zu geben. Die entwickelten europaweit Ausstrahlung. Jungen Musikern in Sachsen – wie z.B. Samuel Scheidt – oder Johann Praetorius in Hamburg wurde empfohlen, sich bei Sweelinck fortzubilden. Als Beispiel seiner Schreibweise hier die Echo Fantasia in a.
3 Musik 1: Jan Pieterszoon Sweelinck, Echo Fantasia in a; Susanne Rohn, Orgel; CD-Collection Luther und die Musik, note1music; Christoperus CHR 77403; CD 8, Track 3; Dauer: 4’11“ Jan Pieterszoon Sweelinck, Echo Fantasia in a, komponiert am Ende des 16. Jahrhunderts – an der Orgel Susanne Rohn. Johann Walter, nachmals Kantor, Komponist und Mitglied der damals noch in Thorgau ansässigen sächsischen Hofkapelle, wurde 1521 Bassist der kurfürstlichen Kapelle in Altenburg und Anhänger der Reformation. In engem Schulterschluss mit Martin Luther veröffentlichte er bereits 1524, im Jahr 7 der Reformation, in Wittenberg ein Geystliches gesangk Buchleyn, das eine erste Sammlung von Luther-Chorälen enthält. Im folgenden Jahr half Walter dem Mitherausgeber bei der Fertigstellung von dessen Deutscher Messe. In Chorsätzen wie Christum wir wollen loben schon von Johann Walter wird hörbar das Erbe der vorreformatorischen Kontrapunktik fortgeschrieben – parallel zu den Modellen der ‚neuen Einfachheit’. Dies geschah in völliger Übereinstimmung mit den musikpolitischen Zielen der Wittenberger Reformation. Ohnedies verband die katholische und evangelische Kirchenmusik dann in den folgenden Jahrhunderten mehr, als gemeinhin angenommen wird. Lateinischsprachige Kirchenmusik wurde in den lutherischen Städten durch die Lateinschulen fortgeführt, z.B. in den Vespern oder durch Psalm-Motetten. Teil II von Johann Walters Geystlichem gesangk Buchleyn enthält auch Kompositionen mit lateinischen Texten. Freilich in erster Linie das genuin Neue. Musik 2: Johann Walter, Christum wir wollen loben schon; Athesinius Consort Berlin, Leitung: Klaus-Martin Bresgott; Doppel-CD Luthers Lieder, Carus 83 469; CD 1, Track 20, : 2’12“ Es sang das Athesinius Consort Berlin, Leitung: Klaus-Martin Bresgott. Luther war keineswegs der einzige und auch nicht der erste, der Modelle für massenwirksame protestantische Kirchenlieder entwickelte. Um Nasenlänge zuvorgekommen war ihm Ulrich Zwingli. Der war von Haus aus Soldat und Feldprediger. 1519 kam er nach Zürich. In der Stadt wütete die Pest. Als „Leutpriester“ am Großmünsterstift kümmerte er sich um Kranke und Sterbende, bis er sich selbst infizierte. Sein Pestlied Hilff, Herr Gott, hilff in dieser Not war ein Hilferuf, die Erfahrung der Genesung ein Wendepunkt in seinem Leben. Anlässlich des Ersten Kappelerkriegs – des ersten Religionskriegs der Neu- gegen die Altgläubigen, ergänzte Zwingli 1529 den Choral Herr, nun heb den Wagen selb. Auch der von Martin Luther gehasste Gegenspieler in Thüringen, Thomas Müntzer, wird als Urheber von Choral-Texten und -Melodien genannt: Das Bekenntnislied
4 Singen wir heut mit einem Mund geht wohl auf ihn zurück. Es entstand 1523, als Müntzer als Pfarrer in Allstedt (Thüringen) die Deutsche evangelische Messe einführte. Von den Gegnern als „Schwärmer“ inkriminiert, wurde er 1525 Anführer der aufständischen Bauern. Luther verdammte die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern und mit ihnen Müntzer, der bei Frankenhausen in Thüringen gefangen und geköpft wurde. Ein Dutzend Jahre nach diesem deutschen Massaker setzte die Mitwirkung Jean Calvins an der Neuordnung des Gemeindegesangs ein. 1539 erschien sein Erster Psalter in Straßburg – mit eigenen Übersetzungen und Übertragungen von Clément Marot. Claude Goudimel wurde zum wohl wichtigsten musikalischen „Transmissionsriemen“ der Calvinschen Musik-Politik. Musik 3: Claude Goudimel, Du fond de ma pensée; chant 1450; CD-Collection Luther und die Musik, note1music; Christoperus CHR 77403; CD 8, Track 6; Dauer: 0’49“ Jean Calvin definierte geistliche Musik als ein Mittel, das Herz zu bewegen; der Text müsse allzeit verständlich sein. Damit wandte sich der francophone Reformator gegen die Unverständlichkeit bzw. angebliche. „Zügellosigkeit“ der katholischen Kirchenmusik und suchte das unbedingte Primat der Worte festzuschreiben. 1551 versammelte der Genfer Psalter die Übertragung von sieben Dutzend Psalmen ins Französische durch Clément Marot und Théodor Bèze. Der Erfolg dieser Choral-Sammlung veranlasst zahlreiche Musiker, sie mit Melodien und vieroder mehrstimmigen Harmonisierungen zu versehen. Unter diesen Zulieferern befanden sich Claude Goudimel und Claude Lejeune. Deren Sätze trugen zur weiteren Popularisierung des Psalters und zur Herausbildung einer protestantischen kulturellen Identität wesentlich bei. Beliebtheit erlangen insbesondere die schlichten vierstimmigen Sätze Goudimels. Durch sie vor allem verbreitet sich gegen Calvins ursprüngliches Plädoyer für den einstimmigen Gemeindegesangs der mehrstimmige Psalmengesang in reformierten Kirchen. Allerdings waren Dreiertakte bei diese Form des Gesangs wegen der Nähe zu Tanzrhythmen ebenso verpönt wie Punktierungen. Die Melodienvorlagen entstammen unterschiedlichen Quellen, gingen entweder auf gregorianische Choräle oder Volksmusik zurück (einige Weisen sind ungeachtet der Differenzen Übernahmen von lutherischen Liedern). Das Ensemble chant 1450 (mille quatre cent cinquante) interpretiert Claude Goudimels Les cieux en chacun lieu, das auf Psalm 19 basiert. Musik 4: Claude Goudimel, Les cieux en chacun lieu; chant 1450; CD-Collection Luther und die Musik, note1music; Christoperus CHR 77403; CD 8, Track 12, Dauer: 1’29“
5 Das Kurfürstentum Sachsen nahm im religiös-politischen Umbruchprozess der Reformation ab den 1520er Jahren eine Schlüsselstellung ein. Diese ist im besonderen verknüpft mit den Namen der Kurfürsten Friedrich III. des Weisen und Johann des Beständigen . Das Land im Herzen des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation war mächtig und bereits relativ souverän durch den Reichtum an Edelmetall – und auch kulturpolitisch in besonderer Weise handlungsfähig. Es leistet sich mit Mattheus Le Maistre und Antonio Scandello hochkarätige Kapellmeister aus den Niederlanden bzw. Oberitalien. Dann mit dem in Venedig ausgebildeten Henricus Sagittarius – Heinrich Schütz, der 1616 aus Kassel abgeworben wurde. In dessen lange Amtszeit fällt der kriegsbedingte große ökonomische Einbruch. Die Kosten des 1618 in Böhmen ausbrechenden 30jährigen Kriegs zwangen Sachsen von 1620 an zu Sparmaßnahmen. Die Aufwendungen für die Hofkapelle wurden drastisch reduziert, drei Jahre später die Gehaltszahlungen für sämtliche Musiker gänzlich ausgesetzt. Schütz wich dreimal für zwei oder drei Jahre nach Kopenhagen aus. Hier nun (der Schluss-Abschnitt der/die) vielstimmige(n), an den damals neuesten Arbeiten der Gabrielis in Venedig schulte(n) Motette zum Michaelisfest, deren Komposition Heinrich Schütz von Heinrich Spitta zugeordnet wurde. Das mit Mehrchörigkeit und Blechbläserglanz prunkende Werk nach Versen aus Luthers Übersetzung der Offenbarung des Johannes stammt offensichtlich aus einer Zeit, in der die Musiker bezahlt werden konnten. Musik 5: Heinrich Schütz, Es erhub sich ein Streit im Himmel; Johann Rosenmüller Ensemble, Kammerchor Bad Homburg, Leitung Susanne Rohn; CDCollection Luther und die Musik, note1music / Christoperus CHR 77403; CD 8, Track 9; Dauer max.: 7’53“ / ggf. nur 0’45“ [Die 18stimmige Motette Es erhub sich ein Streit im Himmel von Heinrich Schütz; es sang der Kammerchor Bad Homburg, begleitet vom Johann Rosenmüller Ensemble – prunkvolle Hofkirchenmusik aus den fetten Jahren des Kurfürstentums.] Nach dem Westfälischen Frieden erholt sich Sachsen rascher als andere Landstriche vom Dreißigjährigen Krieg, von Hunger und Pest. [Doch offensichtlich gab es beim Reinstallieren einer ordentlichen Hof- und Kirchenmusik zunächst Probleme. Aus dem Jahr 1650 ist ein Dokument erhalten: Ihm zufolge wollten die Behörden in Dresden gegen „diejenigen untüchtigen Gesellen und andere die sich der Trommeten ungebührend gebrauchen“ vorgehen (vermutlich auch gegen die in Folge des Kriegs undiszipliniert gewordenen wohlbestallten Musiker); in Aussicht gestellt wurde „ernste Bestrafung der Verbrecher“. Relativ rasch ging es dann im Kernland des Protestantismus ökonomisch und kulturell wieder aufwärts.] 1659 erschienen in Zittau und Dresden Andreas Hammerschmidts Fest- Bus und Dancklieder für 5 Singstimmen, 5 Instrumente ad
6 libitum und Basso continuo – hörbar unter Einfluss des katholischen Südens. Die Besetzung (und damit der Aufwand in jeder Hinsicht) steigerten sich rasch: 1663 fordert Hammerschmidts Missae […] tam vivae voci quam instrumentis varijs accomodatae die Mitwirkung von 5 bis12 Stimmen (und mehr). Ein Jahr zuvor war in Dresden mit Il Paride, einem Werk in venezianischem Stil von Giovanni Andrea Bontempi (1642–1707), wohl erstmals nördlich der Alpen opera italiana gegeben und unmittelbar im Anschluss daran mit dem Bau des Opernhauses am Taschenberg begonnen worden (Einweihung 1667). Dieses „Komödienhaus“ war einer der größten Theaterbauten der Zeit, konnte bis zu 2000 Besucher fassen. Es wurde mit zunehmender, wahrhaft gegenreformatorischer „katholischer“ Opulenz bespielt. Mit Margherita Salicola trat 1686 erstmals eine Sopranistin – eine Frau! – an der Dresdener Hofoper auf und machte Sensation. 1697 trat August (der Starke), Kurfürst von Sachsen, zum Katholizismus über (dies war Voraussetzung für seine Wahl zum König in Polen). Es dauerte zwar mehrere Jahre, bis in Dresden eine katholische Hofkirche erbaut und für sie Kirchenmusik eingerichtet wurde, unter Jan Dismas Zelenka (1679–1745) dann – parallel zur Tätigkeit von Johann Sebastian Bach in Leipzig – höheres Niveau erreichte. Ohnedies leistete sich die Hofhaltung Augusts den erdenklich größten Luxus: Der Altus Senesino, in Venedig, Bologna und Neapel zum Star aufgestiegen, wurde mit der enormen Gage von 7.000 Talern nach Dresden engagiert (die Umrechnung erweist sich als schier unlösbares Problem, da auch in der Wissenschaft strittig ist, welche Koordinaten angelegt werden; ich schlage fünf bis sieben Millionen Euro vor). Damit Dresden aber konkurrenzfähig zu Paris und Wien werden konnte, bedurfte es nicht nur der erheblichsten finanziellen Mittel und eines neuen prächtigen Opernhauses, das 1719 nebst dem Zwinger mit Antonio Lottis Giovi in Argo eröffnet wurde, sondern auch eines musikalischen Kopfes, der als Komponist und Dirigent das Dresdner Profil schärfte. Er wurde mit dem heute weithin unterschätzten Johann Adolf Hasse gefunden. Hasse stellt sich 1731 mit Cleofide vor und sorgte 32 Jahre lang für Glanz und Gloria. 1753 kam sein orientalisch kolorierter Solimano zur Uraufführung, mit „würcklichen Pferden“, dazu „Elephanten, Cameele, Dromedaires, so insgesamt der Königl. Stall hierzu hergegeben, nach Asiatischem Gebrauch aufs prächtigste ausgeputzet“. Und zwischen den Akten – in der Sprache der Zeit – nach „jeder Haupt-Handlung wurden von denen Königl. Täntzern die allerinventieusten Täntze vorgestellt“. Hier die Ouverture zu ..., gespielt von ... unter Leitung von ... Musik 6: Johann Adolf Hasse, Ouverture zu Cleofide Musica Antiqua, Leitung: Reinhard Goebel SWR M0012567 W01, Dauer: ca. 5’00“
7 Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Cleofide in Dresden wurde deren Prunk noch getoppt: Bei Hasses Ezio waren auf der Bühne rund 100 Pferde, Dromedare, Maultiere, Kamele, vierspännig gezogene Triumphwagen sowie 400 Komparsen im Einsatz. Es hat, gerechnet vom Ende des Dreißigjährigen Krieg, hundert Jahre gedauert, bis die Dresdner Hofoper den Musiktheatern in London, Neapel, Paris und Wien ebenbürtig wurde – und es bedurfte der durch besondere finanzielle Aufwendungen nach Sachsen gelockten Künstler, um das Haus in die Spitzenklasse zu bringen. Das große Glück freilich zerstob erst einmal, als 1760 Truppen des Preußenkönigs Friedrich II. Dresden verwüsteten. Auch Hasses Haus ging in Flammen auf – vernichtet wurden sämtliche Manuskripte und die zum Stich vorbereitete Gesamtausgabe der Werke. Doch trotz dieses schweren Rückschlags für das blühende sächsische Kulturleben kann festgehalten werden, dass die Parallelität und im Wesentlichen produktive Konkurrenz von lutherischer und katholischer Kultur im Kernland des Protestantismus eine wesentliche Voraussetzung für das Prosperieren von Hofund Kirchenmusik waren. Gerade auch für den Glanz der Bachschen Musik, bei der die Faktur der weltlichen jener der geistlichen zum Verwechseln ähnelt. Musik 7: Johann Sebastian Bach, „Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!“ Kantate BWV 214, No.1, Coro; Collegium Vocale Gent, Leitung Philip Herreweghe SWR M0073590 W02,Dauer: ca, 6’30“ „Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!“ – Der Eingangschor der Kantate zum Geburtstag der Königin von Polen und Kurfürstin zu Sachsen am 8. Dezember 1733 – im folgenden Jahr umgearbeitet als Einleitung des Weihnachts-Oratoriums von Johann Sebastian Bach. [Der württembergische Pianist, Komponist, Dichter, politische Publizist und Protestant Christian Friedrich Daniel Schubart schrieb aus der Distanz von zweihundert Jahren: „Als Luther auftrat, da war die Kirchenmusik der Deutschen bereits in leere, strotzende Pracht ausgeartet. Man maß die Musik nicht mehr nach ihrer einfältigen Wirkung, sondern nach dem Aufwande.“ Schubart brachte zum Ausdruck, was ‚die Evangelischen’ in der Mitte des 18. Jahrhunderts von der kontrapunktisch artifiziellen Chor-Polyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts dachten (die sie aber kaum mehr kannten): Die vorlutherische Musik war abgetan.] Dass so manches von der Kunstfertigkeit der vorreformatorischen Alten Meister oder der zeitgenössischen Italiener und Franzosen im 17. Jahrhundert in die Werke der protestantischen Organisten und Komponisten nördlich der Alpen Eingang
8 fand, war nicht nur der fortdauernden Mobilität der Musiker geschuldet, die in vielen Fällen Italien bereisten – Heinrich Schütz ebenso wie G.F. Händel –, wenigstens aber allemal in Amsterdam, Hamburg, Leipzig oder Dresden die neuesten Notendrucke der italienischen Zeitgenossen studierten. Dass sich die musikalische Spaltung zwischen Nord- und Südeuropa nicht so lang anhaltend und grundsätzlich vollzog (wie die im Gefolge des Schismas zwischen Ost- und Westkirche), ist auch der von Luther betriebenen „Musikpolitik“ geschuldet. Anders als die der Calvinisten vermied sie den vollständigen Bruch. Ein frühes Dokument für die sächsische Symbiose von protestantischem und katholischem „Ton“ stellt Michael Altenburgs Jenaer Festmusik zur Reformationsfeier 1617 dar, die u.a. auch auf Luthers Apokalypse-Übersetzung rekurrierte. Hier nochmals präsentiert vom Johann Rosenmüller Ensemble unter Leitung von Susanne Rohn. Musik 8: Michael Altenburg, Englische Schlacht; Festmusik zur Reformationsfeier 1617; Johann Rosenmüller Ensemble, Kammerchor Bad Homburg, Leitung Susanne Rohn; CD-Collection Luther und die Musik, note1music / Christopherus CHR 77403; CD 8, Track 6; Dauer: 2’15“ In Abgrenzung zu vorangegangenen kirchenreformatorischen Bewegungen wie der im 14. Jahrhundert in England von John Wyklif initiierten oder der von Jan Hus im Böhmen des frühen 15. Jahrhunderts ausgehenden erörterte Egon Friedell – wie dann auch Thomas Mann – den Protestantismus als „die deutsche Religion“. Um die „Stimmung im Volk“ zu charakterisieren, zitierte er Hans Sachs und dessen Wittenbergisch Nachtigall von 1523: „Wacht auf, es nahet sich der Tag! Ich höre singen im grünen Hag / die wonnigliche Nachtigall; / ihr Lied durchklinget Berg und Tal [...] Die rotbrünstige Morgenröt / her durch die trüben Wolken geht“. Das ist – nach 345 Jahren – dröhnend wirksame große Musik geworden (mit Nachwirkungen, die hier und heute ausgeblendet bleiben sollen). Als der aus Sachsen stammende Dichterkomponist Richard Wagner 1868 mit seiner Großen Komischen Oper Meistersinger Traditionsbindung und Innovation des kunstfertigen Singens verhandelte, tat er dies im Kontext des frühen Protestantismus und aus dem Verständnis der Reformation als „deutscher Revolution“: „Wacht auf!“ – „Deutschland erwache!“ Musik 9: Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, 3. Aufzug; „Wacht auf“; Deutsche Oper Berlin, Eugen Jochum; DG 415 278-2; CD 4, Track 10, Dauer: 1’05“ Man geht wohl nicht ganz in die Irre mit der Erwägung, dass Entstehung und besondere Wege einer spezifisch „deutschen Musik“ mit der Ausbreitung und Konsolidierung des Protestantismus zusammenhängen – eben kraft der
9 nationalen Komponente im reformatorischen Prozess als „deutscher Religion“ und „deutscher Revolution“. Zur Hypertrophie des deutschen Musikdenkens trug eine literarische Figur nicht unwesentlich bei, die für Musiker und Musik seit dem späten 18. Jahrhundert besondere Bedeutung gewann: „Faust – ein deutscher Mann“. Der jungdeutsche Literat Ferdinand Gustav Kühne resümierte 1834: „Der Faust sitzt dem Deutschen wie Blei auf den Schultern, hat sich ihm ins Herz genistet, in sein Blut eingesogen; wir sitzen und dichten und dämmern über das Schicksal, das wir in uns selbst tragen, wir käuen und käuen daran und können uns selbst nicht verdauen.“ Es sei ein großer Fehler der Sage und der bisherigen Dichtungen, dass sie Faust nicht mit der Musik in Verbindung bringen, monierte Thomas Mann 1945, wiewohl er längst die größte Kraftanstrengung aufgebracht hatte, seinen abgründigen Roman-Helden Dr. Adrian Leverkühn dies Ver¬säumte nachholen zu lassen. „Soll Faust der Repräsentant der deutschen Seele sein“, erläuterte der Romancier, „so müßte er musikalisch sein; denn abstrakt und mystisch, d.h. musikalisch, ist das Verhältnis der Deutschen zur Welt.“ Konsequenterweise machte Thomas Mann die Titelfigur seines Faustus-Romans zu einem „deutschen Tonsetzer“ des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts. 1945, wenige Tage nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, tarierte der Romancier in seiner Grundsatzrede über Deutschland und die Deutschen nicht nur die Ambivalenz der historischen Figur des „konservativen Revolutionärs“ Luther aus, sondern auch seine eigene ambivalente Haltung zu ihr; er verwies auf das von ihm verkörperte „Deutsche in Reinkultur, das Separatistisch-Antirömische, Anti-Europäische“ – und auf die diabolischen politischen und kulturellen Folgen der europäischen Nord-Süd-Spaltung. Am Punkt des in der Musik kulminierenden „Deutschen in Reinkultur“ hatte sich Thomas Mann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Saulus zum Paulus gewandelt – vom Fürsprecher der Dominanz Deutschlands zum vehementen Kritiker des hybride Nationalistischen und zum Protagonisten eines europäisch orientierten Kulturdenkens. Ziemlich am Anfang der zwiespältigen Selbstüberhöhung von kontrapunktisch geprägter Musik als spezifischer „tönender Ausdruck“ deutscher Kultur steht die Vereinnahmung Johann Sebastian Bach durch den Göttinger Universitäts-Musikdirektor Johann Nikolaus Forkel als „Nationalangelegenheit“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Gerade aber der in theologischer Hinsicht so streng auf Luther sich beziehende Sachse Bach, der auch in „italienischem Gusto“ schrieb (und viel von den italienischen Kollegen lernte), der die zu seiner Zeit neuesten französischen, englischen und polnischen Schreibweisen in seine Arbeit adaptierte, lässt sich nur mit Ranküne für eine „deutsche Musik in Reinkultur“ vereinnahmen.
10 Musik 10: Johann Sebastian Bach, Italienisches Konzert; Schluss-Satz: Presto Richard Egarr SWR M0378836 W05, Dauer: 3‘46 Sie hörten abschließend den dritten Satz des Italienischen Konzerts von Johann Sebastian Bach in einer Aufnahme mit Richard Egarr.