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Masse Und Meinung - Konstanz|university Press

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Masse und Meinung Gabriel Tarde (1843–1904) zählt zu den Gründer­vätern der französischen Soziologie. Nach seiner Tätigkeit als Richter und Leiter der kriminalistischen Abteilung des Justizministeriums in Sarlat war er Professor für neuzeitliche Philosophie am Collège de France, wo er seine soziologische Theorie weiterentwickelte und lehrte. Gabriel Tarde Masse und Meinung Aus dem Französischen von Horst Brühmann Konstanz University Press Titel der Originalausgabe: L’Opinion et la foule, Paris: Félix Alcan 1901. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2015 Konstanz University Press, Konstanz (Konstanz University Press ist ein Imprint der Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) www.fink.de | www.k-up.de Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-86253-062-5   Inhalt Vorwort 7 Erstes Kapitel Publikum und Masse 9 Zweites Kapitel Meinung und Konversation 59 Meinung 59 Konversation 74 Drittes Kapitel Massen und kriminelle Sekten 135 Nachwort 189 Urs Stäheli Die Zukünftigkeit der Masse     Vorwort Unter den Begriffen Kollektivpsychologie oder Sozialpsychologie wird häufig eine Chimäre verstanden, die unbedingt zu bekämpfen ist. Sie besteht darin, einen Kollektivgeist, ein soziales Bewußtsein, einen nous anzunehmen, der außerhalb oder oberhalb der individuellen Bewußtseine existieren soll. Aus unserer Sicht bedarf es dieser mysteriösen Vorstellung nicht, um zwischen gewöhnlicher Psychologie und Sozialpsychologie – die wir lieber interspirituelle Psychologie nennen würden – eine sehr klare Grenze zu ziehen. Während die erste sich mit den Beziehungen des Bewußtseins zu den anderen Wesen der Außenwelt als ganzen beschäftigt, untersucht die zweite (oder soll untersuchen) die gegenseitigen Beziehungen von Bewußtsein zu Bewußtsein, ihre einseitigen und wechselseitigen Einflüsse – zunächst die einseitigen, dann die wechselseitigen. Zwischen beiden besteht also die Differenz von Gattung und Art; doch die Art ist hier so eigenartig und so wichtig, daß sie von der Gattung gesondert betrachtet und mit eigenen Methoden bearbeitet werden will. Die folgenden Untersuchungen sind Fragmente einer so verstandenen Kollektivpsychologie. Ein enges Band vereint sie. Es schien notwendig, die Studie über die Massen, die den Band als Anhang abschließt, neu zu veröffentlichen, weil sie hier ihren sachlich angemessenen Ort hat.1 Das Publikum, der spezifische Gegenstand der zentralen Studie, ist eine verstreute Masse, innerhalb deren der gegenseitige Einfluß der Bewußtseine sich auf dem Wege der Fern1 In der Revue des deux mondes, Dezember 1893, dann in den Essais et mélanges sociologiques (Paris: Storck et Masson 1895). Die beiden anderen Untersuchungen sind 1898 beziehungsweise 1899 in der Revue de Paris erschienen. 8  Vorwort wirkung vollzieht, einer Wirkung über immer größere Entfernungen. Die (öffentliche) Meinung schließlich als Resultante aller Fernoder Kontaktwirkungen steht zu Masse und Publikum etwa im gleichen Verhältnis wie das Denken zum Körper. Und wenn man unter den Handlungen, aus denen sie entsteht, nach der allgemeinsten und konstantesten sucht, erkennt man mühelos, daß es sich um das Gespräch, die Konversation handelt, ein elementares soziales Verhältnis, das von den Soziologen völlig vernachlässigt wird. Eine vollständige Geschichte der Konversation bei allen Völkern und zu allen Zeiten wäre ein sozialwissenschaftliches Desiderat von höchstem Interesse, und die Schwierigkeiten, die ein solches Thema bietet, wären ohne Zweifel durch die Zusammenarbeit zahlreicher Forscher überwindbar. Aus der Zusammenstellung von Tatsachen, die man unter diesem Gesichtspunkt bei ganz unterschiedlichen Menschengruppen und Völkern sammeln müßte, ergäben sich zahlreiche Ideen, die geeignet wären, die vergleichende Konversation in eine echte Wissenschaft zu verwandeln. Eine solche Wissenschaft fände ihren Platz nicht weit entfernt von der vergleichenden Religionswissenschaft oder der vergleichenden Kunstwissenschaft – oder sogar der vergleichenden Industrie, mit anderen Worten: der politischen Ökonomie. Doch natürlich konnte ich nicht den Anspruch erheben, auf wenigen Seiten das Bild einer solchen Wissenschaft zu zeichnen. Da mir die Informationen fehlen, die erforderlich wären, sie auch nur zu skizzieren, konnte ich nur ihren künftigen Platz angeben, und ich wäre glücklich, wenn ich mit meinem Bedauern über ihr Fehlen bei irgendeinem jungen Wissenschaftler den Wunsch wecken könnte, diese große Lücke zu füllen. Mai 1901 G. Tarde   Erstes Kapitel Publikum und Masse I Die Masse ist nicht nur anziehend und lockt unwiderstehlich ihre Zuschauer an; schon ihr Name übt einen bemerkenswerten Reiz auf den zeitgenössischen Leser aus, und manche Autoren sind allzu geneigt, mit diesem mehrdeutigen Wort menschliche Gruppierungen aller Art zu bezeichnen. Es ist wichtig, diese Verwirrung zu beenden und vor allem die Masse nicht mit dem Publikum zu verwechseln. Zwar läßt diese Vokabel ihrerseits mehrere Bedeutungen zu, doch ich will versuchen, sie zu präzisieren. Man spricht von einem Theaterpublikum, vom Publikum irgendeiner Versammlung; hier heißt Publikum soviel wie Masse. Doch diese Bedeutung ist nicht die einzige und nicht einmal die hauptsächliche. Während sie in den Hintergrund tritt oder allenfalls erhalten bleibt, hat die Moderne seit der Erfindung des Buchdrucks ein Publikum von ganz anderer Art hervorgebracht, das immer wichtiger wird und dessen unbegrenzte Ausdehnung eines der herausragendsten Merkmale unserer Epoche ist. Man hat die Psychologie der Massen untersucht; die Psychologie des Publikums in diesem anderen Sinne, als rein geistiges Kollektiv, als räumliche Verteilung physisch voneinander getrennter Individuen, deren Zusammenhalt ein rein psychischer ist, steht noch aus. Woher das Publikum stammt, wie es entsteht, wie es sich entwickelt, seine Spielarten, seine Beziehungen zu denen, die es lenken, sein Verhältnis zur Masse, zu den Korporationen, zu den Staaten, seine Macht im Guten wie im Bösen, seine Arten, zu 10  Erstes Kapitel fühlen oder zu handeln: das ist es, was wir in dieser Studie untersuchen wollen. In den niedersten Tiergesellschaften besteht das soziale Band vornehmlich in der physischen Agglomeration. In dem Maße, wie man den Baum des Lebens hinaufklettert, wird dieses Band immer mehr zu einem geistigen. Doch wenn die Individuen sich so weit voneinander entfernen, daß sie sich nicht mehr im Blick haben, oder über eine gewisse, sehr kurze Zeit hinaus auf Distanz bleiben, zerfällt ihre Assoziation. – Darin zeigt die Masse etwas Animalisches. Ist sie nicht ein Bündel psychischer Ansteckungen, die im wesentlichen durch körperliche Berührung zustande kommen? Doch nicht alle Kommunikationen von Geist zu Geist, von Seele zu Seele haben körperliche Nähe zur Voraussetzung. Diese Bedingung ist immer weniger erfüllt, wenn in unseren zivilisierten Gesellschaften Ströme von Meinungen auftreten. Nicht in Menschenansammlungen auf öffentlichen Straßen und Plätzen fließen diese sozialen Ströme,2 entsteht dieser starke Sog, der noch das unbeirrbarste Herz, den kühlsten Kopf mitreißt und imstande ist, von Parlamenten oder Regierungen Gesetze oder Dekrete zu erwirken. Merkwürdig: Die Menschen, die derart einander mitreißen, suggestiv beeinflussen oder vielmehr die Suggestion von höherer Stelle weiterreichen, stehen nicht in Berührung miteinander, sehen oder hören sich nicht. Sie sitzen, über ein weites Gebiet verstreut, ein jeder für sich zu Hause und lesen dieselbe Zeitung. Worin also besteht das Band zwischen ihnen? Sieht man von der Gleichzeitigkeit ihrer Überzeugungen oder Leidenschaften ab, besteht es in dem Bewußtsein eines jeden von ihnen, daß diese Idee oder dieser Wille im selben Moment von einer großen Zahl anderer Menschen geteilt wird. Es genügt, daß jeder das weiß, um von diesen anderen beeinflußt zu 2 Es fällt auf, daß einem diese hydraulischen Vergleiche wie von selbst jedesmal unter die Feder kommen, wenn es um Massen, aber auch wenn es um Publika geht. Darin ähneln sie sich. Eine Masse, die am Abend eines öffentlichen Feiertags träge und ziellos promeniert und immer wieder stockt, läßt an einen Fluß ohne fest bestimmtes Flußbett denken. Dagegen ist die Masse einem Organismus denkbar unähnlich, es sei denn, sie wäre ein Publikum. Eher ähnelt sie Wasserläufen, deren Weg ziemlich unbestimmt ist. Publikum und Masse  11 werden, auch wenn er sie nicht sieht. Es genügt, um von ihnen als Masse beeinflußt zu werden, nicht nur von dem Journalisten, dem gemeinsamen Ideengeber, der selbst unsichtbar und unbekannt und darum um so faszinierender ist. Dem Leser ist im allgemeinen nicht klar, welche fast unwiderstehliche Überredungskraft die Zeitung, die er gewöhnlich liest, auf ihn ausübt. Dem Journalisten ist eher seine Gefälligkeit gegenüber seinem Publikum bewußt, dessen Charakter und dessen Geschmack er nie aus den Augen verliert. – Noch weniger Bewußtsein hat der Leser: Er ahnt nicht im entferntesten, welchen Einfluß die Masse der anderen Leser auf ihn nimmt. Trotzdem ist dieser Einfluß unbestreitbar. Er wirkt auf seine Neugier, die um so lebhafter wird, je mehr er weiß oder zu wissen glaubt, daß sie von einem größeren oder gewählteren Publikum geteilt wird, und zugleich auf sein Urteil, das sich, je nachdem, an dem der Mehrheit oder dem der Elite auszurichten versucht. Ich schlage eine Zeitung auf, die ich für die heutige halte, und lese begierig gewisse Nachrichten; dann bemerke ich, daß sie einen Monat alt ist oder vom Vortage stammt, und sogleich hört sie auf, mich zu interessieren. Woher kommt dieser plötzliche Widerwille? Haben die Ereignisse, von denen berichtet wird, etwas von ihrem intrinsischen Interesse verloren? Nein; doch wir sagen uns, daß wir die einzigen sind, die sie lesen, und das genügt. Das beweist also, daß unsere lebhafte Neugier von der unbewußten Einbildung abhängt, daß wir diese Neugier mit einer großen Zahl anderer Menschen teilen. Mit einer Zeitung von gestern oder vorgestern gegenüber der aktuellen verhält es sich wie mit einer Rede, die man zu Hause nachliest, im Vergleich zu einer Rede, der man inmitten einer ungeheuren Menschenmasse zuhört. Wenn wir, ohne es zu wissen, von dem Publikum, dessen Teil wir selbst sind, unsichtbar angesteckt werden, führen wir dies gern auf die bloße Wertschätzung der Aktualität zurück. Wenn uns die heutige Zeitung so sehr interessiert, dann deshalb, weil sie uns von aktuellen Ereignissen berichtet. Dann wäre es die Nähe dieser Ereignisse und nicht die Gleichzeitigkeit ihrer Kenntnisnahme durch uns und die anderen, die uns an dem Bericht über sie fesselt. Doch analysieren wir dieses merkwürdige Gefühl der Aktualität, 12  Erstes Kapitel dessen wachsende Faszination eines der hervorstechendsten Merkmale des zivilisierten Lebens ist. Ist das, was »aktuell« ist, nur das, was gerade stattgefunden hat? Nein; aktuell ist alles, was gegenwärtig ein allgemeines Interesse weckt, wäre es auch ein längst vergangenes Ereignis. »Aktuell« war in den letzten Jahren alles, was Napoleon betrifft; aktuell ist alles, was in Mode ist. Und nicht »aktuell« ist, was zwar neu sein mag, doch gegenwärtig von der öffentlichen Aufmerksamkeit, die sich anderem zuwendet, vernachlässigt wird. Während der ganzen Dreyfus-Affäre geschahen in Afrika oder in Asien Dinge, die uns hätten interessieren können, von denen man aber gesagt hätte, daß sie nichts Aktuelles haben. – Kurz, die Leidenschaft für die Aktualität geht einher mit der Vergesellschaftung, ja, sie ist nur eine von deren verblüffendsten Erscheinungsformen; und da es das spezifische Merkmal der periodisch erscheinenden Presse, vor allem der Tageszeitungen ist, nur aktuelle Themen zu behandeln, darf man nicht überrascht sein, wenn sich zwischen den habituellen Lesern derselben Zeitung eine Art von Assoziation herstellt, die sehr selten bemerkt wird, die jedoch von größter Wichtigkeit ist. Damit diese Suggestion aus der Ferne zwischen den Individuen, aus denen sich ein Publikum zusammensetzt, möglich wird, müssen sie – an ein intensives soziales, städtisches Leben gewöhnt – die Suggestion aus der Nähe natürlich schon lange praktiziert haben. Schon als Kinder und Jugendliche beginnen wir die Wirkung der Blicke der anderen lebhaft zu empfinden, eine Wirkung, die sich ohne unser Wissen in unserer Körperhaltung und unseren Gebärden, im veränderten Ablauf unserer Ideen, in unserer Befangenheit oder Nervosität beim Sprechen, in unseren Urteilen und Handlungen äußert. Und erst wenn wir diese beeindruckende Wirkung des Blicks jahrelang an uns erfahren haben und andere haben erfahren lassen, werden wir fähig, uns bereits von dem bloßen Gedanken des Blicks der anderen beeindrucken zu lassen, also von der Vorstellung, daß räumlich entfernte Personen ihre Aufmerksamkeit auf uns richten. Ähnlich verhält es sich, wenn wir über längere Zeit die suggestive Macht einer aus der Nähe vernommenen dogmatischen und autoritären Stimme erlebt und empfunden haben; dann genügt Publikum und Masse  13 schon die Lektüre einer energisch vorgetragenen Behauptung, um uns zu überzeugen, und schon die bloße Kenntnis der Zustimmung einer großen Zahl unserer Mitmenschen zu diesem Urteil macht uns geneigt, im gleichen Sinne zu urteilen. Die Herausbildung eines Publikums unterstellt also eine viel weiter fortgeschrittene geistige und soziale Entwicklung als die Herausbildung einer Masse. Die Suggestibilität allein durch Ideen, die Ansteckung ohne Berührung, die diese rein abstrakte und doch so reale Gruppenbildung voraussetzt, diese spiritualisierte, sozusagen zur zweiten Potenz erhobene Masse konnte erst nach Jahrhunderten des gröberen, einfacheren sozialen Lebens entstehen. II Weder im Lateinischen noch im Griechischen gibt es ein Wort, das dem entspräche, was wir unter Publikum verstehen. Es gibt Wörter, um das Volk, die Versammlung der bewaffneten oder unbewaffneten Bürger, die Wählerschaft, lauter Sonderfälle von Massen zu bezeichnen. Doch welcher Schriftsteller der Antike hätte daran gedacht, von seinem Publikum zu sprechen? Keiner von ihnen hat je etwas anderes als sein Auditorium gekannt, in gemieteten Sälen, in denen die Dichter zur Zeit Plinius’ des Jüngeren eine kleine sympathisierende Menge zu öffentlichen Lesungen versammelten. Was die verstreuten Leser handschriftlich kopierter, in ein paar Dutzend Exemplaren verbreiteter Manuskripte angeht, so lag ihnen der Gedanke völlig fern, ein soziales Gefüge zu bilden, wie gegenwärtig die Leser derselben Zeitung oder manchmal auch desselben Romans, der gerade in Mode ist. Gab es im Mittelalter ein Publikum? Nein, doch es gab Messen, es gab Wallfahrten, bei denen sich die Affekte einer lärmenden, frommen oder rauflustigen, wütenden oder panischen Menge Bahn brachen. Ein Publikum konnte erst nach dem ersten großen Siegeszug des Buchdrucks im sechzehnten Jahrhundert entstehen. Die Übertragung von Kraft über Entfernungen hinweg ist gar nichts, verglichen mit dieser Fernübertragung von Gedanken. Ist nicht das Denken die soziale Kraft par excellence? 14  Erstes Kapitel Denken Sie an Fouillées Gedankenkräfte.3 Damals erlebte man eine tiefgreifende Neuerung von unberechenbarer Wirkung. Man sah, wie die tägliche und gleichzeitige Lektüre ein und desselben Buches, der zum ersten Mal in Millionenauflage verbreiteten Bibel, der vereinten Masse ihrer Leser das Gefühl gab, eine neue, von der Kirche unterschiedene soziale Korporation zu bilden. Doch dieses entstehende Publikum war selbst noch eine Kirche, eine eigene zwar, doch von dieser ungeschieden. Darin lag die Schwäche des Protestantismus: Er wollte zugleich Publikum und Kirche sein, zwei Aggregate, die unterschiedlichen Prinzipien gehorchen und nicht miteinander vereinbar sind. Erst unter Ludwig XIV. bildete sich das Publikum als solches ein wenig klarer heraus. Zu dieser Zeit gab es ebenso unbändige Massen wie heute, die bei der Krönung von Fürsten, bei großen Festen oder bei den periodischen Hungerrevolten auch eine beachtliche Größe erreichten; das Publikum hingegen bestand aus kaum mehr als einer schmalen Elite von »Ehrenmännern«, die ihre monatliche Gazette, vor allem jedoch Bücher lasen, wenige Bücher, die sich an wenige Leser richteten. Diese Leser wiederum sammelten sich vornehmlich in Paris, wenn nicht gar am Hof. Im achtzehnten Jahrhundert wuchs dieses Publikum rasch und fächerte sich auf. Ich glaube nicht, daß vor Bayle ein philosophisches Publikum existiert hätte, das sich vom großen literarischen Publikum unterschied oder begonnen hätte, sich von ihm abzulösen. Denn als Publikum bezeichne ich nicht eine Gruppe von Gelehrten, die – obwohl über verschiedene Provinzen oder Staaten verstreut – durch die Beschäftigung mit ähnlichen Forschungen und die Lektüre der gleichen Schriften zwar verbunden, doch an Zahl so gering war, daß sie alle untereinander in brieflichen Beziehungen stehen und ihre wissenschaftliche Gemeinschaft hauptsächlich von diesen persönlichen Verhältnissen zehren konnte. Ein spezielles Publikum bildete sich 3 [Alfred Fouillée, 1838–1912, eklektizistischer Philosoph, versuchte mit dem Begriff idées-forces den Gegensatz zwischen spekulativem Idealismus und naturwissenschaftlichem Materialismus zu überwinden. Er betrachtete den Geist als causa efficiens der Verwirklichung von Ideen durch bewußtes menschliches Handeln. – Anmerkungen oder Teile von Anmerkungen in eckigen Klammern stammen vom Übersetzer.] Publikum und Masse  15 erst von dem schwer zu präzisierenden Moment an, als die Männer, die sich den gleichen Studien widmeten, zu zahlreich wurden, um sich noch persönlich kennen zu können, und ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit sich nur noch durch unpersönliche Mitteilungen von hinreichender Häufigkeit und Regelmäßigkeit herstellen ließ. In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entstand und wuchs eine überbordende politische Öffentlichkeit, die – so wie ein Fluß seine Zuflüsse – bald alle anderen Öffentlichkeiten, die literarische, philosophische und wissenschaftliche, in sich aufnahm. Doch bis zur Revolution blieb das öffentliche Leben als solches blaß und gewann Bedeutung erst durch das Leben der Masse, der es sich durch die extreme Belebung der Salons und Cafés wieder annäherte. Die Revolution ist das eigentliche Entstehungsdatum des Journalismus und damit des Publikums. Sie löst dessen fieberhaftes Wachstum aus. Das heißt nicht, daß sie nicht auch Massen erhitzt hätte, doch darin liegt nichts, was sie von den Bürgerkriegen der Vergangenheit unterschiede, im vierzehnten oder im sechzehnten Jahrhundert, sogar während der Fronde. Die Massen der Fronde, der katholischen Liga oder der Cabochiens waren nicht minder fürchterlich, vielleicht auch nicht an Zahlen geringer als die des 14.  Juli oder des 10. August.4 Denn eine Masse kann nicht über einen bestimmten Grad hinaus wachsen – der von der Reichweite der Stimme und des Blicks begrenzt wird –, ohne sich sogleich zu spalten oder zur gemeinsamen Aktion unfähig zu werden, immer der gleichen Aktion übrigens: Barrikaden, Plünderung von Palästen, Massaker, Zerstörungen, Brandstiftungen. Nichts ist monotoner als die Erscheinungsformen von Massenaktionen im Lauf der Jahrhunderte. Doch das Charakteristische für 1789, das die Vergangenheit noch nie gesehen hatte, war die gewaltige Vermehrung der Zeitungen, die zu dieser Zeit entstanden und gierig verschlungen wurden. Gewiß waren viele totgeboren, aber einige lieferten das Spektakel einer unerhörten Verbreitung. Jeder der großen niederträchtigen 4 [Cabochiens: Anhänger des Schlachters Simon Caboche, der 1413 einen blutigen Volksaufstand in Paris anführte. – Am 10. August 1792 wurden die Tuilerien erstürmt.] 16  Erstes Kapitel Publizisten,5 Marat, Desmoulins, der Père Duchesne, hatte sein Publikum, und man kann die brandstiftenden, plündernden, mörderischen, kannibalischen Massen, die Frankreich damals von Nord bis Süd, von Ost bis West verwüsteten, als Auswüchse, als bös­ artige Eruptionen dieser Publika betrachten, deren boshafte Mund­ schenke Tag für Tag das berauschende Gift ihrer hohlen Worte und Gewalttiraden ausschenkten – und die nach ihrem Tod dann im Triumphzug ins Pantheon überführt wurden. Gewiß, die Aufständischen waren nicht ausschließlich Zeitungsleser, nicht einmal in Paris, erst recht nicht in den Provinzstädten und auf dem Lande, doch letztere waren stets die Hefe, wenn nicht der Teig. Auch die Clubs, die Versammlungen in den Cafés, die eine so wichtige Rolle in der Revolutionszeit gespielt haben, sind aus dem Publikum entstanden, während vor der Revolution das Publikum eher Wirkung als Ursache der Versammlungen in den Cafés und Salons war. Doch das revolutionäre Publikum war vor allem pariserisch; seine Ausstrahlung über Paris hinaus war gering. Arthur Young war auf seiner berühmten Reise verblüfft darüber, wie wenig die Gazetten selbst in den Städten verbreitet waren. Zwar bezog sich diese Bemerkung auf die Anfänge der Revolution; ein wenig später hätte sie viel von ihrer Richtigkeit verloren. Bis zum Schluß jedoch stellte das Fehlen einer raschen Kommunikation ein unüberwindliches Hindernis für die Intensität und die Ausbreitung des öffentlichen Lebens dar. Wie sollten Zeitungen, die nur zwei- oder dreimal wöchentlich – und acht Tage nach ihrem Erscheinen in Paris – eintrafen, ihren Lesern im Midi das Gefühl von Aktualität und das Bewußtsein einer simultanen Übereinstimmung vermitteln, ohne die sich die Lektüre einer Zeitung nicht wesentlich von der eines Buches unterscheidet? Erst unserem Jahrhundert mit seinen Techniken der perfektionierten Fortbewegung und der instantanen Gedankenübertragung über 5 »Der Begriff Publizist«, sagt Littré, »erscheint im Dictionnaire de l’Académie erst ab 1762«, und zwar – wie übrigens heute noch in der Mehrzahl der Wörter­bücher – in der Bedeutung eines Autors, der über Öffentliches Recht (ius publicum) schreibt. Der Sinn des Wortes hat sich erst im Laufe unseres Jahrhunderts zu dem heute gebräuchlichen erweitert, während die Bedeutung von Publikum – jedenfalls so, wie ich das Wort verwende – sich aus dem gleichen Grund verengt hat. Publikum und Masse  17 beliebige Entfernungen war es vorbehalten, die potentiell unbegrenzte Ausdehnung des Publikums, aller Publika, zu verwirklichen und damit zwischen ihnen und den Massen einen deutlichen Gegensatz aufzureißen. Die Masse ist die soziale Gruppe der Vergangenheit; nach der Familie ist sie die älteste aller sozialen Gruppen. In keiner ihrer Formen, ob sie sitzt, steht oder durch die Straßen stürmt, vermag sie sich über einen geringen Radius hinaus auszudehnen; wenn ihre Anführer sie nicht mehr in manu haben, wenn sie die Stimme ihrer Anführer nicht mehr hört, zerfällt sie. Die größte Zuhörerschaft, die es je gab, war die des Kolosseums, und auch sie überschritt nicht hunderttausend Personen. Perikles oder Cicero, selbst die größten Prediger des Mittelalters, Petrus von Amiens oder der heilige Bernhard, sprachen vor Auditorien, die gewiß viel kleiner waren. Es ist auch nicht zu erkennen, daß die Macht der politischen oder religiösen Rhetorik in der Antike oder im Mittelalter merkliche Fortschritte gemacht hätte. Ein Publikum hingegen kann sich unbegrenzt erweitern, und da es um so lebendiger und lebhafter wird, je weiter es sich ausdehnt, läßt sich nicht leugnen, daß es die soziale Gruppe der Zukunft darstellt. So entstand durch das Zusammenwirken dreier einander ergänzender Erfindungen – Buchdruck, Eisenbahn und Telegraph – die ungeheure Macht der Presse, dieses erstaunliche Telephon, das das alte Auditorium der Rhetoren und Prediger ins Unermeßliche vergrößert hat. Ich kann also der These eines schwungvollen Schriftstellers, Dr. Le Bon, unsere Epoche sei »das Zeitalter der Massen«,6 nicht zustimmen. Sie ist das Zeitalter des Publikums oder der Publika, was etwas ganz anderes ist. III Bis zu einem gewissen Punkt deckt sich ein Publikum mit dem, was man eine Welt nennt, »die literarische Welt«, »die Welt der Politik« usw., nur daß diese letztere Idee einen persönlichen Kontakt 6 [Gustave Le Bon, Psychologie der Massen (1895), übersetzt von Rudolf Eisler, durchgesehen von Elisabeth Göhlsdorf, Leipzig: Kröner, 5. Auflage 1932, S. 1 ff.] 18  Erstes Kapitel zwischen den Angehörigen derselben Welt unterstellt, gegenseitige Besuche, Empfänge, wie es sie zwischen den Mitgliedern eines Publikums nicht geben kann. Doch wie man bereits sieht, ist der Abstand von der Masse zum Publikum immens, auch wenn das Publikum zum Teil aus einer Art Masse hervorgeht, der Zuhörerschaft der Redner. Es gibt noch weitere aufschlußreiche Unterschiede zwischen beiden, auf die ich noch nicht hingewiesen habe. Man kann mehreren Publika zugleich angehören – und das ist tatsächlich auch stets der Fall –, so wie man mehreren Korporationen oder Sekten angehört. Dagegen kann man zu einem jeweiligen Zeitpunkt immer nur einer Masse angehören. Daher rührt die viel größere Unduldsamkeit der Massen und folglich der Nationen, in denen der Geist der Massen vorherrscht, weil dort das Individuum als ganzes unwiderstehlich von einer Gewalt ohne Gegengewicht mitgerissen wird. Und darin liegt der Vorteil, den man der allmählichen Ersetzung der Massen durch Publika zubilligt, einer Transformation, die stets mit einem Zuwachs an Toleranz, wenn nicht an Skeptizismus einhergeht. Zwar trifft es zu, daß aus einem überhitzten Publikum, wie es oft vorkommt, plötzlich fanatische Massen werden, die durch die Straßen marschieren und schreiend irgend etwas hochleben lassen oder zu Tode verwünschen. Und in diesem Sinne ließe sich das Publikum als eine virtuelle Masse definieren. Ein solcher Absturz des Publikums in die Masse ist zwar in höchstem Grade gefährlich, doch insgesamt ziemlich selten; und ohne zu prüfen, ob solche aus einem Publikum hervorgegangenen Massen nicht trotz allem ein bißchen weniger brutal sind als die Massen, die jedem Publikum vorausgehen, bleibt doch evident, daß der Gegensatz zweier Publika, die immer bereit sind, entlang unbestimmter Grenzen miteinander zu verschmelzen, eine viel geringere Gefahr für den sozialen Frieden darstellt als das Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher Massen. Die Masse ist als natürlichere Gruppierung den Naturkräften stärker unterworfen; sie ist von Regen oder schönem Wetter, von Hitze oder Kälte abhängig; im Sommer tritt sie häufiger auf als im Winter. Ein Sonnenstrahl genügt, um eine Masse zu versammeln, ein Regenschauer zerstreut sie. Als Bailly Bürgermeister von Paris Publikum und Masse  19 war, pries er die Regentage und wurde betrübt, wenn der Himmel sich aufhellte. Umgekehrt ist das Publikum als Gruppierung höherer Ordnung solchen Veränderungen und Launen der natürlichen Umgebung, der Jahreszeit oder gar des Klimas nicht unterworfen. Nicht nur Entstehung und Wachstum, sondern auch die fiebrigen Erregungen des Publikums – soziale Krankheiten, die in diesem Jahrhundert immer ernster wurden – entziehen sich solchen Einflüssen. Es war mitten im Winter, als in ganz Europa die unseres Wissens schwerste Krise dieser Art wütete, die Dreyfus-Affäre. Hat sie im Süden heftigere Leidenschaften geweckt als im Norden, nach dem Beispiel der Massen? Nein, sie erregte die Gemüter eher in Belgien, Preußen und Rußland. – Schließlich ist das Publikum viel weniger als die Masse durch die Eigenheiten eines jeweiligen Menschenschlags geprägt. Und es kann auch nicht anders sein, wenn man folgende Überlegung anstellt. Warum unterscheidet sich denn ein englisches Meeting so tiefgreifend von einem französischen Club, ein Septembermassaker von einem amerikanischen Lynchmord, ein italienisches Fest von einer Zarenkrönung, bei der zweihunderttausend versammelte Leibeigene sich nicht über die Katastrophe erregen, die dreißigtausend von ihnen das Leben kostet?7 Warum kann ein guter Beobachter anhand der Nationalität einer Masse fast mit Sicherheit voraussagen, wie sie handeln wird – viel sicherer, als er die Handlungsweise eines der Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, voraussagen könnte? Warum erinnern trotz der großen Veränderungen, die in den Sitten 7 [Bei dem Volksfest im Anschluß an die Feierlichkeiten zur Krönung Nikolaus’ II. kam es am 18./30. Mai 1896 zu einer Massenpanik. Mehrere hunderttausend Menschen drängten sich auf einem Truppenübungsplatz bei Moskau, um ein Geschenkpaket – einen Trinkbecher mit dem Zarenwappen sowie Nahrungsmittel – entgegenzunehmen. Als mehrere Stunden vor dem angekündigten Zeitpunkt das Gerücht umlief, die Geschenke würden bereits ausgegeben, kam es zur Panik. Die Ordner glaubten die Massen besänftigen zu können, indem sie willkürlich Trinkbecher in die erregte Menge warfen. Weit über tausend Menschen wurden erdrückt. Wegen der riesigen Ausmaße des Geländes wurde vielen die Katastrophe gar nicht bewußt; sie aßen, tranken und feierten, als wäre nichts geschehen.] 20  Erstes Kapitel und den Ideen Frankreichs oder Englands seit drei oder vier Jahrhunderten eingetreten sind, die französischen Massen unserer Zeit, Boulangisten oder Antisemiten, in so vielen gemeinsamen Zügen den Massen der Liga oder der Fronde, so wie die englischen Massen von heute denen der Zeit Cromwells ähneln? Weil die Individuen in die Zusammensetzung einer Masse nur durch ihre ethnischen Ähnlichkeiten eingehen, die sich addieren und massieren, nicht durch ihre je eigenen Unterschiede, die sich neutralisieren, und weil sich in einer rotierenden Masse die Kanten der Individualität zugunsten eines nationalen Typus abschleifen. So verhält es sich trotz des individuellen Handelns des Anführers oder der Anführer, das man stets spüren kann, das aber durch das reziproke Handeln der Geführten stets ausgeglichen wird. Nun ist der Einfluß, den der Publizist auf sein Publikum ausübt, in einem gegebenen Moment zwar viel weniger intensiv, durch seine Kontinuität aber viel mächtiger als der kurze und vergängliche Impuls, den eine Masse von ihrem Anführer empfängt. Außerdem wird dieser Einfluß bestärkt – und nie konterkariert – durch den viel schwächeren, den die Mitglieder desselben Publikums wechselseitig aufeinander ausüben, weil sie das Bewußtsein der simultanen Identität ihrer Ideen oder Neigungen, ihrer Überzeugungen oder Leidenschaften haben, die tagtäglich von demselben Blasebalg angefacht werden. Man hat zu Unrecht, aber nicht ohne den Anschein einer stichhaltigen Begründung bestritten, daß jede Masse einen Anführer habe, und deshalb gemeint, häufig sei es die Masse, die ihren Führer, manchmal ihren Schöpfer führe. Was Sainte-Beuve vom Genie sagt, es sei »ein König, der sich sein Volk erschafft«, gilt vor allem vom großen Journalisten. Wie oft sieht man, daß Publizisten sich ihr Publikum erschaffen!8 In der Tat, damit Edouard Drumont 8 Wird man sagen: Wenn jeder große Publizist sein Publikum erschafft, erschafft sich auch jedes etwas größere Publikum seinen Publizisten? Diese letztere Behauptung ist viel weniger wahr als die erste: Man erlebt, wie es sehr großen Gruppen während langer Jahre nicht gelang, den Autor hervorzubringen, der ihrer eigentlichen Orientierung entspräche. Dies ist der Fall der katholischen Welt heute.