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Dr. med. Thomas Soeder FA f. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Psychoanalytiker Psychotraumatologie Oberer Weg 7 72070 Tübingen Tel. 07071-9798536
11.10.2015
Vortrag bei der Bezirksärztekammer Südwürttemberg am 30.09., 07.10. und 21.10.2015
Medizinische Versorgung von Flüchtlingen Psychotraumatologie und interkulturelle Kommunikation
Teil 1 Wie kann man Psychotraumata erkennen? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Psychische, psychosomatische und somatische Trauma-Folgestörungen machen einen großen Teil der teilweise lebensbedrohlichen Störungen bei Flüchtlingen aus. Hieraus folgen u. U. lebenslanges Leiden, sowie schwere Beeinträchtigungen der Lebensfähigkeit, bis hin zu tödlichen Folgen. Der Anteil schwerer traumatischer Folgestörungen beträgt in den unterschiedlichen Studien zwischen 30 und 50% (in den von mir ausgewerteten Ergebnissen über mehr als zehn Jahre etwa 40%). Wesentlich ist für die weitere Klärung des Unterschieds zwischen „Trauma“ und „Traumatisierung“. Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Traumata. Und auch traumatisch bedingten Folgen für ein eventuell entstehendes Krankheitsbild im Sinne einer Trauma-Folgestörung bzw. Traumatisierung müssen differenziert betrachtet werden. Das Ereignis des tatsächlichen Traumas ist oft unbekannt und kann auch im Rahmen der ärztlichen Untersuchung nicht immer geklärt werden. Dies ist aber, auch aus krankheitsbedingten Gründen, nicht vorrangig wichtig. Entscheidend ist, ob im Rahmen des Befundes klare Hinweise auf eine Trauma-Folgestörung bestehen, unabhängig davon, ob eine konkrete Traumatisierung benannt wurde oder nicht. Es sollte unterschieden werden zwischen Akut-Traumatisierungen (etwa nach einem Verkehrsunfall, einem Überfall, o. ä.), mit einer einzigen auslösenden Situation, und einer sequenziellen Traumatisierung, wie sie in der Regel bei Flüchtlingen vorliegt (oft bedrohliche Kindheitserlebnisse, Kriegsereignisse, Lagererfahrungen, Fluchtereignisse usw.). Grundsätzlich ist eine sequenzielle Traumatisierung im Hinblick auf die somatischen und psychischen Folgen als schwerwiegender zu betrachten.
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Diagnostik und Befund Von vorrangiger Wichtigkeit bei der Diagnostik sind Kriterien, die sich aus einer, wenn auch eventuell nur kurzfristigen, Untersuchung ergeben können. Die Vorgeschichte steht erst an zweiter Stelle (hier unterscheiden sich der ärztliche und der juristische Blickwinkel). Insbesondere wichtig ist die Art der Kontaktaufnahme: ob jemand ängstlich und scheu, ausweichend und verschlossen wirkt oder ob Misstrauen ein erster Eindruck ist und die Reaktion des Menschen eher abweisend.. Hinsichtlich dessen, was der Betroffene berichtet, sollte darauf geachtet werden, worüber jemand spricht, und worüber er gegebenenfalls nicht spricht. Daraus ergeben sich Hinweise auf ein sogenanntes Vermeidungsverhalten bzw. eine andere Abwehrreaktion. Ebenso wichtig sind Hinweise auf eine dissoziative Struktur, z. B. ob wesentliche Inhalte und Erlebnisweisen abgespalten werden und sich in Form unterschiedlicher Bewusstseinszustände bereits in der Untersuchung spiegeln können. In den Bereich der dissoziativen Abwehr gehören auch eventuell erhebliche körperliche Beschwerden, für die es keine somatische Grundlage gibt, bzw. für die keine passenden körperlichen Befunde (z. B. Folterspuren, Infektionen, sonstige körperliche Veränderungen) erkennbar sind. Sehr häufig sind auch dissoziative Erinnerungsstörungen. Wesentlich ist weiterhin eine ausgeprägte vegetative Symptomatik, die u. U. bereits während der Untersuchung auffällt oder berichtet wird. Dazu gehören Schweißausbrüche, Unruhezustände, Herzrhythmus-Störungen, überraschend auftretende Schmerzen, anamnestisch häufige Schlafstörungen, Unruhezustände und Schreckhaftigkeit (z. B. wenn während der Untersuchung ein lauteres Geräusch von draußen hereindringt, und eine deutliche Schreckreaktion des Betroffenen folgt). Nächstens sind Hinweise auf sogenannte intrusive Erinnerungen zu beachten, d. h., Erinnerungen, die den Betroffenen überfallen, von ihm nicht abgewehrt werden können und einen realitätsähnlichen Charakter annehmen, so als ob sie gerade wieder geschähen. Dies kann im Tagesgeschehen sein, häufig aber auch in Träumen. Diese Form von Erinnerung hat einen zwanghaften, den Betroffenen überwältigenden Charakter, so dass er sie nicht durch Ablenkung überwinden kann. Hinsichtlich der Diagnosen ergeben sich im Wesentlichen folgende Möglichkeiten: Zum einen, es besteht kein Hinweis auf eine Trauma-Folgestörung, d. h. bei der Befunderhebung treten keine wesentlichen Auffälligkeiten auf, auch wenn eine u. U. erhebliche Traumatisierung berichtet wurde. Eine erste Interpretation im Fall einer auffälligen Befundung wäre die Möglichkeit einer akuten Belastungsreaktion, die in der Regel durch ein kurzzeitig zurückliegendes Ereignis ausgelöst worden ist und mit psychischen Auffälligkeiten in Form von Angst, Depressivität und etc. einhergehen kann (ICD F43.0). Eine zweite Möglichkeit ist die am häufigsten - auch in der Öffentlichkeit - diskutierte Erkrankung an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die klassischerweise gekennzeichnet ist von intrusiven Erinnerungen, Übererregbarkeit, Verlust angenehmer Empfindungen und Vermeidung von Situationen und Begegnungen, die mit dem traumatischen Geschehen verknüpft sind (ICD F 43.1). Im weiteren Verlauf kann diese Störung chronifizieren, und zu einer dauerhaften Erkrankung führen. Dabei nimmt die Symptomatik der intrusiven Erinnerungen dann in der Regel langsam ab und die Erkrankung verläuft insgesamt vorwiegend mit depressiven, angstbetonten oder dissoziativen Phasen. Auch paranoide Verläufe kommen nicht selten vor (in meiner Statistik ca. 10%). Dies kann dann zu einer sogenannten komplexen Trauma-Folgestörung führen, bei der die verschiedenen Anteile in unterschiedlicher Weise verarbeitet werden, zu variablen Krankheitsbildern führen können und die psychischen Funktionen im Alltag (Beziehungsaufnahme, kognitive Fähigkeiten, affektive Funktionen, Erinnerungsfunktion) oft schwerwiegend beeinträchtigt sind. - -
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Das letzte Entwicklungsstadium stellt dann eine Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung dar, in der die beschriebenen Veränderungen sich so weit entwickelt haben, dass es zu einem dauerhaften Verfall psychischer Funktionen kommt - einschließlich kognitiver Fähigkeiten - verbunden meist mit einem erheblichen Misstrauen, einer daraus entstehenden Beziehungsunfähigkeit und bleibenden Beeinträchtigung der Alltagsbewältigung (ICD F 62.0).
Behandlungsmöglichkeiten Am wichtigsten ist für den Beginn einer therapeutischen Intervention (wie auch für die Diagnostik) eine empathische Wahrnehmung des Zustandes des traumatisierten Menschen. Am häufigsten haben diese Menschen in der Vergangenheit erlebt, dass ihr Zustand von den Menschen, denen sie begegnet sind, verleugnet oder bagatellisiert wurde. Es ist ein erster therapeutischer Schritt, die Möglichkeit zu eröffnen, als ein zutiefst verletzter Mensch wahrgenommen zu werden. Dazu gehört auch die Realisierung der sogenannten „Zeugenschaft“, was bedeutet, dem Betroffenen das Gefühl vermitteln zu können, ihm anteilnehmend die Erinnerungen an schwer verletzende Ereignisse zu ermöglichen und ihn dabei zu begleiten, was gerade auch bei Kindern dringend erforderlich ist. Der nächste Schritt, der sich aus den Beobachtungen ergibt, ist die kritische Reflexion, zunächst im Kopf des Untersuchers, dann auch eventuell mit dem Patienten gemeinsam, welche Schritte erforderlich sein können, um die aufgetretene Störung der psychischen Funktionen zu bewältigen. Daraus folgt dann das Erfordernis der Begleitung in einer Situation, die sich über längere Zeit hinziehen kann. Dieser Schritt wird oft mit der Überschrift „Stabilisierung“ beschrieben. Damit ist aber im Grunde die anteilnehmende Wahrnehmung des schwierigen seelischen Zustandes des Betroffenen gemeint und die Würdigung seiner Bemühungen, den bedrohlichen Zustand zu bewältigen. Eine medikamentöse Behandlung ist grundsätzlich ursächlich nicht wirksam, sie kann aber der Bewältigung von Erregungszuständen und damit zusammenhängenden Ängsten dienen. Hierzu bewähren sich am ehesten niedrig dosierte schwache Neuroleptika (z. B. Promethazin). Auch dämpfende Antidepressiva können hier sinnvoll eingesetzt werden (z. B. Trimipramin), eventuell auch Betablocker (z.B. Propranolol). Daneben ist mit der Notwendigkeit von Kriseninterventionen zu rechnen, insbesondere wenn akute suizidale Tendenzen oder nicht bewältigbare Ängste auftreten. In Zusammenhang mit einer Krisenintervention sind in der Regel verhältnismäßig engmaschige Kontakte erforderlich, gegebenenfalls eine auch über das Wochenende gesicherte telefonische Erreichbarkeit. Falls mit einer Krisenintervention der akute Bedrohungszustand nicht zu bewältigen ist, muss eine stationäre Einweisung erwogen werden. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass viele psychiatrische Einrichtungen unter einem solchen Behandlungsdruck stehen, dass eine Aufnahme u. U. nur unter Notfallbedingungen möglich ist, was wiederum dazu führt, dass durch die stationäre Einweisung eine erneute traumatische Erfahrung generiert wird. Als weitere Möglichkeit muss eine längerfristige Psychotherapie in Betracht gezogen werden. Diese ist dann allerdings zunächst vom Kostenträger zu genehmigen und muss dann in einem für den Betroffenen angemessenen Rahmen (Regelmäßigkeit, Verlässlichkeit) organisiert werden.
Wesentliche Stolpersteine bestehen in diagnostischen Schwierigkeiten. Hier sind insbesondere primäre psychotische oder paranoide Störungen zu nennen, wobei paranoide Verläufe auch bei Trauma-Folgestörungen ziemlich häufig sind. Als zweite wesentliche Differenzialdiagnose sind hirnorganische Störungen zu nennen, die sowohl Verletzungsfolge sein können, wie auch Folgen primärer somatischer Störungen (transitorische ischämische Attacken, ev. auch Hirntumore u. a.). Weiter kann die Diagnostik sich schwierig gestalten aufgrund von somatischen - -
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Begleiterkrankungen, die ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf das seelische Geschehen haben können. Hierzu gehören schwerwiegende Infektionen (z. B. Hepatitis), Herzkreislauferkrankungen oder neurologische Störungen. Seltener, aber doch nicht zu vernachlässigen, ist das Phänomen des „gelernten Patienten“. Hier handelt es sich dann um Menschen, die schon häufig untersucht worden sind und gelernt haben, wie sie auf Fragen oder auf die Untersuchungssituation am besten antworten, und was sie besser nicht sagen. Bei hinreichend häufigen Arztkontakten ergibt sich hier oft ein Bild, das einer standardisierten, u. U. stereotypen Beschwerdeschilderung und Reaktion entspricht. Es ist mir nur selten begegnet, dass jemand versuchte, mich absichtlich und zweckgerichtet irrezuführen. Es ist nicht einfach, das zu erkennen und meist ist es beim Erstkontakt auch nicht möglich. Glücklicherweise ist es auch außerordentlich selten. Ein vom Patienten unabhängiger Punkt sind die Finanzierungsfragen, die immer wieder im Zusammenhang mit der Behandlung traumatisierter Flüchtlinge auftreten. Hierzu ist insbesondere anzumerken, dass akute psychische Notstände (Selbst- und Fremdgefährdung, Angstzustände, depressive Einbrüche etc.) grundsätzlich die Kriterien der Notfallbehandlung akuter Erkrankungen erfüllen und dementsprechend auch von den Kostenträgern, ohne vorherige Genehmigung, bezahlt werden müssen.
Teil 2: Interkulturelle Kommunikation und Dolmetschereinsatz Um eine nachvollziehbare Diagnostik und eine entsprechende Behandlungsplanung zu ermöglichen, ist eine sinnvolle Verständigung unumgänglich. Dies bedeutet bei vielen Flüchtlingen, die nicht deutsch sprechen, die Notwendigkeit, einen Dritten als Übersetzungshilfe mit einzubeziehen. Damit ändert sich die gewohnte Behandlungssituation selbstverständlich. Dennoch ist „Verständigung“ eine basale Notwendigkeit sowohl von Diagnostik wie von Therapie. Oft besteht eine gewisse Unsicherheit, wie mit Übersetzungshilfen umgegangen werden kann aber die Anpassung ist grundsätzlich zu bewältigen und kann dann auch als hilfreich zu erleben.
Verstehen und Verständigung Zunächst steht das nonverbale bzw. präverbale Verstehen im Vordergrund, so wie es bei Säuglingen und Kleinstkindern erforderlich ist oder bei Aufenthalten in fremden Ländern, deren Sprache nicht beherrscht wird. Hier stehen dann lautliche Äußerungen, Mimik und Gestik im Vordergrund und durch welche Grundgefühle wie Angst, Aggression, Hunger (Appetenz), Freude, Trauer und Schmerz international identifizierbar sind. Die spätere Ebene ist dann selbstverständlich das verbale Verstehen, so wie wir es beim Sprechenlernen erfahren können. Aber auch hier gibt es viele Untiefen und Hindernisse, die dazu führen können, dass wir den Bedeutungszusammenhang von Worten nicht oder jedenfalls in anderer Weise als unser Gegenüber verstehen. Des Weiteren spielt die schichtspezifischen Verständigung eine Rolle, die vom jeweiligen Bildungsniveau und Hintergrund der Betroffenen abhängt. So hat u. U. ein Mensch, der aus einem bäuerlichen Niveau oder von einer Müllhalde stammt, wenig differenzierte sprachliche Möglichkeiten, schon gar nicht Worte für die eigenen inneren Zustände und Affekte. Oft wissen solche Menschen noch nicht, dass es ein Wort wie „Angst“ gibt und sie können dies auch nicht beschreiben. Insofern ist der Untersucher dann auf nonverbale Kommunikation angewiesen (Angst gehört zu den weltweit erkennbaren Gefühlsbewegungen). Auf der anderen Seite kann ein hochgebildeter Universitätsabsolvent aus einem noch so fernen Land
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u. U. mehrere Sprachen sprechen, und sich in hohem Maße differenziert ausdrücken, was dann natürlich die Beziehung zum Untersucher in Deutschland erleichtert. Ein wesentlicher Punkt ist noch die „verhinderte Verständigung“, wobei unabhängig von der Sprachebene bestimmte Inhalte bewusst oder auch unbewusst vermieden bzw. ausgeschlossen werden. Hier entsteht dann der Eindruck des sogenannten „Pokerface“, was dem Untersucher insbesondere bei Begegnungen mit Patienten aus einigen asiatischen Ethnien bekannt ist. Dieses Verhalten besitzt wohl eine besondere kulturelle Bedeutung und kann dann weitgehend unbewusst geschehen. Es gibt natürlich auch den bewussten Einsatz dieser erstarrten Mimik, was ja auch den Begriff „Pokerface“ begründet hat. Ein weiteres Element der verhinderten Verständigung ist die Gefährdung oder Verletzung von Tabus, wie es insbesondere bei Angehörigen afrikanischer Ethnien vorkommt. Hier ist oft dem Untersucher gar nicht bewusst, dass er Bereiche berührt, die vom Untersuchten als Fluch oder fluchbeladen angesehen werden und dann sofort einen sofortigen Rückzug aus der Kommunikation auslösen. Der Einsatz von Dolmetschern erfolgt zunächst zur verbalen Verständigung. Dies ist z. B. der Normalfall bei Anhörungen beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) oder vor Gericht, bei Behörden, Arztbesuchen, vor Operationen, usw. Das beabsichtigte Ziel ist eine wörtliche Eins-zu-Eins-Übersetzung, bei der beide Beteiligten genau wissen, was der andere jeweils gesagt hat. Leider kann dieses Idealziel oft nicht erreicht werden. Es gibt erhebliche Übersetzungsschwierigkeiten und Unschärfen. Ein gleiches Ziel verfolgen die schriftlichen Übersetzungen, wie sie auch von Behörden oft ausgegeben werden. So gibt das o. g. Bundesamt z. B. Übersetzungen der Anhörungsprotokolle und der Bescheide in gekürzter Form heraus. Inwieweit dies dann auch verstanden werden kann, bleibt häufig unklar; dann bedarf es erneuter Übersetzungshilfe, um klarzustellen, was verstanden worden ist und was nicht. Eine erhebliche Rolle spielen selbstverständlich Notfallübersetzungen, bei welchen Familienangehörige, Bekannte oder Mitarbeiter z. B. aus dem Technikbereich einer Klinik oder Sicherheitspersonal im Bereich einer Aufnahmestelle, herangezogen werden. Über die Übersetzungsqualifikation dieser Personen ist nichts bekannt, und bei Familienangehörigen besteht zudem das Risiko, dass hier keine wirklich neutrale Übersetzung möglich ist. Dennoch ist diese Form der Übersetzungshilfe in Notfallsituationen unumgänglich.
Die Übermittlung kultureller Inhalte bleibt der Zusammenarbeit mit geschulten Übersetzern vorbehalten, wobei auch eine Bekanntheit zwischen Übersetzer und Untersucher von Vorteil ist. Denn in diesem Fall können die Übersetzer oft ein Verständnis bestimmter sozialer Umstände vermitteln und religiöse Gebundenheiten, oder, wie oben bereits erwähnt, Tabuverletzungen verständlich machen. Wenn die jeweilige soziale, politische oder religiöse Identität des Übersetzers allerdings unbekannt ist, kann es zu gravierenden Verzerrungen kommen, wenn z. B. Übersetzer und Patient gegensätzlichen Religionsgemeinschaften oder miteinander rivalisierenden politischen Richtungen angehören. Außerdem besteht, bei Zusammenarbeit mit einem unbekannten Dolmetscher, die Gefahr, dass dieser, ohne es zu wissen oder zu reflektieren, andere Ziele verfolgt als der Behandler. Es kann dann vorkommen, dass der Übersetzer Anweisungen gibt oder Fragen stellt, die dem Anliegen des Untersuchers entgegenstehen, und dem Untersucher schlimmstenfalls noch nicht einmal übersetzt werden.
Gute Übersetzungshilfen bestehen dann, wenn Behandler und Übersetzer sich kennen, miteinander vertraut sind. Der Übersetzer versucht dann, soweit wie möglich, den Text des Patienten wörtlich zu übersetzen. Wenn ihm dies nicht gelingt, informiert er den Untersucher darüber, dass hier eine sprachliche Unklarheit besteht (was bei den vielfältigen Dialekten, z. B. in afrikanischen Staaten, oft vorkommt und daher oft unvermeidlich ist). Der Übersetzer - -
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kann dann eine sinnvolle Alternative vorschlagen oder er kann versuchen, eine Umformulierung vorzunehmen, die er dem Behandler dann aber abspricht. Wenn dem Übersetzer Verletzungen von ihm bekannten religiösen oder sonstigen Tabus oder sozialen Regeln auffallen und die zu einer Abwehrreaktion des Untersuchten führen, teilt er dies dem Untersucher mit und schlägt gegebenenfalls eine alternative Frageform vor. Stolpersteine Größere Hindernisse für eine gelingende Verständigung können, wie bereits oben angesprochen, der Einsatz von nahen Familienangehörigen zur Übersetzung sein sowie die Möglichkeit religiöser oder politische motivierter Konflikte zwischen dem Patienten und dem Übersetzer. Des weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Traumatisierung des Übersetzers selbst (was in unseren Zusammenhängen nicht selten ist) bei bestimmten Themen zu erheblichen Irritationen führen kann. Ich habe mehrfach erlebt, dass Übersetzer bei bestimmten Themen selbst in eigene Erinnerungen verwickelt worden sind. Schließlich ist zu vermerken, dass es auch unsichere Sprachkompetenzen gibt. Manche Übersetzer sind davon überzeugt, bei ähnlichen Sprachen (z.B. Serbisch und Romanes) die Sprache des Patienten zu verstehen, aber das ist nicht in befriedigender Weise der Fall. Je besser der Untersucher einen Übersetzer kennt, desto seltener treten derartige Probleme natürlich auf.
Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass die Unterstützung durch einen Übersetzer, bei Beachtung der genannten Schwierigkeiten, grundsätzlich notwendig ist und eine Bereicherung auch des Untersuchers darstellen kann. Eine differenzierte Diagnostik ohne eine angemessene Übersetzung ist meist nicht möglich.
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