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TOPS & FLOPPS INTERNATIONAL
MEERSCHWEINCHEN IM KLANGSCHNEEGESTÖBER
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern an der Oper Frankfurt
Christine Graham 12
Fotos: Monika Rittershaus
W
enn Helmut Lachenmann mit seinem avantgardistisch grenzgängerischen Musiktheater Das Mädchen mit den Schwefelhölzern auf dem Programm steht, zeugt das von einem gewissen Mut. Zu dem gehört, dass man sich von den meisten Opernkonventionen trennen muss. Von denen über die Aufteilung des Raums zwischen Interpreten und Zuschauern etwa. Für Lachenmanns „Musik mit Bildern“, wie er sein Werk selbst genannt hat, ist ein Rundumklang angesagt, den nur wirklich gut funktionierende Häuser auch hinbekommen. So wie nicht nur die Staatsoper Hamburg bei Achim Freyers Uraufführungsinszenierung 1997 und dann vor allem 2001 die Opernhäuser in Stuttgart und Paris mit Peter Mussbachs Folgeinszenierung. Andere Deutungen wie die in einem Wiener Gasometer 2003 oder zehn Jahre später durch Robert Wilson bei der Ruhrtriennale, aber auch an der Deutschen Oper Berlin blieben da hinter dem, was möglich ist, zurück. Die Oper Frankfurt hingegen liefert jetzt musikalische Referenzqualität! Und das liegt nicht daran, dass der Komponist selbst zu den Akteuren gehört. Der Achtzigjährige hat die Rolle des Sprechers übernommen und den von Leonardo da Vinci stammenden, zu halsbrecherischer Silbenlyrik verfremdeten Text übernommen. Vor allem seine Klangwelten entfalten hier eine Faszination, ja eine pure Schönheit wie selten. Ausstatterin Natascha von Steiger hat in der Oper Frankfurt das ganze Haus zur Bühne gemacht, die Ränge für einen Teil des Orchesters und den von Michael Alber exzellent einstudierten Chor (ChorWerk Ruhr) reserviert. Auf der Bühne sind fünf Reihen mit Zuschauern platziert. Für den überwiegenden Teil der Musiker und den Dirigenten hat sie ein Podest über ihren Köpfen gebaut. Eine Visualisierung zu dieser nicht narrativen Geschichte nach dem Märchen von Hans Christian Andersen ist auf eine kleine Spielfläche an der Rampe beschränkt. Was der Schauspieler Michael Mendel und sein kleines namenloses Meerschweinchen hier anstellen, wird auf einer Projektionswand für jeden sichtbar. Wenn sich die Sopranistinnen Christine Graham und Yoko Kakuta an
den Wänden des Bühnenportals entlang tasten oder die Leitern zu den Musikern des Frankfurter Opern- und Museumsorchester und seinem klug und umsichtig koordinierenden Dirigenten Erik Nielsen am Pult hinauf klettern, dann kann man das entfernt ebenso zur Inszenierung rechnen wie jene Überflutung aller einigermaßen vertikalen Innenflächen des ganzen Hauses mit Textprojektionen. Die wirken, selbst wenn sie von unten nach oben aufsteigen, wie fallender Schnee. Sie verursachen, auch ohne dass man von einzelnen Worten zum Kontext vordringt, frösteln. Der Rest ist Kopfkino für Klangzustände. Dieses Abrücken von einer handfest nachvollziehbaren Szene und Handlung passt ganz gut zu einem Regisseur wie Benedikt von Peter, dessen nächste große Produktion im November mit Aida an der Deutschen Oper Berlin ansteht. Der hat es (in Hannover) schon fertig gebracht, den großen Verführer im Don Giovanni ins Unsichtbare verschwinden zu lassen. In Bremen, wo er noch die Verantwortung für die Opernsparte des Hauses trägt, bevor er in der nächsten Spielzeit als Intendant nach Luzern wechselt, hatte er die Mimi zu einer reinen Imagination der Bohème-Künstler gemacht. Er ist also der prädestinierte Fährmann für jene Überfahrt vom Fast-Nichtmehr ins Gerade-Noch, von dem nur sekundenknapp aufblitzenden ins assoziierende Erinnern, das
Lachenmann mit seinem Klangschneefall, seinem atmenden und röchelnden Nachdenken mit Instrumenten über zwei Stunden lang zelebriert. Einmal sieht man die Titelfigur des Abends aber doch. Und da gleich überlebensgroß und als ein dem Abend vorgelagertes Happening. Da bewegt sich nämlich eine riesige Puppe mit den Schwefelhölzern in der Hand langsam am Opernhaus entlang und schaut traurig ins Foyer. Drinnen wird kaum hörbar über Lautsprecher das Märchen gelesen und Textpassage in den Raum geflüstert. Die realen Bettler vor der Tür gehören zwar nicht zur Inszenierung, wohl aber zur Geschichte um die es geht. Denn zu der gehört das Wegsehen und -hören allemal. Drinnen dann fehlt jeder illustrierende szenische Naturalismus. Die Wirkung des klingenden Schneefalls, des vokalen Bibberns, dieses Klirrens der Kälte und dann die eskalierenden „Ritschs“, mit denen das Mädchen die Schwefelhölzer, die es verkaufen soll, für sich selbst anzündet, entfalten ihre Wirkung durch Lachenmanns Komposition. Takt für Takt. Bis die letzten Töne im Nichts verwehen. Ein paar Premierenabonnenten hatten wohl ein anheimelndes Märchen erwarten und entflohen der sich faszinierend ausbreitenden Kälte. Und der Herausforderung, selbst den Bogen von Michael Mendels stummem Spiel mit seinem Meerschweinchen zum Ausgeliefertsein der schutzlosen Kreatur zu schlagen. Oder in den Textfetzen von Gudrun Ensslin wie der Komponist und Librettist Helmut Lachenmann jene Gefahr zu wittern, die darin liegt, wenn nicht Schwäche, sondern Wut der Antrieb für das Zündeln ist. Mit diesem musikalisch-szenischen Meilenstein in der überschaubaren Rezeptionsgeschichte von Lachenmanns Ausnahmewerk ist der Oper Frankfurt ein Auftakt für die neue Spielzeit gelungen, die dieses Opernhaus als eines der führenden im Lande ausweist. Joachim Lange
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