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Muß Erwachsenwerden Wehtun?

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50 FEUILLETON 3. S E P T E M B E R 2015 D I E Z E I T No 3 6 Muss Erwachsenwerden wehtun? Infantil, egoistisch und zerstreut: So hat der Kapitalismus die Menschen gern. Die Soziologin Eva Illouz und die Philosophin Susan Neiman fordern: Übernehmt Verantwortung! DIE ZEIT: Frau Neiman, Sie Fotos: Lissy Laricchia; Hans Christian Plambeck/laif; Jürgen Bauer (v. o.) beschreiben in Ihrem Buch Warum erwachsen werden? eine infantile Gesellschaft, in der die Menschen den Mut verloren haben, erwachsen zu werden. Sie wollen mit Ihrer Philosophie aber dazu ermun­ tern. Als Mensch zwischen 20 und 30 denkt man da erst einmal: Was denn – ich soll noch erwachsener werden? Es sind doch schon alle so früh veron­ kelt! Alle machen nur noch Sport und essen gesund. Keiner geht mehr feiern. Susan Neiman: Das ist nicht das Glei­ che, wie erwachsen zu sein. Bei der Entwicklung, von der Sie reden, geht es um individuellen Erfolg innerhalb eines ganz bestimmten Paradigmas. Ein banales Beispiel: Jeder glaubt, er brauche körperliche Betätigung. Man fühlt sich schuldig, wenn man nicht Im Wald der eine halbe Stunde am Tag Yoga macht Kindheit sieht man oder joggen geht. Das ist eine kulturel­ vor lauter Spaß die le Norm, die zu einem besseren Leben Bäume nicht mehr. führen soll. Es passiert aber seltsamer­ Wie öde! weise nicht, dass Leute einem sagen, man solle seinen Geist für eine halbe Stunde pro Tag trainieren. Ich glaube, dass wir uns nicht genug herausfordern und deswegen infantil bleiben. Aber damit ist nicht gemeint, dass man an sich selbst arbeiten soll, um in irgend­ einer Hierarchie aufzusteigen. ZEIT: Frau Illouz, Sie sind nicht nur eine langjährige Freundin von Susan Neiman, Sie haben sich auch kritisch mit Warum erwachsen werden? aus­ein­ an­der­ge­setzt. Die neoliberale Selbst­ optimierung ist ein Thema, das in Ih­ rer Arbeit häufig auftaucht. Was kann man einwenden gegen die Aufforde­ rung, endlich erwachsen zu werden? Eva Illouz: Die Idee, philosophisch an das Thema Erwachsenwerden heran­ zugehen, nimmt Susan aus Kants be­ rühmtem Text Was ist Aufklärung?. Kants Antwort ZEIT: Wieso? Vormünder, die wie zu Kants Zeiten auf diese Frage: Aufklärung heißt, seine eigene mit der Autorität von Kirche und König über unser Unmündigkeit hinter sich zu lassen. Kant be­ Leben bestimmen, gibt es in der westlichen Welt antwortet also eine sehr philosophische Frage mit doch glücklicherweise nicht mehr. einer psychologischen Metapher. Ich frage mich­ Neiman: Heute passiert das natürlich an­ allerdings, wie zeitgemäß diese Metapher noch ist. ders als damals in autoritären Kulturen. In der Gegenwart werden wir doch bis zum Um­ Was heißt es denn heute, jemanden wie fallen dazu ermutigt, autonom zu sein. ein Kind zu behandeln? Wir schlagen ein ZEIT: Man soll zum Beispiel ständig eine eigene Kind nicht, wenn es nach einem Schoko­ riegel im Supermarkt greift. Wir tun et­ Meinung zu allem haben. Illouz: In der Schule hält man Kinder dazu an, so­ was anderes: Wir lenken das Kind ab. bald sie schreiben können. Es wäre nicht übertrie­ Genau so funktioniert das auch auf der ben, zu sagen: Wir leiden nicht mehr an einem gesellschaftlichen Ebene. Man erzählt uns Mangel an Autonomie, wir leiden an einem Exzess zwar, dass wir autonom sein sollen, dass der Autonomie. Überall wird sie eingefordert und wir das Selbst kultivieren sollen, aber das soll uns eingeübt, von der Schule bis zur Therapiesitzung. nur davon ablenken, wichtige Fragen nach den Was bedeutet Kants Metapher dann heute noch, sozialen Grundlagen der Gegenwart zu stellen. In deinem Buch Die Errettung der modernen Seele wo Autonomie die Konvention geworden ist? Neiman: Das Interessante an Was ist Aufklärung? ist schreibst du etwas, Eva, was ich aufgreife: dass die doch, dass viele nur die Sache mit der »selbst ver­ Therapie-Kultur Autonomie in einer sehr speziel­ schuldeten Unmündigkeit« behalten haben. »Selbst len sozialen Struktur fördert. Man passt die Leute verschuldet«, das ist eine neoliberale Botschaft: Es daran an, wie die Welt ist. Die Ziele sind finanziel­ ist deine Schuld, wenn du nicht erwachsen wirst! le Unabhängigkeit, bei den Eltern auszuziehen, ei­ Alles, was du tun musst, ist, ein bisschen mutiger zu nen Partner zu finden, Kinder zu bekommen. sein, dann wirst du aufgeklärt und frei sein! Das Illouz: Das Selbst wird dabei eine Maschine, die kann man heute gut so verstehen: Optimiere dich, gut performen soll, im Bett, beim Vor­stel­lungs­ übernimm Verantwortung, sei nicht faul! Aber je­ gespräch, beim Tennis. Man führt sich selbst auf der vergisst den Satz direkt danach, der wesentlich einer Bühne auf, man konsumiert sich selbst. Er­ länger ist und vielleicht nicht so prägnant: Kant wachsensein hingegen müsste heißen: eine Auto­ sagt, unsere Vormünder wollen gar keine Erwach­ nomie besitzen, die vom Selbst abgekoppelt ist. senen, und sie nutzen unsere natürliche Faulheit ZEIT: Also Nächstenliebe? Caritas? Solidarität? und Angst, um sicherzustellen, dass wir uns davor Illouz: Ja, ein Erwachsener darf niemals aus den fürchten, erwachsen zu werden. Und dieser Teil ist Augen verlieren, was für alle gut ist. Ein Erwachse­ auch heute noch wahr. ner muss sich an universellen Werten orientieren. Das Gespräch Bei einer Konferenz unter dem Titel »Why grow up?« am Einstein Forum in Potsdam trafen sich die israelische Soziologin Eva Illouz und ihre Kollegin, die amerikanische Philosophin Susan Neiman. Die Frauen kennen sich seit Langem. Neiman sagt über Illouz: »Sie ist die Einzige, mit der ich shoppen gehen kann, und im einen Moment reden wir darüber, ob uns ein Kleid steht, und im nächsten sprechen wir über Adorno. Es ist eine komplexe persönliche und intellektuelle Freundschaft.« Eva Illouz (links) lehrt an der ­ Hebräischen Universität Jerusalem. Ihr Buch »Warum Liebe weh tut« (2011) zeigt, wie die liberalen Märkte zwischen­ menschliche Beziehungen beschädigen. Zuletzt erschien im Suhrkamp Verlag ihr Essay »Israel« (2015). Susan Neiman lehrte viele Jahre in Yale und Tel Aviv. Heute ist sie Direktorin des Einstein Forums. Mit ihrer einflussreichen Studie »Das Böse denken« (2004) schrieb sie »Eine andere Geschichte der Philosophie«. Zuletzt erschien ihre Abhandlung »Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung« (2015) im Hanser Verlag. Sobald ich mich aber daran orientiere, könnte es sein, dass ich damit gar nicht glücklich werde. Weil es ja nicht mehr darum geht, zu bekommen, was ich will. Das unterscheidet Erwachsen­ werden von der Optimierung des Selbst, bei der das eigene Wohlbefin­ den im Vordergrund steht. Der Er­ wachsene, den Susan sich vorstellt, könnte hin­gegen sehr unglücklich sein. Neiman: Ja. Ich habe mich mit mei­ nem Verlag nur um eine Sache gestrit­ ten. Die wollten als Untertitel: Vom Glück der Verantwortung. Das ist aber nicht das, worüber ich schreibe. Illouz: Deine Idee von Erwachsen­ werden ist auch eine Anleitung zum Unglücklichsein. Zumindest ist es das Gegenteil von dem, was in Selbsthilfe­ ratgebern steht. Du versprichst eben nicht, dass Erwachsenwerden glückli­ cher macht. Die Kantsche Philosophie wird dich nicht trösten, sondern dein Leben härter machen. Denn erwachsen zu werden heißt dann: nie zu vergessen, dass die Welt nicht gut so ist, wie sie ist. Als Erwachsener bekommt man nie die Welt, die man will – man weigert sich aber auch, sich den Wunsch ausreden zu lassen, sie besser zu machen. Neiman: Ich fand es immer interessant, dass der Beginn der Philosophie bei Sokrates gesehen wird – bei einer Hin­ richtung! Die allererste Idee, die wir von Philosophie haben, ist: Sie macht dich nicht glücklicher. Sie mag dir so etwas wie Wahrheit geben – aber dafür bringt man dich vielleicht sogar um. ZEIT: Klingt, als würde Erwachsen­ werden doch ziemlich wehtun. Ver­ ständlich, dass die Leute dann lieber Kind bleiben wollen, oder? Illouz: Susans Buch ist eine Antwort auf Peter Pan, das Kind, das nicht er­ wachsen werden will. Und es ist ja ein­ leuchtend, dass ein Kind seine Welt aus Abenteuer und Magie nicht verlassen will. Dass es nicht in die graue Realität der Erwachsenen eintreten will, in der es nur um Jobs in langweiligen Büros geht, das ewige Versagen, die steifen Familienfeiern. Neiman: Ich glaube, wir verklären da etwas. Die Kindheit ist nicht so wundervoll. In der Schule musste man viele langweilige Aufgaben machen. Aber wir erinnern uns nur an das Magische der Kindheit. Ein Säugling wundert sich noch über ei­ nen Schlüsselbund oder ein Blatt Papier. Es ist toll, zu beobachten, wie ein Kind diese Sachen entdeckt. Wenn man ihm aber mal einen Tag lang zuschaut, merkt man, wie viel Langeweile und Frustration auch dazugehört. Das Paradoxe an der Peter PanErzählung ist: Kinder wollen selten Kinder bleiben, sie wollen größer werden. ZEIT: Warum werden diese Erinnerungen dann so idealisiert? Neiman: Das soll nicht verschwörungstheoretisch klingen, aber ich glaube: Das ist ein Trick. Indem man das Erwachsensein so grau und öde aussehen lässt, dass niemand da mitmachen will, der Elan und Lebendig­ keit in sich hat, überzeugen wir die Leute davon, infantilisiert zu bleiben. Nicht wirklich Kind zu sein, aber in der Kombi­ nation verschiedener Entwicklungsstufen stecken zu bleiben. Das ist eine der Kern­ fragen meines Buchs: Wenn es genauso frustrierend ist, ein Kind zu sein, wie Mitte 20 zu sein – warum haben wir uns dann entschieden, aus­ gerechnet das Erwachsensein als so schrecklich zu zeichnen? ZEIT: Warum ist es denn frustrierend, Mitte 20 zu sein? Wir können nur für uns sprechen, aber wir sind eigentlich ganz gern in den Zwanzigern. Neiman: Klar, man kann in dem Alter den Er­ wachsenen sagen: Was, das kennst du nicht? Das hast du nicht mitbekommen? Aber trotzdem ken­ ne ich wenige, die ihr Leben mit 25 genossen ha­ ben. Im Gegenteil: Da sind so viele Ängste. Man muss sich beweisen, man fürchtet, dass sich Mög­ lichkeiten zerschlagen, von denen gesagt wurde, sie seien endlos. Illouz: Aber es geht einem ja nicht schlecht, weil man jung ist – sondern weil man erwachsen wer­ den muss und weiß, dass einem die Ressourcen dafür fehlen. Neiman: Ja. Aber viel wichtiger ist doch: Man ist dabei, herauszufinden, wer man eigentlich ist. Man trifft zum ersten Mal eigene Entscheidungen, und jede Entscheidung erscheint schicksalhaft. Man hat noch nicht gelernt, dass man Fehler machen darf. Vor allem weiß man noch nicht, dass die anderen genauso unsicher sind wie man selbst. Illouz: Ich meine das auf soziologischer Ebene, nicht auf philosophischer. Was du sagst, mag für die siebziger Jahre richtig gewesen sein. Aber die ökonomische Entwicklung heute, die Jugend­ arbeits­losig­keit, die Unsicherheiten, was Lebens­ weg und Familienplanung angeht – da ist es plötzlich schwieriger, für das Erwachsenwerden zu werben. ZEIT: Wer möchte bei diesen fragwürdigen öko­ nomischen Aussichten nicht noch mal zwanzig sein und so verliebt wie damals? So frisch und gut aussehend? Da ist es wenigstens egal, dass man kein Geld hat. Neiman: Ich würde darauf mit einem großartigen Satz aus Dorian Gray antworten. Da heißt es: »Das Leben, das seine Seele erheben sollte, würde seinen Körper beschädigen.« Dasselbe Leben, das alles an uns altern lässt, erhebt auch unsere Seele. Und will man denn wirklich ein Leben, das nicht die Seele erhebt? Wirklich subversiv wäre es doch, sich für das Erwachsensein zu entscheiden – und die Kraft, die damit einhergeht, zu nutzen. ZEIT: Subversiv? Ist nicht wenigstens das der Ju­ gend vorbehalten? Von den Jugendlichen kommen doch die Veränderungen, die Revolutionen. Illouz: Da wir gerade vom Zeitalter der Aufklärung gesprochen haben: Wer hat denn die Revolution damals angezettelt? Sicherlich nicht die jüngsten Leute. In autoritären Regimen haben ältere Leute viel weniger zu verlieren. Man hat schon gelebt, man kann es sich also eher erlauben, sich gegen die Mächtigen aufzulehnen. Neiman: Nicht nur die Französische Revolution ist ein Beispiel dafür, auch die Frauenbewegung. Na­ türlich gibt es im Moment einen technologischen Umbruch. Junge Leute erfinden etwas Großes und gehen dann als Dotcom-Millionär mit 32 in Rente. Aber wenn ich im breiteren Sinne über politische Veränderung nachdenke, dann glaube ich nicht, dass die hauptsächlich von den Jungen ausgeht. ZEIT: Wir geben auf. Dann also erwachsen wer­ den. Aber woran merkt man, dass es geklappt hat? Wann ist man ein Erwachsener? Illouz: Eines der wichtigsten Anzeichen ist für mich, dass man sich um andere kümmert. Ich habe drei Kinder großgezogen, und ob ich wollte oder nicht, das hat mich erwachsen gemacht. Ich merke das in jeder Sekunde, es gibt kaum einen Moment, in dem ich keine Mutter bin. Neiman: Mir geht es auch so. Erwachsensein hat auf jeden Fall damit zu tun, Verantwortung für andere zu übernehmen. Aber es gibt auch die traurigere Seite davon: festzustellen, dass niemand mehr die Verantwortung für dich übernehmen wird. Das Gespräch führten CASPAR SHALLER und LARS WEISBROD Istanbul 19 939 © Melanie Grande © Melannie Grande Der junge Wolf emigriert mit seinem Vater aus Deu utschland in die türkische Metropolee, eine fremde und d fasziiniierend de Wellt, in der er siich h behaupten muss ... Ein ne Familiensaga zwischen Orient und d Okzident, emo otionsgeladen, abgründig und spann nend. Longlist Gebunden € (D) 24,99 Verfügbar auch als Book »Zaimoglu ist einer der großartigsten Dichter, die wiir haben … ›Siebentürmeviertel‹ ist ein Sehnsuchtsbuch, eine Fabel der Fremdheit.« Volker Weiderm mann, Der Spiegel Bestseller www.kiw www.kiwi-verlag.de wi-verlag.de